Wo unsere Justiz versagt - Thorsten Schleif - E-Book

Wo unsere Justiz versagt E-Book

Thorsten Schleif

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Beschreibung

Weshalb klagen Staatsanwälte gefährliche Körperverletzung, bei der ein Messer verwendet wurde, mit völlig unzureichendem Strafmaß an? Warum scheuen Richter harte Strafen? Mitunter in einem dramatischen Fall, bei dem ein Vater seine Tochter viele Hundert Mal missbrauchte. Braucht es hingegen mildere Strafen bei vergleichsweise belanglosen Delikten wie manchem Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz? Nachdem Richter Thorsten Schleif in »Urteil: ungerecht« erläuterte, inwiefern skandalöse Urteile durch systemimmanente Schwächen des Justizsystems bedingt sind, zeigt er nun anhand von 16 brisanten Fällen die ganze Bandbreite von Justizversagen in Deutschland auf. Seine spannenden Geschichten machen deutlich: Das Versagen ist noch sehr viel größer als gedacht!

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Seitenzahl: 210

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Thorsten Schleif

WO UNSEREJUSTIZVERSAGT

Thorsten Schleif

WO UNSEREJUSTIZVERSAGT

Von Messerstechern, Kinderschändern und Polizistenmördern. Ein Richter deckt auf

riva

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2022

© 2022 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Dr. Daniel Bussenius

Umschlaggestaltung: Sonja Vallant

Umschlagabbildung: © Inga Jockel

Satz: abavo GmbH, Buchloe

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-7423-2045-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1802-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1803-6

Weitere Informationen zum Thema finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

In Gedenken an meinen VaterGerd Schleif(1949–2021)

Inhalt

Darüber musst du auch einmal schreiben!

Teil I

Kapitel 1Messermänner heißen ...

Kapitel 2Kein Freund, dein Helfer?

Kapitel 3Ihr lieben Kinderlein

Kapitel 4Der kleine Kindesmissbrauch

Kapitel 5K(l)eine Macht den Drogen

Kapitel 6Heim ins Reich ...

Kapitel 7Einmal Schwarzfahrt hin und zurück

Kapitel 8Geld oder Leben?

Kapitel 9Hängt ihn höher

Kapitel 10Fast and Furious

Kapitel 11Total Recall

Teil II

Kapitel 12Der Richter und die Angst

Kapitel 13Der Richter und der »Führer«

Kapitel 14Der Schandrichter von Weimar

Kapitel 15(Ver)Hüter der Verfassung?

Kapitel 16Alte, weiße Krähen

Was ich noch sagen wollte ...

Anmerkungen

Über den Autor

Darüber musst du auch einmal schreiben!

»Darüber musst du auch einmal schreiben!« Das ist der Satz, den ich am häufigsten gehört habe, seit im Herbst 2019 mein erstes Buch Urteil: Ungerecht — Ein Richter deckt auf, warum unsere Justiz versagt erschienen ist. Ich habe ihn gehört von Richterkollegen, Staatsanwälten, Polizeibeamten, Rechtsanwälten, Freunden, Nachbarn und Bekannten. Im Gerichtsaal oder im Café, zu Hause oder im Büro, im Supermarkt, in der Bahn und sogar am Flughafen. Aber heute höre ich ihn zum ersten Mal in über 1700 Meter Höhe. Und noch dazu von einem Menschen, den ich vor einer Viertelstunde noch gar nicht gekannt habe.

Oberhalb von 1000 Metern wird geduzt — einer der vielen Bräuche, die mir in den österreichischen Alpen sehr gefallen. Auf jeder Hütte kommt man so viel leichter und ungezwungener ins Gespräch, so auch mit der jungen Dame, die gefragt hat, ob sie sich zu uns an den rustikalen Tisch unter den großen gelben Sonnenschirm setzen darf. Die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, Sonnenbrille auf der Nase, Wanderschuhe, Trekkinghose, T-Shirt. Und ein offenes Lächeln auf den Lippen. Schnell stellt sich heraus:

Sie ist Juristin, Staatsanwältin, um genau zu sein, aus Baden-Württemberg. Schon sind wir im Gespräch, reden über die langen Verfahrensdauern und den Lockdown, der zu viele Richterkollegen bewogen hat, das Arbeiten einzustellen.

»Es gibt Kollegen, die angeblich Angst haben, sich in einem Gerichtssaal anzustecken, der die Größe eines Tennisplatzes hat, aber jeden Morgen in der überfüllten U-Bahn zur Arbeit kommen«, sage ich augenzwinkernd.

Ein Grinsen huscht ihr über das Gesicht.

»Jetzt, weiß ich, wer du bist! Du hast doch dieses Buch geschrieben! Ich hab es als Hörbuch gehört. Hat mir gut gefallen!«

»Danke.«

»Wann kommt das nächste?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Kommen die Coronaentscheidungen vor?«

»Vielleicht.«

»Also ich finde: Darüber musst du auch einmal schreiben.«

Schon wieder dieser Satz! Worüber müsste auch einmal geschrieben werden? Robert K., seit über 20 Jahren Polizeibeamter in Berlin, findet, dass über die »viel zu milden Urteile« bei Messerangriffen geschrieben werden muss. Strafverteidiger Günther P., mehr als 30 Jahre im Geschäft, ist der Ansicht, dass sich die Frage der Legalisierung von Marihuana für ein Kapitel eignet. Und Staatsanwältin Christine D. aus Niedersachsen hält ein paar deutliche Zeilen zu den geringen Strafmaßen bei Kindesmissbrauch für längst überfällig. Und zu jeder dieser Anregungen für mein nächstes Buch, die ich seit 2019 immer wieder erhalte, mache ich eine kleine Notiz und zerstöre auf diese Weise die Hoffnung meiner Ehefrau, dass meine »Zettelwirtschaft«, die schon Grundlage meines ersten Buches war, endlich ein Ende hat. Immerhin habe ich damit begonnen, die Notizzettel nur noch an einem einzigen Ort unseres Hauses zu sammeln, meinem neuen Schreibtisch. Na gut, einige vielleicht auch auf dem Nachttisch. Und ein paar auf der Fensterbank in der Küche vielleicht. Jedenfalls ist es deutlich besser geworden. Ein wenig.

Als im Sommer 2021 die Notizzettelhaufen zusammengenommen Buchstärke erreichen, berichte ich meinem Projektleiter Carsten im riva-Verlag von der Idee zu einem neuen Buch.

True Crime

»Was wird es denn?«, fragte Carsten neugierig. »Ein wenig True Crime?«

»Was bitte?« Ich bin zu alt für diese Modebegriffe.

»Ein wenig ›Fälle aus dem Leben des Strafrichters‹ meine ich.« »Ach so.« Sag das doch gleich. »Ja. Auch.«

»Und über was willst du schreiben?«

»Über Kinderschänder, Messermänner und Verfassungsrichter.« Carsten lacht. »Wäre ein schöner Untertitel. Etwas provokativ vielleicht.«

»Wo das doch gar nicht meine Art ist.«

»Ich denke darüber nach und melde mich. Wir peilen mal September 2022 an. Genieß erst einmal in Ruhe deinen Sommerurlaub mit der Familie. Wohin geht es?«

»Da uns Fliegen in diesem Jahr zu unsicher war, mit dem Auto nach Österreich. In die Steiermark.«

»Sehr schön! Im Sommer wie im Winter. Tolles Skigebiet.«

»Sagt meine Frau auch. Mich interessiert eher die gute österreichische Küche. Und die Kaffeehäuser. Topfenstrudel, Malakoff, Sachertorte, Apfelstrudel, Palatschinken. Ich habe mir fest vorgenommen, 20 Pfund zuzunehmen.«

»Na dann, einen schönen Urlaub!«, lacht Carsten. »Ich melde mich.«

Noch bevor ich in den Sommerurlaub fahre, setze ich mich an den Schreibtisch, um das Exposé für das Buch zu schreiben, eine Art Inhaltsangabe für den Verlag. Vor mir, neben mir, um mich herum liegen etwa 200 Notizzettel unterschiedlicher Größe und Farbe mit möglichen Themen für die einzelnen Kapitel. Ich habe genug Stoff für etwa 50 Kapitel. Das ist zu viel. Zwölf sollen es werden. Vielleicht 16. Was darf rein, was kann rein, was muss rein? Auf der Rückseite einer Tankquittung vom Mai 2021 steht in schlechter Handschrift, die ich sofort als meine eigene identifiziere: »AG Düsseldorf, Chr. Metz., KiPo, 10 Monate mit Bewährung — angemessen???« Stimmt, die milden Verurteilungen bei Besitz und Verbreitung von Kinderpornos sind ein Thema, das nicht fehlen darf. Der Fall des Fußballprofis Metzelder erregte im Frühjahr 2021 großes Aufsehen. »Gef. Körperverletzung mit Messer, nur geringe Bewährungsstrafen« ist auf die Rückseite eines drei Wochen alten Einkaufszettels gekritzelt. Die »Messermänner«, seit einigen Jahren sind sie aus den Schlagzeilen kaum mehr wegzudenken. Und natürlich die Raser-Fälle. Und der große Prozess vor dem Landgericht Münster wegen Kindesmissbrauch. So geht es weiter, bis ich fast ein Dutzend Themen gesammelt habe. Plötzlich fällt mein Blick auf eine Kalenderrückseite, die ich aus einem Notizbuch gerissen habe: »Verwaltungsgerichte, Entscheidung aus Angst, Coronamaßnahmen, Verhältnismäßigkeit nicht geprüft???« Natürlich, Corona und die Gerichte! Die Entscheidungen während der Coronapandemie, vor allem die der Verwaltungs- und Verfassungsgerichte, aber auch der Umgang mit dem »abtrünnigen« Richter aus Weimar, der im Frühjahr und Sommer einige Schlagzeilen machte — sie können, dürfen, müssen in dieses Buch! Meine regelmäßigen Youtube-Videos mit meinem Freund, dem Rechtsanwalt Markus Mingers, zeigen eindrucksvoll, wie viele Menschen sich für die rechtlichen Hintergründe der Coronaentscheidungen interessieren. Rasch suche ich die übrigen Notizzettel zu diesem Themenkomplex zusammen. Nach etwa anderthalb Stunden ist das Exposé für mein neues Buchprojekt fertig: 200 Seiten, zwei Teile, 16 Kapitel.

Das Exposé steht, die Themen sind gewählt, Spätherbst 2022 ist für die Veröffentlichung vorgesehen. Zufrieden fahre ich mit meinen drei Mädels in den Sommerurlaub. Ganz entspannt. Bis plötzlich ...

Schlaf etwas schneller!

Das herrliche kleine Café am Kurpark in Gröbming hat alle meine Erwartungen weit übertroffen. An fast jedem Nachmittag sitze ich an einem der kleinen Tische mit wechselnder Mehlspeise. Und konstantem »Großen Braunen« — so nennen diese politisch unkorrekten, gefühlskalten Ösis einen doppelten Espresso. An einem dieser entspannten Nachmittage klingelt mein Handy und auf dem Display erscheint »C.F. — riva Verlag«.

»Grüß dich! Bist doch noch im Urlaub?«

»Servus Carsten! Ja, sitze soeben in meinem neuen Lieblingscafé.«

»Da will ich dich gar nicht stören. Das Exposé ist toll. Wir machen das.«

»Sehr schön! Bleibt es bei November 2022?« Im Juli 2022 soll mein erster Kriminalroman mit dem Titel Richter morden besser erscheinen. Das Manuskript ist so gut wie fertig. Also hätte ich mehr als ein Jahr Zeit, um an dem neuen Buch zu arbeiten.

»Bist du einverstanden, wenn wir das Buch ein paar Tage früher veröffentlichen?«

»Klar. Was schwebt dir als Abgabetermin vor?« Bisher soll das Manuskript, von dem noch nicht ein Wort geschrieben ist, Ende Juli 2022 fertig sein. Aber Ende Juni sollte auch kein Problem sein.

»April 22«, antwortet Carsten. Also nochmal zwei Monate früher. Wird eng, aber machbar.

»Geht klar«, antworte ich zuversichtlich.

»Gut! Also Veröffentlichung im April 22. Dann musst du bis Ende Dezember fertig werden.« Bitte was? Das sind ja nur noch fünf Monate für das Manuskript. Das Manuskript, von dem noch nicht ein Wort geschrieben ist.

»Ende Dezember?«, frage ich vorsichtig.

»Du hast Recht«, antwortet Carsten. »Gott sei Dank«, denke ich. Carsten denkt auch: »Ende Dezember ist immer blöd wegen der Feiertage. Ende November ist besser.«

Ende November ist besser. Als Abgabetermin. Für das Manuskript. Das Manuskript, von dem noch nicht ein Wort ...

»Geht klar, kein Problem«, sagt eine Stimme, und zu meinem Erschrecken stelle ich fest, dass es meine eigene ist.

»Großartig. Ich lasse den Vertrag aufsetzen.« Das ist meine letzte Chance richtigzustellen, dass ich mich versprochen habe. Die muss ich nutzen.

»Super. Ich freue mich!« Mist, das ist nicht unbedingt die Botschaft, die ich vermitteln wollte.

»Sehr schön, bis dann!« Carsten legt auf, bevor ich noch etwas sagen kann. Wahrscheinlich ist das auch besser so, sonst hätte ich noch morgen Abend als Abgabetermin vereinbart. In den folgenden Wochen verkürzte ich die nächtliche Ruhephase auf maximal sechs Stunden und nehme mir einen Rat des berühmten österreichischen Philosophen Arnold Schwarzenegger zu Herzen: »Schlaf ein wenig schneller!«

Wenn Sie jetzt ein Buch in den Händen halten, dann ist das Manuskript noch rechtzeitig fertig geworden. Sein erster Teil handelt von Kindesmissbrauch, Messerangriffen, Kinderpornografie — brutalen und widerlichen Verbrechen, bei denen die Gerichte viel zu oft eine nicht nachvollziehbare Milde zeigen. Er handelt von Schwarzfahren, Kiffen und Fahrerflucht bei harmlosen Blechschäden, solchen Delikten, die vom Justizapparat oft ungewöhnlich hart und unnachgiebig verfolgt werden. Und er handelt von Richtern, die ihrer Verantwortung als Teil der dritten Staatsgewalt nicht gerecht werden. Diese Richter stellen ein Bindeglied dar: Sie begegnen Ihnen auch im zweiten Teil des Buches, in dem die Entscheidungen der Gerichte während der Coronapandemie untersucht werden. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Hintergründe und Ursachen jener Entscheidungen gelegt — Spoiler-Alarm: Sie werden erfahren, dass Jura und das Gesetz damit nicht allzu viel zu tun haben.

In jedem Kapitel wird sowohl ein Justizproblem anhand eines Einzelfalls dargestellt als auch eine Lösungsmöglichkeit. Einige Lösungsmöglichkeiten sind bereits mit der bisherigen Rechtslage umsetzbar, andere bedürfen einer Gesetzesänderung. Alle jedoch benötigen etwas, das der deutschen Justiz seit Jahren fehlt: den Willen, sich zu verändern. Ob mit diesem Willen in der Zukunft gerechnet werden darf, das erfahren Sie im abschließenden Kapitel »Glaubst du ...?«.

Die Fälle in diesem Buch, die geschilderten Taten, die Täter und die Opfer, hat es so gegeben. Einzelne Details wurden jedoch modifiziert, die Namen und Orte sind aus Gründen des Persönlichkeitsrechts verändert worden.

Ein Wort zur Sprachwahl: Ich bin (noch immer) kein Freund der sogenannten gendergerechten Sprache. Deshalb verzichte ich auf Bezeichnungen wie Richter*in ebenso wie auf Messerstecher*in und Räuber*in. Auch Wörter wie Richtende und Leistungserschleichende werden Sie in diesem Buch vergeblich suchen. Das dient allein dem flüssigen Lesen. Es ist keine Unterschätzung der Bedeutung der Frau oder eines anderen Geschlechts, weder in der Richterschaft noch im kriminellen Milieu.

Teil I

Kapitel 1Messermänner heißen ...

§ 224 Strafgesetzbuch

Gefährliche Körperverletzung

Sie sind voller Blut!

Hamid D. stammt aus Marokko. Vor beinahe acht Jahren kam er nach einer abenteuerlichen Reise nach Europa. In der ersten Zeit fand er nirgendwo Halt. Er lebte in Deutschland, Frankreich, Belgien und Holland. Schließlich zog es ihn zurück nach Deutschland. Hier gefällt es ihm am besten. Obwohl es in den anderen Ländern leichter ist, Arbeit zu finden. In Deutschland gibt es viele Vorschriften, Ämter und Formulare. Nicht wenige seiner Landsleute haben damit Schwierigkeiten. Einige wählen einen leichten Weg und begehen Straftaten. Sie stehlen oder dealen mit Marihuana und härteren Drogen. Aber das kommt für Hamid D. nicht infrage. Sich an die Regeln halten, auch wenn es schwerfällt, Deutsch lernen und arbeiten. Das ist sein Weg. Und anderen Menschen helfen, die von Marokko nach Deutschland kommen und Startschwierigkeiten haben. So ein Mensch ist Ali L. Ali L. stammt wie Hamid aus Marokko. Vor vier Jahren kam er nach Deutschland, heiratete die deutsche Petra L. und wurde Vater eines mittlerweile drei Jahre alten Jungen. Ali L. hat dieselben Schwierigkeiten wie Hamid. Aber Ali wählt einen leichten Weg, begeht Straftaten und wurde bereits zweimal wegen Wohnungseinbruchsdiebstahl zu Bewährungsstrafen verurteilt. Auch eine Geldstrafe wegen vorsätzlicher Körperverletzung findet sich in seinem Strafregister. Hamid D. hat Mitgefühl mit Ali und versucht, ihm zu helfen. Er begleitet Ali zu Behörden und hilft, die notwendigen Anträge auszufüllen. Als Ali einmal knapp bei Kasse ist, leiht Hamid ihm 100 Euro. Das ist für Hamid selbst keine kleine Summe. Nach ein paar Wochen spricht er Ali auf das Geld an. Doch Ali L. hat nur 50 Euro.

»Den Rest bekommst du ein anderes Mal«, vertröstet er Hamid. Ein paar Tage später bringt er Hamid ein gebrauchtes Fahrrad.

»Hier. Anstatt der 50 Euro.«

Hamid sieht sich das Fahrrad an. Es sieht gut aus. Und wertvoller als 50 Euro.

»Woher hast du es?«, will Hamid wissen.

»Gekauft.«

»Hast du den Kaufvertrag noch?«, fragt Hamid argwöhnisch. »Nein.«

»Dann behalt das Fahrrad. Gib mir die 50 Euro.«

Ali ist wütend. »Später!«

Einige Wochen darauf trifft Hamid im Supermarkt auf Ali L. und dessen Frau Petra. »Hast du die 50 Euro?«, fragt er Ali. Diese Frage hätte er nicht stellen sollen. Ali blickt Hamid wütend an und zischt einen Fluch. Hamid ist verunsichert und verlässt den Supermarkt, um die Situation zu entschärfen.

Wenige Tage später begegnen sie sich erneut in einem Park. Ohne Vorwarnung schlägt Ali auf Hamid ein. Hamid ist überrascht, kann sich trotzdem verteidigen. Schließlich lässt Ali von ihm ab.

In der folgenden Woche fährt Hamid D. mit seinem alten Fahrrad, das er gebraucht gekauft und notdürftig repariert hat, am Rand des kleinen Parks entlang. Wieder trifft er auf Ali L. Als der ihn sieht, rennt er wütend auf Hamid zu. Hamid will keinen Streit, tritt in die Pedale und verschafft sich einen Vorsprung. Doch dann springt plötzlich die Kette des alten Fahrrads ab. Hamid tritt ins Leere, stürzt mit dem Fahrrad und verheddert sich in der Kette. Ali holt ihn ein. Er sieht, dass Hamid hilflos am Boden liegt und nutzt die Gelegenheit. Aus seiner Jackentasche zieht er ein Messer und sticht auf Hamid ein. Einmal, zweimal. Wuchtig. In den Rücken. Die Klinge durchstößt Hamids Jacke, die Haut und den Muskel. Unterhalb des linken Schulterblattes dringt das Metall in die Lunge ein. Ali sieht, dass Hamid sein Portemonnaie bei dem Sturz verloren hat. Kurzentschlossen hebt er es auf und rennt davon, nicht mehr auf den am Boden liegenden Hamid D. achtend. Doch Hamid gelingt es aufzustehen und er stolpert Ali hinterher. Hamid bemerkt nicht, dass er zwei stark blutende Stichverletzungen hat, glaubt, Ali hätte ihm nur zweimal in den Rücken geboxt. Ein häufiges Phänomen, von dem die Opfer eines Messerangriffs berichten. An einem Fußgängerüberweg bleibt Hamid stehen und stützt sich gegen die Ampel. Er kann sich nicht erklären, warum ihm plötzlich schwindlig ist. Auch das Atmen fällt ihm schwer, Hamid bekommt kaum noch Luft.

»Um Gottes Willen«, schreit ihn eine junge Frau an, die mit ihrer Freundin an der Ampel wartet. »Sie sind voller Blut!«

Hamid tastet mit der Hand seinen Rücken ab. Die Stelle unter dem Schulterblatt ist warm, feucht und klebrig. Erschrocken zieht er die Hand zurück. Rotes Blut läuft an seiner Handfläche entlang. Hamid sackt auf die Knie, die schwarzen Flecken vor seinen Augen werden immer größer.

Geistesgegenwärtig holt eine der beiden jungen Frauen ihr Handy aus der Handtasche und wählt den Notruf.

»Hallo! Wir sind hier an der Kreuzung Bismarckstraße, Augustaweg. Bitte schicken Sie schnell einen Rettungswagen ... Ein Mann ... er blutet stark!«

Nur wenige Minuten später bahnt sich ein Rettungswagen mit Blaulicht und Sirene den Weg durch die dicht befahrene Straße bis zu der Kreuzung. Hamid D. wird in das naheliegende Hospital gebracht und sofort operiert. Gerade noch rechtzeitig.

Die Messermänner! Seit einigen Jahren sind sie aus der Tagespresse kaum noch wegzudenken. Der Ursprung der »Messermänner« waren gehäufte Berichte über Messerangriffe vor einigen Jahren, die eine Gemeinsamkeit hatten: Sie wurden überwiegend von jungen Männern nichtdeutscher Nationalität ausgeführt. Die gehäuften Berichte hätten Anlass genug gegeben zu prüfen, ob die zweifellos besorgniserregenden Schlagzeilen nur den Anschein erwecken, dass Messerangriffe überdurchschnittlich häufig von jungen Männern nichtdeutscher Nationalität ausgeführt werden, oder ob dies tatsächlich der Fall ist. Stattdessen wurde — wie so oft in Deutschland — eine hitzige und unsachliche »Debatte« geführt, beherrscht von den Vorwürfen des Rassismus einerseits und des Gutmenschentums andererseits. Immerhin sprach sich die Innenministerkonferenz im Jahr 2018 aus, Messerangriffe zukünftig bundeseinheitlich zu erfassen, sodass seit dem 1. Januar 2020 Messerangriffe bundesweit in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst werden. Theoretisch. Denn eine Auswertung fand in der Statistik im Erfassungsjahr 2020 mangels »valider Zahlen« nicht statt. Und auch die Polizeilichen Kriminalstatistiken der einzelnen Bundesländer für das Jahr 2020 sind nur bedingt aussagekräftig. Zum Teil werden Messerangriffe im Bereich der Körperverletzungsdelikte gar nicht isoliert ausgewertet, so zum Beispiel nicht in Bayern. Andere Länder differenzieren bei den Tatverdächtigen nicht zwischen Deutschen und Nichtdeutschen. Darüber hinaus sind die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik aufgrund der besonderen Situation infolge der Coronapandemie, vor allem der Lockdown-Maßnahmen, erwartungsgemäß um etwa 20 Prozent rückläufig im Vergleich zu den Vorjahreszahlen.

Im Folgenden werden die Polizeistatistiken der bevölkerungsreichen Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg für das Jahr 2020 betrachtet, die entsprechend des Beschlusses der Innenministerkonferenz 2018 die Messerangriffe bereits im Einzelnen ausweisen. Hiernach ergibt sich folgendes Bild:

Unter den 4608 (Nordrhein-Westfalen)1 bzw. 1708 (Baden-Württemberg)2 Tatverdächtigen, die als Tatmittel (nicht nur bei Körperverletzungen) ein Messer benutzten, befanden sich 1970 bzw. 931 Nichtdeutsche. Damit machen sie einen Anteil von circa 43 Prozent in Nordrhein-Westfalen und 55 Prozent in Baden-Württemberg aus. Auch auf der Opferseite ist der Anteil Nichtdeutscher auffällig hoch: Von den 5941 Menschen, die in Nordrhein-Westfalen Opfer eines Messerangriffs wurden, besaßen 2147 nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Das sind 36 Prozent. Bereits diese Zahlen der beiden bevölkerungsstarken Bundesländer sollten Anlass genug sein zu prüfen, ob der Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger und nichtdeutscher Tatopfer in den anderen Bundesländern vergleichbar hoch ist. Nur wenn ein Problem benannt und bekannt wird, ist es möglich, seine Ursache zu suchen und eine Lösung.

Messermänner sind übrigens — obwohl dies vielleicht unter Gendergesichtspunkten bedenklich ist — tatsächlich Messermänner. Der Frauenanteil bei den Tatverdächtigen, die eine gefährliche Körperverletzung begehen, liegt bundesweit bei unter 20 Prozent3 und ist damit noch geringer als der Frauenanteil an den Tatverdächtigen generell (bundesweit 25 Prozent). Dazu eine kleine Anekdote: Meine neunjährige Tochter Kira fragte mich, warum die Fenster in dem Gebäude hinter dem Amtsgericht vergittert seien. Als ich ihr erklärte, dass dies das Frauengefängnis sei, wurde sie plötzlich sehr still und nachdenklich. Nach einigen Minuten sagte sie mit einer Mischung aus Empörung und Betroffenheit: »Also, dass Männer ins Gefängnis müssen, weil sie was Dummes gemacht haben ... klar! Aber Frauen? Ich dachte immer: Frauen sind vernünftig ...«

Legt man die Kriminalstatistiken der Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg zugrunde, so wurden im vergangenen Jahr jeden Tag durchschnittlich 22 Menschen in der Bundesrepublik Deutschland Opfer einer Körperverletzung, bei der ein Messer verwendet wurde. 22 Menschen pro Tag! Und das im kriminalstatistisch ruhigen Coronajahr 2020. Es spricht viel dafür, dass diese Zahl in »normalen« Jahren nochmals deutlich höher ausfällt. Allein Nordrhein-Westfalen verzeichnete für das Jahr 2019 mehr als 6800 Straftaten, bei denen ein Messer verwendet wurde. Und selbst 2020 mussten noch 4669 Fälle verzeichnet werden, darunter 1809 (gefährliche) Körperverletzungen. Hierbei sind die Taten, bei denen ein angespitzter Schraubenzieher, eine Schere oder ein abgebrochener Flaschenhals als Messerersatz benutzt wurde, noch gar nicht mitgerechnet.

Neben den furchterregenden Berichten über Messerangriffe häufen sich die Presseschlagzeilen über erstaunlich milde Verurteilungen der Täter: »Bewährungsauflage nach lebensgefährlicher Messerattacke«,4 »Er stach auf Kontrahenten ein: Bewährung für Brutalo-Boxer ›Tyson‹«,5 »Beziehungsprobleme mit dem Messer gelöst: Bewährungsstrafe«6 ... Nahezu wöchentlich tauchen derartige Schlagezeilen in den Zeitungen bundesweit auf, sodass sich die Justiz die Frage gefallen lassen muss: Reagiert die Strafverfolgung angemessen bei Messerangriffen oder werden Messerstecher zu milde bestraft?

Solange er noch lebt ...

»Was beschäftigt dich?« Staatsanwalt Jochen K. lehnt sich auf dem bequemen Stuhl des kleinen Cafés in der Altstadt zurück und nippt an seiner Espressotasse.

»Ich denke über einen Fall nach«, antworte ich knapp.

»Und worum geht es?«

»Der Angeklagte hat seinem Mitmenschen ein Messer in den Rücken gerammt. Zweimal.«

»Darf man nicht«, stellt der Staatsanwalt trocken fest.

»Danke. Das erspart mir das Einholen einer zweiten Meinung. Ist doch immer eine Bereicherung, mit einem Staatsanwalt essen zu gehen.«

Jochen grinst breit.

»Also: Folgender Sachverhalt ...« Dann berichte ich von der Vorgeschichte, der Beziehung von Hamid D. und Ali. L., dem Messerangriff und den Verletzungsfolgen. Der Staatsanwalt hört schweigend zu, seine Miene wird zunehmend ernster.

»Und warum ist der Fall bei dir angeklagt worden?«, fragt er schließlich. »So etwas gehört zum Landgericht.«

»Da war die Akte auch«, erkläre ich.

Der Staatsanwalt hebt eine Augenbraue. »Aber?«

»Die Strafkammer hat keinen Grund dafür gesehen, dass das Landgericht über die Anklage entscheiden sollte. Die Kollegen sind der Auffassung, die Strafgewalt des Amtsgerichts reiche aus.«

Mein Freund schüttelt entgeistert den Kopf.

»Ich fasse mal zusammen: Ein Vorbestrafter sticht mit einem Messer auf ein hilflos am Boden liegendes Opfer ein. Kleidung, Haut und Muskel werden durchstoßen und die Lunge wird getroffen. Eine Notoperation ist erforderlich. Zu allem Überfluss nutzt der Täter die unglückliche Situation des Opfers auch noch aus, um dessen Brieftasche zu stehlen.«

»Genau.«

»Und da sollen vier Jahre ausreichen?«

Ich zucke mit den Schultern und nicke.

»Lächerlich! Was für ein Signal wird denn damit gesetzt?!« »Ich habe das Gefühl, das Landgericht verhandelt solche Körperverletzungen nicht gern.«

Jochen macht ein ernstes Gesicht. »Da ist was dran. In den letzten Jahren häuft sich dieser lasche Umgang mit gefährlichen Körperverletzungen.« Nach einem Moment fügt er hinzu. »Und meinem Eindruck nach nicht nur in unserem Bezirk. Das scheint ein allgemeines Problem zu sein. Deutschlandweit.«

Der Staatsanwalt stellt die Espressotasse zurück auf den Tisch und sieht mich an.

»Darüber solltest du mal schreiben!«

Bundesweit besteht eine große Zurückhaltung bei der Strafverfolgung gefährlicher Körperverletzungen mittels Waffen und gefährlicher Werkzeuge. Gleich ob der Täter seinem Mitmenschen ein Messer in den Bauch rammt, ihn überfährt, mit einem Baseballschläger oder Brecheisen bearbeitet oder ihm mit den Stahlkappen seiner Schuhe gegen den Kopf tritt, wenn er bereits am Boden liegt. Zu häufig werden derartige Straftaten vor den Amtsgerichten verhandelt. Entweder weil die Staatsanwaltschaft von vornherein die Anklage bei den Amtsgerichten erhebt oder weil die Strafkammern der Landgerichte die Verfahren an die Amtsgerichte abgeben. Damit wird die mögliche Freiheitsstrafe für die angeklagte gefährliche Körperverletzung, zum Beispiel den Messerangriff, bereits vor Beginn der Hauptverhandlung und der Beweisaufnahme auf maximal vier Jahre beschränkt. Denn das ist die höchste Strafe, die ein Amtsgericht aussprechen darf. Vier Jahre Freiheitsstrafe. Und das ist weniger als die Hälfte dessen, was das Gesetz für eine gefährliche Körperverletzung als Höchststrafe vorsieht. In § 224 des Strafgesetzbuchs wird ein Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe eröffnet. Den früheren Strafrahmen von drei Monaten bis zu fünf Jahren verdoppelte der Gesetzgeber bereits im Jahr 1998, um das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit aufzuwerten. Doch der eindeutige Wille des Gesetzgebers ließ die deutschen Strafrichter kalt. Diese Beobachtung wird nicht nur von vielen Staatsanwälten und Polizeibeamten geteilt, auch die offizielle Statistik der Strafrechtspflege ist beeindruckend eindeutig. Die folgende Tabelle zeigt die Aburteilungen gefährlicher Körperverletzungen, unter die auch die zuvor beschriebenen Körperverletzungen mittels eines Messers fallen, im Jahr 2019.7

Strafhöhegefährliche Körperverletzungen mit Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe: 9651davon Freiheitsstrafen mit Strafaussetzung zur Bewährung: 7714unter 6 Monaten4083766 Monate138813236 bis 9 Monate294227639 Monate bis 1 Jahr218719051 bis 2 Jahre19661347mehr als 2 bis 3 Jahre424-8mehr als 3 bis 5 Jahre267-mehr als 5 bis 10 Jahre68-mehr als 10 Jahre1-

Mehr als 99 Prozent (!) der Freiheitsstrafen, die wegen einer gefährlichen Körperverletzung ausgeurteilt werden, liegen unterhalb der Hälfte des gesetzlichen Strafrahmens von bis zu zehn Jahren. Bei 80 Prozent (!) aller Verurteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung kommt der Täter mit einer Bewährungsstrafe davon. Obwohl der Gesetzgeber vor mehr als 20 Jahren den Strafrahmen verdoppelt und damit die frühere Höchststrafe von fünf auf zehn Jahre angehoben hat, wird in weniger als 1 Prozent aller Fälle eine Freiheitsstrafe ausgesprochen, die über die frühere Höchststrafe von fünf Jahren hinausgeht. Auch hier gilt wieder einmal: Die deutschen Strafgesetze sind völlig ausreichend — man muss sie nur konsequent anwenden. Und genau an dieser konsequenten Anwendung des Gesetzes fehlt es bei den Straftaten der gefährlichen Körperverletzungen erstaunlich oft.