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Ein eisiges Versteck in den Bergen. Eine mörderische Jagd. Mit »Revenge – Du bist niemals sicher« hat die amerikanische Bestseller-Autorin Lisa Jackson einen nervenzerfetzenden Kurz-Thriller geschrieben, der genau das Richtige für ein schnelles, atemloses Lesevergnügen ist. Als Kinder erleben Lucy und ihre Geschwister, wie ihre Mutter beinahe ermordet wird. Lucys Aussage bringt den damaligen Geliebten der Mutter, Ray, hinter Gitter – doch er beschuldigt Lucy, die wahre Mörderin zu sein. Jahre später kommt Ray frei. Lucy weiß, dass er hinter ihr her ist, und sucht Zuflucht in einer Blockhütte in den verschneiten Bergen Oregons. Aber sie ahnt, dass sie nicht länger davonlaufen kann. Nicht vor ihm – und nicht vor den grausamen Ereignissen jener Nacht, an die sie sich erst jetzt nach und nach erinnern kann … Ein Kurz-Thriller von Bestseller-Autorin Lisa Jackson, der es in sich hat und perfekte Hoch-Spannung für zwischendurch garantiert. Entdecken Sie auch die anderen Thriller von Lisa Jackson, zum Beispiel ihre Thriller-Reihen rund um das Detectives-Duo Bentz und Montoya oder das Detectives-Duo Alvarez und Pescoli. Oder den Stand-Alone-Thriller »Paranoid«, in dem Lisa Jackson von alter Schuld und später Rache in einer Highschool-Clique erzählt.
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Seitenzahl: 171
Lisa Jackson
Revenge
Du bist niemals sicher
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch von Kristina Lake-Zapp
Knaur e-books
Als Kinder erleben Lucy und ihre Geschwister, wie ihre Mutter beinahe ermordet wird. Lucys Aussage bringt den damaligen Geliebten der Mutter, Ray, hinter Gitter – doch er beschuldigt Lucy, die wahre Mörderin zu sein.
Jahre später kommt Ray frei. Lucy weiß, dass er hinter ihr her ist und sucht Zuflucht in einer Blockhütte in den verschneiten Bergen Oregons. Aber sie ahnt, dass sie nicht länger davonlaufen kann. Nicht vor ihm – und nicht vor den grausamen Ereignissen jener Nacht, an die sie sich erst jetzt nach und nach erinnern kann …
Ein nervenzerfetzender Kurz-Thriller für zwischendurch von Bestsellerautorin Lisa Jackson
Damals
Lucy erstarrte.
Versteckte sich in Mamas Badezimmer, Mamas spezielle Schere in der Hand. Die mit den extralangen Klingen. Diesmal konnte sie nicht entkommen.
Wie oft hatte sie von ihrer Mutter gehört: »Fass Mamas Sachen nicht an«, und jetzt würde man sie erwischen.
Sie biss sich auf die Lippe. Sie sollte sich nicht in Mamas Schlafzimmer aufhalten, und sie sollte schon gar nicht die Schere stehlen, aber sie brauchte sie, um sich damit die Haare zu schneiden, die laut Mama nicht geschnitten werden durften.
Sie schlich oft in Mamas Zimmer und durchwühlte ihre Sachen, spielte Verkleiden und tat so, als sei sie ein großer Filmstar wie Mama, die an dem Tag, an dem sie in Hollywood gelandet war, ihren Namen von Christy Smith in Tina Champagne geändert hatte – das hatte Lucys ältere Schwester Marilyn ihr anvertraut. Wenn sie sich unbeobachtet fühlte, schlüpfte Lucy in Mamas Schuhe mit den superhohen Absätzen, setzte die riesige Sonnenbrille mit dem Glitzergestell auf, schminkte sich die Lippen und probierte Mamas Hüte an. Lucy kannte jedes einzelne Stück von Mamas Garderobe, und sie war oft allein – weshalb sie jede Menge Zeit hatte, alles zu erkunden und anzufassen. Vor allem die Dinge, die verboten waren. Mama hatte sie gewarnt: »Das ist teuer, fass nicht Mamas Anhänger an, das ist ein Schmuck-Ei von Fabergé. O nein, nein, nein …« Oder: »Das ist ein Diamantarmband, Liebling, ein Geschenk von deinem Vater, der nicht wollte, dass ich mich von ihm scheiden lasse. Nun, das hat nicht funktioniert, aber egal. Bitte, Lucille, leg es zurück.« Oder: »Du weißt, dass du nicht Mamas Schubladen durchwühlen darfst, auch nicht die im Nachtschränkchen. Die Pistole ist geladen, also Finger weg, Fräulein. Das ist sehr, sehr gefährlich, aber Mama braucht die Waffe, um sich zu schützen. Herr im Himmel, Lucy, muss ich wirklich ein Schloss an meiner Tür anbringen lassen?«
Das hatte sie nie getan. Und jetzt würde Lucy Ärger bekommen, großen Ärger, sollte Mama das Badezimmer betreten. Sie knipste das Licht aus, zog sich lautlos von der Tür zurück, die nur einen schmalen Spalt offen stand, und versteckte sich in der geräumigen Dusche, die abgetrennt war wie ein eigenes Zimmer. Mit hämmerndem Herzen betete sie zu Gott, dass Mama gleich zu Bett gehen würde.
Wenn sie eingeschlafen war, konnte sich Lucy aus dem Bad und an Mama vorbei in ihr eigenes Zimmer stehlen.
Es raschelte im Schlafzimmer, das Himmelbett knarzte leise, als Mama es sich bequem machte. Lucy hörte leise Radiomusik und das Klirren von Eiswürfeln. Sie stellte sich vor, wie Mama ein großes Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit in der Hand hielt. Mamas »Absacker« – Wodka, das hatte Marilyn ihr verraten. Gut! Wenn das Glas leer war, würde Mama einschlafen, und dann …
Sie hörte Schritte im Flur und verfluchte im Stillen ihre älteren Geschwister. Es wäre typisch, wenn Clark oder Marilyn hereinplatzten und ihre Fluchtpläne vereitelten! Geräuschvoll flog die Tür auf.
»Was zur Hölle …?«, stieß Mama erschrocken hervor. »Was willst du?«
»Ich wohne hier«, erwiderte eine schroffe Männerstimme. Lucy rutschte das Herz in die Hose. Ray. Mamas Freund, ihr »Toyboy«, wie Marilyn ihn nannte.
»Nicht mehr«, widersprach Mama fest. »Raus hier.« Ray war groß und muskulös. Er hatte schmale Lippen, gerade weiße Zähne und ein markantes Kinn, das dringend rasiert gehörte. Ray wusste, dass er gut aussah, denn er ging nicht, er stolzierte. Lucy mochte ihn nicht.
»Ich lasse mich nicht rauswerfen«, hielt er dagegen. Seine Worte klangen verschliffen. »Wir müssen reden. Wir haben Probleme, und das wissen wir beide.«
»Wir haben Probleme, weil du nicht die Finger von anderen Frauen lassen kannst. Sehr viel jüngeren Frauen.«
»Darüber will ich ja mit dir reden …«
»Geh jetzt, Ray, oder ich rufe die Polizei.«
»Komm schon, Babe, das meinst du nicht so.«
»Doch.«
Lucys Kehle wurde trocken, und obwohl sie wusste, dass es verrückt war, schob sie sich Zentimeter für Zentimeter aus der Dusche hinaus ins dunkle Badezimmer und tappte geräuschlos in Richtung Tür. Von dort spähte sie ins dämmrige Schlafzimmer, das nur von der Lichterkette an Mamas Himmelbett erhellt wurde. Mama hatte die seidene Schlafmaske auf die Stirn geschoben. Ihre roten Haare standen in alle Richtungen ab.
Ray stand neben dem Bett, ein überhebliches Lächeln auf den Lippen, einen Drink in der Hand.
Aber Mama ging nicht auf ihn ein. Lucy sah den Zorn in ihrem Gesicht. Tina Champagne wurde nicht gern gestört, wenn sie sich bettfertig gemacht und ihr Gesicht mit dieser Wundercreme gegen Falten eingekleistert hatte. Mama gestattete es keinem, sich ihr zu nähern, solange sie nicht »kamerafertig« war. Lucy wusste das, genau wie ihre Geschwister. Ray sollte es eigentlich auch wissen.
Doch Ray war aufdringlich und ungehobelt, und er dachte, er könne sich bei Mama einschmeicheln oder sie drangsalieren. Konnte er aber nicht. Das war auch Tinas anderen drei Ehemännern nicht gelungen, als sie beschlossen hatte, sich von ihnen scheiden zu lassen.
Ray ließ seinen Drink im Glas kreisen. Mit der freien Hand griff er nach Mamas Kopf, riss ihr die Maske von der Stirn und grub seine Finger in ihre Locken, um ihr Gesicht zu seinem Schritt zu ziehen. Sein T-Shirt hing aus der Levi’s.
»Lass das«, warnte sie.
Lucys Finger krampften sich um die Schere.
»Stell dich nicht so an, Babe. Entspann dich.« Er fing an, Mamas Nacken zu streicheln, wobei er sie noch näher an sich heranzog. »Du willst es, Babe, das weiß ich …«
»Hau ab, Ray, ich meine es ernst!«, stieß Mama hervor und schubste ihn von sich. Dann zog sie die Schublade ihres Nachtschränkchens auf und tastete hektisch darin herum.
»Was …?« Er war gestolpert und rutschte nun auf dem dicken, weißen Kunstfellteppich aus. Das alte Haus schien zu beben, als er mit der Schulter gegen die Wand prallte. Am anderen Ende des Flurs schrie jemand auf. Schlagartig wurde es im Zimmer stockdunkel. Nur durchs Fenster fiel spärliches Licht herein.
»Mom?«, schrie Marilyn. Lucy hörte Schritte im Flur.
»Alles okay?«, rief Clark vor der Zimmertür.
»Raus jetzt! Sofort!«, zischte Mama in die Dunkelheit.
»Du verfluchtes Miststück«, knurrte Ray, und Lucy, deren Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, sah, wie er sich aufrichtete und wieder aufs Bett zuging. Geräuschlos schlüpfte sie ins Schlafzimmer, die Schere in der Hand.
»Bleib weg von mir!«, warnte Mama. »Ray, ich habe eine Pistole, und ich zögere nicht, sie zu benutzen. Das weißt du!«
»Ich dachte, du wolltest die Polizei rufen«, höhnte er. Jetzt war Ray bei Mama. Beugte sich über sie.
Lucy erstarrte.
Mama schnappte erschrocken nach Luft, als plötzlich die Schlafzimmertür aufflog. Das Flurlicht fiel ins Zimmer.
»O Gott!«, kreischte Marilyn und rannte zu Mama.
Clark folgte ihr dicht auf den Fersen. »Was zum Teufel …« Lucy schrie auf, hob die Schere mit der Spitze nach vorn über ihren Kopf und sprang. Wie in Zeitlupe flog sie in Richtung Bett und versenkte die Schere tief in Rays Fleisch.
Jetzt
»Los geht’s! Nun komm schon! Beeil dich!« Schwer atmend warf Lucy einen Blick über die Schulter. Ihre siebenjährige Tochter trödelte wieder einmal, fasziniert von dem winterlich verschneiten Wald, blind gegenüber der Tatsache, dass ein Schneesturm im Anmarsch war. Schlimmer noch: dass er im Anmarsch war. »Jetzt mach endlich, Liebes«, drängte Lucy. Sie ruckte am Seil des Schlittens, der das trug, was ihr in der nächsten Zeit zum Leben genügen musste. »Es ist nicht mehr weit.«
Das war gelogen. Von der Stelle, an der sie ihren geländegängigen Toyota geparkt hatte, war es noch eine halbe Meile bergauf bis zu dem Blockhaus tief in den Wäldern von Oregon. Und selbst das lag nicht abgeschieden genug. Kein Ort auf dieser Erde würde jemals weit genug weg von ihm sein, aber es musste genügen. Fürs Erste. Bis sie etwas anderes fand.
Die kalte Furcht, die sie hierhergetrieben hatte, zwang sie, sich immer weiter den steilen Hang hinaufzuschleppen, durch die dicht stehenden Kiefern und Tannen, deren Zweige sich unter einer weißen Schneedecke bogen. Die Ahornbäume hatten ihre herbstlich bunten Blätter längst verloren und erinnerten mit ihren kahlen Ästen an Skelette.
Unter anderen Umständen wären Renee und sie über die Weihnachtstage hergekommen, um den Frieden und die Einsamkeit der Kaskadenkette im Winter zu genießen, und sie hätte sich auf das urige Blockhaus gefreut. Genau wie ihre Tochter wäre Lucy ab und an stehen geblieben und hätte die atemberaubende Landschaft auf sich wirken lassen, die sanfte Berührung der Schneeflocken auf ihren Wangen gespürt und den eisigen Hauch des Windes, der die Haare aus ihrer Mütze wehte.
Doch das war nicht möglich. Nicht jetzt. Vielleicht nie.
»Jetzt komm endlich!«, drängte sie erneut, schärfer diesmal, weil ihre Tochter so langsam durch den Schnee bummelte. »Leg einen Zahn zu, Grace.«
Grace, unter deren weißer Mütze kleine braune Löckchen hervorlugten, runzelte die Stirn. »So heiße ich nicht.«
»Im Augenblick schon. Mein neuer Name ist Elle, und du bist Grace.«
»Du bist nicht Elle. Du bist Lucy.«
»Elle ist der zweite Teil meines Namens. Lucille-Elle. Und Grace ist dein zweiter Vorname.«
Ihre Tochter bedachte sie mit einem finsteren Blick.
»Ich habe dir doch erklärt, dass das ein Spiel ist.«
»Blödes Spiel. Ich bin Renee«, beharrte das Mädchen.
»Wie auch immer du heißt – beeil dich einfach.«
Mach kein Drama daraus, sie ist nur ein Kind. Sie kann das unmöglich verstehen. Wahrscheinlich war das Ganze ohnehin übertrieben, das mit den Decknamen, damit man sie nicht sofort erkannte, falls sie in dieser entlegenen Gegend tatsächlich jemandem begegneten. »Weißt du, was? Wenn wir zwei allein sind, dann bin ich Mom oder Lucy, und du bist Renee, aber wenn wir irgendwen treffen, bist du Grace. Einverstanden?«
»Einverstanden.« Renee zog die Nase kraus, aber sie widersprach nicht und stapfte hinter dem Schlitten her, wobei sie in die Spuren trat, die ihre Mutter in dem fünfzehn Zentimeter tiefen Schnee hinterließ. Während Lucy weiter eine schmale Schneise in die weiße Decke zog, warf sie einen skeptischen Blick zum Himmel. Nichts als Millionen winziger Flocken. Gut so. Je mehr ihre Spuren verdeckt wurden, desto wahrscheinlicher, dass sie entkommen konnten.
Doch für wie lange? Er wird niemals lockerlassen, wird dich niemals in Ruhe lassen.
Doch daran durfte sie jetzt nicht denken. Eins nach dem anderen. Das war ihr Mantra.
Und fürs Erste würde ihnen das Blockhaus hoffentlich ein Versteck bieten.
Bitte, lieber Gott, bitte.
»Komm weiter«, sagte sie bestimmt.
»Wo ist Merlin?«, rief ihre Tochter und spähte angestrengt umher, doch der Hund war nirgendwo zu sehen.
»Er wird schon nachkommen«, beruhigte Lucy die Kleine, ohne stehen zu bleiben. »Er ist zur Hälfte ein Alaskischer Malamute, die lieben den Schnee und die Kälte. Beeil dich!« Lucy zerrte weiter den Schlitten mit dem Lebensnotwendigsten hinter sich her: genug zu essen für zwei Wochen, Kleidung und Schlafsäcke, Handy und iPad – auch wenn es im Blockhaus kein WLAN gab. Falls die elektronischen Geräte überhaupt funktionierten, waren sie für Notfälle gedacht. Wem willst du etwas vormachen? Dein ganzes Leben ist ein einziger Notfall!
»Ziehst du mich?«, fragte Renee und beäugte den bereits vollen Schlitten.
Wenn es dann schneller ging – gern. »Sicher.«
Renee sprang auf, und Lucy musste noch mehr Kraft aufbringen, um sich den steilen Pfad hinaufzukämpfen. Eigentlich durfte sie das Blockhaus gar nicht benutzen, hatte nur zufällig davon erfahren, als sich eine ihrer Kolleginnen am Junior College mit einer anderen darüber unterhielt.
»… und die idyllische Hütte gehört meinem Onkel«, hatte sie die blonde Cindy sagen hören, die gerade am Drucker stand. Lucy kannte die Kollegin recht gut, sie hatten mehrere Jahre zusammengearbeitet. Cindy hatte auch nach der Hochzeit ihren Mädchennamen behalten. »Das ist eine Machtfrage«, hatte Cindy behauptet, als sie gemeinsam an einer Konferenz teilnahmen und sich deshalb ein Zimmer in den Holiday Suites in Reno teilten. »Ich mag meinen Namen. Cynthia Jacoby. Ich hätte sonst Cynthia White geheißen – das klingt wie eine Figur aus einem Disneyfilm. Meinem Mann macht das nichts aus. Er ist da ziemlich modern.«
»Wo ist denn diese Hütte?«, fragte die andere Kollegin.
»In Oregon. In der Nähe des Mount Hood, aber sie ist so abgelegen, dass man nur zu Fuß hinwandern kann. Da oben gibt es wirklich gar nichts. Die Hütte ist recht groß, hat fließendes Wasser und auch Strom. Mein Onkel sagt aber, wenn es stürmt, fällt der Strom häufig aus. Er hat mir angeboten, das Blockhaus jederzeit zu benutzen – im Sommer soll man dort herrlich wandern und fischen können, und im Winter ist die Gegend wohl ein Paradies für einsame Schneeschuhwanderungen oder Langlauftouren. Stell dir vor: Er hat sogar einen Schlüssel für mich versteckt. Anscheinend hat er ihn an einen Baum mit einem geborstenen Stamm genagelt, das muss man sich mal vorstellen! Als würde ich jemals …«
Den Rest des Gesprächs hatte Lucy nicht mehr mitbekommen, da ihre beiden Kolleginnen in Richtung Cafeteria schlenderten. Später hatte sie ein bisschen im Internet recherchiert, in den Behördenregistern gestöbert und herausgefunden, dass es sich bei dem Besitzer um einen gewissen Winston Jacoby handeln musste. Anschließend war es leicht gewesen, den genauen Standort des Blockhauses zu ermitteln. Jetzt, da sie mit ihrer Tochter und dem Hund dorthin unterwegs war, hoffte sie inständig, dass diese Koordinaten stimmten.
Was, wenn du dich irrst? Was, wenn das Blockhaus nicht dort ist, wo du denkst? Was, wenn jemand darin wohnt? Was, wenn es baufällig ist?
Und, schlimmer noch: Was, wenn er dich findet? Beherzt schob sie ihre Bedenken beiseite.
»Kommt Daddy auch her?«
Ian. O Gott.
Lucy stolperte. Fing sich wieder. Ignorierte den Stich, der ihr durchs Herz fuhr. Ging weiter. »Nein, Schätzchen«, antwortete sie, während sie endlich die Kuppe erreichten, wo die Nadelbäume einer Lichtung mit einem zugewucherten, heruntergekommenen Blockhaus wichen, das man im Laufe der Jahre offenbar mehrfach vergrößert hatte. »Diesmal nicht.«
»Aber ich sollte das Weihnachtsfest doch bei ihm verbringen«, nörgelte Renee.
»Ich weiß. Planänderung.« Sie spürte den misstrauischen Blick ihrer Tochter im Rücken.
»O Gott – was ist das denn?«, fragte Renee und starrte verblüfft den großen Holzbau an. »Hier sollen wir … wohnen?« Ungläubig stieg sie vom voll bepackten Schlitten.
»Das ist der Plan.«
Renees finsterer Blick hellte sich auf. »Cool.«
Lucy bezweifelte, dass sie es immer noch cool fand, wenn sie erfuhr, dass es kein Internet gab, geschweige denn WLAN für ihr iPad.
Kalt war es hier, das ja, aber das Blockhaus war nicht »idyllisch«, nicht malerisch und nicht einmal ein klitzekleines bisschen gemütlich. Die Mitte, anscheinend der ursprüngliche Bau, ragte wie ein Ungeheuer in die Höhe – zwei Stockwerke mit einer Veranda und einem schmalen Vordach über der Eingangstür. An beiden Seiten waren Flügel angebaut – den Fenstern und dem grauen Holz nach zu urteilen, in unterschiedlichen Jahrzehnten. Die verwitterten Außenwände hatten nie einen Anstrich bekommen.
»Irgendwie unheimlich«, stellte Renee fest.
Mehr als unheimlich, dachte Lucy, doch sie sagte nichts. Stattdessen streichelte sie ihrer Tochter über den Kopf und sagte: »Ich würde es eher als einzigartig bezeichnen.«
Du hast dir Abgeschiedenheit gewünscht, einen Ort, an dem euch niemand entdeckt. Sieht so aus, als wäre dein Wunsch in Erfüllung gegangen.
Jetzt musste sie nur noch den Schlüssel finden.
Jetzt
»Verdammt noch mal, Lucy. Geh dran!«, murmelte Ian angespannt. Er hastete durch die steilen Straßen von San Francisco, hügelabwärts, den Kopf eingezogen, das Handy ans Ohr gedrückt. Regen prasselte vom Himmel, und es wehte ein schneidender Wind, was noch dazu beitrug, dass sein Zorn durch die Stratosphäre schoss. Er machte einen Bogen um eine Frau, die in der einen Hand einen Take-away-Kaffeebecher und ihr Handy hielt, in der anderen eine straffe Leine mit einem Pudel daran. Sein Anruf wurde an die Mailbox weitergeleitet. Ian wusste, dass seine Frau ihn nicht zurückrufen würde, deshalb sparte er sich die Mühe, eine Nachricht zu hinterlassen, und steckte das Telefon wieder ein. Aufgewühlt legte er die fünf Blocks zu seiner privaten Ermittlerfirma zurück.
Dort winkte er der Empfangsdame zu, dann klopfte er an die Tür seiner Partnerin und trat ein. Zhou saß an dem runden Schreibtisch in ihrem zen-artigen Büro mit Blick auf die Golden Gate Bridge. »Ich nehme mir für eine Weile frei.«
»Wovon redest du?« Jun Zhou war Mitte vierzig und noch so fit wie damals, als sie der Army nach zwanzig Jahren beim Nachrichtendienst den Rücken gekehrt hatte. Ihre dunklen Haare waren zu einem strengen Knoten geschlungen, ihre ebenfalls dunklen Augen musterten ihn beinahe genauso streng. Auf ihrer Schreibtischplatte hatte sie gleich drei Monitore platziert, außerdem befanden sich mehrere Kakteen in Keramiktöpfen darauf sowie diverse akkurat ausgerichtete Papierstapel. Eine Yogamatte lehnte zusammengerollt in der Ecke, an einer der Wände hingen Kopien ihrer juristischen Diplome und mehrere Medaillen, mit denen sie während ihrer militärischen Laufbahn ausgezeichnet worden war.
»Lucy«, begann Ian und legte die Hände auf die Rückenlehne eines der Besucherstühle, »sie ist abgehauen.«
Jun zog die Augenbrauen zusammen. »Muss ich dich daran erinnern, dass sie deine Ex-Frau ist? Vielleicht braucht sie ein bisschen Zeit für sich. Oder zumindest Zeit, in der du dich nicht in alles einmischst. Ich hasse es auch, wenn sich einer meiner Ex-Männer in mein Leben drängt.«
»Ich mische mich nicht ein. Sie hat Renee.«
»Na und?«
»Und ich habe seit drei Tagen nichts von meiner Tochter gehört! Für gewöhnlich facetimen wir jeden Abend, an dem sie nicht bei mir ist.«
»Aber kommt sie nicht eh in den nächsten Tagen zu dir?«
Ian nickte. »Ja.«
Jun lehnte sich zurück. »Findest du nicht, dass du etwas zu früh auf den Panikknopf drückst?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf und rieb sich nervös den Nacken. »Irgendetwas stimmt nicht. Das spüre ich.«
Seine Partnerin wirkte nicht überzeugt. »Und wennschon. Vielleicht möchte deine Ex nicht mit dir reden …«
»Das ist mir egal. Wie ich schon sagte: Sie hat Renee bei sich, Jun. Deshalb muss ich mir freinehmen. Vielleicht kannst du mir helfen, die beiden aufzuspüren …«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
Doch sie wussten es beide. Jun war ein Computergenie und hatte unmittelbar nach der Highschool für die Regierung gearbeitet, bevor sie dann von der Army rekrutiert wurde. Geheimdienst. Sie kannte das Internet bis ins letzte Detail, wusste, wie man Sicherheitscodes knackte und durch Hintertürchen ins System gelangte. Wenn irgendwer eine Spur von Lucy finden konnte, dann Jun. Das war der Grund für ihre ausgezeichnete Zusammenarbeit. Keiner von ihnen scheute davor zurück, das Gesetz bis zum Anschlag zu dehnen.
»Ich schicke dir Lucys Daten«, sagte er.
Sie warf ihm einen Blick zu. »Das ist nicht nötig.«
»Die hast du bereits?«
Sie antwortete nicht, denn das war ebenfalls nicht nötig.
»Was ist mit Ray Watkins?«
»Ein Kinderspiel, Ian.« Ihr Handy vibrierte. Sie ignorierte es. »Was ist damals in der Nacht, in der Tina Champagne angegriffen wurde, wirklich geschehen?«
Sie hatten nie darüber gesprochen, hauptsächlich deshalb, weil Ian selbst nicht wusste, was genau passiert war.
»Lucy hat ihn attackiert, richtig? Das habe ich im Internet gelesen.«