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Aller guten Morde sind drei!
Während seine Richterkollegen an den Folgen der schlecht geplanten Digitalisierungswelle verzweifeln, kann Siggi Buckmann über Schwierigkeiten dieser Art nur müde lächeln. Denn kaum ist er von der Hochzeitsfeier seiner Ex-Frau Britta zurückgekehrt, wird er beinahe von einem Auto überfahren, nur wenig später verfehlt ihn ein herabstürzender Blumenkübel um Haaresbreite. Während sein alter Freund Hauptkommissar Hiller an einen Zufall glaubt, ist Siggi sicher, dass es jemand auf ihn abgesehen hat. Schließlich mangelt es nicht an alten Feinden. Aber weil es auf einen mehr jetzt auch nicht mehr ankommt, heckt er rasch einen Plan aus, um dem Killer zuvorzukommen …
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Seitenzahl: 182
Während seine Richterkollegen an den Folgen der schlecht geplanten Digitalisierungswelle verzweifeln, kann Siggi Buckmann über Schwierigkeiten dieser Art nur müde lächeln. Denn kaum ist er von der Hochzeitsfeier seiner Ex-Frau Britta zurückgekehrt, wird er beinahe von einem Auto überfahren, nur wenig später verfehlt ihn ein herabstürzender Blumenkübel um Haaresbreite. Während sein alter Freund Hauptkommissar Hiller an einen Zufall glaubt, ist Siggi sicher, dass es jemand auf ihn abgesehen hat. Schließlich mangelt es nicht an alten Feinden. Aber weil es auf einen mehr jetzt auch nicht mehr ankommt, heckt er rasch einen Plan aus, um dem Killer zuvorzukommen …
Thorsten Schleif, Jahrgang 1980, studierte Rechtswissenschaften in Bonn. Seit 2007 ist er Richter im Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen. Er war am Landgericht Düsseldorf und in der Verwaltung des Oberlandesgerichts Düsseldorf tätig. In den Jahren 2014 bis 2019 war er alleiniger Ermittlungsrichter für die Amtsgerichtsbezirke Wesel und Dinslaken. Gegenwärtig arbeitet Schleif als Vorsitzender des Schöffengerichts und Jugendrichter am Amtsgericht Dinslaken. Nach mehreren Sach- und Hörbüchern folgten die Romane »Richter morden besser«, »Richter jagen besser« sowie »Darf man eigentlich Zombies töten? Unverzichtliches Rechtswissen für Film- und Serienjunkies.« Schleif lebt mit seiner Familie in Duisburg.
Richter morden besser
Richter jagen besser
Darf man eigentlich Zombies töten?
THORSTEN SCHLEIF
ROMAN
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
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Originalausgabe 06/2024
Copyright © 2024 by Thorsten Schleif
Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Joscha Faralisch
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (1981 Rustic Studio kan, Mrspopman 1985, AVN photo Lab)
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-31752-2V001
www.heyne.de
Für Petra
Also noch einmal ganz von Anfang an! Sarah radierte die Bleistiftzeichnung aus. Zum vierten Mal. Dann nahm sie das Schulbuch, das ihrer Tochter Helena gehörte, und blätterte, bis sie die Überschrift »Die vier Kongruenzsätze« gefunden hatte. Helena war erst zehn, ein Nachzögling. Ihr Mann und sie hatten gar nicht mehr damit gerechnet, dass Sarah noch schwanger werden konnte. Die neun Monate waren schwerer gewesen als bei ihren ersten Kindern. Die Geburt ebenfalls. Vielleicht war Helena deshalb ihr Liebling.
Das sorgfältig restaurierte Telefon aus den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, ein echter Eyecatcher auf dem dunklen Schreibtisch, klingelte. Sarah nahm den Hörer ab, ohne den Blick von dem Schulbuch abzuwenden.
»Ich komme«, sagte sie kurz angebunden und legte auf.
Dann schlüpfte sie in die schwarzen Pumps, die sie in Gedanken von den Füßen gestreift hatte, und stand auf.
»Zwei Dreiecke, die in ihren drei Seitenlängen übereinstimmen, sind kongruent«, murmelte Sarah, strich den Rock des hübschen dunklen Kostüms glatt und überprüfte den Sitz des Bandes, mit dem sie ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.
Sie verließ ihr Büro und fuhr mit dem Fahrstuhl hinab in das Untergeschoss des Gebäudes.
Zwei Dreiecke, die in zwei Seitenlängen und in dem eingeschlossenen Winkel übereinstimmen, sind kongruent, wiederholte sie in Gedanken.
Momentan war alles ein bisschen viel. Sie hatte schon darüber nachgedacht, einen Nachhilfelehrer für Helena zu engagieren. Aber Helena hatte sich geweigert, weil sie befürchtete, dass ihre älteren Geschwister sich über sie lustig machen würden. Sarah schmunzelte bei dem Gedanken. Helena war ihr sehr ähnlich. Bloß keine Schwäche zeigen.
Die Fahrstuhltür öffnete sich, und Sarah trat in den langen Gang.
Zwei Dreiecke, die in einer Seitenlänge und den beiden anliegenden Winkeln übereinstimmen, sind kongruent. So weit, so gut.
Sarah öffnete eine der schweren Türen in der Mitte des Ganges. Im Inneren des schmucklosen Raumes warteten bereits Alex und Nicolai. Obwohl die beiden bereits seit über einem Jahr für sie arbeiteten, wusste Sarah nie, wer wer war. Vermutlich weil sich die beiden Hünen mit den dunklen Vollbärten und den kahl geschorenen Köpfen einfach zu ähnlich sahen.
Sarah blickte zu ihrem Gast, der auf dem Stuhl in der Mitte des Raumes saß und einen etwas ramponierten Eindruck machte.
»Bitte, Frau Stogarev«, stotterte er schwer verständlich. Das Reden fiel ihm sichtlich schwer, was entweder auf die aufgeplatzte Unterlippe oder den angebrochenen Kiefer zurückzuführen war. »Ich kann alles erklären!«
Sarah zögerte einen Augenblick.
»Wie lautet der vierte Kongruenzsatz?«
Ihr Gast sah sie verständnislos an.
»Habe ich mir auch nicht gedacht«, murmelte Sarah, nahm die durchgeladene Makarov, die ihr Alex – oder vielleicht war es auch Nicolai – reichte, und drückte ab.
Ich hasse Beerdigungen. Fast ebenso sehr wie Hochzeiten. Wenigstens gibt es bei Begräbnissen keine albernen Spiele. Viele der anwesenden Frauen hatten Taschentücher in den Händen, mit denen sie vorsichtig die Tränen von den Wangen tupften. Vor dem geschmackvollen Blumenarrangement stand der Pfarrer und sprach die üblichen Worte. Etwas Nettes. Etwas zum Nachdenken. Und etwas Hoffnungsvolles. Letzteres konnte ich jedoch kaum verstehen, weil eine etwas korpulente Dame neben mir in diesem Moment besonders laut schluchzte. Ich zog ein Taschentuch aus meinem dunklen Jackett und reichte es ihr. Dankbar lächelnd nahm sie es an und putzte die Nase. Endlich kam der Geistliche zum Ende seiner Rede.
»… willst du die hier anwesende Britta Buckmann heiraten, so antworte mit ›Ja‹.«
Die Antwort von Mark, Brittas Verlobtem, war offensichtlich ausreichend, sodass der Pfarrer zufrieden fortfuhr und sich meiner Ex-Frau zuwandte.
»… den hier anwesenden Mark Steffens heiraten, so antworte auch du mit ›Ja‹.«
Mit Genugtuung stellte ich fest, dass Brittas Antwort nicht ganz so überzeugend klang, wie vor vierundzwanzig Jahren bei unserer Hochzeit. Allerdings unterschied sich diese Hochzeitsfeier hier auch ein wenig von der unseren. Britta und ich hatten lediglich standesamtlich geheiratet und in einem hübschen kleinen Lokal in einem historischen Stadthaus gefeiert, nur einige hundert Meter von unserer damaligen Wohnung entfernt. Dieser Ort hier lag mehr als tausendfünfhundert Kilometer von unserer damaligen Wohnung entfernt und noch dazu auf einer Insel. Ich musste neidlos anerkennen, dass es durchaus einen gewissen Charme haben kann, auf einer Finca in den Bergen Mallorcas zu heiraten, mit Blick auf die Bucht von Palma. Wobei angesichts der Größe des Gebäudes der Begriff Palast womöglich angemessener gewesen wäre. Und selbst meine Befürchtung, dass es im vorgeschriebenen Dresscode mit Smoking und Fliege unerträglich heiß werden würde, hatte sich als unbegründet herausgestellt. Eine leichte Brise, die vom Tal heraufwehte, machte die Temperatur recht angenehm.
»… darfst die Braut jetzt küssen«, beendete der Pfarrer die Zeremonie. Als Mark dem Folge leistete, fingen die Gäste an, begeistert zu klatschen. Ich hielt mich mit meiner Begeisterung zurück.
»Eifersüchtig?«, flüsterte es von der Seite. Robin musterte mich mit amüsiertem Blick.
»Quatsch«, brummte ich und räumte nach einem Moment ein: »Wenn überhaupt, dann allenfalls ein ganz kleines bisschen.«
»Kann ich gut nachvollziehen«, erwiderte Robin ohne jegliche Spur von Eifersucht. »Deine Ex sieht umwerfend aus.«
Britta trug ein Cocktailkleid mit schulterfreiem Ausschnitt aus weißem Crêpe, das ihre schlanke Silhouette ebenso elegant wie verführerisch wirken ließ. Dazu farblich passende Sandalen aus poliertem Leder mit schmalen Knöchelriemchen, sodass ihre langen, gebräunten Beine gut zur Geltung kamen. Ohrringe und Halskette waren perfekt auf das Outfit abgestimmt. Ein dezentes Make-up rundete den Look ab. Fast genau dieselben Worte hatte ich gewählt, um meine Anerkennung zum Ausdruck zu bringen, als uns Britta zu Beginn der Zeremonie begrüßt hatte: »Siehst gut aus.«
Unter anhaltendem Beifall begaben sich Britta und Mark zu einer großen Pyramide aus Champagnergläsern, öffneten eine Magnumflasche und füllten gemeinsam das Glas an der Spitze, bis der Champagner überlief und nach und nach die verschiedenen Ebenen darunter erreichte. Dann verteilten sie die Gläser an die Gäste, wobei sie von einigen ebenso flinken wie unauffälligen Kellnern unterstützt wurden. In kürzester Zeit war jeder versorgt. Britta und Mark stießen an und prosteten der Menge zu, die den Spruch erwiderte.
Während die Gäste nach und nach eine günstige Gelegenheit suchten, um den Brautleuten zu gratulieren, erfüllten ihnen die Kellner jeden Getränkewunsch. Von Champagner und erlesenen Weinen, über Longdrinks und Cocktails bis hin zu …
»Hatten Sie einen schwarzen Kaffee bestellt?«, fragte mich die junge Dame mit der schwarzen Weste freundlich, wenn auch mit etwas zweifelndem Unterton. Ich nickte und nahm ihr dankend die hübsche Porzellantasse ab. Robin unterdrückte ein Kichern.
»Du kannst doch jetzt keinen Kaffee trinken!«, sagte sie gespielt entrüstet.
Ich zog die Augenbrauen hoch. Dann setzte ich betont vorsichtig die Tasse an die Lippen und nahm einen Schluck meines Lieblingsgetränks.
»Alle Anzeichen deuten auf das Gegenteil hin«, erwiderte ich schließlich.
Robin schüttelte tadelnd den Kopf und sog am Strohhalm von ihrem … was auch immer sie da trank. Irgendetwas mit einem rosa Schirmchen. Und komischen Beeren.
»Hättest mir wenigstens einen mitbestellen können.«
Mein Blick schweifte über die etwa hundert Besucher und blieb an zwei jungen Damen hängen, die tailliert geschnittene, schulterfreie Cocktailkleider in einem matten Türkiston trugen, dazu passende Sandalen mit Absatz. Ich schmunzelte, weil ich wusste, dass beide in ihrer Freizeit niemals ein Kleid angezogen hätten. Jedenfalls nicht freiwillig. Doch ihrer Mutter zuliebe hatten sie sich ohne mit der Wimper zu zucken dem Dresscode der Feier unterworfen.
»Du kannst wirklich stolz auf deine Mädels sein«, sagte Robin und hakte sich bei mir ein.
»Bin ich auch!«
Außerdem freute ich mich über die Gelegenheit, beide gleichzeitig sehen zu dürfen, was leider selten der Fall war, seitdem sie studierten. Vor allem Ronja, die mittlerweile für einige Semester am Trinity College in Dublin eingeschrieben war, bekam ich viel zu selten zu Gesicht.
Dann sah ich Robin an und zwinkerte ihr zu.
»Ich habe immer sehr viel Glück mit Frauen gehabt.«
Sie nickte lächelnd. Dann kniff sie ein Auge zu und erwiderte: »Sei bloß vorsichtig, Siggi! Du kennst doch den Spruch: Glück und Glas …«
… wie leicht bricht das! Diese Weisheit geht zurück auf den römischen Autor Publicus Syrus: Glück ist aus Glas, denn wenn es glänzt, zerbricht es auch. Das wusste ich aus meinem Lateinunterricht. Oder aus einer Fünfhunderttausend-Euro-Frage von Wer wird Millionär?. Ist auch egal. Jedenfalls war mir zum damaligen Zeitpunkt nicht bewusst, wie prophetisch Robins Worte sein sollten. Denn Glück war tatsächlich eine präzise Beschreibung meiner gegenwärtigen Lebenslage.
Ich hatte zwei großartige Töchter und eine wunderbare Ehefrau. Na gut, Ex-Ehefrau. Mit der ich allerdings viele Jahre lang glücklich verheiratet und weitere Jahre glücklich getrennt lebend gewesen bin. Britta und ich betrachteten unsere Ehe niemals als gescheitert, sondern als höchst erfolgreich beendet, was sich auch an unseren Töchtern zeigte. Beruflich war ich als Richter am Amtsgericht in der unabhängigsten Position, die ein Richter in Deutschland haben kann.
Außerdem war ich nicht nur unabhängig, ich war frei. Und damit meine ich: Ich saß nicht in einer Gefängniszelle. Auf den ersten Blick war dies natürlich nichts Besonderes. Etwa 99,93 Prozent der Bevölkerung sitzt nicht im Knast. Aber diese 99,93 Prozent haben auch keinen Mord begangen. Das unterscheidet sie von mir. Mein Opfer hieß Ercan Ayaz, war der brutale Bandenchef eines örtlichen Drogenrings gewesen und wurde von mir ermordet, wobei ich mich der tatkräftigen, wenn auch unwissenden Hilfe eines gewissen Özman Yildiz, des früheren Chefs der Organisation, bedient hatte.
Ach ja, der Vollständigkeit halber sollte ich noch die Sache mit dem toten Sohn des Ministerpräsidenten erwähnen. Aber dazu kommen wir noch. In letzteres Ableben war übrigens die ebenso toughe wie attraktive Journalistin Robin Bukowsky involviert, die ich erst vor wenigen Monaten kennengelernt hatte. Unter dem Vorwand, ein Buch über die Justiz zu schreiben, suchte sie anscheinend nach Informationen zu meiner Beteiligung im Mordfall Ercan Ayaz. Eher zufällig war ich über einige Daten auf ihrem Notebook gestolpert, die das belegten. Dann wurden wir beide in einen Immobilienschwindel hineingezogen, hinter dem der russische Mafiapate Dimitris Stogarev steckte. Und der Sohn des Ministerpräsidenten Jeremias Laak. Robin und mir gelang es, Letzterem ein Geständnis … sagen wir zu entlocken, das wir auf Video aufnahmen und ins Internet stellten. Das alles verkomplizierte unser Verhältnis. Das und der Umstand, dass wir schließlich im Bett gelandet waren.
Unter Berücksichtigung dieser Umstände war ›Glück‹ das einzig zutreffende Wort, das meine Lebenslage angemessen beschrieb.
Obwohl ich einen Mord begangen hatte, vielleicht auch zwei, war ich nicht im Gefängnis.
Obwohl mich Robin verdächtigt und beinahe entlarvt hatte, war sie meine Freundin geworden.
Obwohl ein örtlicher Drogenring, ein Spitzenpolitiker und die russische Mafia nicht gut auf mich zu sprechen sein dürften, erfreute ich mich bester Gesundheit.
Das war Glück.
Glück und Glas …
Wenn der Computer in einer Stunde nicht funktioniert, fliegt er aus dem Fenster!« Wütend schmiss Richterin Hellrich den Hörer auf die Gabel des verstaubten anthrazitgrauen Telefons in ihrem Büro. Dann starrte sie auf den altmodischen Apparat. Genauso hätte sie es auch vor einigen Wochen machen sollen, als Oberstaatsanwalt Jakob Leiser sie angerufen hatte! Stattdessen hatte sie eingelenkt und das Gespräch beendet mit dem Satz: »Schick mir die Akte!«
»Hör zu, Paula«, hatte Leiser, der Chef des Drogendezernats, sie geradezu beschworen. »Wenn du das Verfahren nicht übernimmst, können wir es auch gleich vergessen. Mit Dimitris Stogarev wird kein anderer Vorsitzender am Landgericht fertig. Schon gar nicht der Vorsitzende der Wirtschaftsstrafkammer. Der fällt vor Schreck in Ohnmacht, wenn dessen Anwälte nur husten.«
Paula hatte gelacht. Und ihm recht gegeben.
»Und wie gedenkt die Staatsanwaltschaft die Zuständigkeit meiner Kammer zu begründen? Zu deiner Erinnerung: Ich habe eine Jugendkammer.«
»Keine Sorge, da ist uns schon etwas eingefallen«, hatte Leiser sie beruhigt. »Wir können nachweisen, dass in einer von Stogarevs Edeldiskotheken Koks an Jugendliche verkauft worden ist. Und zwar auf seine Anweisung. Das klagen wir einfach mit an und …«
»Wie viel Kokain war es und wie alt waren die Jugendlichen?«
»Na ja«, antwortete Leiser verlegen. »Wir haben zwei Zeugen, die bestätigen, dass im vergangenen Jahr ein Siebzehnjähriger bei mindestens zwei Gelegenheiten ein Gramm Kokain erworben hat.«
»Zwei Gramm Kokain?«, hatte Paula lachend entgegnet. »Was soll denn da rauskommen? Lebenslänglich oder gleich der elektrische Stuhl?«
»Ja. Ich weiß«, hatte Leiser gegrummelt. »Bei einem nicht Vorbestraften wie Stogarev würden deine Kollegen sogar über einen minder schweren Fall nachdenken.«
»Eben. Und außerdem ist es in der Rechtsprechung höchst umstritten, ob die Jugendkammer gegenüber der Wirtschaftsstrafkammer vorrangig ist.«
»Aber eine darauf gestützte Revision würde nicht durchgehen! Höchstens bei Willkür.«
»Da du das Wort jetzt selbst benutzt – genau das wollte ich gerade sagen: Das ist doch Willkür!«
Einen Moment hatten beide geschwiegen. Schließlich war es Leiser, der das Wort wieder ergriff.
»Paula, wir haben im Kollegenkreis lange diskutiert. Wenn du nicht einverstanden bist, dann klagen wir Stogarev bei der Wirtschaftsstrafkammer an. Aber wir sind uns sicher: Die werden ihn gegen Kaution aus der Haft entlassen und das Verfahren wird irgendwann eingestellt werden, weil er nicht mehr aufgefunden werden kann. Das weißt du doch auch!«
Paula atmete hörbar aus. Die folgenden Worte würde sie noch bereuen, das war ihr völlig klar.
»Schick mir die Anklage!«
Das edle Restaurant in der alten Wasserburg diente Ministerpräsident Alexander Laak seit vielen Jahren als Ort für Treffen mit Parteifreunden. Allerdings war er heute zum ersten Mal seit dem Tod seines Sohnes Jeremias vor fast drei Monaten wieder hier zu Gast. Laak hatte neben dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Rainer Hubbert auch seinen Rechtsanwalt Doktor Padel zu dem Treffen gebeten. Nachdem der aufmerksame Kellner die Bestellungen der drei Herren entgegengenommen hatte und wieder verschwunden war, ergriff Laak das Wort.
»Rainer, es ist mir wichtig, dass du in meine nächsten Schritte eingeweiht bist. Deshalb habe ich auch Doktor Padel zu unserem Gespräch hinzugebeten, falls juristische Fragen zu klären sein sollten.«
Doktor Padel nickte Hubbert wortlos zu.
»Zunächst zu dem Ermittlungsverfahren, das gegen Paul Seemann und mich eingeleitet worden ist. Wie du weißt, hat mein Sohn Jeremias kurz vor seinem Tod behauptet, ich hätte ihn vor der geplanten Durchsuchung in seinem Haus gewarnt, weil mich Paul Seemann diesbezüglich informiert hätte. Natürlich weisen Paul und ich diesen Vorwurf entschieden zurück. Weder wurde ich informiert, noch habe ich meinen Sohn gewarnt. Doktor Padel und Pauls Rechtsanwalt haben sich beraten und gegenüber der Staatsanwaltschaft gemeinsam in unserem Namen erklärt, dass mein Sohn vermutlich erpresst worden ist, um diese falschen Behauptungen in die Welt zu setzen. Bedauerlicherweise konnte er dies aufgrund seines Todes nicht mehr richtigstellen. Doktor Padel geht davon aus, dass beide Ermittlungsverfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt werden Paul und ich unsere Ämter jedoch ruhen lassen. Natürlich werden weder er noch ich zurücktreten, dies käme einem Schuldeingeständnis gleich.«
Hubbert nickte. »Verstehe. Das ist sehr vernünftig. Ich hatte schon befürchtet … ich meine, nachdem du die Kanzlerkandidatur zurückgezogen hast …«
»Nur, um der Partei keinen Schaden zuzufügen«, erklärte Alexander Laak. »So hat Friedrich jetzt die Chance, einen vernünftigen Wahlkampf zu führen. Wobei ich ehrlich gesagt nicht glaube, dass er wirklich Chancen hat.«
»Das glaube ich auch nicht«, stimmte Hubbert zu.
»Wichtig ist, dass in dem kommenden Prozess gegen Stogarev der Name Laak möglichst aus dem Spiel bleibt. Vor allem aus den Zeitungen.«
»Werde sehen, was sich machen lässt«, versprach Hubbert. »In jedem Fall werde ich mit Christian sprechen, der kommissarisch das Amt von Paul übernommen hat.«
»Wenn alles gut verläuft, werde ich meinen Hut in vier Jahren wieder in den Ring werfen«, erklärte Laak.
Hubbert zog die Augenbrauen hoch. »Da hast du aber noch einen steinigen Weg vor dir! So schnell wird die Sache mit deinem Sohn nicht vergessen sein.«
»Dieser verdammte Nichtsnutz«, zischte Laak. »Und dieser verfluchte Richter. Hätte er sich nicht eingemischt … Aber der bekommt sein Fett noch weg.«
Jetzt ergriff Doktor Padel zum ersten Mal das Wort.
»Herr Laak, ich beschwöre Sie! Unternehmen Sie in der gegenwärtigen Situation bloß nichts Offizielles gegen Buckmann. Nicht, nachdem man Ihnen eine Einmischung in die Angelegenheiten der Strafverfolgung vorwirft. Das wäre absolut kontraproduktiv für unsere eingeschlagene Strategie. Lassen Sie mich das bitte auf meine Weise regeln.«
»Keine Sorge«, erwiderte Laak ruhig und nahm einen Schluck aus seinem Weinglas. »Ich werde nichts Offizielles unternehmen.«
Die Besprechungszellen der Justizvollzugsanstalt hatten zwei Zugänge, die mit schweren Eisentüren gesichert waren. Die eine Tür führte zum Besucherbereich, die andere in den Zellentrakt. Jeder der kleinen Räume verfügte über einen Tisch aus Metall und zwei Stühle gleichen Materials. Als Özman Yildiz in Besprechungszelle II geführt wurde, saß auf dem ihm gegenüberstehenden Stuhl bereits Rechtsanwalt Schmiegel und hatte einige Unterlagen auf dem Tisch ausgebreitet.
»Herr Yildiz«, sagte der Anwalt und erhob sich respektvoll.
Yildiz nickte und ließ sich wortlos und breitbeinig auf dem anderen Stuhl nieder. Dann deutete er dem Verteidiger wortlos an, sich ebenfalls zu setzen. Nachdem der Vollzugsbeamte hinausgegangen war und die schwere Eisentür geschlossen hatte, ergriff der Rechtsanwalt das Wort.
»Ich habe mich der Sache angenommen, wie Sie es gewünscht haben. Er weigert sich beharrlich, sich von mir vertreten zu lassen und hat einen Kollegen beauftragt.«
Yildiz nickte.
»Wen?«
»Rechtsanwalt Staup. Erfahrener Strafverteidiger. Ein guter Mann.«
»Wie sind seine Chancen?«
Rechtsanwalt Schmiegel zögerte mit der Antwort.
»Wie sind seine Chancen?«, wiederholte Yildiz nun in einem schärferen Tonfall und starrte Schmiegel an.
»Nicht gut«, antwortete dieser und schluckte. »Ich hatte zwar keinen Einblick in die Ermittlungsakte, habe aber über meine Kontakte die Namen der Zeugen erfahren und vertraulich mit ihnen gesprochen. Der Anklagevorwurf stimmt. In allen Einzelheiten.«
Yildiz schnaubte und dachte einen Moment lang nach.
»Welcher Richter wird es sein?«
Schmiegel blickte auf die Notizen, die vor ihm auf dem Tisch lagen.
»Buckmann.«
»Buckmann. Wieder mal Buckmann«, murmelte Yildiz. Dann erhob er sich ohne ein weiteres Wort und ging zur Zellentür. Mit seiner rechten Hand schlug er einmal kraftvoll dagegen, sodass die schwere Eisentür in den Angeln klapperte. Rechtsanwalt Schmiegel zuckte zusammen.
»Wir sind hier fertig«, rief Yildiz dem Vollzugsbeamten zu, der vor der Tür gewartet hatte. In der Zelle konnte man hören, wie eilig ein Schlüssel von außen in das Schloss geschoben wurde. Als sich die Tür öffnete, drehte sich Yildiz noch einmal zu Schmiegel um.
»Dafür wird er bezahlen.«
Die Gepäckbänder am Flughafen haben etwas Meditatives. Für mich jedenfalls. Viele Menschen bemerken das gar nicht, sondern sind dort eher angespannt und warten ungeduldig auf ihre Koffer. Aber wenn man sich an das Ende, fernab von den Wartenden, auf eine der Bänke setzt und nur auf das vorbeiziehende Förderband starrt, dann …
»Verdammt, verdammt, verdammt!«, fluchte Robin neben mir. »Warum sind unsere Koffer immer die letzten?«
»Sind sie doch gar nicht. Schau mal, da vorn warten auch noch ein paar Leute.«
»Die gehören zum Flughafenpersonal und warten nur darauf, dass wir endlich verschwinden!«, schnaubte Robin wenig beeindruckt und setzte sich wieder neben mich auf die unbequeme Bank. Dann zog sie die Boulevardzeitung aus ihrer Handtasche, die sie im Flugzeug ergattert hatte, und überflog die ersten Seiten. Plötzlich weiteten sich ihre Augen, und sie studierte konzentriert einen Artikel.
»Hör dir das mal an!«, forderte sie mich auf und las laut vor:
»… soll der Prozess gegen Dimitris Stogarev, der erst vor wenigen Wochen den deutschen Behörden überstellt wurde, bereits am Montag beginnen. Die Staatsanwaltschaft legt Stogarev Betrug in mehr als achtzig Fällen zur Last, durch welchen er mit Hilfe der insolventen Grundstücksgesellschaft W.I.P. Anlagegelder in zweistelliger Millionenhöhe erschwindelt haben soll.«