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Rio de Janeiro. Eine Stadt in Biographien - Eine Stadt wird nicht nur von Gebäuden und Straßenzügen geprägt, die Identität von Rio entsteht erst mit den Geschichten seiner Bewohner. Denn was wäre die Stadt ohne Pedro II., Paulo Coelho oder Carmen Miranda? 20 ausgewählte Biographien zeichnen ein lebendiges, historisches wie auch aktuelles Bild der Stadt. Die Porträts werden durch Adressen ergänzt, die eine Stadterkundung auf den Spuren der porträtierten Personen ermöglichen. Dieser Band umfasst Porträts von: Pedro II., Joaquim Maria Machado de Assis, Chiquinha Gonzaga, Stefan Zweig, Heitor Villa-Lobos, Pixinguinha, Roberto Marinho, Oscar Niemeyer, Carmen Miranda, Roberto Burle Marx, Horst Stern, Ivo Pitanguy, Antônio Carlos Jobim, Fernanda Montenegro, João Gilberto, Hélio Oiticica, Chico Buarque de Holanda, Paulo Coelho, Eike Batista, Ronaldo. Autorin Ulrike Wiebrecht
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Seitenzahl: 163
Ulrike Wiebrecht
RIO DE JANEIRO
Eine Stadt in Biographien
Herausgegeben von Norbert Lewandowski Nach einer Idee von Marina Bohlmann-Modersohn
TRAVEL HOUSE MEDIA GmbH
Ulrike Wiebrecht studierte in Bonn, Braunschweig und Aix-en-Provence Romanistik und Philosophie. 1988 ging sie nach Barcelona und arbeitete für deutschsprachige Zeitungen, Zeitschriften, Buchverlage und Fernsehsender. Seit 1995 lebt sie als Journalistin und Buchautorin mit den Schwerpunkten Reise und Kultur in Berlin. Eines ihrer Spezialgebiete ist Brasilien, was sie regelmäßig nach Rio de Janeiro führt.
»Cidade Maravilhosa« – wunderschöne Stadt. Dieses brasilianische Eigenlob ist eine höfliche Untertreibung. Wer einmal in Rio war, spricht nur noch von der »schönsten Stadt der Welt«. Einige behaupten, dass sie süchtig macht.
Allein der Name klingt wie Musik, wie eine Bossa Nova, die wie eine sanfte Brise die Fantasie spazieren trägt – Rio de Janeiro. Der schönste Irrtum der Welt: Als der portugiesische Seefahrer Gaspar de Lemos am 1. Januar 1502 die Atlantikbucht von Guanabara als erster Europäer entdeckte, glaubte er eine Flussmündung zu sehen. Also nannte er den paradiesischen Flecken Rio de Janeiro, Fluss des Januars. Dabei ist es geblieben.
Heute ist Rio mit etwa 6,3 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Brasiliens. Ein faszinierender Moloch – mal wild, mal überschäumend, mal melancholisch, mal chaotisch – vor einer traumhaften Kulisse. Doch wie alle anderen Metropolen wird auch Rio nicht nur von Landschaft und Gebäuden geprägt, sondern vor allem von Menschen, die hier geboren und gestorben sind oder hier gelebt haben. In MERIAN porträts begleiten 20 Personen die Leser wie individuelle Reiseführer durch ihre Stadt. Sie führen uns direkt ins Innenleben von Rio.
So erleben wir unterschiedliche Persönlichkeiten wie den milden brasilianischen Kaiser Pedro II., die Schauspielerinnen Carmen Miranda und Fernanda Montenegro, den Schönheitschirurgen Ivo Pitanguy, die Autoren Machado de Assis und Paulo Coelho, die Fußball-Legende Ronaldo. Und wir werden von den mitreißenden Rhythmen der Musik von Chiquinha Gonzaga und Pixinguinha, von Tom Jobim, João Gilberto und Chico Buarque an die Strände von Copacabana und Ipanema getragen.
Die Klangbilder untermalen auf geniale Weise eine »einzigartige Kombination von Meer und Gebirge, Stadt und tropischer Natur«, wie der Dichter Stefan Zweig das letzte Exil seines Lebens beschrieben hat.
Ohne ihre Bewohner wäre die Stadt eine andere. Ohne Pedro II., Carmen Miranda und João Gilberto … wäre Rio de Janeiro nicht Rio de Janeiro.
1825–1891
Man nannte ihn auch »Peter der Große«. Fast 50 Jahre war er der geliebte Kaiser von Brasilien. Er schaffte die Sklaverei ab, führte Eisenbahn und Elektrizität ein. Rio verdankt ihm seinen ersten Aufschwung.
Kleine Grotten, eine Allee von Sapucaiabäumen, Teiche, über die sich Schlingpflanzen neigen – die Quinta da Boa Vista30( ▶D 2) ist ein besonders verträumtes Stück Rio. Mitten in der Millionenmetropole lädt die von dem französischen Landschaftsarchitekten Auguste Glaziou gestaltete Parkanlage zu Mußestunden im Grünen ein. Auch der Zoo und das Naturkundemuseum, das Museu Nacional, haben in dem riesigen Areal Platz, das ursprünglich von den Jesuiten zur landwirtschaftlichen Nutzung angelegt wurde.
Wer würde vermuten, dass sich ausgerechnet dort, wo im 16. und 17. Jahrhundert Obst und Gemüse angebaut wurden, wichtige Kapitel der brasilianischen Geschichte abspielten? Dass Dom Pedro II. im Palast des Parks, im Palácio da Quinta da Boa Vista, das Licht der Welt erblickte, als 15-Jähriger Kaiser wurde und hier residierte? Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass ein portugiesisches Kind aus dem Haus der Bragança Herrscher von Brasilien wurde? Dem geht eine turbulente Geschichte voraus. Sie beginnt damit, dass Pedros Großvater Dom João VI., Prinzregent von Portugal, 1807 vor napoleonischen Truppen flieht. Mit seinem etwa 22 000 Menschen umfassenden Hofstaat siedelt er in das 50 000 Einwohner zählende Rio über, das dadurch den Rang einer Residenz erlangt. Kunst und Kultur mit einem regen Musikleben halten Einzug. Diese Konstellation wird das Land nachhaltig verändern.
Als Joãos geistig umnachtete Mutter, Königin Maria I., 1816 in Portugal stirbt, wird er König von Portugal und Brasilien, kehrt aber 1821 auf Drängen der portugiesischen Cortes ins Mutterland zurück und überlässt Brasilien seinem Sohn Pedro. Als auch der nach dem Willen des Parlaments, das Brasilien in den Status einer Kolonie zurückführen will, nach Portugal kommen soll, erklärt er kurzerhand am 7. September 1822 die Unabhängigkeit des Landes und krönt sich zum Kaiser Pedro I. von Brasilien. 1826 stirbt sein Vater, sodass er nun auch König von Portugal ist. Der impulsive Monarch vermag jedoch nicht beide Länder gleichzeitig zu regieren. Weil er die Erwartungen der Brasilianer nicht erfüllen kann und zunehmend mit innenpolitischen Problemen zu kämpfen hat, dankt er am 7. April 1831 ab, um in Portugal die Zügel in die Hand zu nehmen – und Brasilien seinem kleinen Sohn Pedro zu überlassen. Da ist der gerade mal fünf Jahre alt.
Pedro de Alcântara João Carlos Leopoldo Salvador Bibiano Francisco Xavier de Paula Leocádio Miguel Gabriel Rafael Gonzaga von Bragança und Habsburg war am 2. Dezember 1825 zur Welt gekommen. Seine Mutter, Maria Leopoldine von Österreich, eine Tochter von Kaiser Franz II., stirbt früh, möglicherweise an den Folgen einer Frühgeburt, die ihr gewalttätiger Ehemann Pedro I. mit einem Tritt in ihren Bauch ausgelöst hat. Kaum hat sich ihr kleiner Sohn an seine Stiefmutter Amélie von Leuchtenberg gewöhnt, wird er allein mit seinen Geschwistern in Brasilien zurückgelassen. Nachdem auch Pedros ältere Schwester gestorben ist, ist er rechtmäßiger Thronfolger.
Natürlich ist ein Fünfjähriger der Aufgabe als Regent nicht gewachsen. Während ein Gremium die Regierungsgeschäfte übernimmt, wird das Kind auf die Zukunft vorbereitet. Vom Aufstehen um 6.30 Uhr bis zum Schlafengehen um 22 Uhr muss er Sprachen lernen – Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Latein und Griechisch – und sich mit Naturwissenschaften und Künsten befassen. Der Junge soll nicht wie sein hitzköpfiger Vater werden. Der kleine Pedro, der wenig Freunde und kaum Gelegenheit zum Spielen hat, flüchtet sich früh in die Welt der Bücher, entwickelt vielseitige Interessen; mit seinem ernsten Naturell werden ihm Pflichtbewusstsein und Disziplin zur zweiten Natur. Gute Voraussetzungen für einen besonnenen Monarchen.
So sehen sich diejenigen, die ihn im Alter von 14 Jahren für volljährig erklären lassen, um den unerfahrenen, schüchternen Jungen gut manipulieren zu können, bald getäuscht: Als Dom Pedro II. am 18. Juli 1841 zum Kaiser gekrönt wird, umgibt er sich mit guten Beratern, sorgt für eine gerechte Machtverteilung zwischen der Liberalen und der Konservativen Partei und somit für stabile Verhältnisse. Seine Regierungsgeschäfte führt er im Paço Imperial29( ▶J 2), dem Kaiserpalast im Stadtzentrum von Rio. An der Praça XV gelegen, wo die Schiffe nach Niterói und zur Insel Paquetá fahren, war das im 18. Jahrhundert erbaute Gebäude im barocken Kolonialstil 150 Jahre lang Amtssitz der Könige, Vizekönige und Kaiser von Brasilien. Hier wurde die Unabhängigkeit Brasiliens ausgerufen und die Akte zur Abschaffung der Sklaverei verabschiedet. Heute bietet der Palast einen stilvollen Rahmen für Kunstausstellungen, auch das Restaurant im Innenhof lohnt einen Besuch.
Der junge Kaiser arbeitet von früh bis spät, bleibt dabei schweigsam und verschlossen. Ob sich das durch eine Hochzeit ändern würde? Zur Disposition steht Teresa Maria Cristina di Borbone von Neapel-Sizilien. Pedro willigt ein, am 30. Mai 1843 wird in Neapel der Heiratsvertrag unterzeichnet. Doch als er am 3. September in Brasilien die Braut in Empfang nimmt, ist die Enttäuschung groß: Dem 1,90 Meter großen, stattlichen und blonden Kaiser mit den blauen Augen steht eine relativ kleine, untersetzte und nicht eben attraktive Frau gegenüber. Er ist so schockiert, dass er in Gegenwart seiner Gouvernante in Tränen ausbricht – doch am nächsten Tag findet die Hochzeit statt.
Die Beziehung zwischen dem Ehepaar verbessert sich mit der Zeit, wobei ihm später auch romantische Verbindungen zu anderen Damen nachgesagt werden. Ansonsten gilt seine Liebe den schönen Künsten seiner 60 000 Bände umfassenden Bibliothek. Seine Neigungen ordnet er stets der Pflicht unter. Der Kaiser führt ein relativ bescheidenes Leben und betrachtet Luxus als Diebstahl am Volk. Nur hier und da gönnt er sich kleine Auszeiten in seiner Sommerresidenz im kühleren Petrópolis, das etwa 60 Kilometer von Rio entfernt im Orgelgebirge liegt und von Tirolern gegründet wurde. Heute wurde in dem neoklassizistischen Palast das viel besuchte Museu Imperial untergebracht.
Mit der Zeit erarbeitet sich Pedro II. eine komfortable Machtposition, die ihn mehrere Krisen überstehen lässt. 1848 kommt es zu Aufständen in Pernambuco, die niedergeschlagen werden. Dann droht außenpolitisches Ungemach von Argentinien. Seit den 1830er-Jahren hatte der argentinische Diktator Juan Manuel de Rosas Aufstände in Uruguay und Brasilien angezettelt. Nun unterstützt Pedro seinerseits eine Rebellion gegen den Machthaber, der 1852 gestürzt wird. Im uruguayischen Bürgerkrieg von 1863 schlägt sich Brasilien auf die Seite des Anführers der Liberalen, Venancio Flores, und verhilft ihm zur Präsidentschaft. Als Paraguays Diktator López, ein Freund des entmachteten uruguayischen Staatschefs, mit seiner Armee in die brasilianische Provinz Mato Grosso eindringt, um sich Zugang zum Meer zu verschaffen, schließen sich Brasilien, Argentinien und Uruguay zur sogenannten Tripel-Allianz zusammen und besiegen Paraguay in einem bis 1870 währenden Krieg.
Auch einen Konflikt mit England, der sich an der Festnahme eines betrunkenen Briten in Rio und einem Handelsschiff entzündet hat, das vor der Küste Brasiliens Schiffbruch erlitten hat und geplündert wird, kann Pedro beilegen und in buchstäblich letzter Minute verhindern, dass britische und brasilianische Kriegsschiffe aufeinander feuern. Er gilt als umsichtiger, aufgeklärter Monarch, der international wegen der weitgehenden Bürgerrechte, der Meinungs- und Pressefreiheit im Land Respekt und Anerkennung genießt. Außerdem stellt sich zunehmender Wohlstand ein. Ab 1850 werden Eisenbahnlinien gebaut, Telegrafenleitungen und Dampfschifffahrtslinien eingerichtet, der Export von Kautschuk, Kaffee, Zucker, Holz und Rindfleisch floriert.
Doch hat die Monarchie einen großen Makel: Länger als alle anderen Länder hält Brasilien an der Sklaverei fest. Der Kaiser selbst ist zwar deren erklärter Gegner und hat seine eigenen Sklaven 1841 in die Freiheit entlassen, doch er weiß um die Bedeutung der Leibeigenen für die Landwirtschaft und strebt einen nur schrittweisen Übergang zur völligen Freilassung an. Die wird nach mehreren Anläufen aber erst im Jahr 1888 erreicht, und ausgerechnet da befindet sich der körperlich geschwächte Pedro II. zu einem Kuraufenthalt in Europa. So unterzeichnet seine Tochter Isabel am 13. Mai die Lei Áurea, das Goldene Gesetz. »Großartige Leute!«, soll Pedro mit Tränen in den Augen ausrufen haben, als er davon erfährt.
Als er nach Rio zurückkehrt, wird er noch euphorisch empfangen, doch weht bald ein anderer Wind. Pedro hat den Rückhalt der Großgrundbesitzer verloren, die sich ohne Entschädigung um ihre Sklaven gebracht sehen. Und die Republikaner sehen in der Monarchie eine antiquierte Staatsform. Zugleich sind die Militärs zu einer einflussreichen Gruppe herangewachsen, die schließlich am 15. November 1889 putscht, unter der Führung von Marschall Manuel Deodoro da Fonseca wird die Republik ausgerufen.
Der Kaiser dankt ab und geht ins Exil nach Frankreich. Nachdem seine Gemahlin schon bald nach der Ankunft in Europa stirbt, lässt er sich in Paris nieder. Seine letzten Jahre verbringt er melancholisch in bescheidenen Hotels. Er korrespondiert mit den Geistesgrößen seiner Zeit, ist Ehrenmitglied von Vereinigungen wie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, setzt sich für den Bau des Bayreuther Festspielhauses ein, und er träumt von einer Rückkehr nach Brasilien. Doch holt er sich bei einer Kutschfahrt an der Seine eine Lungenentzündung und stirbt kurz darauf am 5. Dezember 1891. Nach einer großen Trauerfeier in Paris wird er in Lissabon im königlichen Pantheon des Hauses Bragança beigesetzt.
Brasilien hat seine einstige Integrationsfigur nicht vergessen, die Victor Hugo einmal als Nachkomme des römisches Philosophenkaisers Marc Aurel bezeichnet hat. 1921 wird der nun als Held verehrte Pedro II. samt seiner toten Gemahlin nach Brasilien überführt, um zur Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit des Landes in seiner Sommerresidenz in Petrópolis die letzte Ruhe zu finden. In jener Stadt, der er einst seinen Namen gab.
Rua da Imperatriz 220, Petrópolis
www.museuimperial.gov.br
ca. 60 km nördlich von Rio de Janeiro
Praça Quinze de Novembro 48, Centro
www.pacoimperial.com.br
▶ Metrô: Castelo, Uruguiana
Avenida Pedro II, São Cristóvão
www.museunacional.ufrj.br
▶ Metrô: São Cristóvão
1839–1908
Er war der bedeutendste lateinamerikanische Autor seiner Zeit und gab der brasilianischen Literatur eine neue Ausrichtung. Mit feiner Ironie skizzierte er die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts.
Die Rua do Ouvidor ( ▶H 2) ist eine enge, eher schmucklose Straße im Zentrum von Rio. Gesäumt von Bekleidungs- und Schuhgeschäften, Banken und Büros sieht sie aus wie viele andere in der Gegend. Ganz anders vor 150 Jahren: Als es die Stadtteile Copacabana ( ▶H/J 7), Ipanema und die Zona Sul, die Südzone, noch nicht gab, war sie die Flaniermeile, an der sich das kulturelle und gesellschaftliche Leben der damaligen Hauptstadt Brasiliens abspielte. Zeitungsverlage hatten hier ihren Sitz, dazu Buchhandlungen und Cafés, die Treffpunkte der Intellektuellen waren. Hier kursierten die Neuigkeiten aus Europa, hier wurde über die Abschaffung der Sklaverei und das Ende des Kaiserreichs debattiert.
So erlebte sie Machado de Assis, der die Rua do Ouvidor »die schmerzvolle Straße der mittellosen Ehemänner« nannte, weil sie für die vielen attraktiven Frauen hier mitunter tief in die Tasche greifen mussten. Hier beginnt er als Journalist seine Karriere und beschreibt das Viertel in seinen Werken, die den Leser in das Rio des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts versetzen. In eine Stadt, die noch von Katholizismus, gesellschaftlichen Konventionen und krassen Klassenunterschieden, gleichzeitig aber auch von Umbrüchen und einer geistig-kulturellen Aufbruchstimmung geprägt ist. Sie bildet die Kulisse der Erzählungen, Romane und Theaterstücke, die um das allzu Menschliche kreisen. Um Eitelkeit, Ehrgeiz, Eifersucht, Ehebruch oder Konflikte mit der herrschenden Moral. »Ich bin die simple Frucht der Hauptstadt, wo ich geboren wurde, wo ich lebe und, wie ich glaube, auch sterben werde«, erklärt der Autor.
Tatsächlich hat Joaquim Maria Machado de Assis die Stadt, abgesehen von wenigen Ausnahmen, nie verlassen, nachdem er hier am 21. Juni 1839 geboren wurde. Er entstammt dem Morro do Livramento, einem Hügel außerhalb des Zentrums. Sein Vater Francisco de Assis ist Anstreicher und Nachkomme von afrikanischen Sklaven, somit farbig, seine Mutter Maria Leopoldina eine portugiesische Wäscherin. Nicht allein, dass er in ärmlichen Verhältnissen aufwächst, er leidet auch an Epilepsie und wird wegen seiner dunkleren Hautfarbe benachteiligt. Als er sechs ist, stirbt die Schwester, vier Jahre später die Mutter. Nachdem auch sein Vater das Zeitliche gesegnet hat, muss er zum Lebensunterhalt beitragen und hilft seiner Stiefmutter beim Verkauf von Süßigkeiten.
Zum Schulbesuch bleibt nicht viel Zeit, aber Joaquim Maria ist ein aufgeweckter Knabe und lernt dennoch Lesen und Schreiben. Außerdem hat er das Glück, dass ihn die vermögende Besitzerin des Morro, auf dem er wohnt, unterstützt. So dauert es nicht lange, bis er sich in die intellektuellen, von Weißen dominierten Sphären der Stadt vorarbeitet, in den Cafés der Rua do Ouvidor ein- und ausgeht und sich später bei Gelagen im Hotel Europa in der damaligen Rua Direita, heute Rua Primeiro de Março ( ▶J 2), in so manche Schauspielerin verliebt.
Zunächst aber schlägt sich der Halbwüchsige als Setzer, Korrektor und Buchhalter durch. Dann versucht er sich als Journalist. Bereits am 6. Januar 1855, als er gerade 15 Jahre alt ist, druckt die Zeitung »Marmota Fluminense« sein Gedicht »A Palmeira« (»Die Palme«) ab. Mithilfe von Manuel Antônio de Almeida, einem bekannten Priester und Romancier, der ihm Latein beibringt, bildet er sich weiter und beginnt, für den »Correio Mercantil«, das »Diário do Rio de Janeiro« und andere Zeitungen zu schreiben, die für ihn die »wahre Republik des Geistes« darstellen. Er kommentiert Theateraufführungen und gesellschaftliche Ereignisse und wird Chefredakteur der »Marmota Fluminense«, wobei sich schon früh eines seiner Markenzeichen ankündigt: die feine Ironie, häufig auch Selbstironie, die seine Skepsis und seinen latenten Pessimismus literarisch zum Ausdruck bringen. Noch kann er von seinen kunstreichen Worten nicht leben und sucht sich zusätzlich zum Schreiben einen Brotberuf im öffentlichen Dienst: In den nächsten Jahrzehnten durchläuft er eine steile Karriere als Regierungsbeamter, die in einer leitenden Funktion im Handelsministerium gipfelt.
Nachdem er wirtschaftlich abgesichert ist, kann der 30-Jährige 1869 seine Geliebte Carolina Augusta Xavier de Novais, die Schwester eines verstorbenen Freundes, heiraten, der bei derselben Zeitung tätig war. Die gebildete Portugiesin eröffnet ihm den Zugang zur portugiesischen und englischsprachigen Literatur. »Du bist nicht wie die gewöhnlichen Frauen, die ich sonst kennengelernt habe. Ein Geist und ein Herz wie die deinen sind selten zu finden. Wie könnte ich dich nicht lieben«, schreibt er ihr. 35 Jahre lang wird er bis zu ihrem Tod an ihrer Seite bleiben.
Zunächst wohnen die beiden in Catete, einem bürgerlichen Mittelklasseviertel, in dem sich auch der Präsidentenpalast befindet, der heute das sehenswerte Museu da República23( ▶J 4) beherbergt. An ihm lässt sich ablesen, dass die Gegend bessere Zeiten gesehen hat als heute, wo die Geschäfte und Lokale einen eher volkstümlichen Touch haben. In diesem Viertel mit dem traditionsreichen Café Lamas5( ▶J 4), wo Machado verkehrte, sind auch viele von Machados Werken angesiedelt. Später wird das Ehepaar in die Rua Cosme Velho 18( ▶G 5) im gleichnamigen Stadtteil ziehen, das unterhalb des Corcovado ( ▶E 5) liegt.
Ein Jahr nach der Hochzeit erscheint Machados erster Erzählband »Contos fluminenses« (»Erzählungen aus Rio«), drei Jahre später die »Histórias da Meia-Noite« (»Mitternachtsgeschichten«). Und 1882 kommt der Erzählband »Papéis Avulsos« (»Lose Blätter«) heraus. Es folgt die Erzählung »O Alienista« (»Der Irrenarzt«), die als erstes Werk des brasilianischen Realismus angesehen wird und die Verrücktheit, eines von Machados Lieblingsmotiven, zum Thema hat. Mit dieser pointiert verfassten Satire macht sich Machado de Assis nicht nur über die neuen positivistischen Theorien lustig, die im damaligen Brasilien kursieren und zum Teil übertriebene Euphorien auslösen.
Während er seine subtilen Beobachtungen der Gesellschaft und der menschlichen Psyche immer neu variiert, findet er zu einem unverwechselbaren Stil. Zu besonderer Meisterschaft hat er ihn in seinem Roman »Memórias póstumas de Brás Cubas« entwickelt. 1880 erscheinen »Die nachträglichen Memoiren des Bras Cubas«, die ebenso kurzweilige wie tiefgründige Geschichte eines Mannes, der aus dem Jenseits auf sein Leben zurückblickt. Dabei erweist sich Bras Cubas als Anti-Held, der trotz bester Voraussetzungen weder die eigenen Erwartungen noch die seiner Umgebung erfüllt. Dem Protagonisten fehlen Ehrgeiz, klare Prinzipien und Entschlossenheit, wobei der Autor an keiner Stelle ein moralisches Urteil über ihn fällt und die Schlussfolgerungen vielmehr dem Leser überlässt.
Ohnehin ist der Verfasser der Auffassung, der Mensch sei »ein denkendes Druckfehlerverzeichnis«: »Jedes Lebensalter ist eine Auflage, die die vorige verbessert und die ihrerseits verbessert wird, bis hin zur endgültigen, die der Verleger gratis an die Würmer verteilt.«
Was die latente Bitterkeit und den Pessimismus immer wieder abmildert, sind die brillanten Metaphern, der melancholisch eingefärbte Humor und der subtile Witz. Wenn der Volksmund sagt, Undank sei der Welten Lohn, macht Machado daraus: »Ärgere dich nicht, wenn man dir einen Gefallen schlecht bezahlt; man fällt eher aus den Wolken als aus dem dritten Stockwerk.«
Ein weiteres bedeutendes Werk ist der Roman »Dom Casmurro«, in dem er 1899 die Gesellschaft seiner Zeit mit ihren Klassenunterschieden skizziert. Nach der Jahrhundertwende folgen noch zwei weitere Romane: 1904 »Esaú e Jacó« (»Esau und Jakob«) und 1908