Revolution der Verbundenheit - Franziska Schutzbach - E-Book

Revolution der Verbundenheit E-Book

Franziska Schutzbach

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Beschreibung

Inmitten einer scheinbar tief zerrütteten und krisengeschüttelten Gesellschaft fragt Franziska Schutzbach nach Perspektiven der Verbundenheit. «Wir müssen noch miteinander eine große Freiheit erringen.» Das schrieb Bettina von Arnim an ihre Freundin Karoline von Günderode. Seither sind viele Jahre vergangen, die Emanzipation der Frauen ist vorangeschritten – vor allem dann, wenn sich Frauen aufeinander bezogen. Dieses Buch macht sich auf die Suche nachstarken und nährenden Frauenbeziehungen, nach Liebe und Freundschaft unter Frauen, nach politischer Schwesternschaft und Solidarität, nach emanzipatorischen Mutter-Tochter-Beziehungen und weiblichen Familiengenealogien. Die Soziologin und Sachbuchautorin Franziska Schutzbach zeigt anhand zahlreicher fesselnder Beispiele aus Vergangenheit und Gegenwart, wie Frauen trotz Spaltung und Differenz durch ihre Beziehungen Revolutionen ermöglicht haben. Wie sie patriarchale Strukturen in Alltag und Politik lockerten, weil sie sich verbündeten und befreundeten. Sie beschreibt, was möglich ist, wenn Frauen sich an anderen Frauen orientieren. Wider die Spaltung der Frauen Sie zeigt aber auch, wie schwer das ist. Denn die Spaltung der Frauen ist eine der Grundlagen patriarchaler Macht. Frauen sollen sich an Männern orientieren, nicht aneinander. Sie sollen sich an sexistischen Maßstäben und an der männlichen Gunst ausrichten. Sie sollen mit unterdrückerischen Systemen kooperieren, anstatt sich gemeinsam dagegen aufzulehnen. Einigkeit und Harmonie sind keine Selbstverständlichkeit unter Frauen, es gibt Risse und Differenzen, wir finden Zerwürfnisse, Entsolidarisierung und Machtausübung. Und einen großen Mangel an Zeit. Auch diesen Herausforderungen geht das Buch auf den Grund. »Frauen können hier und heute damit beginnen, ihre Orientierung an der Männerwelt zu lösen und überkommenen Mustern wie Hierarchie und Konkurrenz ihre Sehnsucht nach Kooperation und Freundschaft entgegensetzen.« Franziska Schutzbach Anhand von Essays und Briefen lässt Franziska Schutzbach in diesem Buch eine Revolution der Verbundenheit als eine konkrete und persönliche Praxis spürbar werden. Ein leidenschaftliches Plädoyer für stärkende, ermutigende weibliche Beziehungen.

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Franziska Schutzbach

Revolution der Verbundenheit

Wie weibliche Solidarität die Gesellschaft verändert

Knaur eBooks

Über dieses Buch

»Wir müssen noch miteinander eine große Freiheit erringen.«

Das schrieb Bettina von Arnim an ihre Freundin Karoline von Günderrode. Seither sind viele Jahre vergangen, die Emanzipation der Frauen ist vorangeschritten – vor allem dann, wenn sich Frauen aufeinander bezogen. Dieses Buch macht sich auf die Suche nach starken und nährenden Frauenbeziehungen, nach Liebe und Freundschaft unter Frauen, nach politischer Schwesternschaft und Solidarität, nach emanzipatorischen Mutter-Tochter-Beziehungen und weiblichen Familiengenealogien.

In Briefen und Essays zeigt die Soziologin und Sachbuchautorin Franziska Schutzbach anhand zahlreicher Beispiele, wie Frauen trotz Spaltung und Differenz durch ihre Beziehungen Revolutionen ermöglicht haben. Wie sie patriarchale Strukturen in Alltag und Politik lockerten, weil sie sich verbündeten und befreundeten. Sie beschreibt, was möglich ist, wenn Frauen sich an anderen Frauen orientieren.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Einleitung

Scheitern

Neun Gedanken zu diesem Buch

I. Ich wünschte, mein Schreiben wäre ein Wärmestrom

II. Wir müssen bessere Bilder von der Zukunft in Umlauf bringen und die Utopie der Verbundenheit bereits im Jetzt suchen

III. Utopie erfordert Trauerarbeit

IV. Das Utopische wurde vom Neoliberalismus verschluckt

V. Konflikt, Differenz und Distanz (auch zu uns selbst) sind Teil der Revolution der Verbundenheit

VI. Frauen

VII. Raus aus dem Internet

VIII. Reformarbeit innerhalb bestehender Politsysteme oder separatistische Revolution? Beides ist nicht zu haben, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.

IX. Der Wärmestrom meiner Mutter

1 Freundschaft

Einander die Seele ausfüllen

Frauenfreundschaft vor der Profanisierung bewahren

Freundschaft als politische Verheißung

Freundschaft beinhaltet die Freiheit, verschieden zu sein

2 Frauenbeziehungen in Familien

Warum Frauen im Familiengedächtnis nicht vorkommen

Loyalität mit Söhnen und Vätern

Christliche Sohn-Verehrung

Die Entwertung der Geburt

Väter und Töchter

Schwiegermütter und Schwiegertöchter

Mütter und Töchter

Mutter-Tochter-Beziehung neu gedacht

Eine andere Neugier ist vonnöten

Erzählt euch Frauengeschichten

3 Revolution der Liebe

Schenkkreis des Begehrens

Nicht innen, nicht außen

Werdet alle Lesben!

Liebe und Patriarchatsverweigerung

Frauenliebe: Chiffre des Eigensinns

Der Anfang der Welt

Die Gestaltbarkeit der Gegenwart

Frauen (er)kennen

Das Dazwischen

4 Sisterhood

Zerreißproben

Machtausübung unter Frauen

Kurze Geschichte der Schwesterlichkeit

Schritte ins Ungewisse: Schwesternschaft jenseits von Identität?

Globale Schwesterlichkeit revisited

Solidarität und Verletzlichkeit

5 Weibliche Verweigerung: Separatismus, Autonomie und Ausstieg

Eigene Freiheitsmodelle entwickeln

Herland – Versprechen und Scheitern feministischer Utopie

Gelebter Separatismus

Separatismus oder Gleichstellungsfeminismus?

Die kurdische Frauenrevolution

Epilog

Dank

Zu den Anmerkungen

Für meine Freund:innen

»Fremdheit ist unsere bleibende Lebensbedingung, und Freundschaft und Verbundenheit sind eine von Andersheiten durchmischte Erfahrung.«

(Christina Thürmer-Rohr)1

Einleitung

Ich habe diese Texte in einer Zeit geschrieben, die von zunehmender Spaltung geprägt ist, von Zerwürfnissen und Rissen. Wir erleben, dass Menschen sich radikalisieren und auseinanderdriften, sich in unversöhnliche Lager voneinander entfernen, sich überwerfen, einander unverzeihliche Verletzungen zufügen. Es tun sich Gräben auf. Auch progressive intersektionale Allianzen versagen. Nicht zuletzt ist das Erstarken rechter und rechtsextremer Kräfte ein Zeichen des Auseinanderdriftens.

Manche soziologischen Diagnosen bestätigen diese Spaltungstendenzen, andere hinterfragen sie. Wie auch immer die empirischen Befunde sind, für viele Menschen fühlt es sich so an, als würden sie in einer unversöhnbaren Welt und Gesellschaft leben – ohne Verbundenheit oder Zusammenhalt. Gegen diese Gefühle und die damit einhergehende Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit habe ich versucht anzuschreiben. Immer wieder habe ich mich dabei allerdings gefragt: Was sollen Texte, was sollen Worte noch bewirken? Angesichts der Spaltungen, aber auch angesichts von Kriegen, schrecklicher Gewalt, Traumata und Hass schien mir das Schreiben ein zunehmend hilfloser Beitrag. Oft brachte ich kaum die Kraft auf, mich selbst davon zu überzeugen, dass Schreiben noch wichtig sein könnte, es noch angemessen wäre, überhaupt so etwas wie ein Buch zu veröffentlichen, darüber hinaus ein Buch, das sich mit Solidarität befasst. Wer bin ich, angesichts von Leid und Gewalt, angesichts von Radikalisierung und Hass, über Solidarität und Verbundenheit zu schreiben?

An besseren Tagen hoffte ich, dass Schreiben vielleicht doch sinnvoll ist, dass es zwar nicht Krieg und Gewalt stoppt und auch nicht die Zerwürfnisse und Spaltungen, dass es aber gleichwohl ein Gegenraum sein kann zu Polarisierung und Härte. Natürlich sind auch Worte manchmal gewaltvoll, verabsolutierend und spaltend, aber im besten Fall ist Schreiben ein Raum der Interaktion, ein in Kontakt treten mit Lesenden, mit anderen Schreibenden und Denkenden – Öffnung statt Grenzziehung. Auch Lesen bedeutet im besten Fall, sich zu öffnen für die Wahrnehmung und das Denken anderer. Lesen bedeutet, sich einzulassen. Wir sollten damit angesichts von Gewalt und Polarisierungen nicht aufhören.

An diesem Gedanken habe ich versucht, mich festzuhalten und so weiterzuarbeiten. Die vorliegenden Essays und Briefe erkunden Perspektiven der Verbindungen statt der Trennungen, der Freundschaft statt des Hasses, der Durchlässigkeit statt der Härte. Ich bin mit meinem letzten Buch zur »Erschöpfung der Frauen« häufig gereist und habe viele Gespräche geführt. Ich verspürte zunehmend den Wunsch, dass ich nach der Erschöpfungsdiagnose versuchen will, die Kritik und die Gesellschaftsanalyse auch vermehrt mit einem feministischen Denken in Möglichkeiten zu verbinden, mit Utopien – aber auch mit der Frage nach deren Misslingen.

Die Erfahrung der Fremdheit, der Trennung und Differenz lässt sich, so meine Wahrnehmung, unter Menschen nie gänzlich überwinden. Es ist eine Feststellung, über die wir verzweifeln können, oder wir können damit arbeiten. Aus meiner Sicht gilt es, das Einander-fremd-Bleiben, das Verschiedensein zu üben und zu akzeptieren, es ist eine wichtige Voraussetzung dafür, um auch in Verbindung treten zu können, tragende Beziehungen aufzubauen und solidarisch zu sein.

Die Texte, die entstanden sind, sind keine direkten Antworten auf konkrete tagespolitische Ereignisse und Debatten, sie enthalten keine Politprogramme oder Solidaritätsanleitungen. Vielmehr sind sie Ausdruck eines längerfristigen Prozesses in meinem Schreiben als feministische politische Denkerin, der ein langsamer und kein unmittelbar reagierender ist. Gleichwohl hoffe ich, dass Aspekte aus diesen Texten vielleicht Anregungen für die Bearbeitung konkreter (auch innerfeministischer) Zerwürfnisse und Konfliktlagen enthalten, dass Leser:innen für sich einen Bogen spannen können zu ihrer politischen Praxis und konkreten Problemstellungen.

»Wir müssen noch miteinander eine große Freiheit erringen.« Das schrieb Bettina von Arnim an ihre Freundin Karoline von Günderrode. Ich denke: ja. Wir müssen Freiheit und ein besseres Leben gemeinsam erringen, trotz Fremdheiten, Grenzen, Konflikten und Verletzungen. Es führt kein Weg daran vorbei, dass Menschen sich zusammenraufen, miteinander sprechen, sich verbinden und sich auf die Gemeinsamkeiten anstatt auf das Trennende verständigen.

Frauen haben dies, wie ich zeigen werde, immer wieder getan und damit nicht nur politische Emanzipationsbewegungen ermöglicht, sondern auch persönliche Erfüllung und Selbstverwirklichung in ihrem Alltag.

Mich interessiert das Thema der Beziehung in Emanzipationsprozessen: Welche Rolle spielten und spielen Beziehungen in der Emanzipation von Frauen beziehungsweise FLINTA*2- Personen? Welche Rolle spielten und spielen dabei auch Konflikte und Differenzen? In den vorliegenden Texten habe ich mich auf die Suche nach Verbundenheit gemacht, habe Handlungsräume erkundet, deren emanzipatorische Bedeutung für unsere Gesellschaft oft übersehen wird. Wie gestalten Frauen ihre Beziehungen zueinander? Und was bedeuten diese Beziehungen für ihre individuelle Entfaltung, aber auch für die politischen Wirkungs- und Lebensweisen?

Mein Schreiben beschäftigt sich mit Freundschaft und Liebe, mit politischer Schwesternschaft aber auch deren Infragestellung, mit autonomen Strukturen und Solidarität, mit emanzipatorischen genauso wie mit schwierigen Mutter-Tochter-Beziehungen und komplizierten weiblichen Familiengenealogien.

Weiblicher Eigensinn war oft dann möglich, wenn Frauen einander »die Seele ausfüllen«,3 wenn sie sich der patriarchalen Spaltungsmaschine entzogen, sich von der männerzentrierten Welt ab- und sich einander zuwandten; Frauenbeziehungen können eine Patriarchats-unterminierende Kraft haben, denn sie ermöglichen, dass Frauen ihre Orientierung an Männern, an einem heterosexistischen System und an einengenden Liebesmodellen lockern. Frauenfreundschaften können Selbstentfaltung auslösen, die Entwicklung eigenständiger Lebensvorstellungen befördern. Und sie können politische Aufstände bewirken.

Ich habe in meinem Schreiben versucht, die Frauenbeziehung vor Profanisierung und Banalisierung zu bewahren. Mein Anliegen ist es, sie aus der »Kalenderblattbetulichkeit« (Silvia Bovenschen)4 zu befreien und sie zu einem beunruhigenden und aufregenden, ja verheißungsvollen Thema zu machen. Ich halte jedes Gefühl, jedes noch so kleine, das eine Sehnsucht nach einer Frau, nach Frauenbeziehungen enthält, für wichtig. Ich glaube, wir müssen lernen, diese Gefühle aufzuspüren, ihnen nachzugehen und ihnen nachzugeben, sie überhaupt wahrzunehmen. Wenn Frauen beziehungsweise FLINTA*-Personen einander als Subjekte ernst nehmen und anerkennen, ist das eine Revolution.

Beziehungen zwischen Frauen wurden in der Philosophiegeschichte als unbedeutsam betrachtet, es waren die Beziehungen unter Männern, denen man nachsagte, dass aus ihnen wichtige Werke hervorgehen.5 Die Männerfreundschaft wurde als kulturschaffende Potenz gegenüber der als kulturfeindlich und körperlich eingestuften Verlockung der Frauen zelebriert, als eine Beziehung, in der Männer einander spiegeln und dadurch zu Gleichen machen. Die männlichen Freundschaftskonzepte bedienten narzisstische Vorstellungen, in denen Männer sich wechselseitig idealisieren und dadurch ihr eigenes Ich aufwerten. Männer, so war die Meinung, machen sich in Freundschaften gegenseitig größer, wichtiger, mächtiger.Dieses männliche Freundschaftsmodell ist, wie die Psychoanalytikerin Angelika Ebrecht es formuliert, Ausdruck einer »autoritär patriarchalen Moral«, die sich dadurch aufrechterhält, dass sie durch den Ausschluss der Frauen »die symbiotisch-narzisstischen Verschmelzungswünsche der Männer in Männerbünde umlenkt und damit eine in sich geschlossene männliche Kulturgemeinschaft etabliert«.6

Wenn wir in die Geschichte zurückschauen, sehen wir eine radikale Separierung der Frauen voneinander. Frauen wurden in Familien vereinzelt, und sie wurden in den großen Mythen oft als Konkurrentinnen und Feindinnen dargestellt. Wenn sie mal als Kollektiv auftreten, etwa im Amazonen-Mythos oder in der Frauenbewegung, wurden sie in den männlichen Sichtweisen meist als gefährlich, als pathologisch, als übertrieben geschildert. Frauenverbündung galt und gilt als Bedrohung, sie musste degradiert werden, während Beziehungen unter Männern ein hoher Stellenwert attestiert wurde. Auf diese Weise entwickelte sich eine insgesamt männerbündlerische Gesellschaftsstruktur.

Frauen wurden daraus nicht nur ausgeschlossen, sondern auch als diejenigen imaginiert, die nichts sehnlicher wollen, als in den Männerbünden aufgenommen zu werden. Aus Sicht der männerbündlerischen Struktur würden Frauen alles dafür tun, um dazuzugehören – etwa sich »hochschlafen«, notfalls einander »die Augen auskratzen«, oder, in der anderen Variante, sich als Bewunderinnen und Kaffeekochende dieser Männerbünde aufopfern und selbstverständlich weitere Söhne für den Männerreigen gebären. In der männlichen Kulturgemeinschaft erhalten Frauen den Status von Konkurrentinnen und Rivalinnen, die um die Gunst der Männer buhlen sollen, anstatt einander zu stärken. Was zur Folge hat, dass diese ständig um den Platz der »besten Mutter«, der »leidenschaftlichsten Geliebten«, der »erfolgreichsten Unternehmerin«, der »Schönsten der Klasse« ringen; und sich dabei gegenseitig mit bewertendem Blick begegnen. Die männerbündlerische Logik teilt Frauen in »gute« und »schlechte« Frauen ein.

Ein Effekt der männerbündlerischen Struktur ist die viel beschworene »Stutenbissigkeit«. Gleichzeitig ist die Idee von der »Stutenbissigkeit« und die Erzählung von der Frauenspaltung selbst ein patriarchaler Topos – die Story, Frauen wären einander die schlimmsten Feindinnen, enthält Wahrheit und ist gleichzeitig eine misogyne Ideologie, die beständig in Umlauf gebracht und dadurch real gemacht wird. Wir sollten der Erzählung von der Stutenbissigkeit gegenüber immer misstrauisch bleiben. Das Patriarchat hat ein Interesse daran, dass Frauen glauben, sie könnten keine solidarischen Beziehungen führen. Anders ausgedrückt: Machtausübung unter Frauen ist einerseits real, wir müssen sie ernst nehmen. In die Waagschale legen müssen wir aber auch die zahllosen Beispiele gelingender Beziehungen, leidenschaftlicher Liebe, produktiver Zusammenschlüsse und subversiver Kollektivierung.

Frauen haben ihre Separierung auch oft unterwandert. Zum Beispiel haben sie eigene Freundschaftspraxen entwickelt und gegen die Entpolitisierung und die Unsichtbarmachung ihrer Beziehungen rebelliert. Die Schriftstellerin Maximiliane Ackers beschreibt schon 1928 »das Erwachen des Ichs im Sein einer anderen Frau«,7 in ihrem Schreiben wird das Ich zum Subjekt im Kontext einer weiblichen Beziehung.

Ähnliches lesen wir in den Brieffreundschaften zwischen Frauen des 19. Jahrhunderts, wie jene zwischen Pauline Wiesel und Rahel Levin Varnhagen: In ihren Briefen geht es nicht um eine narzisstische Spiegelung, nicht darum, das eigene großartige Selbst in der anderen zu potenzieren, sondern wir lesen von einer Beziehung, die es zwei Frauen möglich macht, sich als andere, als Verschiedene zeigen und entwickeln zu können. Wir lernen ein Freundschaftsmodell kennen, in dem es um eine gegenseitige Ermöglichung geht, die »auf der Anerkennung der Integrität der jeweils anderen Frau aufbaut«.8 Die »andere« ist nicht Medium zur Bestätigung des eigenen Ichs, sondern sie bringt die Möglichkeit, über das Eigene hinauszugelangen.

Scheitern

Der Titel meines Buches verspricht eine Revolution, eine Verbündung, Beziehung und Solidarität. Aber die Sehnsucht nach Verbundenheit enthält immer schon Traurigkeit. Denn mit der Erfahrung von Beziehung gehen auch Erfahrungen von Trennung, Differenz und Fremdheit einher. Wir bleiben auch in der Verbundenheit Verschiedene, wir sind nie Gleiche. Es gibt kein intaktes, homogenes Wir, auch nicht unter Frauen. Im Gegenteil: Es gibt Risse und Differenzen, wir finden Zerwürfnisse, Entsolidarisierung und weibliche Machtausübung. Es gibt schwerwiegende Verletzungen unter Frauen, es gibt autoritäre und gewalttätige Mütter, gegenseitige Abwertung. In den historischen wie gegenwärtigen feministischen Bewegungen finden wir Rassismus, eugenische Positionen und Antisemitismus. Frauen kollaborieren mit autoritären Regimen, radikalfundamentalistischen Religionsbewegungen und führen rechtsextreme Parteien an. Frauen wenden sich oft gegeneinander. Ich versuche, in meinem Schreiben auch das Scheitern der Verbundenheit durchzuarbeiten. Die Arbeit an einer Revolution der Verbundenheit funktioniert nicht, ohne Trauerarbeit zu leisten über die Verletzungen, die Frauen einander auch antun.

Wir können Frauenbeziehungen nicht idealisieren. Frauen sind nicht von Natur aus »Beziehungsmenschen« oder gar die besseren Menschen,9 das Ideal einer wohligen Einigkeit ist nicht das, was ich schreibend hier erkunde; ich versuche, eine Utopie der Verbundenheit zu skizzieren und gleichzeitig ihr Misslingen zu verkraften. Weder das Leben noch die Revolution und auch keine Schwesternschaft gibt es ohne Scheitern. Im Anschluss an Ilse Aichingers Aufruf, uns immer selbst zu misstrauen, müssen wir davon ausgehen, dass das Utopische nie einfach gut ist, dafür gibt es zu viele Beispiele, bei denen progressive Bewegungen der Befreiung in autoritäre Systeme, Macht und neue Gewalt umschlugen. Wir müssen uns immer selbst misstrauen, »der Klarheit unserer Absichten, der Tiefe unserer Gedanken, der Güte unserer Taten! Unserer eigenen Wahrhaftigkeit müssen wir misstrauen!« (Ilse Aichinger).10 Womöglich können wir nur vertrauensvoll sein, wenn wir uns selbst misstrauen.

In meinem Nachdenken über Verbundenheit habe ich fünf Themenbereiche erkundet: Freundschaft, Familie, Liebe und Begehren, beziehungsweise Genealogien, politische Schwesternschaft sowie Separatismus. Ich behandle diese Themenfelder nicht mit einem Anspruch auf Vollständigkeit, auch ist das Thema der Verbundenheit mit diesen fünf Themenfeldern natürlich kaum ausreichend beschrieben. Ich bin meinen persönlichen Interessen, meiner Sehnsucht, aber auch Irritationen gefolgt, habe mich dort hintreiben lassen, wo ich am meisten Dringlichkeit verspüre.

Vieles fehlt. Zum Beispiel das Thema des weiblichen Netzwerkens im Job oder auch konkrete Anleitungen zur politischen Vernetzungsarbeit, zur Bündnispolitik in parlamentarischen Strukturen. Nicht, weil ich diese Themen nicht wichtig finde, sondern weil es dazu bereits hilfreiche feministische Literatur, Ratgeber, Podcasts und strategische Anleitungen gibt.

Meine Texte widmen sich der Frage nach weiblicher Verbundenheit und Solidarität weniger mit einem Fokus auf polit- oder karrierestrategische Überlegungen, sondern als Frage einer subversiven Lebenshaltung und Praxis im Alltag – und als eine philosophisch-politische Utopie.

Jedes Themenfeld beginnt mit einem persönlichen Brief an eine für mich wichtige Frau. Daran anschließend folgt jeweils ein Essay, der das Thema historisch, theoretisch-wissenschaftlich und politisch einkreist. Die Briefform ermöglichte es mir, weibliche Verbundenheit in meiner eigenen politischen, theoretischen und persönlichen Praxis aufzuspüren und konkret werden zu lassen. Ich hoffe, dass ich dem Thema auf diese Weise mehr Tiefe, Dringlichkeit, aber auch mehr Sinnlichkeit und Genuss verleihen kann. Ich möchte allen Frauen danken, denen ich in diesem Buch geschrieben habe. Ich möchte ihnen dafür danken, dass sie mir erlaubten, Aspekte unserer Beziehung öffentlich zu machen.

Die Texte in diesem Buch müssen nicht chronologisch gelesen werden. Manche Menschen möchten vielleicht nur die Briefe lesen, oder sie wollen in der Reihenfolge lesen, die ihren persönlichen Interessen am besten entspricht. Alles ist möglich.

 

Franziska Schutzbach

Basel, Juni 2024

Neun Gedanken zu diesem Buch

I. Ich wünschte, mein Schreiben wäre ein Wärmestrom

Ich wünschte, mein Schreiben wäre ein Wärmestrom,11 Denkbewegungen aus Nicht-Kälte und Nicht-Härte, die Zuversicht verbreiten. Ich wünschte, wir könnten schreibend Orte erschaffen, an denen wir einander mit prinzipiellem Verständnis begegnen. Wärmeorte, an denen Menschen einander Liebe und Vertrauen zukommen lassen, das Gefühl, dass man gewollt und angenommen ist. Fürchtete ich nicht den Vorwurf, pathetisch zu sein, würde ich sagen: Wir bedürfen der Liebe und der Liebesfähigkeit, damit wir auch weiterhin zur Hoffnung fähig sind.

Die radikale Kritik des Bestehenden allein bewirkt keinen Wärmestrom und keine Hoffnung. Nur zu kritisieren, zu negieren ist deprimierend und niederschmetternd, es wiederholt jene Erfahrungen in unserer Gesellschaft, die ohnehin verbreitet sind: Ohnmacht, Mut- und Ratlosigkeit, Angst und Abscheu. Wenn wir die Welt verändern wollen, müssen wir auch Zeit und Raum für Wärme, Emotionen, Fantasie und Enthusiasmus bereitstellen. Wir können unsere Kraft und Motive für Veränderung nicht nur aus der Einsicht beziehen, dass die Welt falsch ist.

Wir brauchen auch Ideen von einem besseren Leben, von guter Arbeit, von Teilhabe und Selbstbestimmung – und einem Stück Lebensglück. Nicht zuletzt brauchen wir Träume von erfüllenden Beziehungen zu anderen Menschen und Solidarität. Denn es sind auch die Wünsche nach Liebe, Freundschaft und Austausch, die uns befähigen, aufzustehen und uns gegen Herrschaftsverhältnisse und Spaltung zu wehren.

Ich schreibe, weil ich ins Straucheln geraten bin, nicht weil ich Antworten zu verkünden hätte. Die richtige Form schienen mir Briefe und Essays zu sein, diese Ausdrucksweisen verleihen Freiheit, sie zwingen das Denken nicht entlang von Meinungen und Frontlinien, nicht in Politprogramme und Manifestationen, sondern eröffnen eine Landschaft, durch die wir streifen. Mit Traurigkeit im Herzen und Hoffnung im Gepäck.

II. Wir müssen bessere Bilder von der Zukunft in Umlauf bringen und die Utopie der Verbundenheit bereits im Jetzt suchen

Laut Karl Marx ist »die Konstruktion der Zukunft nicht unsere Sache«, sondern unsere Sache ist »die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden«.12 Feministische Denker:innen widersprechen Marx in diesem Punkt entschieden: Die Zukunft sollte ganz klar »unsere Sache« sein. Es liegt in unserer Verantwortung zu zeigen, welche Welt wir wollen. Wir müssen verständlich machen, warum eine Gesellschaft der Solidarität und Freundschaft, eine Welt ohne Hass und Gewalt besser ist als eine Welt der Konkurrenz, der Hierarchien, geistigen Abschottung und Grenzabriegelung, eine Welt der rassistischen Reinheitsphantasmen, der Nationalismen und der Kriege.

Die queerfeministische marxistische Theoretikerin Bini Adamczak schreibt, ich paraphrasiere: Es gibt einen Mangel an positiver Bestimmung der Befreiung. Eine zu starke Orientierung an der Negation. Der (stark männlich geprägte) Umsturzfetisch ist nicht nur deshalb ein Problem, weil er Adamczak zufolge in ein blockierendes Alles-oder-nichts-Denken mündet, sondern auch eine Vorstellung von linkem, feministischem usw. »Erfolg« blockiert, das heißt, keine Vorstellung darüber zulässt, was wäre, wenn wir die Welt tatsächlich so gestalten, wie wir sie uns wünschen. Nicht zuletzt steht dies der Entwicklung konkreter utopischer Praxen im Weg.13

Es liegt in unserer Verantwortung, bessere und überzeugendere Bilder von Freiheit, Gerechtigkeit und Verbundenheit in Umlauf zu bringen, als die Angebote der faschistischen, reaktionären und religiös-fundamentalistischen Kräfte. Wir dürfen ihnen das Feld nicht überlassen.

Es liegt in unserer Verantwortung, uns auch um eine unperfekte Welt und um unperfekte Menschen – die wir alle sind – zu bemühen. Diese »verrottete Gegenwart« (Thürmer-Rohr) ist das Einzige, was wir haben.14 Auf sie richtet sich unsere Sehnsucht nach einem vergnüglich-aufregenden, sicher-gelassenen, einem erfüllten und sinnlichen Leben. Wir haben nun mal keine andere Welt als diese. Wir können nicht auf einen Idealzustand und optimale Bedingungen warten. Silvia Federici plädiert für eine »freudvolle Militanz«,15 die das gute Leben nicht in die Zukunft verlegt. Die sich nicht zu viel vornimmt und auch in einer nichtperfekten Welt transformative Möglichkeiten mobilisiert. Hoffnung ist nichts, was man einfach hat, nichts, von dem man aufgesucht wird, wenn man nur geduldig wartet, sie ist eine Praxis und eine Fähigkeit, die wir uns immer wieder erarbeiten müssen.

Während klassische (männlich geprägte) Utopien die Überwindung des Gegenwärtigen anstreben, setzt ein feministisches Utopieverständnis, mit Eva von Redecker gesprochen, nicht bei der vollständigen Absage gegenüber dem Alten und dem Gegenwärtigen an, weil auch im Gegenwärtigen bereits Gutes geschieht. Gerade Menschen, die Care-Arbeit leisten, wissen das. Die Verbundenheit ist da, sie existiert schon, wir sind ihrer bereits fähig, trotz allem. Wir sorgen schon füreinander. Fürsorge, Verbundenheit und Gemeinschaft sind real, sie bilden in der Gegenwart Enklaven des Utopischen.16 Auch lesbische beziehungsweise queere Utopiekonzepte zeigen, dass Lebensformen des Dazwischens, des Nicht-Passens als Ausdruck des Utopischen bereits gelebt werden. Im Anschluss an Michel Foucaults Heterotopie17 können wir geltend machen, dass es Orte des Andersseins und der Gegenplatzierung schon gibt. Im Gegensatz zum passiven Hoffen, Wünschen und Erwarten geht es aus dieser Perspektive darum, Praktiken sichtbar zu machen, deren utopische »Spuren« oft verkannt bleiben. Wir müssen sie aufspüren und multiplizieren.18

III. Utopie erfordert Trauerarbeit

Wir sind einander keine Engel. Die Verletzungen, die Frauen beziehungsweise FLINTA*-Personen sich gegenseitig zugefügt haben und zufügen, wiegen schwer. Verbündung beinhaltet deshalb immer auch die Verarbeitung ihres Scheiterns, sie kann nicht einfach hinwegsehen über Machtausübung und Diskriminierung unter Frauen, vergangene wie gegenwärtige. Antisemitismus, Rassismus, Transfeindlichkeit, Ableismus, Klassismus – die feministische Revolution ist davon nicht frei. Es gibt die Utopie der Solidarität nur in Zusammenhang mit Enttäuschung und Misslingen. Die Arbeit an einer Revolution der Verbundenheit funktioniert deshalb nicht, ohne Trauerarbeit zu leisten. Trauerarbeit über die Gräuel, die wir einander angetan haben und antun.

»Es gibt heute keinen Traum von einer anderen Welt […], der nicht von Albträumen […] verstellt wäre, wir können unsere Revolution nicht rein halten von den gewesenen Gemetzeln«, schreibt Bini Adamczak.19 Emanzipatorische Ideen und Revolutionen sind allzu oft selbst in Gewalt, Dogmatismus und Totalitarismus gekippt. Wir müssen durch diese Albträume hindurchgehen, auch die Niederlagen progressiver, linker und feministischer Revolutionen durcharbeiten, ihre Fehlschlüsse und Ausschlüsse konfrontieren.

Für Ernst Bloch und Walter Benjamin ging es um die Einsicht, dass die Zukunft in der Vergangenheit liegt, dass Hoffnung nur als Hoffnung mit Trauerflor zugänglich ist.20 Eine Revolution der Verbundenheit muss auch Verbundenheit mit den Toten sein. Wir können Utopien nur geltend machen, wenn wir auch die erlittenen Verluste beklagen, das Scheitern betrauern und (Selbst-)Kritik üben,21 sonst werden unsere Utopien zu abgeschlossen und starr. »Der verlässlichste Widerstand stammt aus der Fähigkeit zu leben – unversöhnt mit den Zurichtungen an uns und unversöhnbar mit unserer Mittäterschaft«, schreibt Thürmer-Rohr.22 Utopien haben Kraft, wenn sie sich selbst unbehaglich bleiben.

IV. Das Utopische wurde vom Neoliberalismus verschluckt

Der Kapitalismus stellt sich uns als vermeintlich ideologiefreies System dar. In seiner Selbstinszenierung sind immer nur die anderen ideologisch – Kommunismus, Feminismus, die Klimabewegung. Auf diese Weise erscheint der Kapitalismus neutral und damit alternativlos.

Das Utopische beschränkt sich im Kapitalismus auf den Bereich des persönlichen Glücks, auf den Traum einer romantischen Hochzeit, eines aufregenden Urlaubs, einer erfolgreichen Karriere, erfüllender Sexualität, das Streben nach gesunden und schönen Körpern. Das Utopische wird auf eine Arbeit am Ich reduziert und immer weniger mit Sozialkritik oder dem Ziel nach einer besserenoder anderen Gesellschaft verbunden.23

Indem der Kapitalismus das Versprechen der individuellen Freiheit ins Unermessliche pusht, verkehrt er es in sein Gegenteil: Das Versprechen der individuellen Möglichkeiten wird gleichgesetzt mit der Prämisse, alle wären eigenverantwortlich für ihr Glück. Persönliche Freiheitsversprechen werden als Argument benutzt, um Märkte zu deregulieren, Sozialsysteme und Arbeitsrechte abzubauen. Freiheit wird zum Synonym für Entsicherung. Auf diese Weise schlägt die Doktrin der Selbstverwirklichung um in eine Doktrin der Selbst-Verschuldung: Wenn du es in diesem System der freien Möglichkeiten nicht schaffst, bist du selbst schuld. Menschen werden dadurch unfreier statt freier: Du darfst dich nicht beklagen und keine Alternativen fordern, denn du bist doch frei und hast alle Möglichkeiten. Der Neoliberalismus ist das Ende des Utopischen.

Auch Feminismus und queere Befreiung werden vom Neoliberalismus als Selbstverwirklichungsprogramm vereinnahmt. Diversity oder Girlboss-Feminismus sind mit dem Selbstverwirklichungsversprechen des Kapitalismus durchaus kompatibel, inszeniert wird eine Ästhetik der Modernisierung, während sich strukturelle Ungleichheit und die Zerstörung der Ökosysteme verschärfen. Auch geschlechtsspezifische Gewalt bleibt weitgehend unverändert, wir sehen kaum Verbesserung in den Zahlen zu Gewalt an Frauen und queerfeindlicher Gewalt. Genauso wenig Verbesserungen sehen wir in Bezug auf (geschlechtliche) Einkommensungleichheit, die Ausbeutung von Care-Arbeit und Armut. Uns werden »Inklusion«, »Empowerment« und »Vielfalt« versprochen, tatsächlich bleiben die meisten Menschen stecken in Begrenzungen durch Klassenverhältnisse, Rassismus, Migration, Geschlecht.

Soziale Ungerechtigkeit ist in der neoliberalen Zurichtung nur als persönliches Versagen erfahrbar: Du schaffst alles, wenn du nur willst, wenn du es nicht schaffst, hast du versagt. Es entstehen Gefühle der Kränkung, der Frustration, der Scham und des Zu-kurz-Kommens. Die Wirklichkeit ist gegenüber dem, was man uns in Aussicht stellt, immer ungenügend. Die postpolitische Selbstverwirklichungserzählung beschämt und neurotisiert uns permanent, weil sie uns zu gescheiterten Subjekten degradiert, die nie das erfüllen, nie das bekommen, was möglich wäre. Kränkung, Scham und Versagensängste machen die Menschen offen für religiösfundamentalistische, esoterische, gesundheitliche, psychologische Prophetien aller Art, die einfache Erklärungen und schnelle Abhilfe versprechen – und noch mehr Arbeit am Ich abverlangen. Viele dieser Angebote verursachen am Ende noch mehr Kränkung, noch mehr Druck, noch mehr Narzissmus und Versagen, weil auch die versprochenen Zaubermittel nur bedingt helfen (und sie mobilisieren Stupidität anstelle von kritischem Denken).

Die andauernde Kränkung ist nicht zuletzt ein Nährboden für autoritären Populismus und Verschwörungserzählungen.24 Anstatt ein Verständnis für die strukturellen Verhältnisse zu entwickeln, werden wir anfällig für Schuldzuschreibung. Anstatt Sozialkritik zu üben, behaupten wir, andere wären schuld an unserer Misere und an der Misere der Welt: »die Migranten«, »die Pharmaindustrie«, »Amerika«, »Muslime«, »die Medien«, »der Staat«, »trans Menschen«, »Feministinnen«, »der Genderismus«, »Israel«, »die Politik«, »Wokeness«. Kurzum: Gefühle der Angst, Kränkung und Beschämung bedeuten Entsolidarisierung. Wer Angst hat, will auslöschen, bevor er selbst ausgelöscht wird. Es entstehen Wut, Rache- und Vergeltungsphantasmen anstatt Solidarität, Beziehung und Verbundenheit.

Besonders Frauen erleben eine Diskrepanz zwischen den schillernden Versprechungen der Möglichkeiten und ihren realen Erfahrungen. Viele Frauen haben das Gefühl einer permanenten Insuffizienz, nicht gut genug zu sein, nicht schön genug, nicht selbstbewusst, nicht gesund und sportlich genug, nicht die richtige Wahl getroffen zu haben, keine gute Mutter, nicht gut genug im Job zu sein. Das Gefühl, nicht genug zu sein, ist ein Hindernis dafür, tragende Beziehungen aufzubauen. Wer sich defizitär fühlt, geht anderen aus dem Weg, verachtet sich selbst und andere dafür, unzulänglich zu sein.

Eine Revolution der Verbundenheit würde bedeuten, als unzulänglicher Mensch mit anderen unzulänglichen Menschen in Bezug zu treten, wider die Angst, wider die Hassgefühle. Wir müssen versuchen, die neurotisierenden Gefühle der kapitalistischen Moderne zu bekämpfen, uns einander auch als Unzulängliche anzuvertrauen und vor allem: das Utopische wieder hereinzulassen.

V. Konflikt, Differenz und Distanz (auch zu uns selbst) sind Teil der Revolution der Verbundenheit

Es heißt, man müsste zuerst sich selbst lieben, um auch andere lieben zu können. Sicher steckt darin viel Wahrheit. Aber in der Revolution der Verbundenheit geht es nicht um eine unkritische Prämisse der Verschmelzung, der Akzeptanz und Liebe. Wir müssen Widersprüche in uns selbst und in unserer Beziehung zu anderen nicht auflösen, sondern können lernen, sie auszuhalten.

Ich denke, wir sollten einerseits unsere Fähigkeit ausbauen, uns selbst und anderen Frauen mit Akzeptanz und Wohlwollen zu begegnen. Andererseits muss dieser liebevolle Blick auch kritisch bleiben. Kritisch zu bleiben gegenüber sich selbst und anderen bedeutet, sich und andere als Subjekte wirklich ernst zu nehmen und sich nicht mit einem infantilisierenden Selbstliebe-Projekt zufriedenzugeben.

Wir sind keine Kinder, sondern Subjekte mit einer Geschichte. Subjekte machen und haben Fehler, sie sind unzulänglich, sie haben Einstellungen gelernt, die sie je nachdem lebenslänglich ver-lernen müssen, sie haben sexistische, rassistische, antisemitische, ableistische und viele andere Prägungen. Wir alle sind tief in Machtverhältnisse verstrickt und stehen nie einfach als rundum »Gute« außerhalb der Gesellschaft. Auch unterdrückte Menschen üben Unterdrückung aus. Opfer von bestimmten Diskriminierungen sind an anderer Stelle privilegiert oder sogar Täter:innen.

Weibliche beziehungsweise queere Selbstakzeptanz ist kein Freiticket für das »So sein«, es reicht nicht, das »So bin ich« selbstbewusst in die Welt zu rufen, es ist noch keine Revolution, die eigene Subjektivität auf Instagram oder TikTok zu platzieren und Akzeptanz und Anerkennung zu beanspruchen. Natürlich ist es ein Stück weit emanzipatorisch, nicht normative Existenzweisen sichtbar zu machen und zu feiern. Aber es kann dabei nicht bleiben, Selbstakzeptanz als utopische Prämisse verbindet sich im Kapitalismus oft mit der Ideologie, dass Menschen sich selbstoptimierend und selbstliebend um sich selbst kümmern sollen – und keine Sozialsysteme oder ökonomische Gerechtigkeit benötigen.

Deshalb sollten wir gegenüber der Selbst-Fetischisierung kritisch bleiben; wir können unser Selbst und unser »So sein« nicht sakralisieren, auch das vermeintlich Subversive müssen wir immer wieder kritisch befragen. Es geht in einer Revolution der Verbundenheit, so paradox es klingt, auch um die Fähigkeit, zu sich selbst Distanz einzunehmen, es geht darum, dagegen zu revoltieren, dass wir uns unkritisch in uns selbst beheimaten. In der feministischen Revolution müssen wir versuchen, heimatlos zu bleiben im Kapitalismus, im Patriarchat, in vereinheitlichten Volkskonzepten, im »Vaterland«25 – das heißt, ein Stück weit müssen wir auch heimatlos bleiben in uns selbst.

VI. Frauen

Die Bezugnahme unter Frauen in einer männlich dominierten Welt ist wichtig, aber auch kompliziert. Weil sie eben nicht einfach nur positiv sein kann. Die Bezugnahme unter Frauen beziehungsweise FLINTA*-Personen entwickelt gerade dann emanzipatorisches Potenzial, wenn sie Kritik und Reibung zulässt, auch durch Konflikte kann ein »Sense of Togetherness«, können Formen von Kollektivität entstehen.26 Wir kommen Erkenntnissen nur streitend näher, das heißt, wenn wir uns erlauben, gerade keine einheitliche Gruppe von Schwestern bilden zu müssen, mit festen Kategorien, wer dazugehört und wer nicht. Denn »die Frauen« gibt es nicht, diese kollektivierende Fehlannahme ist gerade eine Folge patriarchaler Geschichtsschreibung und Ideologie. In der Revolution der Verbundenheit geht es also auch um die Betonung von Differenz und damit um die Ermöglichung, als Subjekte, als Individuen sichtbar und hörbar zu werden.

Mit den Begriffen »Frauen« und »weiblich« lade ich alle ein, sich in ihnen zu verorten, die das wollen – oder teilweise wollen, mit Brüchen und Vorbehalten. Unabhängig von Körpern. Das Spektrum von Frausein ist nicht nur cis, es ist FLINTA*, ist cis, inter, trans, non-binär, ist lesbisch, queer, hetero, bisexuell, asexuell und vieles mehr. Weibliche Verbundenheit und Solidarität sind aus meiner Perspektive nicht von Chromosomensätzen und eindeutigen sexuellen Ausrichtungen abhängig.

Ich verwende den Begriff »Frauen« nicht als eine feste homogene Kategorie, denn es gibt nicht die Frauen. »Frau« und »weiblich« verstehe ich als historische, in Verbindung mit sozialen, kulturellen und biologischen Dimensionen entstandene Zuschreibungen und Konstrukte und nicht als feststehende Identität oder »Natur«. Geschlechtsidentitäten sind vielfältig. Nicht alle Menschen verstehen sich ausschließlich und immer als Frau oder als Mann. Nicht alle, die weiblich sozialisiert und zugeordnet wurden, identifizieren sich als »Frau«. Umgekehrt sind viele Menschen Frauen, die bei der Geburt nicht so zugeordnet wurden.

Die Verbundenheit, um die mein Schreiben kreist, definiert nicht, was eine Frau ist oder was man mitbringen muss, um »weiblich« zu sein oder sich dort politisch zu verorten. Ich schreibe mich in die Begriffe ein als politische Kategorien, die ermächtigend wie problematisch zugleich sind.

Problematisch, weil mit der Zuschreibung »Frau« patriarchale Stereotype, (biologistische) Ideen und Diskriminierung verbunden sind und eine binäre Ordnung zementiert wird. Ermächtigend: weil jene, die diese Kategorie bewohnen, sie oft durchaus gern bewohnen, auch deshalb, weil sie sie immer schon auf subversive, widerständige und eigensinnige Weise bewohnen und nie einfach so, wie man ihnen sagt. Nicht zuletzt ist »Frau« deshalb ermächtigend, weil Menschen unter diesem Label wichtige emanzipatorische Kämpfe geführt haben und weltweit immer noch führen.

Weiblich ist genauso wenig systemkonform wie non-binär oder andere Geschlechteridentitäten jenseits von cis Männlichkeit. Da »Weiblichkeit« beziehungsweise »Frau« nach wie vor abgewertet, diskriminiert und unsichtbar gemacht wird, ist es auch immer noch subversiv und emanzipatorisch, »weiblich« zu beanspruchen, es zu proklamieren, sich als »weiblich« zu verorten, darunter emanzipatorische Politik zu machen und Gesellschaftskritik zu üben. Genauso wie es emanzipatorisch ist, Non-Binarität oder andere Geschlechteridentitäten jenseits von cis Männlichkeit zu reklamieren.

Gleichzeitig kann es eine wichtige Strategie sein, »weiblich« zu veruneindeutigen27, das heißt zum Beispiel, nicht zu definieren, was genau unter »weiblich« gemeint ist, ob cis, trans oder andere. Wir müssen die Widersprüchlichkeit aushalten, dass sowohl die identitätspolitische Reklamierung von »Frau« wie auch deren Dekonstruktion gleichzeitige wichtige und legitime politische Strategien sind. Je nachdem ist manchmal das eine oder das andere sinnvoll, und manchmal beides gleichzeitig. Es gibt nicht die eine richtige Politik. Sondern eine lang anhaltende Diskussion darüber, wie wir »Frau«, aber auch »trans«, »cis«, »Non-Binarität« jetzt und in Zukunft benutzen und politisieren. Wir müssen das Spannungsfeld aushalten zwischen der fortdauernden Notwendigkeit, mit Begriffen und Kategorien zu sprechen, und der Skepsis gegenüber normierender Zuordnung.

Vielleicht finden auch jene, die sich nicht in »weiblich« verorten (wollen), sondern non-binär oder männlich identifiziert sind, Anschlüsse in meinen Texten. Vielleicht finden sie sich in manchen Teilen, in anderen nicht. Wir sind nie ganz Teil von etwas oder nicht Teil von etwas. Auch darum geht es in diesem Buch.

VII. Raus aus dem Internet

Die digitale Öffentlichkeit hat ermöglicht, Menschen und Anliegen sichtbar zu machen, die vor wenigen Jahren noch kaum sichtbar waren. Das ist großartig. Gleichzeitig sind wir an einem Punkt angekommen, an dem wir uns fragen müssen, inwiefern die sozialen Medien auch zu Spaltung, Entsolidarisierung und polarisierenden Fehlschlüssen führen. Wir müssen uns fragen, inwiefern der digitale Aktivismus unsere Energien und unsere Fähigkeit beschädigt, tragende Bewegungen und Beziehungsstrukturen aufzubauen. Manche Studien kommen mittlerweile zum Schluss, dass die sozialen Medien progressiven Anliegen mehr schaden als dienen.28

Das hat verschiedene Gründe, zentral ist vor allem: Zwar ermöglichen es die sozialen Medien, Aufmerksamkeit für Themen zu generieren, aber das verlockt uns zu dem Fehlschluss, dass wir dies bereits für die eigentliche politische Arbeit und Veränderung halten. Aufmerksamkeit und viele Likes allein reichen aber nicht aus, um Veränderungen zu bewirken, es braucht dazu: Bündnisarbeit, Zusammenschlüsse, langfristige Bewegungen, die hartnäckig und kontinuierlich und über Grenzen hinweg zusammenarbeiten, um bestimmte Ziele zu erreichen. Revolution funktioniert nicht – oder nur kurzfristig und nicht nachhaltig –, wenn Einzelne auf Instagram oder Twitter sagen: Jetzt ändern wir was, und dann ändert sich was. Wie der Bewegungsforscher Gal Beckerman in einem Interview formuliert: »Ich fürchte, was wir in den letzten 10 oder 15 Jahren gesehen haben, sind Bewegungen, die sehr hell aufscheinen, aber nicht wirklich konkrete Veränderung erreichen.«29

Natürlich ist es wunderbar, Ideen schnell verbreiten zu können, das hat es bisher in der Geschichte nicht gegeben, dass alle, die wollen, ihre Anliegen verbreiten können, ohne auf die großen Medien angewiesen zu sein. Das hat eine enorme Kraft, und es hat, wie bei MeToo, wichtige Debatten ausgelöst. Aber, wie Beckerman anmerkt: »Wenn ich so schnell von null auf hundert gehen kann, wenn ich morgens aufwachen kann und ich bin wütend über eine Sache, und innerhalb eines Tages könnte ein viraler Post einen Protest mit ein paar Tausend Leuten auslösen, dann hat man viele Schritte dazwischen ausgelassen.«

Wie die Soziologin Zeynep Tufekci in ihrem Buch Twitter and Tear Gas30 schreibt, muss eine politische Bewegung eigentlich langsam Muskeln aufbauen. Sie muss einen Sinn für Solidarität und Verbindlichkeit etablieren, unter denen, die mitmachen, eine Bereitschaft, sich zu verpflichten, eine gemeinsame Vorstellung davon, was die Ziele sind. Diese Dinge können nicht passieren, wenn es zu schnell geht. Viral gehen ist das eine, es braucht aber, um Veränderungen herbeizuführen, sehr viele Schritte, die nicht öffentlich sind, die auf den ersten Blick vielleicht gar nicht auf ein Anliegen einzahlen.

Beckerman nennt ein Beispiel, den Busboykott von Birmingham Mitte der Fünfzigerjahre: Von Rosa Parks, die sich weigerte, dem rassistischen Gesetz Folge zu leisten und als Schwarze Person hinten im Bus zu sitzen, haben die meisten gehört.

Aber was viele nicht wissen: Daran schloss sich ein Jahr lang ein organisierter Boykott an. Die Aktivist:innen schafften es, ein ganzes Jahr lang von den Bussen wegzubleiben, und zwangen damit die Stadt dazu, eine Veränderung dieses Gesetzes zu verhandeln. Was in diesem Jahr passierte, war viel mehr als ein Tweet, es steckte viel Arbeit dahinter, zu ermöglichen, dass die Menschen ohne Bus zur Arbeit kommen: Es wurden Fahrgemeinschaften, Kinderbetreuung und vieles mehr organisiert. Die Dynamiken und Hyperlautstärke sozialer Medien lassen uns oft fälschlicherweise annehmen, wir wären bereits weiter, als wir eigentlich sind, das verhindert eine Revolution der Verbundenheit, die dringend nötig wäre im Sinne eines Aufbaus von tragenden Organisierungen und verbindlicher langfristiger Zusammenarbeit.

Die sozialen Medien sind aber auch in anderer Hinsicht verbundenheitsschädigend: Am meisten Aufmerksamkeit erhalten polarisierende, nicht differenzierende Meinungen. Das Versprechen der Aufmerksamkeit verleitet auch besonnene Menschen zu schnellen Statements und polemischen Äußerungen, das führt insgesamt nicht zu Verständigungsprozessen, sondern geschürt werden negative Reaktionen, Ablehnung, Rachegefühle, Spaltung statt Verständnis und Solidarität.

Das Öffentlichwerden von allem und allen hat in den vergangenen Jahren eine Art abstrahierende Positionierungsschlacht verursacht, die zu schnellen gegenseitigen Bewertungen und Absolutismus verlockt. Ohne ein lebendiges reales Gegenüber können wir austeilen, uns positionieren, ohne die Wirkung von unserem Handeln in einem Gegenüber wirklich wahrzunehmen. Wir sehen die Verletzung, die Kränkung von anderen nicht, die Nuancen und Körperpraktiken von realen Gesprächen gehen verloren, das Brechen einer Stimme, die Angst oder Beklemmung in den Augen meines Gegenübers – all das sehen wir nicht. Das führt zu schnellen Meinungen, zu hartem Gemetzel, wir benehmen uns, wie wir uns in Gesprächen mit realen Menschen niemals benehmen würden.

Netzaktivismus besteht heute in großen Teilen darin anzuklagen, anzuprangern, die Verfehlungen von anderen zu thematisieren. Das kann in konkreten Fällen und Themen durchaus eine sinnvolle politische Strategie sein, aber sie reicht nicht aus. Sie reicht nicht aus, wenn es darum geht, politische Strukturen und solidarische Verbindungen aufzubauen, mittels denen wir längerfristig an Themen dranbleiben können und die auch selbstkritische Lernprozesse ermöglichen. Dazu brauchen wir Diskursräume jenseits von Angst und Beschämung, in denen auch über Grenzen hinweg an politischen Differenzen genauso wie an Schnittmengen und gemeinsamen Zielen gearbeitet werden kann.

Wenn wir tragende Bewegungen aufbauen wollen, braucht es Räume, in denen wir angstfrei sprechen können, ohne dass dieses Sprechen sofort von bestimmten Interessen und medialen Logiken instrumentalisiert wird. Wir brauchen wieder mehr Räume, in denen gesprochen wird, nicht um Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit zu generieren, sondern um Verständigungsprozesse und Verbundenheit zu ermöglichen.

VIII. Reformarbeit innerhalb bestehender Politsysteme oder separatistische Revolution? Beides ist nicht zu haben, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.

Wann immer man mich fragt: Aber wie holen wir die Männer ins Boot?, ist meine Antwort: Holt Frauen ins Boot. Das hat Priorität, das hat Wirkung. Feministische Politik muss nicht Männer und den Mainstream überzeugen, sondern Frauen beziehungsweise FLINTA*-Personen. Bisherige feministische Bewegungen waren dann erfolgreich, wenn Frauen sich vernetzten, verbündeten. Es war nicht die Überzeugung der Männer, es war die Verbindung der Frauen beziehungsweise FLINTA*-Personen, die Gesetze kippte, politische Fortschritte und Reformen ermöglichte. Es sind Bündnisse und Koalitionen unter Frauen, auch über große Unterschiede, über politische und nationale Grenzen hinweg, die Veränderung ermöglicht haben und ermöglichen.

Das bedeutet nicht, dass diese Beziehungen harmonisch oder un-hierarchisch waren, im Gegenteil, sie waren nicht selten durchzogen von Machtansprüchen und Ausschlüssen.31 Trotzdem sind die Schritte, die die Frauenbewegungen erkämpften, das Ergebnis hartnäckiger Beziehungsarbeit. Dieses Beziehungshandeln ist aber unsichtbar gemacht worden, weil die männliche Geschichtsschreibung sich auf singuläre Helden und Heldinnen fixiert, die männliche Geschichtsschreibung will mutige Ausnahmeerscheinungen und Triumphgeheul, wie die Historikerin Heike Specht herausstellt:

»Vielleicht wird der Einfluss, den Frauen auf unsere Gesellschaften in den letzten hundert Jahren nahmen und nehmen, in der Geschichtsschreibung und politischen Berichterstattung so oft übersehen, weil ihr Kampf so gänzlich unmartialisch ausgefochten wurde und wird, weil so wenig Triumphgeheul im Spiel ist, so wenig brennende Barrikaden. Unser Fokus auf Revolutionen, die stets als etwas durch und durch Männliches wahrgenommen wurden, verstellen uns den Blick auf die große, aber langwierige und meist wenig glamouröse Reformarbeit der Frauen, die vor allem durch hartnäckige Beziehungsarbeit möglich war. Die größte Revolution der Geschichte hat unbemerkt stattgefunden, schleichend. Es gab zwar auch einzelne Protagonistinnen, aber nicht Heldinnen im männlichen Sinne. Hinzu kommt, dass die Themen und Anliegen der Frauen über Jahrzehnte kleingeredet und marginalisiert wurden. ›Frauenpolitik‹, das galt vielen als ein kleiner Garten ganz am Rande der großen, wichtigen Politik, den ein paar emsige Damen beackern durften.«32

Dabei sind nicht nur Reformarbeiten und Veränderungen innerhalb der bestehenden Systeme wirksam, es gibt auch eine lange Geschichte separatistischer Zusammenschlüsse, die sich aus dem System verabschiedeten und eigene Strukturen, Orte und Organisationen etablierten (Frauenbuchläden, Frauenhäuser, Frauengesundheitszentren, Frauenverlage usw.). Die Frauenhaus-Bewegung formulierte das Motto »Frauen helfen Frauen«. Andere Beispiele der separatistischen Organisierung sind die lesbischen Gruppierungen in den 1970ern, die eigene Häuser, Genossenschaften, Kampfsportausbildungen praktizierten und dazu aufriefen, sich von Männern und der Männerwelt vollständig abzuwenden.

Für manche Anliegen lassen sich keine oder viel zu langsam parlamentarische Mehrheiten erringen, Frauen haben deshalb oft Dinge selbst umgesetzt und autonome Strukturen mit eigenen Geldflüssen und Organisationsformen aufgebaut. Die kurdische Frauenrevolution in Rojava ist wohl weltweit eines der beeindruckendsten Beispiele einer autonomen Frauen-Organisierung (allerdings auch eine der bedrohtesten).

Reform oder separatistische Revolution? Für beide Strategien gibt es gute Argumente, und manchmal müssen wir verschiedene, sich scheinbar widersprechende Strategien gleichzeitig anwenden. Wir können reformieren und trotzdem die Utopie anstreben. Wir können reformistisch vorgehen und gleichzeitig autonome Strukturen bilden.

Was auch immer wir tun, wir müssen uns bewusst sein, dass Reformen oft Kompromisse mit Gewaltsystemen bedeuten und dadurch Mittäterschaft produzieren. Und wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass auch der separatistische Zusammenschluss Täter:innenschaft nicht ausschließt: Keine Revolution ist unschuldig. Es gibt kein herrschaftsfreies Außen. Was immer wir tun, wir werden uns die Hände schmutzig machen. Wir müssen die Revolution der Verbundenheit trotzdem versuchen.

IX. Der Wärmestrom meiner Mutter

Lange Zeit dachte ich, es wäre mein Vater gewesen, der mir, mit seinem Interesse für Politik und Philosophie, ein politisches Bewusstsein weitergegeben hat. Heute weiß ich, dass meine Mutter einen mindestens so großen Anteil trägt.

Der Einfluss von Frauen ist oft nicht sofort klar, wir sind es gewohnt, den männlichen Einfluss zu betonen und wahrzunehmen. Meine Eltern haben uns als Kinder viel vorgesungen. Geprägt haben mich vor allem die Lieder, die meine Mutter uns vor dem Schlafen sang. Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass das nicht nur einfach Lieder waren, sondern vielmehr die Vermittlung eines Lebensgefühls und einer Lebenshaltung. Diese Lieder waren meine erste politische Erfahrung, durch sie entwickelte ich zunächst auf der affektiven Ebene Empathie für Lebenslagen, die sich von meiner eigenen unterschieden.

In Mutters Liedern ging es oft um Schwächere, um gesellschaftlich marginalisierte Menschen. Um Ausgestoßene, aber auch um Verfolgte und Diskriminierte. Eine Liedgeschichte handelte von einer kleinen Krähe aus Wolle, die ein zu kurzes Bein hatte. Im Spielzeugladen wollte deshalb niemand das Plüschtier kaufen. Die Krähe war sehr traurig und einsam. Bis eines Tages ein kleiner Junge in den Laden kommt und – entgegen der Meinung der Erwachsenen – unbedingt diese versehrte, diese unperfekte Krähe haben will.

Das Lied, das mich am meisten beeindruckt hat – vielleicht, weil es kein Happy End hat –, war ein jüdisches Schlaflied aus dem Krakauer Getto. Es heißt »Hungerik, dajn Kezele«. Es ist die todtraurige Geschichte einer Mutter, deren Kind Hunger leidet und das deshalb nicht einschlafen kann. Die Mutter versucht, das Kind mit Versprechungen und Beschwichtigungen zum Schlafen zu bringen: Morgen gibt es wieder Brot, deine Katze (Kezele) ist auch hungrig, deine Puppe auch. Mama ist auch hungrig. Schau, mach es wie Mama, schlaf, das lindert die Not.

Schlof schojn, majn orem klejn mejdele/

wajl der schlof lindert di nojt.

Vor wenigen Jahren erst erfuhr ich, woher das Lied kam. Es wurde von Mordechai Gebirtig in den 1930er-Jahren komponiert. Der Möbelarbeiter wurde 1877 in Krakau geboren, er war einer der größten polnisch-jiddischen Volksdichter und Sänger. Überall, wo Juden und Jüdinnen aus Osteuropa zusammenkamen, kannte man die Lieder des Tischlers aus Krakau. Am 4. Juni 1942 wurde Gebirtig im Krakauer Getto von einem deutschen Soldaten erschossen. Auch seine Familie, Frau und Kinder wurden ermordet.

Meine Mutter hatte durch ihre polnischen Wurzeln Zugang zu diesen Liedern. Ich selbst hatte damals weder eine Vorstellung von einem Getto noch von der Judenverfolgung. Aber ich spürte, dass es hier um etwas ging, das größer und gravierender war als mein eigenes, unmittelbares und einigermaßen sicheres Leben. Ich spürte Abgründe und Verzweiflung, Gefahr auch. Vor allem aber erschütterte und bestärkte das Lied vom hungrigen Kind meinen kindlichen Gerechtigkeitswunsch, es möge doch allen, wirklich allen gut gehen.

Ich bin meiner Mutter dankbar, dass sie mir nicht nur »Alle Vögel sind schon da« oder »Schlaf, Kindlein, schlaf« vorsang. Mit ihren existenzielleren Liedern vermittelte sie mir früh einen Sinn auch für das »Böse« und Ungerechte. Die Lieder erlaubten mir, Beklommenheit und Schwermut zuzulassen, vor allem lehrten sie mich, über meine persönliche Lebenslage hinauszufühlen. Ich glaube, ihre Lieder waren meine erste politische Erfahrung. Denn es war klar, dass diese Lieder nicht direkt von mir handelten. Ich war ja nicht im Getto und nicht jüdisch.

Ich habe diese Lieder auch meinen eigenen Kindern vorgesungen. Vor dem Schlafen, oder auch einfach so. Lange Zeit habe ich sie mehr oder weniger unreflektiert gesungen, aber mit viel Leidenschaft – so, wie man eben Traditionen oder Rituale weitergibt.

Irgendwann aber begann ich, mich mit der Frage zu beschäftigen, was Frauen an Frauen weitergeben, Großmütter an Mütter, Mütter an Töchter. Ich fragte mich, was ich von meiner Mutter bekommen und übernommen habe. Aus meinen Fragen wurden grundsätzlichere Recherchen, Erkundungen, eine Suche. Ich stellte fest, dass die Frage, was Frauen einander, aber auch überhaupt weitergeben, nicht nur eine persönliche, sondern eine politische ist, eine grundsätzliche Frage: Was geben Frauen weiter in einer Gesellschaft und einer Menschheitsgeschichte, in der die sogenannten Hebel der Macht in Politik, Kultur, Wirtschaft und auch in der Geschichtsschreibung bis heute mehrheitlich von Männern besetzt sind?

Wo sind die Ritzen und ungeahnten Zwischenräume, in denen Frauen und andere minorisierte Menschen – oft jenseits großer Bühnen – etwas weitergeben? Zum Beispiel eine Politisierung mit einem jüdischen Wiegenlied?

Es ist eine persönliche Anekdote, aber in ihr enthalten ist einiges von dem, was ich in diesem Buch niedergeschrieben habe, eine persönliche wie politische Auseinandersetzung mit weiblichen Beziehungen. Die Lieder meiner Mutter sind eine persönliche Geschichte, aber sie verweisen exemplarisch auf etwas, das verallgemeinerbar ist, nämlich dass Frauen in ihren Wirkweisen oft nicht wahrgenommen werden, auch für Töchter sind die Wirkweisen der Mütter, Großmütter oder anderen weiblichen Familienmitgliedern oder auch von Frauen außerhalb der Familie, etwa Lehrerinnen, oft nicht auf Anhieb wahrnehmbar, weil die Bedeutung der Väter und Großväter, der Brüder und Söhne in Familien und in der Gesellschaft höher bewertet wird. Wir lernen, Männer zu beachten und zu lieben.

Die Geschichte verweist weiter in einem ganz konkreten Sinne auf eine Politisierung durch Frauenbeziehungen, darauf, wie durch Verbundenheit zwischen Frauen ein politisches Bewusstsein entstehen kann, auch dies ist exemplarisch, wenn wir uns die Geschichte der Frauenbewegungen anschauen: Die Politisierung durch Beziehungen.

Die Lieder meiner Mutter waren ein Wärmestrom, es waren Gefühle, die mich politisierten. Ich habe versucht, in diesen Texten weiterzuspinnen, was meine Mutter mir mitgab.

1 Freundschaft

»Ich kan nie ganz unglücklich seyn, da Du meine Freundinn bist.«

(Caroline Schlegel)33

 

 

Liebe Freundin,

 

wir waren früher, als junge Frauen, befreundet. Dann haben wir uns voneinander entfernt. Und nun haben wir uns nach vielen Jahren wiedergefunden. Die genauen Umstände und Gründe der damaligen Trennung sind vielfältig. Auch unsere Wiederbefreundung ist eine komplexe Geschichte. Wir sprachen einige Male darüber; in manchen Punkten haben wir unterschiedliche Wahrnehmungen und Erinnerungen. Wichtig aber war – ich denke, hier sind wir uns einig –, dass ich ein weiteres Kind bekam. Du wolltest keine Kinder. Meine starke Orientierung an der Familie, meine Verpflichtungen, die fehlende Zeit und die Erschöpfung trieben uns auseinander. Uns beiden fehlte das Verständnis für die Situation und die Bedürfnisse der anderen.

Viele Frauenfreundschaften geraten ins Wanken, wenn eine von beiden in diesen Kinder-Orbit eintritt. In meinem Leben gab es spätestens mit der Geburt des zweiten Kindes kaum mehr Zeit und Raum für Freundschaften. Mir wird das erst jetzt bewusst. Die Prioritäten verschoben sich schleichend, der zehrende Alltag zwischen Erwerbstätigkeit und Familie zerrieb mich. Vieles blieb auf der Strecke. Freundschaften, aber auch die Sorge für mich selbst, der Lebensgenuss, Kultur. Wäre ich weiter mit dir befreundet geblieben, hätte ich all das vermutlich noch bewusster und schmerzhafter wahrgenommen, vermutlich hättest du mir den Spiegel vorgehalten. Vermutlich wollte ich genau das verhindern. Und bin dir auch deshalb zunehmend ausgewichen.

Es waren Zeiten, in denen es in der Schweiz keine bezahlbaren Kitaplätze gab (gibt es immer noch kaum) und es überhaupt als falsch galt, Kinder mehr als zwei Tage pro Woche in eine Krippe zu geben. Ich musste täglich mit meinem schlechten Gewissen hadern, weil ich eine Doktorarbeit schreiben wollte (das bringt doch kein Geld!), ich musste mich rechtfertigen vor anderen Müttern, dass unsere Kinder fremdbetreut waren, ich musste mit dem schlechten Gefühl umgehen, vermeintlich keine gute Mutter zu sein, wenn ich nicht jede Sekunde mit meinen Kindern »genoss«. Ich rang damit, dass ich zwar meine Kinder liebte, aber auch noch andere Projekte hatte, mit denen ich genauso leidenschaftlich identifiziert war. Und ich musste mich dafür verteidigen, dass ich der Meinung war, mein Partner könnte das zwei Monate alte Baby genauso gut betreuen wie ich.

Es war ein Kampf, ein innerer und ein äußerer. Es war ein Kampf, eine gleichberechtigte Aufteilung der Familien- und Hausarbeit umzusetzen in einer Gesellschaft, die genau das boykottiert. Es schien mir fast unmöglich, für mich eine Rolle als Mutter und gleichzeitig als Wissenschaftlerin zu finden in einer Gesellschaft, die diese Gleichzeitigkeit nicht vorsieht. Mehr, als diesen Kampf zu kämpfen, war damals für mich nicht drin. Mir Zeit für mich selbst oder für Freundschaften zu nehmen, schien geradezu frivol. In einem Mentoringprogramm für »Frauen in der Wissenschaft« sagte man uns: Du machst Wissenschaft und Familie – und sonst nichts. Eine Professorin sagte uns, sie habe kaum Freundschaften, eigentlich gar keine Beziehungen außerhalb ihres Berufes oder ihrer Familie. Wir schluckten.

Ich kam kaum je zum Verschnaufen, fühlte mich zugleich tief einsam und vollkommen über-bezogen. Mit kleinen Kindern zu leben bedeutet, ständig zu kommunizieren – mit den Kindern, aber auch mit allen, die an der Kinderbetreuung beteiligt sind. Man hat also einerseits mit vielen Menschen zu tun, mit anderen Eltern, Lehrkräften, Kitabetreuer:innen oder Großeltern – aber es sind oft nicht selbst gewählte Bezüge. Man hat ein gleichzeitiges »zu viel« und »zu wenig« an Kontakt.