Risikofallen - Hans Mathias Kepplinger - E-Book

Risikofallen E-Book

Hans Mathias Kepplinger

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Beschreibung

Risiken sind unvermeidbarer Bestandteil des Lebens. Für die Einschätzung, ob wir ein Risiko eingehen wollen oder nicht, fehlen uns eindeutige Entscheidungsgrundlagen – aber es gibt bessere und schlechtere. Außerdem gibt es Fallen und Irrwege. Um sie zu erkennen, braucht man eigene Urteilskraft. Dazu gibt es keine Alternative. Im Kern geht es um drei Fragenkomplexe: 1) Wie kann man die Größe von Risiken ermitteln, wo liegen die Grenzen dieser Möglichkeiten und was sollte man bei der Verringerung eigener Risiken beachten? 2) Wie berichten Medien über Risiken, welche Ursachen haben problematische Darstellungen und wie kann man damit sinnvoll umgehen? 3) Welche Fehler machen wir bei der Einschätzung von Risiken und wann sollte man eigene Folgerungen aus Risikoberichten kritisch bedenken? Grundlagen der Darstellung sind empirische Untersuchungen, darunter historische Studien zur Entwicklung der vom Menschen und durch die Natur verursachten Risiken, Experimente zur Wahrnehmung und Beurteilung von Risiken, Studien zu den Ursachen von problematischen Medienberichten über Schäden und Risiken, Untersuchungen zum Einfluss von Risikoberichten auf unsere Vorstellungen von Risiken und unsere oft fragwürdigen Folgerungen daraus. Ausgangspunkte der Kapitel zu einzelnen Problemen sind allgemein interessierende Fragen zu bekannten Risiken. Wichtige Ergebnisse werden in einfachen Tabellen dargestellt und mit einprägsamen Schaubildern illustriert. Jedes Kapitel endet mit einer kurzen Zwischenbilanz, die an zentrale Befunde erinnert und Hinweise darauf gibt, was man in konkreten Fällen beachten sollte. Durch diesen klaren Aufbau bietet das Buch Mediennutzern, Politikern, Unternehmern und Kommunikationsberatern sowie Studierenden der Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften eine klar strukturierte Darstellung der Möglichkeiten zur Vermeidung unnötiger Risiken.

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Hans Mathias Kepplinger

Risikofallen und wie man sie vermeidet

Köln: Halem, 2022

2., korrigierte Auflage

HANS MATHIAS KEPPLINGER, geb. 1943, hat in Mainz, München und Berlin Politologie, Geschichte und Publizistikwissenschaft studiert. Er war Heisenberg-Stipendiat und von 1982 bis 2011 Professor für Empirische Kommunikationsforschung an der Universität Mainz. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Verhältnis von Realität, Realitätsdarstellung der Medien und Realitätswahrnehmung der Bevölkerung; das Selbstverständnis und die Arbeitsweise von Journalisten; die Kommunikation in Konflikten, Krisen und Skandalen sowie die Wirkung von Medien auf Protagonisten von Berichten – Politiker, Juristen, Manager, engagierte Bürger. Kepplinger war Gastwissenschaftler u. a. an der UC Berkeley, der Harvard University und den Universitäten in Tunis, Lugano und Zürich. Er ist Autor von mehr als 300 wissenschaftlichen Aufsätzen und 30 Büchern.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme (inkl. Online-Netzwerken) gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2022 by Herbert von Halem Verlag, Köln

ISBN (Print)   978-3-86962-625-3

ISBN (PDF)     978-3-86962-626-0

ISBN (ePub)   978-3-86962-627-7

Den Herbert von Halem Verlag erreichen Sie auch im Internet unter http://www.halem-verlag.de

E-Mail: [email protected]

SATZ: Herbert von Halem Verlag

TITELBILD: Vladyslav Severyn, Shutterstock

LEKTORAT: Julian Pitten

DRUCK: docupoint GmbH, Magdeburg

GESTALTUNG: Claudia Ott, Düsseldorf

Copyright Lexicon ©1992 by The Enschedé Font Foundry.

Lexicon® is a Registered Trademark of The Enschedé Font Foundry.

Hans Mathias Kepplinger

Risikofallen und wie man sie vermeidet

2., korrigierte Auflage

HERBERT VON HALEM VERLAG

INHALT

EINLEITUNG

1. ENTWICKLUNG UND VERGLEICH VON RISIKEN

1.1 Risikoentwicklungen

1.2 Risikovergleiche

1.3 Risiken der Risikovermeidung

1.4 Risikobilanz für Menschen

1.5 Zwischenbilanz

2. RISIKOARTEN UND RATIONALER UMGANG

2.1 Kollektive und individuelle Risiken

2.2 Freiwillige und unfreiwillige Risiken

2.3 Theoretische und praktische Risiken

2.4 Grenzwerte

2.5 Korrelationsanalysen

2.6 Epidemiologische Analysen

2.7 Wissenschaftliche Prognosen

2.8 Risikoausgleich

2.9 Zwischenbilanz

3. WAHRNEHMUNG UND EINSCHÄTZUNG VON RISIKEN

3.1 Risikovorstellungen von Laien

3.2 Risikoschätzungen von Laien und Experten

3.3 Unrealistischer Optimismus

3.4 Männer und Frauen im Vergleich

3.5 Zwischenbilanz

4. VERHALTEN BEI RISIKEN

4.1 Wahrscheinlichkeit und Schadensgröße

4.2 Risiken und Chancen

4.3 Emotionen

4.4 Informationsansprüche

4.5 Pseudosicherheit

4.6 Zwischenbilanz

5. AKTEURE UND ARENEN

5.1 Akteure

5.2 Arenen

5.3 Zwischenbilanz

6. REALE UND DARGESTELLTE RISIKEN

6.1 Darstellungsfallen

6.2 Ereignis- und Berichtshäufigkeit

6.3 Vermittlung relevanter Informationen

6.4 Kommunikationsblockaden

6.5 Zwischenbilanz

7. VERÄNDERUNG DER DARSTELLUNG VON RISIKEN UND SCHÄDEN

7.1 Generelle Aspekte

7.2 Medienhypes

7.3 Zwischenbilanz

7.4 Medientrends

7.5 Veränderung realer und dargestellter Risiken und Schäden

7.6 Ursache von Medientrends

7.7 Zwischenbilanz

8. MEDIENNUTZUNG

8.1 Generelle Aspekte

8.2 Öffentliche Risiken

8.3 Nichtöffentliche Risiken

8.4 Zwischenbilanz

9. MEDIENWIRKUNGEN

9.1 Generelle Aspekte

9.2 Risikokenntnisse

9.3 Risikoschätzungen

9.4 Risikoängste

9.5 Framing

9.6 Fehleinschätzungen von Risiken

9.7 Emotionen

9.8 Zwischenbilanz

10. PARADOXE RISIKOÄNGSTE

10.1 Veränderung der Risikoquellen

10.2 Entfremdung von Risikoursachen

10.3 Risikovermarktung

10.4 Wohlstandstribute

11. WAS TUN?

11.1 Betroffene und Beobachter

11.2 Probleme von Entscheidern

11.3 Generelle Probleme

LITERATUR

REGISTER

ENDNOTEN

EINLEITUNG

Auf dem Höhepunkt der zweiten Corona-Welle wandte sich ZeroCovid mit dem Internetaufruf »Das Ziel heißt Null Infektionen! Für einen solidarischen europäischen Shutdown« an die Öffentlichkeit. Das Ziel sollte in drei Schritten erreicht werden – erstens durch gemeinsames und schnelles Handeln der europäischen Länder, zweitens nach Zielerreichung stabil geringe Fallzahlen durch vorsichtige Lockerungen der Einschränkung und Eindämmung lokaler Ausbrüche; drittens durch eine gemeinsame Vision für regionale und nationale Aktionspläne. Ergänzt wurde der Stufenplan durch Forderungen zur Verstaatlichung des Gesundheitssystems, zur staatlichen Unterstützung von Bedürftigen und zur Finanzierung aller Maßnahmen durch Zwangsabgaben der Vermögenden. Das löste einen Medienhype aus. Innerhalb weniger Wochen erschienen dazu 98 Beiträge in renommierten Medien. Mit dabei waren mit ihren Online- und Offline-Ausgaben ZEIT, Welt und Süddeutsche Zeitung, taz; Spiegel, Focus und Stern; ARD, ZDF, Deutschlandfunk und SWR – ein beachtlicher Erfolg einer Aktivistengruppe, von der man zuvor noch nichts gehört hatte. Die meisten Berichterstatter und Kommentatoren hielten die Vorschläge und Forderungen für realitätsfern, mehrere kritisierten ihre sozialistische Grundierung, einige äußerten begeisterte Zustimmung.

Trotz der heterogenen Berichterstattung war die Zustimmung in der Bevölkerung erstaunlich: Bis Ende Februar hatten mehr als 100.000 Gleichgesinnte den Aufruf von ZeroCovid unterschrieben. Eine Ursache war die plausible Forderung nach einer Koordinierung der Maßnahmen in Europa, wobei offenblieb, wer das wie herbeiführen und kontrollieren sollte. Eine weitere Ursache war der Medienhype, der den Aufruf bedeutsam erscheinen ließ. Noch eine Ursache war die kapitalismuskritische Tendenz mehrerer Formulierungen. Daneben spielte vermutlich ein selten beachtetes Motiv eine Rolle – die Null-Risiko-Illusion vieler Menschen. Alle wollen so wenig wie möglich Infektionen. Das ist trivial und muss nicht betont werden. Die entscheidende Frage lautet: wie wenig und zu welchem Preis? Wer Null-Infektionen will, wird Opfer einer Illusion. Weder ein Überwachungsstaat wie China, ein Inselstaat wie Neuseeland noch eine gut isolierbare Stadt wie Melbourne konnten neue Infektionen völlig verhindern. Wie soll das möglich sein in Europa, wo täglich Tausende Lastwagen und Güterzüge von Norden nach Süden, Osten und Westen fahren müssen, damit das Leben nicht zusammenbricht? Solche Einwände lassen Menschen nicht gelten, die Null-Risiko-Illusionen erliegen. Andere glauben an Null-Risiken ohne große Überlegungen und wieder andere wählen bei Entscheidungen intuitiv die Möglichkeit, die Null-Risiko verspricht. Den Glauben daran ändern auch warnende Hinweise nicht und deshalb fallen Zehntausende auf ›risikolose‹ Investitionen herein oder setzen auf ›totsichere‹ Aktien.

Haben Menschen schon immer so gedacht und gehandelt? Das kann man im Rückblick nicht zweifelsfrei klären. Hinweise gibt der Vergleich von zwei gefahrvollen Expeditionen. Christoph Columbus stach am 3. August 1492 mit drei Segelschiffen in See, um Indien in Richtung Westen zu erreichen. Schon einige Tage später verlor die kleine Flotte auf Gomera einen Monat, weil eines der Schiffe falsch besegelt war. Nach einer Woche auf See drohte eine Meuterei, weil ein Kompass keine verlässlichen Angaben machte. Nach weiteren Wochen drohten neue Meutereien, weil Lebensmittel und Trinkwasser ausgingen, Krankheiten ausbrachen und Offiziere am Erfolg der Reise zweifelten. Gerettet wurde die Expedition durch das Auftauchen eines Vogels: Land war in der Nähe. Nach mehr als zwei Monaten erreichten sie eine Insel. Bei Erkundungsfahrten lief das Flaggschiff auf ein Riff und war nicht zu retten. Aus den Resten ließ Columbus ein Fort zum Schutz der Zurückgelassenen bauen und segelte mit zwei Schiffen nach Osten. Mitte März 1493 erreichte er seinen Ausgangshafen und wurde frenetisch gefeiert. Noch im gleichen Jahr brach er mit einer Flotte von nun 17 Schiffen zu seiner zweiten Reise auf.

Die Raumfähre Columbia startete am 16. Januar 2003 in Florida. Der Start war mehrfach verschoben worden, um mehr Zeit für Vorbereitungen zu haben und um die Sicherheit der Raumfähre zu optimieren. An Bord waren sieben Astronauten. Die Auswertung routinemäßiger Filmaufnahmen vom Start ergab, dass sich ein Stück der Schaumstoffisolierung vom Außentank gelöst und die linke Tragfläche getroffen hatte. NASA-Ingenieure vermuteten nur geringe Schäden am Hitzeschild. Es war schon öfter vorgekommen und die Bilder deuteten darauf hin, dass der Schaumstoff beim Aufprall zerstört wurde. Die NASA-Flugleitung entschied, den Flug wie geplant durchzuführen. Als die Columbia am 1. Februar bei der Rückkehr in die dichtere Atmosphäre eintrat, brach sie über Texas auseinander. Dabei kamen alle sieben Astronauten ums Leben. Anfang 2004 gab Präsident George W. Bush bekannt, dass das Space-Shuttle-Programm beendet werden soll. So geschah es und die USA waren danach bei Flügen zur Raumstation auf die Hilfe Russlands angewiesen.

Eine Ursache der unterschiedlichen Reaktionen auf die Beinahe-Katastrophe von Columbus und die Katastrophe der Columbia war, dass die Spanier – anders als die NASA – die Aussicht auf Reichtümer vor Augen hatten. Das erklärt sie aber nur oberflächlich. Hätte man Columbus vor der Abfahrt gefragt, ob alle Risiken beseitigt sind, hätte er die Frage vermutlich nicht verstanden. Damals gehörten Risiken zum Leben. Jeder konnte ihre schrecklichen Folgen in der eigenen Umgebung sehen. Selbstverständlich wollten die Menschen auch damals Schäden vermeiden und natürlich hatten sie Angst, so wie die Matrosen von Columbus. Risiko und Vertrauen waren aber keine Gegensätze, sondern bedingten einander. Hätte es keine Risiken gegeben, hätte man kein Vertrauen haben müssen. Daran zweifelten die Matrosen und deshalb drohten Meutereien. Wer heute ein theoretisch und praktisch erkennbares Risiko eingeht, verdient kein Vertrauen. Deshalb war nach der zweiten Space-Shuttle-Katastrophe das Ende absehbar. Aus unserer Sicht gehört das Risiko des Scheiterns nicht zum Handeln. Wir glauben intuitiv an ein Null-Risiko. Null-Risiken gibt es aber nicht, weder im Privatleben noch im beruflichen Alltag und schon gar nicht bei wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen.1 Das gilt für individuelle Risiken bei der Entscheidung zwischen Treppe und Aufzug zur Vermeidung von Covid-19 und kollektive Risiken als Nebenfolgen von politischen Maßnahmen, darunter die Auswirkungen von Lockdowns auf die beruflichen Existenz von Zehntausenden in Handel, Gastronomie und Kultur.

Der bewusste und unbewusste Einfluss von Null-Risiko-Illusionen wurde in zahlreichen Experimenten getestet und bestätigt. Im praktischen Leben sind sie eine Ursache vieler Fehlentscheidungen. Spieler und Manager neigen nach großen Verlusten dazu, ungewöhnliche Risiken einzugehen, um die Verluste auszugleichen und verlieren dadurch alles. Diese Risikofalle ist durch Dostojewskis Roman Der Spieler zum Teil der Weltkultur geworden. Hoch verschuldete Kommunen ließen sich zum Kauf von riskanten Papieren verleiten, was sie noch tiefer in die Schuldenfalle rissen. Das Gegenstück ist unrealistischer Optimismus beim Vergleich eigener Risiken mit denen anderer Menschen. Dazu gehören vermeintlich risikolose Treffen von Familien und Cliquen in privaten Räumen nach ihrem Verbot auf Straßen und Plätzen. Sie haben zur wachsenden Zahl der Corona-Erkrankungen beigetragen.

Bei Null-Risiko-Illusionen handelt es sich aus zwei Gründen um eine besonders problematische Risikofalle. Erstens können sie dazu verleiten, Angst und Schrecken zu verbreiten, damit Menschen alle Verbote befolgen. Diese Praxis ist nicht neu. Nach einem ungefährlichen Betriebsunfall bei der Hoechst AG 1993 reagierten die Anwohner wie üblich gelassen. Spekulative Berichte über drohende Gefahren verängstigten sie. Befeuert haben ihre Ängste Katastrophenwarnungen des Kieler Toxikologen Otmar Wassermann. Die Liveübertragung überbordender Emotionen in einer Kirche stellte sie allen vor Augen. Der Höhepunkt war eine Bild- Kampagne zum Schutz angeblich gefährdeter Kinder. Ohne nennenswerten Widerspruch von Politik, Verwaltung und Unternehmen wurden sie nach Mallorca ›ausgeflogen‹.2 Solche Entscheidungen schaffen keine Sicherheiten, sondern verursachen Pseudosicherheiten. Vermutlich hat den Kindern der Flug auf die Insel und der Urlaub gefallen. Allerdings war beides mit größeren Risiken verbunden als der Aufenthalt in Höchst. Das geringe Risiko wurde verlagert und vergrößert. Pseudosicherheiten sind Risikofallen. Sie können schwerwiegende Folgen haben – der panikartige und planlose Ausstieg aus der Kernenergie hat die Risiken nicht beseitigt, sondern vergrößert, weil wir in Zukunft als Reserve nicht auf deutsche Kernkraftwerke zurückgreifen können, die zu den sichersten weltweit gehören, sondern auf Strom aus französischen und tschechischen Kernkraftwerken angewiesen sind. Zudem dürfte die Aussicht auf Stromexporte dazu beigetragen haben, dass Tschechien den Bau zwei weiterer Kernkraftwerke beschlossen hat.

Zu Risikofallen gibt es zahlreiche Detailstudien, die feine Verästelungen der Probleme aufzeigen. Darum geht es hier aus zwei Gründen nicht. Erstens kann die Ergebnisse niemand behalten und zweitens wäre es kaum hilfreich, weil kein Risiko dem anderen gleicht. Zum eigenen Urteil über die Qualität von Informationsquellen und Informationen gibt es keine Alternative. Auch wie man selbst auf Risiken reagiert und worauf man achten sollte, kann nur jeder für sich beurteilen. Hinweise liefern wissenschaftliche Experimente und systematische Analysen der Darstellung und Wahrnehmung von Risiken – darunter einige Klassiker der sozialwissenschaftlichen Risikoforschung. Im Kern geht es dabei um sieben Fragen:

Haben tödliche Risiken für Menschen zu- oder abgenommen?

Wie kann man rational mit Risiken umgehen?

Wie reagieren wir intuitiv auf Risiken?

Woher kennen wir Risiken?

Wie stellen Medien Risiken dar?

Kann man Risikoentwicklungen an der Medienberichterstattung erkennen?

Welchen Einfluss besitzen Risikoberichte auf unsere Risikovorstellungen und deren Konsequenzen?

Die einzelnen Kapitel bauen aufeinander auf. Sie können auch unabhängig voneinander gelesen werden. Ausgangspunkte jedes Kapitels sind allgemein interessierende Fragen der jüngeren Vergangenheit. Die Darstellung informiert darüber, was falsch oder irreführend war, wie man Risikofallen bemerken und vermeiden kann. Wichtige Ergebnisse werden in Tabellen dargestellt und mit Schaubildern illustriert. So kann man sie gut behalten und leicht wiederfinden. Jedes Kapitel endet mit einer kurzen Zwischenbilanz. Sie gibt Hinweise auf das, was man im konkreten Fall beachten sollte. Die Klärung dieser Aspekte ermöglicht Antworten auf eine übergreifende Frage: Warum fürchten wir uns immer mehr vor Risiken, die immer geringer werden, und beachten einige große Risiken viel zu wenig?

1. ENTWICKLUNG UND VERGLEICH VON RISIKEN

1.1 RISIKOENTWICKLUNGEN

Im 20. Jahrhundert sind weltweit mehr Soldaten gefallen als jemals zuvor – etwa 40 Millionen. Diese Feststellung ist richtig, vermittelt aber eine falsche Vorstellung von den Risiken der Soldaten, weil die Bevölkerung zugenommen hat und die feindlichen Heere größer geworden sind. Um das Todesrisiko von Soldaten abschätzen zu können, muss man die Zahl der im Krieg Gefallenen auf die Gesamtzahl der Gestorbenen beziehen.3 Im 20. Jahrhundert sind weltweit etwa sechs Milliarden Menschen gestorben. Davon sind in Kriegen 0,7 Prozent als Soldaten ums Leben gekommen.4 Das Risiko, als Soldat bei einem Scharmützel oder in einer Schlacht getötet zu werden, war deutlich kleiner als das Risiko eines natürlichen Todes – als Folge von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Unterernährung oder Altersschwäche. Allerdings gibt die Zahl 0,7 Prozent noch keine genaue Auskunft über das tatsächliche Risiko von Soldaten im 20. Jahrhundert, weil es genau genommen um zwei Risiken geht – das Risiko Soldat zu werden, und sein Risiko, im Kampf zu sterben. Um dieses Risiko zu ermitteln, müsste man die Zahl der kämpfenden Soldaten mit der Zahl vergleichen, die dabei ihr Leben verloren. Das würde hier zu weit führen. Aufschlussreicher ist ein Blick in die fernere Vergangenheit.

Früher dienten Schwerter, Speere, Armbrüste und Gewehre der Tötung einzelner Gegner. Die Zahl der Getöteten konnte von Ausnahmen abgesehen nur steigen, wenn die Waffen mehrfach eingesetzt wurden. Das änderte sich mit dem Einsatz von Feldartillerie und Maschinengewehren sowie von Giftgas, Spreng-, Brand- und Atombomben. Wegen der Entwicklung von Individual- zu Massenvernichtungswaffen kann man annehmen, dass im Laufe der Zeit das Risiko von Soldaten, im Kampf getötet zu werden, größer geworden ist. Ist diese Vermutung richtig? Im Dreißigjährigen Krieg starben ungefähr 200.000 Soldaten, im Ersten Weltkrieg auch wegen des Einsatzes von Giftgas 12,5 Millionen und im Zweiten Weltkrieg auch wegen des Einsatzes von schwerer Artillerie, Raketenwerfern und Sturzkampfbombern 20 Millionen. Die absoluten Todeszahlen sind auch hier irreführend, weil die Bevölkerung im Laufe der Zeit erheblich größer wurde. Analysen von Skeletten mit und ohne vermutlich tödliche Verletzungen zeigen, dass das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, geringer geworden ist: In den urzeitlichen Jäger- und Sammlerkulturen sind zwischen 10 und 30 Prozent aller Menschen Opfer von Gewaltakten geworden, in den neuzeitlichen Stammeskulturen knapp 1 Prozent und in Nationalstaaten knapp 0,1 Prozent.5 Auch das Risiko von Zivilisten, Opfer einer Gewalttat zu werden, ist im Laufe der Jahrhunderte geringer geworden. Ein Beispiel ist die Häufigkeit von Morden in Gebieten, in denen über Jahrhunderte schriftliche Quellen Auskunft geben über Todesursachen, darunter Deutschland, England, Italien und einige andere europäische Länder. Seit dem 12. Jahrhundert wurde das Risiko, Opfer eines Mordes zu werden, erheblich geringer. Grundlage ist auch hier die Zahl der Morde bezogen auf die jeweilige Bevölkerungszahl. Es geht um den Anteil der Morde an allen Todesfällen (Schaubild 1).

Zu einem ähnlichen Ergebnis führt die historische Analyse der Risiken durch Naturkatastrophen.6 In einem ersten Schritt wird deutlich, dass die Zahl der Opfer pro einer Million Menschen seit den 1930er-Jahren erheblich geringer wurde. Während damals von einer Million Menschen jährlich 453 Menschen durch Naturkatastrophen starben, waren es 70 Jahre darauf 10 von einer Million. Entsprechend geringer wurden die Risiken. Besonders massiv waren die Entwicklungen zwischen 1930 und 1950. Die größten Schäden verursachten 1931 Überschwemmungen des Jangtsekiang und des Hwang Ho. Dabei starben schätzungsweise 2,5 Millionen Menschen. Entgegen landläufigen Vorstellungen nahm im 20. Jahrhundert die Zahl der Toten durch Überschwemmungen, Dürren, Zyklone und Erdbeben nicht zu, sondern ab. Die Zahl der Toten als Folge des Tsunami vor Thailand 2004 mit 230.000 Toten und der Toten als Folge des Tsunami vor Japan 2011 mit mindestens 20.000 Toten erscheint im Vergleich zu den verheerenden Folgen von früheren Überschwemmungen gering.7 Die Verringerung der Risiken, Opfer einer Naturkatastrophe zu werden, ist vor allem die Folge von technischen Hilfsmitteln und administrativen Maßnahmen – der Verbesserung von Überwachungs- und Warnsystemen, der Rettung von Betroffen mit Baggern, Hubschraubern und Rettungsfahrzeugen sowie dem Schutz von Gefährdeten durch stabilere Bauten.

SCHAUBILD

1

Entwicklung der Risiken von Europäern, Opfer eines Mordes zu werden

Eigene Darstellung nach Pinker 2011

Unter den Folgen von Naturkatastrophen leiden arme Menschen eher als wohlhabende. Deshalb muss man für eine differenzierte historische Analyse die Risiken von Menschen mit unterschiedlichen Einkommen vergleichen. Eine Möglichkeit bietet die Unterscheidung von vier Niveaus: Menschen mit einem Einkommen bis 2 Dollar, bis 8 Dollar, bis 32 Dollar und mehr als 32 Dollar pro Tag.8 Wie entwickelten sich die Risiken von Menschen mit unterschiedlichem Einkommen von 1965 bis 2016? Im gesamten Zeitraum bestand ein Zusammenhang zwischen Einkommen und Risiko: Je ärmer die Menschen waren, desto größer war ihr Risiko, Opfer einer Naturkatastrophe zu werden. Das ist nicht überraschend. Richtig ist aber auch, dass die Risiken der Menschen in allen vier Einkommensklassen geringer wurden, und dass davon vor allem die Ärmsten profitiert haben: Infolge von Naturkatastrophen sind von einer Million der Wohlhabendsten zwischen 1991 und 2016 durchschnittlich etwas mehr Menschen gestorben als zwischen 1965 bis 1991 (4 statt 1). Das ist vermutlich auf die wachsende Zahl der Ferienhäuser und Urlaubsreisen in Risikogebiete zurückzuführen. Dagegen sind von einer Million der Ärmsten deutlich weniger ums Leben gekommen (31 statt 59).9 Zu ähnlichen Ergebnissen führen Analysen der Entwicklung der Risiken durch schädliche Stoffe (Feinstaub, verbleites Benzin, ozonzerstörende Substanzen usw.) sowie durch tödliche Erkrankungen (Pocken, HIV). Sie sind im 20. Jahrhundert stark zurückgegangen und die Lebenschancen der Menschen durch Bildung, Ernährung und Mitbestimmung sind erheblich besser geworden.10 Zusammenfassend kann man feststellen, dass die Risiken der Bevölkerung im Laufe der Zeit erheblich abgenommen haben. Gleichzeitig haben sich ihre Lebensumstände verbessert – ihre Unterkünfte, die Menge und Qualität ihrer Lebensmittel, die Hilfe bei Verletzungen und Krankheiten. Beide Prozesse haben in Europa und Amerika begonnen und inzwischen weltweit an Bedeutung gewonnen. Das korrespondiert mit der weltweit gestiegenen Lebenserwartung. Das belegen nach bisherigem Kenntnisstand auch Vergleiche der Letalität und der Todesfälle weltweit durch die Spanische Grippe und durch Corona.

1.2 RISIKOVERGLEICHE

Wer ängstlich ist, kann vor der Reise von Frankfurt zu einem Konzert nach München prüfen, wie er am sichersten dorthin kommt. Dazu kann er ermitteln, wie viele Menschen in Deutschland pro Jahr mit Bahn, Bus, Auto, Flugzeug oder Fahrrad ums Leben kommen. Das wäre nicht aussagekräftig, weil es nur auf die ankommt, die mit Bahn, Bus, Auto, Flugzeug oder Fahrrad von Frankfurt nach München fahren. Damit hätte er den Kreis derer, die einem Risiko ausgesetzt sind, eingegrenzt. Sie haben ein gemeinsames Merkmal, sie bilden ein Risiko-Kollektiv. Auf der Basis könnte er berechnen, wie viel Prozent von ihnen in einem Jahr starben. Das wäre ein Hinweis auf die Größe des Risikos, allerdings nicht die Lösung des Problems, weil das individuelle Risiko davon abhängt, wie oft und wie lange man ihm ausgesetzt ist. Der ängstliche Mensch müsste feststellen, wie häufig Menschen das bevorzugte Transportmittel nutzen, und berechnen, wie groß ihr Risiko ist, wenn sie einmal, zehnmal oder öfter damit nach München fahren. Wenn er dann erleichtert das sicherste Verkehrsmittel nehmen würde, würde er in eine Risikofalle tappen, weil bei einem Verkehrsunfall das Risiko schwerer Verletzungen viel größer ist als das Risiko, dabei ums Leben zu kommen. Wenn der ängstliche Mensch auch noch diese Risiken ermitteln würde, würde er vermutlich nicht nach München fahren, weil das Konzert längst vorbei ist.

Bei der Konzentration auf ein bestimmtes Risiko, den klar definierten Todesfall, handelt es sich um eine Reduktion von Komplexität. Solche Vereinfachungen sind sinnvoll, wenn man die praktische Bedeutung des ermittelten Risikos beurteilen will. Das geschieht in der Regel durch Vergleiche mit anderen Risiken. Dazu braucht man mehrere Angaben:

die Zahl der möglichen Betroffenen

die Zahl der tatsächlich Betroffenen

den Zeitraum des Geschehens (Wochen, Monate, Jahre)

den Ereignisraum (ein Land, einen Kontinent, weltweit).

Anhand dieser Daten kann man den Anteil von Todesfällen pro Risiko-Kollektiv berechnen und darstellen. Die Beurteilung der Größe eines Risikos erleichtert ihre stufenweise Klassifikation. Dabei wird das Risiko von Stufe zu Stufe um den Faktor 10 größer. Tabelle 1 illustriert das anhand von einigen tödlichen Risiken. Alle Daten betreffen (vom Fliegen abgesehen) Deutschland in den letzten Jahren. Grundlagen sind bestmögliche Eingrenzungen der jeweiligen Kollektive.11

TABELLE 1 Klassifikation von Risiken

Eigene Darstellung nach Heilmann 2010

Neue Medikamente werden an einigen Tausend Patienten in Doppel-Blind-Versuchen klinisch getestet. Dazu erhält die eine Hälfte das zu testende Medikament, die andere ein Placebo. Doppel-Blind-Versuch heißen solche Tests, weil weder die Patienten noch die Hilfskräfte wissen, wer das Medikament oder ein Placebo erhält. Dadurch können Mitarbeiter, die den Patienten die Dosen geben, die Ergebnisse durch ihr Verhalten weder absichtlich noch unabsichtlich beeinflussen. Alle Medikamente werden nur an einigen Tausend Personen getestet. Deshalb kann man sehr seltene Nebenwirkungen nicht definitiv ausschließen. Daraus folgt, dass Nebenwirkungen umso besser bekannt sind, je länger und je häufiger ein Medikament angewandt wird und je mehr Menschen es nehmen. Das trifft in ähnlicher Weise auf Vakzine und Implantate zu. Das kann zu Zielkonflikten führen, weil neue Mittel zwar besser, die Risiken aber größer sein können als bei der Anwendung älterer Mittel.

1.3 RISIKEN DER RISIKOVERMEIDUNG

In Industrieländern nehmen bei Langzeittherapien nur etwa 50 Prozent der Patienten verschriebene Medikamente dauerhaft vorschriftsmäßig ein.12 Das trifft auf Patienten mit verschiedenen Krankheiten zu – Asthma,13 bipolaren Störungen14 und hohen Cholesterinwerten.15 Einer der Gründe für Abweichungen von Verordnungen ist die Angst vor Nebenwirkungen. Sie kann Patienten, denen es besser geht, dazu verleiten, die Behandlung abzubrechen. Dabei gehen sie individuelle Risiken ein, die größer sein können als die Risiken, die sie vermeiden wollen.16

Nehmen wir folgendes an: 100.000 Menschen leiden an einer Krankheit. Bleibt sie unbehandelt, sterben innerhalb eines Jahres 1.000 – also 1 Prozent. Wird die Krankheit medikamentös behandelt stirbt keiner daran. Bei der Behandlung aller mit dem Medikament sterben 0,01 Prozent an Nebenwirkungen. Das entspricht 10 Todesopfern bei 100.000 Anwendern. Bei der Behandlung aller bleiben folglich 990 am Leben.

Nehmen wir ferner an: Von den 100.000 Kranken nehmen 80.000 das Medikament, 20.000 nehmen es aus Angst vor Nebenwirkungen nicht. Dann stirbt von den 80.000 behandelten Patienten niemand an der Krankheit, 0,01 Prozent oder 8 sterben an Nebenwirkungen. Von den 20.000 Medikamentenverweigerern sterben 1 Prozent oder 200 an der Krankheit. In diesem Fall bleiben 792 am Leben – ein Verlust von 198 Menschenleben durch den Verzicht eines Teils der Erkrankten auf das Medikament.

Das Rechenbeispiel beruht auf der Vereinfachung einer komplexen Problematik. Andere Annahmen führen zu anderen Ergebnissen. Es zeigt aber an einem Extremfall, wie riskant Versuche sein können, Risiken zu vermeiden. Daraus folgt nicht, dass solche Versuche an sich falsch wären. Sie können sinnvoll sein, müssen aber gut bedacht werden, sonst führen sie zu folgenreichen Fehlschlüssen. Ein konkretes Beispiel ist die Nicht-Impfung gegen Corona wegen möglicher Nebenwirkungen. Darüber später mehr.

Bei der nicht vorschriftsmäßigen Einnahme gehen Patienten ein individuelles Risiko ein. Ihr Verhalten wird zu einem gesellschaftlichen Risiko, wenn wegen der vorzeitigen Beendigung der Medikation resistente Erreger zurückbleiben, gegen die vorhandene Medikamente nicht wirken. Das ist bei Antibiotika zu einem ersten Problem geworden, weshalb Ärzte, Gesundheitsbehörden und Pharmaunternehmen sich für ihre korrekte Einnahme einsetzen. Ein vergleichbares Problem entsteht bei Diskussionen über Technikrisiken durch Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Eliminierung einer Risikoquelle, wobei die Risiken ihrer Eliminierung übersehen oder verdrängt werden. Das geschah und geschieht bei Diskussionen über die Nutzung der Kernenergie, der Genschere CRISPR, von Glyphosat in der Landwirtschaft. In allen Fällen ging oder geht es fast ausschließlich um die Möglichkeit von schwerwiegenden negativen Folgen. Ausgeklammert werden ihre geringe Wahrscheinlichkeit und die absehbaren Folgen eines Verzichts auf die Nutzung der genannten Stoffe und Verfahren:

In der Diskussion über Risiken der Kernenergie ging es nicht um die Auswirkungen eines Ausstiegs auf die Versorgungssicherheit, auf die Energiekosten der privaten Haushalte und der Industrieunternehmen; nicht um die Abhängigkeit von Energie-Importen aus alten Kohle- und Kernkraftwerken; nicht um die Risiken alternativer Energiequellen – die Naturzerstörung durch Wind- und Solaranlagen, die ungelöste Entsorgung von Windkraftanlagen und den Bau von Hochspannungsleitungen durch dichtbesiedelte Gebiete.

In der Diskussion um die Zukunft des Diesels ging es um die Auswirkungen von

NO

x

auf die Gesundheit. Ausgeklammert wurden die Gefährdung klimarelevanter Ziele durch den Verzicht auf

CO

2

-effiziente Dieselmotoren, die finanziellen Verluste von Dieselbesitzern und die Gefährdung von Arbeitsplätzen in der Automobilindustrie. Ausgeklammert wurden auch die Risiken von Elektroautos – die Auswirkungen auf den zukünftigen Strombedarf, die Versorgungssicherheit und die Energiekosten, die Brandgefahren durch Elektroautos und die ungeklärte Entsorgung der Batterien.

Solche Diskussionen werden der Komplexität der Problematik nicht gerecht. Notwendig für eine angemessene Beurteilung der Risiken von Handlungen und Techniken ist eine Abwägung der Wahrscheinlichkeit und Größe des Nutzens einer Technik mit der Wahrscheinlichkeit und Größe der von ihren verursachten Schäden sowie eine Abwägung der Wahrscheinlichkeit und Größe des Nutzens einer alternativen Technik mit der Wahrscheinlichkeit und Größe der dadurch verursachten Schäden. Erst der Saldo beider Abwägungen zeigt, ob sich die Entscheidung für eine alternative Technik bzw. der Verzicht darauf lohnt. Ein Laie kann eine solche Abwägung nicht vornehmen, aber von Experten kann man sie erwarten. Auch sie werden vermutlich keine exakte Bilanz ermitteln können, aber für einzelne Problemdimensionen sachlich begründete Näherungswerte. Deshalb gilt als Faustregel: Wenn alle sich intensiv auf nur ein Risiko konzentrieren, dann sind Diskussionen nicht rational, ihre negativen Folgen aber real.

1.4 RISIKOBILANZ FÜR MENSCHEN

Die Lebenserwartung der Steinzeitmenschen ist nicht bekannt. Aufgrund der Analyse von Knochenfunden kann man annehmen, dass nur sehr wenige 40 Jahre alt wurden. Im Mittelalter betrug die Lebenserwartung von Männern etwa 32, von Frauen 25 Jahre. Eine Ursache der geringeren Lebenserwartung von Frauen waren tödlich verlaufende Schwangerschaften. Eine Ursache der geringen Lebenserwartung aller war der frühe Tod vieler Kinder. Auch damals konnten einzelne Menschen erheblich älter werden. Obwohl er riskant lebte, starb Karl der Große im damals biblischen Alter von 66 Jahren. Noch Anfang des 18. Jahrhundert betrug in Deutschland die durchschnittliche Lebenserwartung von Neugeborenen etwa 30 Jahre. Mitte des Jahrhunderts begann ihre Lebenserwartung langsam zu steigen. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war die Lebenserwartung von Mädchen auf etwa 39 und von Jungen auf etwa 36 Jahre gestiegen. Ende des 20. Jahrhunderts betrug sie für Mädchen 81 und für Jungen 75 Jahre. Damit hatte sich ihre Lebenserwartung in der Hochphase der Industrialisierung mehr als verdoppelt. Betrachtet man die Zeit bis zum Erreichen der durchschnittlichen Lebenserwartung als »relativ sichere« Zone und die Zeit danach als »riskante Zone«, dann ist die relativ sichere Zone erheblich größer geworden (Schaubild 2).

SCHAUBILD

2

Entwicklung der Lebenserwartung 1600-2020

Eigene Darstellung nach Statistisches Bundesamt

1.5 ZWISCHENBILANZ

Die Risiken durch gezielte Gewaltanwendungen gegen Menschen sind im Laufe der Geschichte geringer geworden.

Die Risiken, Naturkatastrophen zum Opfer zu fallen, sind in den vergangenen Jahrzehnten geringer geworden. Das ist vor allem den Ärmsten der Armen zugutegekommen.

Der gegenteilige Eindruck beruht in beiden Fällen auf der Vernachlässigung des Vergleichs der Zahl der tatsächlich Betroffenen mit der Zahl der Gefährdeten. Sie bildet die ›Grundgesamtheit‹ für die Berechnung der Risiken.

Umfassende Analysen der Risiken individueller Handlungsweisen sind in der alltäglichen Praxis nicht möglich. Deshalb sind Vereinfachungen notwendig, sogenannte ›Heuristiken‹. Unvermeidlich ist meist die Orientierung an besonders bedeutsamen Ereignissen: Todesfällen.

Daraus folgt:

Bei der Beurteilung und Diskussion von Risiken gibt es keine Sicherheiten, aber mehr oder weniger wahrscheinliche Erkenntnisse und Entwicklungen.

Für die Beurteilung der Größe eines Risikos muss man den Kreis der möglicherweise Betroffenen mit der Zahl der tatsächlich Betroffenen vergleichen. Ohne Berücksichtigung der Zahl der möglicherweise Betroffenen fehlt solchen Überlegungen die Basis.

Die Vermeidung von Risiken führt nahezu immer zu neuen Risiken. Eine rationale Diskussion über Risiken aller Art erfordert die Beachtung und den Vergleich beider Risiken, der Risiken des Handelns und der Risiken des Verzichts darauf.

Die Ausschließlichkeit der Konzentration öffentlicher Diskussionen auf eines der beiden Risiken, der Beibehaltung oder den Verzicht auf eine Technik, ist eine vermeidbare aber meist vernachlässigte Risikofalle.

2. RISIKOARTEN UND RATIONALER UMGANG

Alltagsbegriffe bezeichnen vorgefundene Einheiten – Eisen, Luft, Gewicht usw. Wissenschaftliche Begriffe bezeichnen Einheiten, die eigens zum Zweck wissenschaftlicher Analysen gebildet wurden. Im Alltag nennen wir das, was aus dem Wasserhahn kommt, Wasser. Für einen Chemiker ist Wasser H2O, ›reines Wasser‹. Das ist gesundheitsschädlich, eine Risikoquelle. Für uns ist das, was wir atmen, Luft, eine vorgefundene Substanz, die wir mehr oder weniger ›gut‹ finden. Für einen Chemiker ist Luft eine veränderliche Mischung aus unterschiedlichen Gasen. Die Einheiten seiner Analysen sind Gase, Schadstoffe und ihre jeweiligen Anteile an der Mischung. Beide Betrachtungsweisen sind sinnvoll und betreffen verwandte, aber nicht gleiche Objekte. In solchen Fällen wird aus einer Kontroverse um eine Sache schnell ein Streit um Worte, der zur Sache nichts beiträgt. Bei Risikodiskussionen hilft die Frage: Worüber reden wir – über die Größe eines Schadens, über individuelle oder kollektive Risiken, über theoretische oder praktische, freiwillige oder unfreiwillige?

2.1 KOLLEKTIVE UND INDIVIDUELLE RISIKEN

In Deutschland sind 2015 insgesamt 3.392 Menschen Opfer von Verkehrsunfällen geworden. Drei Jahre später gab es 3.207 Verkehrstote.