Risiko - Steffen Kopetzky - E-Book + Hörbuch

Risiko Hörbuch

Steffen Kopetzky

4,5

Beschreibung

Ein Spiel, das die Weltgeschichte umzuschreiben verspricht Steffen Kopetzky hat einen funkelnden Abenteuerroman geschrieben, der auf historischen Fakten beruht. Er folgt einer legendären Afghanistan-Expedition auf der 5000 Kilometer langen Reise und begegnet historischen Personen wie Lucien Camus, dem Vater von Albert, oder Alois Musil, auch genannt Musil von Arabien. Geheimexpedition des Deutschen Reichs an den Hindukusch: Nach einem Plan des Orientkenners Freiherr Max von Oppenheim ziehen sechzig Mann mit der Bagdadbahn, zu Pferd und auf Kamelen durch Wüsten und Gebirge. Das Ziel: den Emir von Afghanistan und die Stämme der Paschtunen im Namen des Islam zum Angriff auf Britisch-Indien zu bewegen. Der junge Marinefunker Sebastian Stichnote liegt mit seinem Schiff vor der Küste Albaniens. Aus der Enge der Giesinger Gerberei seiner Brüder hat ihn das Fernweh hinaus auf See und zur vielstimmigen Funktechnik gezogen. Diese gibt ihm das Gefühl, mit dem ganzen Kosmos in Kontakt zu stehen. Als der Erste Weltkrieg beginnt, muss die unterlegene deutsche Flotte durchs Mittelmeer nach Konstantinopel fliehen. Stichnote hat es nach den ersten Seegefechten eilig, sein Schiff so schnell wie möglich zu verlassen und schließt sich als Funkoffizier einer geheimen Expedition nach Kabul an. Ihre Reise führt sie nach Syrien, Bagdad, Teheran, Isfahan und schließlich durch die persische Wüste. Am Ende hängt der Erfolg der Expedition von Stichnote ab, der mit allem brechen muss, was ihm einst heilig war.

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Zeit:9 Std. 23 min

Sprecher:Frank Stöckle
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STEFFEN KOPETZKY

RISIKO

ROMAN

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Jan Lederbogen

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-93991-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10770-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Für meine Brüder Bernd und Walter

Ich danke der Hamburger Stiftung für Wissenschaft und Kultur, diedie Recherchen zu diesem Buch unterstützt hat, und dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst für ein Literaturstipendium während der Niederschrift.

Gott schickt Blitze – und er trifft damit, wen er will.

Koran 13,13

Zu dem, was den Jagdvogel mutig und scharf macht, gehört,

dass man ihn am Vortage der Jagd mit einem Tauben-

jungen, dem scharfer Essig eingeflößt wurde, füttert.

Lass die Taube erst noch ein wenig fliegen, bis der Essig in

ihre Adern gelangt ist; dann gib sie ihm. Am nächsten

Morgen wird der Falke mager, schlank und lebhaft sein.

Moamin, »Über die Kunst mit Vögeln zu jagen«

PROLOG

Der Geisteszustand gewöhnlicher Sklaven ist schrecklich genug – sie haben die Welt verloren. Er aber hatte nicht den Leib allein, sondern auch die Seele an den Allesbeherrscher, den Hass, verloren. War ihm verfallen. Gehörte ihm ganz und gar.

Manchmal, in den sternfunkelnden Nächten des zu einer Geisterstadt erstarrten Kabuls war es ihm, als könnte er mit sich selbst sprechen, mit dem anderen, der er geworden war, ein Verräter und– vielleicht bald – ein Mörder. Nichts anderes beherrschte seine Tage, dennoch gab es da immer noch die Frage in ihm, ob er es wirklich fertigbrächte – ob er Emir Habibullah Khan, das Staatsoberhaupt Afghanistans, würde töten können.

Berichte, in der nördlichen Provinz Kunar gebe es diesen Winter so viele Schneeleoparden wie seit Jahrzehnten nicht, hatten den Emir und dessen Bruder Nasrullah, den Urheber des Gerüchts, dorthin gelockt, doch bislang haben sie nur Füchse und eine Pallaskatze geschossen. Der ehemalige Funkobermaat der Kaiserlichen Marine, Sebastian Stichnote, ist der Jagdgesellschaft tagelang gefolgt, nun reitet er auf dem schmalen, kaum erkennbaren Pfad eines Seitentals, hinter dessen Flanke Habibullah die Zelte aufschlagen ließ. Der Emir, ein ängstlicher Mann, liebt die Bequemlichkeit und leidet unter den Umständen der Unternehmung, die er nur auf sich nimmt, weil die erfolgreiche Jagd auf das gefährlichste Raubtier Afghanistans ein Symbol für den Fortbestand seiner Herrschaft wäre.

Es ist früher Vormittag. Der Morgenmond steht wie ein Schneeball im gläsernen Blau. Stichnotes Atem verfängt sich in seinem Bart, gefriert zu knisternden Kristallen, die sich der Reiter gelegentlich mit dem Handrücken fortwischt.

Nun, da der Pfad steinig und unwegsam wird, steigt er ab, führt seinen Rappen am Zügel und bindet das brave Tier an den Stamm eines wilden Kirschbaums. An der Flanke seines Pferdes hängt ein Käfig, mit einem starken Tuch bedeckt, um den Vogel darin zu schützen. Es ist ein junger weißer Falke, durch das Häubchen vor Aufregung bewahrt, den er jetzt, beruhigend auf ihn einsprechend und den seidigen Hals streichend, aus dem Käfig nimmt. Parr – so nannte ihn der Mann, der ihm den Falken schenkte – krallt sich in die lederne Manschette. Noch nie hat Stichnote Parrs Krallen gespürt, ohne von ihrer Kraft bewegt zu werden, zugleich gerührt vom Zutrauen des Tiers.

Deutlich sieht er aus dem Tal Rauch aufsteigen, eine feine, sich kräuselnde Säule: Das Feuer wurde gelöscht, die königliche Jagdgesellschaft wird bald aufbrechen. Stichnote hat keine Zeit mehr zu verlieren. Mit dem Falken auf dem Arm, der Luger Parabellum unddem türkischen Militärdolch am Gürtel macht er sich daran, den Bergrücken entlangzulaufen, durch das lichter werdende, knackende Unterholz aus Erlen und Eichen.

Nach einer Weile hat er die Stelle erreicht, wo sich das Gelände in zwei Seitentäler teilt, und deutlich kann er jetzt den Tross des Emirs erkennen. Noch hat niemand aufgesattelt, Stichnote sieht die kleine, dicke Gestalt des Emirs auf einem Feldbett ruhen, während um ihn herum gepackt wird. Sein jüngerer Bruder Nasrullah steht etwas abseits und gibt den Dienern Befehle. Trotz der Entfernung glaubt Stichnote dessen Anspannung erahnen zu können. Es wird alles darauf ankommen, dass Nasrullah nicht die Nerven verliert und sich an das hält, was sie vereinbart haben.

Stichnote sieht eine Möglichkeit, wie er die Gruppe umgehen kann, um sich dem Emir über die östliche Flanke des Tals zu nähern. Bevor er hinabsteigt, streichelt er dem Falken den Hals undspricht mit ihm, doch sind seine Worte diesmal scharf und zischend. Er weckt den Jäger in dem Vogel, befeuert ihn und spürt, wie das Tier mit seinen Krallen umzugreifen beginnt: hungrig und wach. Er nimmt dem Falken das Häubchen ab, blickt in die bernsteingelben Augen, dann wirft Stichnote den Vogel schwungvoll auf. Parr umkreist ihn einmal, zieht einen weiteren Bogen, schraubt sich in den Morgenhimmel über dem Tal und schickt seinem Herrn den Ruf.

Nasrullah blickt nach oben. Er hat den Falken bemerkt, das Zeichen, dass die Stunde gekommen ist. Er geht entschlossen zu seinem Pferd, die Begleiter mit seiner ein wenig heiseren Stimme zum Aufbruch drängend.

Der Falke überfliegt das Tal, kreist auch einmal direkt über der Jagdgesellschaft, doch entscheidet er sich dann, nach Westen zu fliegen, mit jenen peitschengleichen Schmetterschlägen, die ihn, den kleinsten unter den Greifvögeln, im Flug seiner Lieblingsbeute, der Taube, so ähnlich sehen lassen.

Stichnote beginnt in das Tal abzusteigen. Er erschrickt darüber, wie sehr ihn das schnelle Abwärtsgehen anstrengt, wie oft er stolpert und wie lang der Weg ist. Nach etwa einer Stunde ist er gleichauf mit den Reitern, sein Rückgrat glüht, sein Herz hämmert, aber in ihm ist auch eine eisige Kühle, die ihn weiter unbemerkt in der Deckung des Waldrands vorauseilen lässt, gebückt von Baum zu Baum, fast lautlos im winterlich schweigenden Tal. Er hört jetzt die leise Stimme des Emirs, der mit seinem Bruder und einem Jagdgehilfen zurückgeblieben ist. Die anderen Diener sind vorausgeeilt, um nach Spuren zu suchen. Die königlichen Jäger reiten im Schritt, die Gewehre noch nicht im Anschlag, der Emir an der Spitze, einen jammernden Monolog über den Leoparden haltend, der einfach nicht auftauchen will. Die beiden anderen Männer ein gutes Stück hinter ihm.

Dann teilt sich das Tal, führt weiter nach links, endet mit seiner rechten Abzweigung an einem Felsabbruch, aus dem eine krüppelige Kiefer hervorwächst. Es liegen schon mehr als dreißig Schritt zwischen dem Emir und seinen Begleitern, die sichtlich bestrebt sind, den Abstand zu vergrößern. Stichnote sieht das Gelände vor sich, auf dem er schnell wird vorankommen können, bleibt stehen, legt die Hände als Trichter an den Mund und formt die Laute, die er am besten nachzuahmen versteht: den Ruf der Taube.

Nasrullah zügelt sein Pferd, hört noch einmal auf das Gurren, wirft einen Blick zu seinem Untergebenen, der ihm zunickt, dann wenden sie lautlos die Pferde und reiten in schnellem Trab zurück zu ihrem vormaligen Lagerplatz. Der kleine runde Emir weiter vorne, viel zu bequem, um sich auf seinem Pferd umzudrehen, bemerkt zunächst nichts.

Doch dann hält er sein Pferd an, ruft nach Nasrullah, und da er keine Antwort erhält, stützt er sich auf den englischen Reitsattel, dreht sich um und sieht erstaunt, dass der Bruder verschwunden ist. Er ruft noch einmal, viel lauter jetzt, sein Pferd legt scheuend die Ohren an, und als Stichnote auf Reiter und Pferd zustürzt, bäumt es sich auf. Der Emir verliert das Gleichgewicht und fällt. Stichnote ist verblüfft, wie leicht er ihn vom Pferd reißen kann, das panisch mitsamt dem hinten aufgeschnallten Gewehr davongaloppiert, den Emir, dessen linkes Bein sich im Steigbügel verfangen hat, ein paar Meter mitschleifend. Als Stichnote herantritt, liegt Habibullah wimmernd am Boden. Stichnote zieht den Dolch, setzt die Spitze an seinen Nacken und befiehlt ihm, aufzustehen.

»Stand up!«

Da der Emir aber nur ein Stöhnen von sich gibt, lässt er die Spitze des Dolches so weit eindringen, dass Habibullah zu bluten beginnt. Der krabbelt mit einem Mal wie ein Käfer, um vom Boden hochzukommen. Schon beim Aufstehen beginnt er in seinem gebrochenen Englisch auf Stichnote einzureden und ihm Versprechungen zu machen.

Ohne darauf zu achten, steckt Stichnote den Dolch zurück, zieht seine Luger und dirigiert den anderen grob schubsend in Richtung des Felsabbruchs. Der Morgenmond steht jetzt wie eine heiter bläuende Silberscheibe über ihnen. Als es kaum mehr weitergeht, dreht sich der Emir um. Er hat ein knabenhaftes Lächeln aufgesetzt, das erstarrt, als er Stichnote endlich erkennt. Einer der deutschen Offiziere, die seinem Sohn dieses merkwürdige Spiel beigebracht haben. Stichnote umkrampft die Pistole, da der Emir nicht durch eine Kugel verletzt werden darf.

Jetzt vernehmen beide den Ruf des Falken. Parr hat seinen Herrn entdeckt und kreist über ihnen, doch Stichnote hebt den linken Arm nicht, obwohl der Falke nochmals ruft. Der Emir bemerkt Stichnotes Unsicherheit und versucht, energisch humpelnd, zu fliehen. Stichnote – fast erlöst durch die Notwendigkeit, ihn aufzuhalten – wirft die Pistole ein paar Meter weg und stürzt sich auf den Emir, der um sich schlägt, Stichnote im Gesicht trifft und dabei mit seinem Ring am Auge verletzt, das zu bluten beginnt. Der Widerstand des kleinen dicken Mannes, der sich mit seinem Gewicht auf ihn zu wälzen versucht, überrascht Stichnote und lässt ihn so etwas wie Lachen ausstoßen.

Habibullah liegt obenauf. Das bärtige Gesicht wutverzerrt, beginnt er Stichnote zu würgen, der die Arme des Emirs wegzudrücken versucht, aber bald nachlässt, wie von einem Nebel eingehüllt. Seine Erschöpfung kommt ihm plötzlich wie ein Traum vor, dem er nachgeben will. Wieder muss er lachen, doch kann er nur röcheln, da ihm der Emir, der wie ein Bär kämpft und Wolken übelriechenden Atems ausstößt, die Gurgel zudrückt.

Während Blut aus der Wunde über seinem Auge sickert, steigt zartes Schwarz in Stichnote auf. Der Schmerz in seiner Kehle und das Tosen seiner Lungen werden schlimmer, und die dämmernde Erschöpfung durchfahren Erinnerungen. Das Röcheln sterbender Kamele, verendender Pferde, verdurstender Männer. Dahinratternde Viehwaggons voller Soldaten. Blitzendes nächtliches Geschützfeuer. Und mit einem Mal die See. Weiße Städte am Mittelmeer. Der Himmel über der See. Ein Schiff.

I.

DAIMON

Die Ewigkeit ist ein vergnügtes Kind, das

brettspielt. Königsherrschaft eines Knaben.

Heraklit

1

Der Kommandant der SMS BRESLAU, eines Kleinen Kreuzers der Magdeburg-Klasse und zufällig des schnellsten Schiffes auf dem Mittelmeer, stand im Schatten der Brücke und blickte auf den Hafen von Durazzo. Er fuhr sich nachdenklich über die Wange, auf der sich ein kleiner Schnitt befand, ein frühmorgendliches Versehen mit dem Messer, dessen vom Alaunstift zurückgebliebene Spuren er jetzt sorgsam mit dem Fingernagel abkratzte. Sein Signaloffizier stand neben ihm.

Fregattenkapitän Kettner betrachtete den schmalen Steg, der etwa achthundert Meter vor ihnen aus dem Hafenwasser ragte und auf dem einige albanische Jungen in kurzen Hosen dabei waren, mit Schnüren zu angeln.

»Jede Nacht derselbe Dreck. Die Männer drehen mir noch durch.«

»Ich weiß«, erwiderte der Signaloffizier. »Die schlafen schon im Stehen.«

Beide starrten auf die an Deck gespannten Hängematten. Sobaldes an Land Alarm gab und die Aufständischen Durazzo angriffen, wurden die dort in voller Montur schlafenden Matrosen geweckt und mit den bereitgehaltenen Booten augenblicklich an Land gesetzt, um den Palast des frisch gekrönten Königs von Albanien zu verteidigen, des deutschen Fürsten Wilhelm zu Wied. Bislang war zwar noch kein Rebell bis zum Königspalast vorgedrungen, der ganz nah am Hafen stand, und die Matrosen waren noch jedes Mal, ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben, wiederan Bord gelangt, doch schlauchte der Dienst die Leute, die tagsüber auf dem heißen Schiff kaum Schlaf fanden. Der Kommandant wartete förmlich darauf, dass irgendein Unfall passierte, einer ins Wasser fiel und ersoff. Deshalb hatte er seinen Lieblingsleutnant einbestellt.

»Mit dem Hinundhergondeln ist jetzt Schluss. Wir setzen das Detachement ab sofort an Land. Zehn Mann. Sie, Dönitz, werden das Kommando leiten. Quartier nehmen wir in unserem Konsulat, das sich unweit vom Palast befindet. Wenn die Schießerei dann wieder losgeht, gehen Sie mit fünf Mann vor. Zwei Küchengasten, wir versorgen Sie einmal täglich über die Bordküche. Ein Mann Signaldienst. Im Konsulat schlagen wir Biwak für die Mannschaft auf. Stellen Sie mir eine Personalliste zusammen. Gehen Sie mit Kaleunt Loewenfeld die Ausrüstung durch. Ich will, dass wir am späten Nachmittag an Land stehen.«

»Zu Befehl«, sagte der Leutnant und rührte sich schon, um sich auf der Stelle an die Arbeit zu machen. Man hätte den Kerl überall hinschicken können. Ein Prachtbursche. Eigentlich.

»Und, äh, Dönitz, eines noch«, der Kommandant blickte den besten seiner jungen Offiziere scharf an, »mir ist nicht verborgen geblieben, was Sie und Wodrig treiben. Sie wissen, wie ich dazu stehe. Bridge ist in Ordnung, das spiele ich selber gerne. Aber Bridge ist nach dem Kontrakt vorbei, man kann noch einmal darüber nachsinnen, welche Fehler man beim Reizen gemacht hat oder ob der Splinter falsch war, aber das soll’s dann auch gewesen sein. Es ist ein Zeitvertreib. Ein Spiel kann niemals die Wirklichkeit ersetzen. Außerdem kennen Sie die Anweisung 14/11! Nutzen Sie die Zeit an Land und kühlen Sie ein wenig ab. Und kommen Sie gesund wieder. Loewenfeld hat Instruktion. Viel Glück.«

Damit ließ er seinen dreiundzwanzig Jahre alten Offizier stehen und nickte ihm noch einmal knapp zu, während er sich gutgelaunt daran machte, das Schiff über eine Strickleiter zu verlassen wie ein einfacher Matrose. Eine vierriemige Ruderpinasse brachte ihn an Bord des britischen Schlachtschiffs KING EDWARD VII, das ein paar hundert Meter weiter vor Anker lag und wo den Kapitän ein zweites Frühstück nebst einer anberaumten Partie seines Lieblingsspiels erwartete.

Um vierzehnhundertfünfzehn, also Viertel nach zwei Uhr nachmittags, erreichte den Funkobermaat Sebastian Stichnote der Befehl, ausgestellt vom Ersten Offizier von Loewenfeld, dass er binnen zwei Stunden für ein Landkommando in Durazzo-Stadt zu packen habe – wofür nicht mehr als eine Viertelstunde nötig war. Zuvor jedoch sollte er einen Plan für eine Nachrichtenverbindung zwischen Landkommando und Schiff entwickeln, eine Liste des dazu erforderlichen Materials erstellen und diese Leutnant zur See Dönitz übermitteln, der das Detachement führe. Denn obgleich das Landkommando nur knapp drei Kilometer Luftlinie vom Schiff entfernt war, würde es eigenständig operieren – wenn man von den Lieferungen aus der Bordküche absah. Stichnote, der gerade dabei war, eine defekte Spule auszutauschen und neu zu verlöten, ärgerte sich kurz, dass er seine Bastelarbeit nicht würde fertigstellen können, dann aber überkam ihn die Vorfreude, denn schließlich hatte er ein ganz bestimmtes Wort gehört: Land.

Er telefonierte mit Leutnant Dönitz, der im Kartenraum saß, über die nachrichtentechnische Ausstattung des deutschen Konsulats. Zu seiner Enttäuschung erfuhr er, dass es kein Telefon, geschweige denn einen Telegrafen und schon gar keinen Funkentelegrafen gab, ja noch nicht einmal Elektrizität.

Eibo Matthes, sein bester Freund, ein Bremer, mit dem er die Torpedoschule in Flensburg durchlaufen hatte und neben Stichnote als einziger an Bord ausgebildeter Funker, hatte das Telefongespräch mitverfolgt. Eibo meinte nur, es wundere ihn überhaupt nicht, der komische Königspalast vorne am Kai strahle die ganze Nacht wie ein Lampengeschäft auf der Friedrichstraße, da konnte für den Rest der Stadt kein Strom mehr übrig sein. Es sei das dunkelste Nest, das er je – Gott sei Dank nur von Bord aus – gesehen habe, und dass es seinen Freund nun dorthin verschlage, erfülle ihn nicht gerade mit Neid. Am liebsten würde er, Eibo, ihm dieses Los ersparen und an seiner Statt dem wilden Leutnant Dönitz in die Malariahochburg Durazzo folgen.

»Kabel noch ma durch, Stich«, sagte Eibo verschwörerisch, »undmeld dich krank. Sag, es liegt an dem faulen Ei von heute Morgen.«

»Das könnte dir so passen«, erwiderte Stichnote grinsend, der wie alle anderen unter der zurückliegenden Eierdiät gelitten hatte, eine Folge der Einkaufspolitik des Casino-Offiziers, der bei einem montenegrinischen Händler versehentlich vierzigtausend Eier erworben hatte, knapp tausend Stück pro Mann. Das Wort »Ei« allein genügte, um nahezu jeden an Bord zum Lachen oder zum Kotzen zu bringen.

Sie diskutierten die Möglichkeit, in der kaiserlichen Vertretung ein Stromaggregat aufzustellen und damit eine transportable Funkenanlage zu betreiben, die sie beide im Wesentlichen aus Ersatzteilen konstruieren zu können glaubten. Doch sie hätten noch einen Schwung Röhren kaufen müssen und andere Kleinigkeiten, die vermutlich allesamt weder in Durazzo noch irgendwo sonst in Albanien zu haben waren, weshalb Eibo die Phantasie entwickelte, den Ersten Offizier zu fragen, ob er nicht mit dem kleinen Steamer nach Korfu rüberfahren dürfte, um dort alles Nötige zu besorgen. Übermorgen, spätestens am Samstag könnte die Anlage laufen.

»Wie hieß sie nochmal?«, fragte Stichnote, der diesem Plan keine Chance gab.

»Wer denn?«

»Des Kaisers Küchenmagd mit den blonden Schneckerllocken, wegen der du nach Korfu willst?«

»Die hat mich bestimmt schon vergessen.«

»Luise, oder?«

»Nu ist gut«, sagte Eibo, der grundsätzlich bei jedem Landgang, und dauerte er auch nur eine Stunde, ein Mädchen kennenlernte und sich verliebte.

»Mein alter Stich, ich könnte dir was von ihr erzählen, was dich erledigen würde, glaub’s mir«, sagte Eibo genüsslich, der das Gespräch danach äußerst sachlich und, als hätte er nie etwas anderes gesagt, auf die einfache Lösung brachte, dass ein Funkdienst zwischen Landkommando und Mutterschiff nicht möglich war, weshalb der kaiserliche Obermaat Stichnote dreimal am Tag zum Schiff und wieder zurück zu schwimmen haben würde, um den Nachrichtenaustausch zu gewährleisten.

»Ich weiß, wie wir’s machen«, sagte dieser, der wie viele Seeleute nie richtig schwimmen gelernt hatte, anders als Eibo, der schon alsKind die Weser durchkrault haben wollte. »Wir beschränken den direkten Nachrichtenaustausch auf Lichtmorsen in der Nacht. Tagsüber müsstet ihr mit den Winkerflaggen signalisieren. Oder ihr schickt ein Postboot.«

Das war die Lösung. Um sie zu realisieren, brauchte Stichnote ein Arsenal von Daimon-Taschenlampen und ausreichend Batterien. Drei Batterien pro Tag, zwei zum Ersatz, das Ganze für zehn Tage, danach müsste neues Material vom Schiff kommen. Eine einfachere Ausrüstung war kaum vorstellbar, und so kam es, dass Leutnant Dönitz eine gute Stunde später beim Magazin neben zwanzig Gewehren und fünftausend Schuss Munition, Handgranaten, Feldstechern und Signalpistolen auch drei Dutzend Bleiakkumulatoren und sechs nagelneue Daimons bestellte. Bei klarer Nacht konnte man damit auch umfangreiche Nachrichten austauschen.

Stichnote nahm sein Geld aus dem Versteck und verbrachte die ihm verbleibende Zeit damit, durch das Schiff zu laufen, um bei seinen auf den verschiedensten Posten verstreuten Freunden nachzufragen, was er wem mitbringen sollte. Als er in der Heizerei anlangte, hatte er die übliche Liste von Tabak, Zigaretten, Schokolade und natürlich Alkohol beisammen. Ludwig Klaril brauchte außerdem eine Dose Schmalz, Werner Huck Haargelatine und Kurt Mönchinger, der wie Sebastian aus dem Königreich Bayern stammte, aus der Nähe von Altötting, und der ein schüchterner Erotomane war, wünschte sich eine fotografische Wichsvorlage im orientalischen Stil. Fast alle hatten ihn neben ihren jeweiligen Spezialwünschen auch instruiert, unbedingt nach neuen Büchern und Zeitschriften Ausschau zu halten, und den Landgänger mit ausreichend Geld versorgt.

In der Heizerei der BRESLAU wollte er jetzt seinen an Jahren ältesten Freund an Bord treffen, den Marineingenieuranwärter Thomas Kasten. Der war für den Kesselbetrieb verantwortlich, an einem Ort, der einer Hölle gleichen konnte, an dem nunmehr aber, seit sie vier Tage zuvor in Durazzo vor Anker gegangen waren, nur der Minimalbetrieb lief, um das Schiff elektrifiziert zu halten und binnen weniger Stunden ablegen zu können, falls nötig. Es waren drei Heizermatrosen da, die Skat spielten, ihr Chef saß in seinem winzigen Verschlag und rauchte einen seiner wohlriechenden Zigarillos. Stichnote kannte niemanden mit einem ähnlich brillanten technischen Verständnis wie Kasten und einer ähnlichen Totalzerstörungsfähigkeit auf Alkoholbasis.

»Hab’s schon gehört, Stich«, röchelte der Ingenieuranwärter zur Begrüßung. »Aber das eine sag ich dir: Lass dir keinen Teppich aufschwatzen.«

»Soll ich dir was mitbringen?«

»Das ist sehr lieb von dir, dass du mich frägst. Aber was ich mir wirklich wünsche, gibt es dort nicht: badischen Rotwein. Aber halt … stimmt nicht, hier gibt’s auch Wein: Amselfelder. Davon kannst du mir ein Fläschchen bringen, oder zwei.« Er griff in die Schublade und holte drei Mark heraus. Geld für einige Kisten.

»Ich schau, was ich tun kann. Wenn dir noch was einfällt, kannst du Eibo Bescheid geben, wir werden jede Nacht morsen.«

»Ohne eure Privatkonsultationen könnt ihr Funkenpuster nicht, hä?«

Kasten dampfte eine ansehnliche Duftwolke in das Kämmerchen, gab die Asche in einen zierlichen Aschenbecher mit einer Abbildung des Kurhauses Baden-Baden und zog die Schublade seines Schreibtisches auf, worin sich eine Flasche Gin und zwei blecherne Mugs befanden, die er randvoll goss.

»Lass uns einen heben.«

Kastens Gin versetzte Stichnote in eine leichte Benommenheit, die er aber angesichts seines bevorstehenden ersten Landkommandos und der Abenteuerstimmung, die sich in ihm breitgemacht hatte, als wohltuend empfand.

»Wann setzt ihr über?«

»Um vier Uhr muss ich oben sein, um fünf geht’s los.«

»Leutnant Dönitz ist bestimmt der Beste für das Kommando. Der wildeste Hund von allen. Was der sich schon alles erlaubt hat. Letztes Jahr bei der Blockade saß er sogar wegen irgendeiner Geschichte ein paar Tage bei den Montenegrinern im Loch, bis sie ihn rausgeholt haben. Der Kommandant liebt ihn. Wirst bestimmt eine gute Zeit unter ihm haben. Pass nur auf dich auf.«

Stichnote erläuterte dem Ingenieuranwärter seine – überschaubaren – Aufgaben und wie er plante, sie zu erledigen. Kasten stimmte zu, meinte grummelnd, dass jetzt im prächtigsten Mittsommer wohl kaum mit Nebel zu rechnen sei, dass die allgemeine schwüle Feuchtigkeit in dieser Gegend aber den Bleiakkumulatoren schaden könne und Sebastian nur ja darauf achten solle, täglich die vorgeschriebene Anzahl Chinintabletten zu nehmen. Er, Kasten, habe einen Seglerfreund, der sich die Malaria am Victoriasee geholt habe und seitdem regelmäßig – wenngleich schon längst wieder zurück in Lübeck – unter derben Schüben der tropischen Krankheit leide.

Bevor Stichnote ihn verlassen musste, schenkte Kasten sich selbst noch einen kleinen Schluck nach, verräumte die Flasche wieder in der Schublade und kramte dabei ein kleines Päckchen hervor, das er Stichnote in die Hand drückte und ihn dabei mit seinen blutunterlaufenen Trinkeraugen anblickte.

»Hier, bessere gibt’s nicht. Aus Berlin.«

Stichnote betrachtete das Päckchen Kondome, die den Namen »Fromms« trugen. Er grinste verlegen, sagte »Danke, Tom«, dann schlugen sie ein. Kastens Hand war ungeheuer groß und so rau und rund, dass Stichnote sie kaum richtig zu fassen bekam. Als er die Heizerei verließ, war Kasten schon dabei, die Skatrunde auseinanderzuscheuchen, um die Dichtungsbolzen eines gerade stillgelegten Kessels zu überprüfen.

Stichnote eilte durch die Gänge, durchquerte ein Mannschaftsquartier, in dem ein paar Matrosen von der letzten Nachtwache in ihren Duftnudeln schnarchten, und kam wieder ins Zwischendeck, wo der Funkraum der BRESLAU lag. Eibo war gerade dabei, einen verschlüsselten Funkspruch an das Admiralsschiff GOEBEN abzusetzen, das viel weiter nördlich in Pola stand. Während er mit der rechten Hand weitermorste, schlang er seinen linken Arm um Sebastians Hals, um ihn so fest zu quetschen wie nur möglich. Sie schlugen mit ihren Händen über Kreuz ein, Daumen an Daumen, dann sah Stichnote zu, dass er seinen Seesack aus dem Quartier holte und an Deck kam.

Eine Stunde später legten die zwei Ruderpinassen an dem einzigen Steg des Hafens von Durazzo an, die Soldaten sprangen heraus, schulterten ihre in massigen Rucksäcken verstaute Ausrüstung, die ihnen Matrosen aus dem zweiten Ruderboot zuwarfen, und marschierten an dem später in der Nacht zu schützenden Königspalast vorbei durch die Gassen der Altstadt. Stichnote, der ganz hinten ging, warf einen letzten, heiteren Blick auf das zu Spielzeuggröße geschrumpfte Schiff. Die hoch im Südwesten stehende Sonne blendete ihn. Er zwinkerte der BRESLAU noch einmal zu, doch dann packten ihn die Straßen, auf denen das bunteste Volk unterwegs war, Albaner, Griechen, Zigeuner und Kinder, aus denen sich sofort ein Begleittrupp bildete, der ihnen nicht mehr von der Seite wich. An einem belebten Platz, auf dem heruntergekommene venezianische Palazzi und Bürgerhäuser standen, stießen sie auf drei Angehörige der leuchtend grün uniformierten Polizeitruppe des Stadtkommandanten, die von niederländischen Offizieren geleitet wurde und deren Patrouille nun mit Leutnant Dönitz in ein Gespräch über das Ziel seiner Mannschaft trat.

2

Adolph Zickler, Sonderkorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, stand auf dem Balkon seines Zimmers im nicht gerade vornehmen Hotel Atlantic – dem vierten, in dem er es versucht hatte, nachdemalle anderen ausgebucht gewesen waren – und verfolgte die Ankunft deutscher Marineeinheiten in der jungen albanischen Hauptstadt mit höchstem Interesse. Es war das erste Mal, dass er deutsche Truppen auf dem Balkan in Aktion sah. Er wusste, dass sie letztes Jahr an der Montenegro-Blockade teilgenommen hatten; dass sie jetzt aber auch in Albanien operierten, überraschte ihn. Denn aus Sicht des deutschen Kaisers war etwa Nordepirus der Schauplatz einer unbedeutenden Familienfehde zwischen seiner Schwester Sophia, Königin von Griechenland, und einem entfernten Cousin, der auch Wilhelm hieß, aber eben nicht Hohenzollern, sondern Wied, welcher auf einer Konferenz der europäischen Mächte zum König von Albanien bestimmt worden war, auf Wunsch Rumäniens, dessen Königin Elisabeth die Tante seiner Frau war.

Die deutsche Politik kümmerte sich eigentlich nicht weiter um Albanien. Die Österreicher hatten auf dem Balkan das Sagen und sollten überall dort, wo das Osmanische Reich zurückwich, an Einfluss gewinnen und Schutz gewähren, was Italien, das Österreich den Besitz Triests nicht verzeihen konnte, dazu trieb, wo immer es ging dazwischenzufunken. Es war kein Geheimnis, dass die Italiener hinter Essad Pascha standen, jenem ehemaligen osmanischen Militär aus alter Tiraner Landbesitzerfamilie, der nur darauf wartete, Durazzo einzunehmen und die verhasste Spielfigur der Großmächte, jenen aus rheinischem Weichholz geschnitzten König, der kein Wort Albanisch sprach, vom Spielfeld zu kegeln, um selbst König der Skipetaren zu werden. Nun würden seine Truppen es offensichtlich auch mit Deutschen zu tun bekommen. Hübsche Kerle.

Nach der langen Zeit im Zelt und auf Ochsenwagen genoss Zickler den Blick aus dem vierten Stock, es tat ihm gut, endlich wieder in einer Stadt zu sein, auch wenn es sich nicht eben um eine Metropole, sondern eher um einen Taubenschlag handelte.

Aufmerksam verfolgte er, wie sich der junge deutsche Offizier von den Gendarmen verabschiedete, nachdem er sich längere Zeit mit ihnen unterhalten und offenkundig einen Witz gemacht hatte, denn alle vier lachten und salutierten schließlich, und er dabei derart schneidig federte, als wären nicht die Gendarmen die Herren auf diesem Platz, sondern er. Dann brachte er seinen Trupp mit einer Kopfbewegung zum Weitermarsch, und Zickler sah, wie sich die Menschenmenge unwillkürlich, doch zwingend teilte, um die schwerst bepackten und bewaffneten deutschen Soldaten durchzulassen. Sie verschwanden gegenüber seinem Hotel in einer Gasse. Zickler ging in sein Zimmer und studierte den grobmaschigen Stadtplan, den ihm der italienische Concierge aufgezeichnet hatte, da es keine frei erhältlichen Pläne von Durazzo gab. Zickler hatte ihn gebeten, das deutsche Konsulat einzuzeichnen, wo ein alter Freund seiner Eltern als Legationssekretär arbeitete, und wenn er sich nicht irrte, dann marschierten die deutschen Soldaten gerade genau dorthin.

Schon fühlte er sich heimisch. Der alt gewordene, noch immer ein wenig schwüle Tag tat sein dunkles Blau dazu und versetzte den Reporter in gehobene Stimmung. Denn es lag eine Nacht voll Arbeit vor ihm. Unendlich schien die zur Verfügung stehende Zeit– es war kurz vor sechs. Und lächerlich die Zeichenzahl von achttausend angesichts der Fülle an Informationen und Eindrücken, über die er schreiben konnte.

Der Kommandant Stephanopoulos und der Waffenschieber Kolchos, die heruntergekommenen nordepirotischen Freischärler, die alle fünf Minuten zum heiligen Nikolaus beteten, bevor sie armselige Dörfer und uralte Bektashi-Klöster attackierten, ihre Streitereien ums Essen und der ganze Dreck der vergangenen drei Monate, all das waren nun mit einem Mal durch Notizbuchskizzen fixierte Rohlinge, Bauteile, Materialien, zahlreich wie die Flöhe, die ihn schon in mehreren Generationen bewohnten.

Er begann, das Porträt eines treu zu den aufständischen Nordepiroten haltenden Gebirgsflohs zu zeichnen, den es aufgrund der Weltlage in das fremde Durazzo verschlagen hatte. Als ein Blatt des teuren Papiers, das er sich vom Concierge aufs Zimmer hatte buchen lassen, mit seiner Handschrift bedeckt war, die solch weitläufiges Gelände nach drei Monaten Notizbuchschreiben kaum mehr gewohnt war und irgendwie geduckt und eng dastand, war das Blutsauger-Porträt so weit ausgeschrieben und hätte ungefähr ein Viertel des von der Redaktion der NZZ erwarteten Artikels ausgemacht.

Ernüchtert legte er seine Füllfeder nieder, griff sich durchs Haar und rubbelte seine Kopfhaut, die sich gebirgig anfühlte, stand angewidert auf und trat erneut nach draußen auf den Balkon. Nach dem Ende des mohammedanischen Gebets hatte sich der Platz merklich geleert, dafür waren jetzt die Cafés, Hotelrestaurants und Lokale ringsherum bevölkert. Es war deutlich frischer, und man spürte sofort, dass die Moskitos langsam Oberwasser bekamen. Voller Abscheu dachte er an die Flohbeschreibung, mit der er kostbare Arbeitszeit verschwendet hatte. Nun sank schon die Sonne, es musste gegen neun Uhr sein. Und morgen früh brauchte er die unglaubliche Anzahl von achttausend Zeichen.

Überall kratzte und juckte es ihn, das Paar Hosen hing wie ein übler Fetzen an ihm herunter, und sein Hemd, seit Wochen sein einziges, hatte eine entschieden isabellfarbene Patina angenommen. Eigentlich wunderte er sich darüber, dass der Concierge ihn überhaupt ins Hotel gelassen hatte, aber gut, er hatte sich als offizieller Vertreter der Neuen Zürcher vorgestellt und alles Schweizerische genoss auf der ganzen Welt höchstes Vertrauen, weshalb es ja auch so viele Betrüger und Hochstapler gab, die die Schweizer Karte spielten.

Er las das Porträt eines patriotischen Flohs noch einmal durch. Der Abscheu, den er zwanzig Minuten vorher empfunden hatte, war verflogen, nun ja, gar nicht so übel, er müsste es eben einkürzen – aber das Motiv war gut, darauf konnte man aufbauen. Später. Jetzt zog er gutgelaunt seine Stiefel an, rollte das Hotelhandtuch zusammen, ging über die knarzende Treppe nach unten und bestellte sich im vollbesetzten Restaurant, in dem er englische, niederländische, italienische und albanische Unterhaltungen hörte, einen Mokka, den er nicht aufs Zimmer schreiben ließ, sondern bar mit einer goldenen Lira bezahlte und ein schönes Häufchen Scheidemünzen zurückerhielt. Er erkundigte sich beim Kellner nach dem nächstgelegenen Barbier und schlenderte dann, das Handtuch unter dem Arm, über den Platz. Eine Straße weiter fand er den Laden des Floktars, der weit über siebzig sein musste, gesund aussah, aber keinen einzigen Zahn mehr im Mund hatte und dem er klarzumachen verstand, dass er die Abnahme des Barts und des gesamten Haupthaars mit dem Messer wünschte.

Mit spiegelnder Glatze, die sich so interessant-fremd anfühlte, dass er sie unwillkürlich die ganze Zeit betastete, betrat er danach einen Krämerladen und erklärte dem Händler durch entschlossenes Ausziehen seines Hemdes und ein Fingerballett, dass er Kleidung zu erwerben wünsche. So kaufte der Zürcher zwei bestickte Leinenhemden, zwei Pluderhosen und eine ziegenfellbesetzte Weste aus Samt. Eine fezartige Mütze, von der Zickler zunächst nichts wissen wollte, gab ihm der Mann gratis dazu – und wickelte alles zu einem handlichen Paket, mit dem er eine Viertelstunde später unten am Hafen auftauchte.

Der Anblick der weit draußen vor Anker liegenden Kriegsschiffe, hinter denen gerade die Sonne unterging, was die Kolosse umso mächtiger erscheinen ließ, traf ihn fast wie ein Schlag. Was für Riesenklötze! Auf dem wesentlich größeren stand der Union Jack, das kleinere, mit vier schmalen Schornsteinen ausgestattete Schiff, das einen hochmodernen Eindruck machte, gehörte zur Flotte des deutschen Kaisers und war offensichtlich das Mutterschiff des kleinen Trupps hübscher Matrosen, die er am Nachmittag gesehen hatte. Auf den Schiffen brannten sämtliche Lichter,man konnte die Brücken ausmachen, auf denen winzig kleine Offiziere ihren Dienst taten. Zickler schätzte die Bewaffnung der Schiffe ab, das britische zeigte zehn, das deutsche Schiff sechs Geschütze auf jeder Längsseite, Zwillingsgeschütztürme an Heck und Bug. Das waren andere Kaliber als die armselige Krupp-Haubitze des Ex-Bankiers Stephanopoulos.

Rechts von ihm stand der Konak des Königs von Albanien, an dessen Zaun sich etliche einheimische Spaziergänger aufhielten und den frisch renovierten Palast betrachteten, dessen Fenster gleichsam in Festbeleuchtung getaucht waren. Eine seltsame Stumpfheit ging von den Menschen vor dem Zaun des Palastes aus. Auf der anderen Seite des Hafens war es menschenleer. Zickler ging bis an sein Ende, fand eine Stelle, an der er ins Wasser steigen konnte, wartete noch eine Weile, dann zog er sich rasch aus, holte sein Geld aus der Hose und versteckte es in einem der Stiefel, stopfte seine alten Kleider unter einen Felsen, stieg in die Adria und stöhnte auf, als er seinen frischrasierten Schädel untertauchte und das Salzwasser wie Höllenfeuer auf seiner Kopfhaut brannte. Prustend schwamm er hinaus, stellte sich vor, wie das Salzwasser die Flöhe angriff und wie diese in Scharen das sinkende Schiff verließen. So badete er, immer wieder für längere Zeit untertauchend, bis er es nicht mehr aushielt. Er stieg an Land, rieb sich, von Lebenslust gepackt, ab, zog sich rasch die neuen Sachen an und platzierte aus Übermut das rote Hütchen auf seinem feuerrot leuchtenden Schädel.

Zurück an der Rezeption und nun wie ein braver Albaner gekleidet, verlangte er nach mehr Papier, schrieb eine Nachricht an Amadeus Toth im deutschen Konsulat und übergab sie dem Concierge mit der Bitte um sofortige Zustellung. Dann orderte er eine Goldbrasse in Tomatensoße, Brot und zwei Flaschen venezianischen Weißwein auf sein Zimmer, wo er sich sogleich an die Arbeit machte, nicht ohne zuvor eine der Chinintabletten zu schlucken, die er sich für eine horrende Summe besorgt hatte. Ohne die Arbeit zu unterbrechen, stopfte er den Fisch in sich hinein und leerte die erste der beiden Flaschen mit größtem Durst. Doch während er gerade an einer möglichst knappen Darstellung der politischen undökonomischen Verflechtungen zwischen Griechenland und dem Insurgenten-Staat Nordepiros feilte, schlüpfte Kommandant Stephanopoulos aus seinen Aufzeichnungen in Zicklers plötzlich aufgegangenen Traumbalkan hinüber und versuchte, ihn beschwörerisch in einen Nachen zu locken, der auf dunklem, unheimlich wirkendem Gewässer schwamm. Als Zicklers Widerstandskräfte im Traum zu brechen begannen und er beinahe den Fuß auf das acherontische Gefährt gesetzt hätte, weckte ihn der Knall einer Signalpistole, dem eine Detonation und schließlich Maschinengewehrgarben folgten, die nicht einmal weit entfernt zu sein schienen.

Er fuhr schweißüberströmt hoch, hatte Tinte auf seiner linken Backe: die gespiegelten letzten Zeilen, die er geschrieben hatte, bevor er eingeschlafen war. Er trat leicht schwankend auf den Balkon hinaus. Zwischen das Maschinengewehrfeuer krachten nun auch Gewehrschüsse, dann gab es wieder eine Detonation, weiter östlich. Essad Paschas Truppen beschossen die Stadt, und die Stadtgendarmerie hielt dagegen.

Auf dem dunklen Platz war niemand mehr zu sehen, die Cafés waren jedoch weiterhin gefüllt. Zickler blieb auf dem Balkon stehen, tätschelte sich die Glatze und lauschte den nicht abreißenden, aber auch nicht näherkommenden Schusswechseln. Nach einer Weile erschien ein Trupp auf der anderen Seite des Platzes, in dem Zickler sofort die Deutschen wiedererkannte, die sich im Laufschritt und voll bewaffnet in Richtung Hafen bewegten. Offensichtlich sollten sie den Königspalast mit dem Fürsten und seiner Familie darin beschützen.

Die Schießerei dauerte bis in die Morgenstunden, erst als es hell zu werden begann, brach sie unvermittelt ab. Gegen sechs Uhr ging Zickler, der die ganze Nacht geschrieben hatte, nach unten, um ein paar Tassen Kaffee zu trinken, eine Chinintablette zu frühstücken und sich die ersten Zeitungen zu besorgen. Während er von neuerlich aufflackernden Streiks in Italien und der Wiedereröffnung des Kaiser-Wilhelm-Kanals zwischen Nord- und Ostsee las, den jetzt endlich auch Deutschlands neue Großkampfschiffe befahren konnten, wurde er in seiner albanischen Tracht misstrauisch vom Morgenkellner beäugt, der anschließend die Rechnung, wie es Zicklerschien, nur widerwillig aufs Zimmer schreiben wollte. Auf der österreichischen Post diktierte er dem Telegrafisten eine knappe halbe Stunde, stellte der Redaktion weitere Artikel aus dem Krisenherd Albanien in Aussicht und bat um die Anweisung frischer Lire für die Weiterreise nach Konstantinopel. Glücklich benommen, da er nun schon fast dreißig Stunden wach war, ging er – während die Rufe zum Morgengebet in den Gassen der Stadt erklangen– zurück ins Hotel, legte sich, ohne mehr auszuziehen als seine Stiefel, aufs Bett und döste sofort weg. Er schlief traumlos und tief.

3

So weit verstand Stichnote Italienisch, dass er den Sinn der erstenWorte begriff, die Caruso nach einer etwas faden Orchestereinleitung in die Morgenluft sang: »La vita è inferno all’infelice« – für den Unglücklichen ist das Leben eine Hölle. Er konnte nicht anders, als der Stimme des Tenors fasziniert zu folgen, und genoss die berauschende Wirkung, die das Leid der Opernfigur auf seine eigene glänzende Stimmung ausübte.

Die erste Nacht an Land war so verlaufen, wie sie sich das vorgestellt hatten. Sie hatten Quartier genommen, wobei Stichnote zu seiner Überraschung nicht ins Zelt und in die Hängematte zu den anderen musste, sondern eine Kammer im Erdgeschoss des Hauses zugewiesen bekam. In dieser stand ein Bett – mit einem Kopfkissen! Gegen Mitternacht war das Leuchtsignal von der Gendarmerie gegeben worden, und Leutnant Dönitz hatte mit fünf Mann im Laufschritt und mit voller Bewaffnung das Konsulat verlassen, um die verabredeten Linien in der Nähe des Konaks einzunehmen. Sollte es den Aufständischen gelingen, in die Stadt zu kommen, so würde das Dönitz-Detachement sie daran hindern, den Wohnsitz des Königs zu betreten. Das war der Auftrag. Stichnotes Aufgabe bestand darin, mit den zwei verbliebenen Matrosen den Hausberg der Stadt zu erklimmen, an dessen Südflanke ihr Quartier lag, ein Marsch von etwa zwanzig Minuten, dort oben Position zu beziehen, um zwanzig Minuten nach Mitternacht die erstbeste Daimon zur Hand zu nehmen und das Erkennungssignal abzusetzen, auf das Freund Eibo an Bord der BRESLAU wartete, der ganz oben den Dreißigerscheinwerfer bediente, den er mit einer Klappe verdunkeln und blitzschnell wieder erhellen konnte, um Morsezeichen zu senden.

Eibo benötigte nur wenige Sekunden, bis er das schwache Licht der Taschenlampe entdeckt hatte, dann morste er seine Kennung mit dem Signalscheinwerfer von Bord zurück. Stichnote teilte dem Schiff die Lage an Land mit, dass sechs Mann ausgerückt seien und in Position stünden. Eibo blinkte zurück, setzte zunächst ab, dass es keine weiteren Anweisungen gebe, und mischte dann bei der Wiederholung, wie nicht anders zu erwarten, ihre verabredeten Kürzel dazwischen, kleine dreiteilige Shots, die sie auf der Schule Tritons getauft hatten und die dem Funkoffizier, wenn er überhaupt dabei war, entgehen mussten, weil er der Geschwindigkeit, mit der ein Funker wie Eibo diesen erst seit ein paar Jahren gebräuchlichen Binärcode sendete, nicht folgen konnte. Also streute der seine eigenen kleinen Geheimzeichen ein, Kürzel, die nur Stichnote mitbekam und lesen konnte und deren Trick unter anderem darin bestand, die Vokale wegzulassen.

»Der Smut ist besoffen ins Wasser gefallen«, teilte Stichnote den hinter ihm wartenden Matrosen mit, worüber beide wiehernd zu lachen begannen. Der eine war ein bayerischer Landsmann, ein großgewachsener, mit einem leicht schiefsitzenden volllippigen Mund ausgestatteter Allgäuer von unerschütterlichem Kaltblut, und der andere ein sommersprossiger Berliner, der in der Kneipe seiner Großmutter in Rixdorf aufgewachsen war und die Kunst beherrschte, Tierstimmen zu imitieren, wovon er häufig Gebrauch machte, zur Unterhaltung der anderen, aber auch um sie zu erschrecken, zum Beispiel indem er spätnachts eine Ratte im Schlafquartier erscheinen ließ, die dann auch prompt jeder gesehen haben wollte.

Als sie sich auf den Rückweg ins Konsulat machten, antwortete er mehrfach einem Käuzchen, das sich in einem Gehölz verborgen hielt und hocherfreut zu sein schien, einen Artgenossen gefunden zu haben. Es folgte ihnen bis zur Villa Pellegrino, dem Sitz des Konsulats. Stichnote, der als Junge auf dem Dachboden seines Vaterhauses Brieftauben hatte halten dürfen und dabei ihr Gurrengelernt hatte – seine erste Fremdsprache, wie er manchmal dachte–, freute sich über die Imitationskunst des Rixdorfers, denn er liebte nicht nur Tauben, sondern Vögel ganz allgemein. Als der Obermaat zwischen die Laken des Bettes geschlüpft war, hörte er das sehnsüchtige Tier durch das offene Fenster immer noch nach seinem Kameraden rufen.

Der Rest der Truppe war noch nicht wieder zurück vom Palastverteidigen, die zivilen Hausbewohner schliefen alle. Stichnote würde sich nun der Lektüre hingeben. Es war herrlich, mit einer Daimon der Kaiserlichen Marine ungestört in einem Bett liegen und jenem glücklichen Umstand danken zu können, der ihn zwei Stunden nach Ankunft in der Villa mit dem Sekretär des Konsulats, Herrn Amadeus Toth, hatte bekannt werden lassen, der in einem Zimmer voller Bücher, Zeitschriften und Zeitungsausschnitte residierte und ihm kurzerhand ein Buch auslieh.

Der Obermaat hatte sich höflich nach einer Buchhandlung in der Stadt erkundigt.

Da sehe es leider schlecht aus, sagte der Sekretär, ein spindeldürrer Mann mit Nickelbrille und Glatze, der sich aber sogleich anschickte, Stichnote nach seinen Leseinteressen zu befragen, worauf dieser »Technisch« und »Abenteuerlich« antwortete, und Toth ihm mit einem Griff einen im Jahr zuvor erschienenen Roman in die Hand drückte, den er selber gerade erst gelesen habe. Der Tunnel erzähle die Geschichte eines Bergbauingenieurs, dessen Lebenstraum darin bestehe, von New York aus einen Eisenbahntunnel unter dem Atlantik bis nach Europa zu graben. Habe er es durch, so werde Toth ihm jederzeit neuen Lesestoff leihen, er müsse also nicht sparen.

Legationssekretär Toth war es auch gewesen, der ihn über die Verhältnisse am Konsulat aufgeklärt hatte, jenes ein wenig heruntergekommenen Hauses, das einem schon lange in Durazzo ansässigen Italiener gehörte. Der war gleich den anderen Hauseigentümern in der kleinen Hafenstadt freudig davon überrascht worden, wie rasant das Heer europäischer Diplomaten und leichter Damen, von Handelsvertretern, Journalisten, Geheimagenten und Betrügern jedem Leerstand in der Hauptstadt des neuen Albaniens ein Ende gesetzt, die Mietpreise in die Höhe getrieben und den Moskitos zu einer unvorhergesehenen Blutauffrischung verholfen hatte.

Der Italiener, Sandro Pellegrino, hatte sich in das Dachgeschoss zurückgezogen, um seine Villa möbliert zu vermieten. Angeblich war Pellegrino keine zwei Stunden nach Erhalt der Jahresmiete aufgebrochen, um trotz stürmischsten Wetters den Postdampfer nach Bari zu nehmen, und vier Tage später mit dem Grammophon und einer Kiste mit Schellackplatten zurückgekommen, auf denen allesamt ein italienischer Tenor namens Caruso verewigt war.

Seither zehrte Pellegrino vergnügt von der Miete, ließ sich komplizierte Mahlzeiten aus dem besten Hotel Durazzos in sein Dachgeschoss bringen und betätigte die Kurbel seines Grammophons, um jenen Sänger immer wieder von vorne untreue Geliebte verfluchen, über verruchte Gegner triumphieren, bei seinem Leben schwören und bösem Verrat zum Opfer fallen zu lassen.

Während Stichnote sich nun – gerade aufgewacht – lauschend zwischen den Laken rekelte, beschäftigte ihn die Frage, wie er einmal nach oben gelangen könnte, um sich das nagelneue und verheißungsvolle Gerät anzuschauen.

Das erste Grammophon hatte er beim Dallmayr in der Dienerstraße gesehen. Der Überseeludwig hatte ihm ein paar Bananen kaufen wollen, und dabei waren sie auf Edisons sprechende Schokolade gestoßen, um die herum ein Pulk aus Kindern der besseren Familien stand und der gedämpften, wie aus weiter Ferne heranklingenden Melodie »O du lieber Augustin« lauschte. Die Walze konnte sogar mit eigener Musik bespielt und im Ganzen dreißig, vierzig Mal gebraucht werden. Anschließend durfte man sie aufessen, da sie ganz aus Schokolade war.

Er erinnerte sich deutlich an jenen Tag vor zehn Jahren, bemerkenswert nicht nur wegen der hartnäckig wiederkehrenden Schneeschauer, die so dicht fielen, dass die Aprilsonne hinter einer glasig weißen Wand ganz verschwunden zu sein schien, um jedes Mal binnen Minuten wieder hervorzubrennen und allen Schnee zu lustig plätschernden Rinnsalen werden zu lassen, sondern auch, weil er an diesem Ostersamstag zum letzten Mal mit seinem Lieblingsonkel Ludwig zusammengewesen war.

Ludwig war der Bruder seiner Mutter, die eine Woche nach Sebastians Geburt gestorben war. Alle in der Familie nannten ihn den Überseeludwig, da er als junger Mann Bayern verlassen hatte, um dem geheimnisvollen Beruf des Baumharzjägers nachzugehen, zunächst auf der Insel Sansibar, auf der er für ein Regensburger Handelshaus tätig gewesen war. Nach dessen Bankrott verschlug es ihn auf der Spur des Copal nach Kolumbien, in eine kleine Stadt namens Barbosa, von der aus er Expeditionen in den Dschungel unternahm, um mit dem Blick für das untergründig Verborgene die manchmal seit fünfzig, manchmal seit fünftausend Jahren im Boden ruhenden kostbaren Harzklumpen zu finden und die Lagerstätten in mühseliger Arbeit auszubeuten, wobei er sich gegen Herzstillstand hervorrufende Giftfrösche, Würgeschlangen, hochgefährliche, wenngleich nur hüftgroße Kopfjäger und den schwarzen Panther zu schützen hatte, der dort sein Revier besaß und – wieder Überseeludwig seinem Neffen eindrücklich geschildert hatte – den Tag auf hohen Bäumen wie ein Kätzchen verschliefe, um in der Dämmerung zu seinem Raubtiertum zu erwachen und den schlafenden Jäger des Baumharzschatzes zu überfallen.

Das Copal brachte der Onkel mithilfe seiner Maultiere und einiger indianischer Helfer zuerst nach Barbosa und von dort weiter an den größten Fluss Kolumbiens, der nach der heiligen Magdalena benannt war, den die Indianer aber Yuma nannten. An diesem somächtig strömenden Fluss gab es viele Häfen, und an einem davon, mit dem komplizierten Namen Barrancabermeja, verkaufte der Onkel sein Copal einem ihm lange schon bekannten Händler gleichfalls deutscher Herkunft. Flussaufwärts kam er ans karibische Meer und von dort schließlich in die Vereinigten Staaten, wo aus dem kostbaren Stoff Lacke für Möbel, Geigen und Klaviere gekocht wurden.

Der Überseeludwig hatte seinem Neffen damals einen hellgelben, wunderbar polierten Harztropfen von der Größe eines Männerdaumens geschenkt, in welchem das bizarre Spiel der Zeit eine etwa sechs Millimeter große Ameise festhielt, die sich im Netz einer gut doppelt so großen Spinne verfangen hatte. Die Spinne schien gerade dabei zu sein, sich die Ameise zu holen, war jedoch vom Harzfluss überrascht worden, der zwar die hormiga mit ihrem kahlen Kopf vor dem Verzehr rettete, doch eben nur, um sie in zappelnder Ausweglosigkeit zu bannen, wie auch die Spinne im räuberischen Heißhunger verharren musste, angezogen von ihrer Beute, doch auf ewig daran gehindert, sie sich zu holen.

Von schräg einfallenden Sonnenstrahlen durchschossen, war es faszinierend, den schillernden Copal hin und her zu drehen, und immer wieder vermeinte der Knabe, einen Ruck, ein Zittern zu erkennen, als wären Jäger und Beute zum Leben erwacht, das versteinerte Harz wieder flüssig, die Ameise aus dem Netz befreit, die Spinne kurz davor zuzuschnappen und alles, was seit ungezählten Jahren fixiert und unabänderlich gewesen war, mit einem Mal lebendig, das Spiel wieder offen und Sebastian, der Beobachter, mittendrin.

Den Copaltropfen trug er noch immer an einem buntgeflochtenen Lederband indianischer Machart um den Hals und betrachtete ihn als seinen Glücksbringer. In manchen Momenten berührte er ihn unter dem Hemd und fühlte sich seinem fernen Onkel dann so nah, als könnte er ihn sofort anfunken. Kolumbien – ich komme!

Auch an diesem herrlichen albanischen Sommermorgen hätten die atmosphärischen Bedingungen nicht besser sein können, um Stichnote empfinden zu lassen, dass er, wenn auch weit fort von seinem lieben Onkel, doch in telepathisch-elektrischer Verbindung mit ihm stand. Ludwigs von lustigen Einschlägen eines weichen südamerikanischen Spanisch durchzogenes Bayerisch hatte er sich als Jugendlicher oft vorgesprochen und es auch bei seinen eigenen Sprachübungen einfließen lassen, die er mit Hilfe eines Leipziger Bändchens Spanische Sprachlehre zum Selbststudium durchführte.

Später, bereits auf der BRESLAU, während eines langen Winterdocks, das sie in Triest verbrachten, hatte er so auch Italienisch gelernt. Englisch hatte er schon auf der Realschule gehabt und dann fleißig Kurse auf der Torpedoschule belegt. Englisch war schließlich die Weltsprache und für einen Marinefunker selbstverständlich, zumal für einen, der daran dachte, so bald als möglich ins zivile Leben zurückzukehren.

Gelernt hatte er immer gerne. Die Volksschule absolvierte er mit Leichtigkeit und wusste dabei, dass hinter dem ABC und dem Einmaleins, das ihnen ihr schon frühmorgens angetrunkener Lehrer Maier einpaukte, ein Weg auf ihn wartete, der ihn aus der übelriechenden Gerberei in der Kühbachstraße fort in eine andere Welt führte. In seiner Familie hatte Sebastian eine gewisse Sonderstellung, nicht allein durch die traurigen Umstände seiner Geburt, die seiner Mutter das Leben gekostet hatte. Sein damals zum zweiten Male verwitweter Vater war darüber vollends schwermütig geworden, hatte den Buben zwar doch lieb, kümmerte sich aber nicht um ihn, sondern überließ ihn der Obhut seiner Amme, eines bitterarmen Mädchens aus Haidhausen, dessen sieben Monate alter, unehelicher Säugling zuvor am Keuchhusten verstorben war. Zenz, so hieß die Amme. Sie kümmerte sich, da der kleine Sebastian der Mensch war, der sie ernährte, indem sie ihn ernährte, mit solcher Sorgfalt um ihn, als wäre er eines Grafen Kind, säugte ihn, bis er zwei Jahre alt war, und blieb auch danach als skrupulöse Haushälterin, Köchin, Waschmagd dort wohnen.

Die Zenz war ein furchtsamer Mensch und recht eigentlich todunglücklich. Sie entstammte einer Taglöhnerfamilie aus Berchtesgaden und war mit vierzehn als Hausmagd nach München gekommen. Wann immer sie konnte, war sie mit dem kleinen Sebastian den Giesinger Berg zur Heilig-Kreuz-Kirche hinaufgegangen. Als er verständig genug war, hatte sie dem Knaben erklärt, in der Kirche könne er mit seiner Mama sprechen, die droben beim lieben Gott im Himmel wohne und von dort auf ihn hinuntersehe. Dass sie dort auch ihren Sepperl vermutete, sagte sie ihm nicht, doch dachte sie es wohl.

Der liebe Gott schien ihm ein guter Vater, der sich um die lieben Seelen kümmerte. Und mit denen konnte man, so fühlte es der kleine Sebastian, beim Beten eine gleichsam telepathische Verbindung aufnehmen, das Kirchenschiff ein Funkraum und die Zenz die Lotsin.

Als die Zenz dann von einem Tischlergesellen wieder schwanger wurde, setzte Sebastians weltlicher Vater sie auf die Straße. Aber sie hatte Glück und wurde von dem Erzeuger geheiratet, lebte eher schlecht als recht drüben in der Au, doch wenn Sebastian sie manchmal in ihrer armseligen Souterrainwohnung besuchen kam, drückte sie ihn so fest, dass alle ihre fünf Kinder Stichnote als einen ganz besonderen Menschen in Erinnerung behalten sollten.

Sebastians Vater selbst war ein widerwilliger Handwerker gewesen, mit einem wie bei vielen Gerbern stets glimmenden Stumpen im Mund, den er nur zum Schlafengehen erkalten ließ. Er war ohne jedes Talent in geschäftlichen Dingen, hatte aber schon früh erkannt, dass der Familienbetrieb für seinen dritten Sohn keinen Platz mehr bieten würde, und so durfte der Jüngste als Erster in derFamilie eine weiterführende Schule besuchen, die Kreis-Realschule am Regerplatz. Vielleicht hätte er seinem Sohn auch noch ein Studium finanziert, aber er starb am Schlag, als Sebastian im letzten Schuljahr stand. Seine Brüder – die nicht gut miteinander auskamen – fürchteten nichts mehr, als den Kleinen, den sie in der Werkstatt sowieso nicht sehen wollten, allzu lange auf der Tasche liegen zu haben. Sebastian, der ohnehin nur noch an den Überseeludwig und Kolumbien dachte, kam ihnen zuvor, indem er erklärte, in gut einem Jahr, wenn er siebzehn geworden wäre, der Kaiserlichen Marine beitreten und Funker werden zu wollen. Die Erleichterung der beiden Streithähne darüber war so groß, dass sie Sebastian von da an in Ruhe ließen, ihm seine Bücher gönnten, die er sogar am Abendbrottisch las, und ihm – während sie ihre Erbgesetzgeschütze gegeneinander in Stellung brachten – ein wunderbares letztes Münchener Jahr bescherten.

Dieses versüßte er sich dadurch, dass er sich neben seinem etwas unbeholfenen Selbststudium des Spanischen und ausgedehnten Besuchen im Deutschen Museum, wo man die allerneuesten Errungenschaften der Technik studieren konnte, zwischen die Herren Studenten sortierte und Vorlesungen an der Technischen Universität in der Arcisstraße hörte. Seine Sonntagshose tragend, die längst nach Hochwasser aussah, und sein bestes Hemd, wiewohl ohne Kragen, saß er in den großzügigen Hörsälen, vernahm von den Theorien der Professoren Einstein und Planck und lauschte Vorlesungen über die Eigenschaften der Bimetalle und der Elektrizität. Auch wenn er nur die Hälfte verstand und keiner der Studenten ein Wort mit ihm wechselte, auch wenn ihn der Pedell misstrauisch beäugte, ohne ihn doch je nach seiner Immatrikulation zu fragen – Sebastian brannte für dieWelt der Physik, die ihm eine Sprache schien, in welcher die Menschheit mit dem Planeten selbst und dem Universum im Ganzen zu kommunizieren vermochte.

4

Die Musik aus Signor Pellegrinos Dachgeschoss war jetzt verklungen, das Zwitschern und Singen aus dem Garten kehrte zurück. Stichnote fühlte sich, versonnen den Copal hin und her drehend, wie im Zentrum eines Netzes. Er war allein, doch geborgen, denn dieses Netz war aus einer Substanz gesponnen, die ihn wach sein ließ, auch wenn er schlief, die ihm die Gewissheit gab, immer noch ein wenig mehr, ein wenig drüber hinaussehen zu können. Weshalb er es auch so liebte, an Deck zu stehen, wenn sie mitten auf hoher See waren und man am glimmenden Horizont die Rundung der Erde erahnte, jenes Da-Sein der Welt, an welches zu denken sie einem fast schon brachte, so dass man durch diese Substanz gleichsam überall war. Sehnsucht hieß sie. Ein ozeanisches Gefühl.

Stichnote rasierte sich, wusch sich in einer vom albanischen Konsulatsdiener bereitgestellten Schüssel und zog sich seine weiße Hose und das Hemd mit hellblauem Seemannskragen an, band den schwarzen Halsknoten und überlegte, ob der Leutnant es als Insubordination auffassen würde, wenn er sich noch vor der Erlaubniszum Ausgang seine kurze blaue Ausgehjacke anzog. Dönitz warnicht gerade als Korinthenkacker verschrien, also warf er sich die Jacke über, auf deren linkem Ärmel das gelbe Obermaatsabzeichen mit Blitz und Anker angebracht war, das neueste Emblem derKaiserlichen Marine, das den Telefunkern vorbehalten war, dermodernsten elektrischen Abteilung, der Stichnote mit einigemStolz angehörte, auch wenn er bald seinen Abschied nehmen würde.

Er schnappte sich die Matrosenmütze, auf deren schwarzem Band in Metalllettern S.M.S. BRESLAU stand, auch das eine erfreuliche Signatur – die BRESLAU war zwar unter den Schlachtschiffen auf dem Mittelmeer eines der kleineren, aber dafür das schnellste. 28 Knoten in Dauerfahrt! Die Argo ihrer Tage.

Er nahm noch italienische Lire aus seinem Säckel und die Liste mit den Besorgungen, die er gefaltet in die Tasche steckte. Dann schüttelte er sein Kopfkissen aus, legte den zur Hälfte weggelesenen Roman Der Tunnel darunter, den er bislang ganz in Ordnung fand, ein wenig zäh vielleicht, aber das konnte am Stoff liegen, richtete das Laken, kippte die Waschschüssel in den Garten, ging, da er alles an Ort und Stelle wähnte, durch den Flur, auf dem seine Kammer lag, zur Haustür. Rechts von ihr befand sich das Zimmer des Leutnants, an dessen Tür er klopfte, sich räusperte, aber nichts vernahm, erneut klopfte, etwas fester, lauschte und, da er immer noch nichts hörte, ein drittes Mal klopfte und jetzt sicher sein konnte, dass der Offizier nicht da war. Er drückte die Klinke, überzeugt, dass zugesperrt sein musste. Aber so wenig wie es an seiner Kammer eines gab, besaßen die übrigen Türen in Signor Pellegrinos Haus Schlösser. Da es nun einmal so war und sich niemand in der Nähe befand, der ihn dabei hätte beobachten können, öffnete er die Tür und warf einen Blick in das großzügige Eckzimmer, durch dessen vier Fenster das hellste Morgenlicht strömte.

Das nah an der Tür stehende Bett war nicht gemacht, was Stichnote grinsen ließ, auf dem Nachttischchen lag ein Buch, Zwanzigtausend Meilen unter’m Meer von Jules Verne, das er selbst, noch in München, verschlungen hatte. Nicht schlecht, Herr Leutnant! Auf dem Boden lagen drei bunte orientalische Teppiche, einer in Indigo und Safran gefiel Stichnote gut, auch wenn er die auf der BRESLAU unter den Offizieren verbreitete Leidenschaft für orientalische Teppiche nicht teilte und es auch merkwürdig fand, die in Tanger, Algier oder Kairo ergatterten Dinger überall mit hinzuschleppen. Interessanter als die Art, wie es sich der Leutnant gemütlich gemacht hatte, fand Stichnote, was er auf dem Esstisch in der Mitte des Raumes entdeckte.

Auf den ersten Blick wirkte es wie ein buntes Relief aus farbigen Steinen. Er trat einen Schritt in das Zimmer hinein und erkannte, dass es sich um verschiedenfarbig lackierte Bleisoldaten, Reiter und Geschütze handelte. Doch die kleinen Soldaten- und Geschützfiguren waren nicht naturalistisch in einer Art Schlachtenpanorama aufgestellt, sondern abstrakt gruppiert. Links auf dem Tisch sah er einen aufgeklappten, mit grünem Samt ausgeschlagenen Kasten, in dem sechs Würfel lagen, drei rote und drei blaue. Jetzt begriff er, um was es sich handelte: Das musste das legendäre Große Spiel sein.

Stichnote hatte schon oft von dem Spiel gehört, die jungen Offiziere spielten es angeblich alle, doch in den Mannschaftsquartieren seiner Ausbildungszeit hatte noch nie einer Mitglieder der Führungsebene oder auch niederrangigere Marineangehörige beim Spielen des Großen Spiels beobachtet, geschweige denn das Spielbrett auch nur gesehen. Nur der eine Frankfurter, gleichfalls Funkschüler, wollte einmal eine aus Blei gegossene Spielfigur von der Größe eines Kinderdaumennagels in Händen gehalten haben, strahlend rosa lackiert und ein britisches Schiff der Dreadnought-Klasse darstellend, der größten und gefährlichsten Kategorie von Schlachtschiffen.

Das heutige Große Spiel hatte sich aus einem sagenumwobenen Kurs entwickelt, gegeben von einem Major an der Militärakademie in Potsdam, der als Fünfzehnjähriger noch die letzten Tage von Clausewitz erlebt hatte. Seinen Schülern verdeutlichte er dessen Theorie der Friktion anhand eines Lehrspiels, für das er die vierundsechzig Felder eines Schachbretts, alle Bauern und Türme sowie – um Gelände zu markieren – Bohnen, Erbsen und Haselnüsse benutzte. »Es ist alles im Kriege sehr einfach«, hatte Clausewitz ausgeführt, »aber das Einfachste ist schwierig. Diese Schwierigkeiten häufen sich und bringen eine Friktion hervor, die sich niemand richtig vorstellt, der den Krieg nicht gesehen hat.«

Den Begriff »Friktion« hatte Clausewitz den Handbüchern der Uhrmacher entliehen, es bedeutete »Reibung« und meinte bei dem Denker des Krieges jene unvermeidlichen Stauungen, technischen Pannen und logistischen Verzögerungen, die den wahren, den wirklichen Krieg von den Plänen der jeweiligen Generalstäbe unterschieden, jene eingeschlafenen Füße und erfrorenen Finger, die dann die eine Sekunde zu spät den falschen Abzug betätigten und dem Schicksal Hunderttausender eine Wendung gaben, die nicht kalkulierbar war.

Dieser tiefsten Weisheit der Philosophie des Krieges, die darin bestand, das Unvorhersehbare in die Pläne mit hineinzudenken, hatte der lehrende Major das Spiel gewidmet, es angeblich – so die Legende – mit dem alten Clausewitz selbst eines Nachmittags gespielt und ein Lob des Meisterdenkers erhalten.

Unter den Schülern des Majors hieß das Spiel – den allzu großen Namen Clausewitz typisch studentisch herabstutzend – einfach nur »C 64«. Einer dieser Schüler kam in den 1880er Jahren als Militärattaché an den Kaiserlichen Hof von Japan, erlernte das dort weitverbreitete Go-Spiel und übertrug C 64 auf das im Vergleich zum Schachbrett wesentlich weitläufigere Go-Brett, in welchem nicht die Quadrate, sondern vielmehr die Knotenpunkte eines neunzehn mal neunzehn Felder großen Liniennetzes die Positionen bezeichnen, auf denen man die Spielfiguren setzte. Aus 64 möglichen Positionen waren plötzlich 361 geworden. Vom Go übernahm er nicht nur das Netz, sondern auch eine andere Konzeption der Figuren. Während das Schach sein statisch angelegtesSpielfeld durch die Eigenschaften seiner unterschiedlichen Spielfiguren und deren Zugmöglichkeiten belebt, kennt das Go nureinfache Steine, die es miteinander zu verbinden gilt, um komplexe Stellungen herbeizuführen. Ineinander verschlungene Gegner müssen jedoch rechnen können. Also führte der Schüler das numerische Element in das auf der Militärakademie erlernte Friktions-Theorie-Spiel ein und gab neben den Einzelsteinen auch Fünfer-, Zehner- und Zwanzigereinheiten aus, mit denen er Verbände zusammenstellen und über das Liniennetz führen konnte.

Den entscheidenden nächsten Schritt zum Großen Spiel brachte dann ein pensionierter portugiesischer Zollbeamter, der auf demselben Schiff der britischen Indien-Linien nach Europa zurückkehrte wie der preußische Offizier. Der Portugiese zeigte diesem Xingbing, ein Würfelspiel, das er in Macao kennengelernt und häufig gespielt hatte. Bei Xingbing gibt es drei rote, angreifende, und drei blaue, verteidigende Würfel, bei denen der Verteidiger in leichtem Vorteil ist, da bei Gleichstand jeweils die verteidigende Seite gewinnt.

Der Portugiese aus der chinesischen Spielerstadt und der japanisierte Preuße verbrachten vierzehn Tage am Würfeltisch, an denen der Meeresgott das Schiff einmal über den Grund des Indischen Ozeans hätte schleifen können, ohne dass die beiden aufgehört hätten, die Go-Version von »Clausewitz 64« mit Xingbing-Würfeln zu spielen, auch wenn der Tisch ungezählte Male umstürzte und das Spiel neu aufgestellt werden musste, was die beiden dazu veranlasste, während jeder Partie Buch zu führen.

Der Zweite Offizier des Liniendampfers, ein Ire, der den endlosen Würfelpartien interessiert gefolgt war, ohne je selbst mitzuspielen, bemerkte eines Abends, nur ein paar Tage vor der Ankunft in Lissabon, dass man das Gitternetz ihres Spielfelds doch genauso gut über eine beliebige Landkarte gleich welchen Maßstabs legen könne, um die bislang abstrakt nachempfundenen Landschaften der fiktiven Schlachten auf der Grundlage realer Topographien durchzuspielen.

Was Stichnote – der es gewagt hatte, für einen Moment ganz heranzutreten – jetzt auf dem Schreibtisch des Leutnants zur See Karl Dönitz vor sich sah, war die neueste Version dessen, was die Phantasie der Kaiserlichen Marine und ihrer jungen Offiziere im Laufe der letzten zwanzig Jahre aus dem alten C 64 gemacht hatte: eine große, auf Karton aufgezogene Weltkarte, in welcher die Kontinente farblich abgesetzt waren. Unterworfen war die Karte nicht dem Raster von Breiten und Längen, sondern einem ungleich engmaschigeren Netz, das die Welt mit beachtlich vielen Knotenpunkten bedeckte. Auf vielen dieser Knotenpunkte standen verschiedenfarbige Figuren, die das schräg einfallende Morgenlicht wie die planetare Schlachtenphantasie eines Knaben aussehen ließ, gab es doch Fußsoldaten, Kavallerie und auch Kanonen. Die Meere waren voll von Schlachtschiffen unterschiedlicher Größe und an einigen Stellen standen sogar, was Stichnote verblüfft zur Kenntnis nahm, Funktürme, weit mehr übrigens, als es in Wirklichkeit gab. Er sah Gebirge, gebaut aus kleinen, schwarzgebrannten runden Ziegelsteinen, und, verteilt auf jede Farbe, aufrecht stehende Fähnchen, die wohl die Hauptstädte markierten, da das blaue Fähnchen in Berlin, das rosafarbene punktgenau in London, das schwarze in St. Petersburg stand. Er suchte nach dem violetten Fähnchen, das er irgendwo bei Paris vermutet hätte, das er allerdings in den Pyrenäen an der spanischen Grenze fand, wie überhaupt die violetten Armeen ein eigentümliches Territorium repräsentierten, das so gar nicht mit dem Frankreichs übereinstimmte, worauf der Funker begriff, dass die blauen Armeen Frankreich bis zur Linie Bordeaux–Toulouse besetzt hatten.

Ein Blick auf einen mit jeweils dreiteiligen Zahlenreihen vollgeschriebenen Block, der neben dem Würfelkästchen lag, sagte Stichnote, dass Dönitz mitten in einer Partie des Großen Spiels gegen sich selbst stand. Er spielte den großen europäischen Krieg.

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