Robert S. Field 02: Über den Todespass - Robert S. Field - E-Book

Robert S. Field 02: Über den Todespass E-Book

Robert S. Field

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Beschreibung

Theron Baird und seine Familie befinden sich auf dem Weg nach Salt Lake City. Doch schon bald stecken sie in den verschneiten Bergen fest. Ihre Zugtiere erfrieren, die Lebensmittel werden knapp. Ein Fremder taucht auf und hilft der Mormonenfamilie. Doch Indianer und hungrige Wölfe liegen auf der Lauer. Und ein gewaltiger Schneesturm braut sich zusammen.

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Robert S. FieldÜBER DEN TODESPASS

In dieser Reihe bisher erschienen

4401 Robert S. Field Das harte Gesetz

4402 Robert S. Field Über den Todespass

Robert S. Field

Über den Todespass

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Alfred WallonTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiUmschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-799-3Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

I

Die Hurrikan-Lampe, die von einer Querstrebe des Planengestells hing, beleuchtete schwach das Innere des Wagens. Der flackernde Lichtschein warf tanzende Schattenbilder über die angespannten Gesichter der Menschen, die wortlos zwischen den Geräten und Kisten hockten und vor sich hin starrten.

Durch die Planen des Studebaker-Wagens drang das Heulen des Sturms. Der Wagen schwankte. Die Bretter und Balken ächzten unter der Wucht des Blizzards. Windstöße fegten durch die Ritzen der Bretter und zerrten an den dicken Mänteln und Decken, mit denen sich die Menschen vor der eisigen Kälte zu schützen versuchten.

Es waren zwei Männer, zwei Frauen und ein Junge, der unter einem Berg Decken auf einem der beiden Eisenbetten lag. Sie alle hatten die Augen geöffnet, aber sie blickten nirgendwohin. Keiner bewegte sich, vielleicht aus Furcht, der schwere Wagen könne durch eine zusätzliche Erschütterung umstürzen. Niemand sprach.

Hin und wieder hob der ältere der beiden Männer seinen Kopf, um sich zu vergewissern, dass die Querstreben, die sich hin und her bewegten, der Wucht des Sturms standhielten. Und jedes Mal formten seine rissigen Lippen Worte zu einem lautlosen Gebet.

Vier Stunden saßen sie nun im Wagen. Vier Stunden, die schon eine Ewigkeit dauerten. Noch nie hatten sie etwas Schlimmeres erlebt als diesen Blizzard. Es war kurz nach Mittag gewesen, als die gelblich-schmutzige Wolkenwand hinter den zackigen Felskämmen heraufzog. Und danach hatten sie gerade noch Zeit gehabt, alle losen Dinge im Wagen festzubinden und die Planen an der Frontseite und am Heck zu verschnüren. Danach war die Hölle über sie hereingebrochen.

Bis jetzt trotzten der Wagen und seine Insassen dieser fauchenden Hölle aus treibenden Schneemassen und wirbelnden Eiskristallen, die gegen die Wagenplanen prasselten.

Das klägliche, heisere Gebrüll der vier Zugochsen war längst verstummt. Sicher standen die Tiere schon bis zu den Bäuchen im Schnee. Der Studebaker-­Planwagen wurde zum Schiff inmitten eines kochenden und brodelnden Meeres, dessen hochschießende Wellen über ihm zusammenzubrechen und es mitzureißen drohten.

In dem Augenblick, als der Sturm endlich seinen Höhepunkt erreicht zu haben schien und der Wagen dem Umstürzen nahe war, nahm das Geheul hörbar ab. Es war, als hätte sich dort draußen jemand dem Sturm mit ausgebreiteten Armen entgegengestellt. Das Fauchen und Heulen wurde leiser und leiser, verstummte schließlich und machte derselben drückenden Stille Platz, die vor dem Blizzard geherrscht hatte.

Der Wagen rollte in die alte Lage zurück. Die angespannten Planen lösten sich und hingen schlaff und faltig von den sechs hufeisenförmig gebogenen Querstreben. Es war so still und ruhig, als hätte es nie einen Sturm gegeben.

Theron Baird blickte in die Gesichter seiner Familie. Wie er, lauschten sie, bekamen aber nicht das Geringste zu hören. Ihre Blicke richteten sich ungläubig auf die schlaffen Planen. Der Junge hatte sich etwas aufgerichtet. Seine Augen glänzten fiebrig, sein Gesicht glühte. Trotzdem gelang ihm ein Lächeln.

„Es ist vorbei, Tommy“, sagte sein Vater. Die Worte aus seinem Mund fielen damit wie Funken der Hoffnung in die betäubende Stille. Sie atmeten alle auf, und die Anspannung wich aus ihren Gesichtern.

Theron Baird schob die Decken von seinen Knien und erhob sich. Er sah müde aus, dieser große Mann mit seinen breiten Schultern. Sein dicker Wollmantel zog sich straff um seinen mächtigen Oberkörper, auf dem der kantige Kopf ruhte. Über den blauen Augen wucherten dunkle Brauen, die über einer scharfen Nase zusammenwuchsen. Seine Augen leuchteten, als er seiner Frau auf die Beine half.

Seine Frau, Hannah war mehr als einen Kopf kleiner als er. Sie hatte sich zwei Wolldecken über die Schultern gelegt und vorn auf der Brust zusammengebunden. Darunter trug sie einen schwarzen Mantel. Um ihren Kopf hatte sie einen Wollschal gewickelt. Hannah Bairds Gesicht war blass, aber ihre Augen leuchteten kraftvoll, als sie sich über ihren Sohn beugte, den ein Schüttelfrost auf sein Lager zurückgeworfen hatte. Der Junge hustete. Sanft strich sie Tommy mit den behandschuhten Fingern über die rot glänzenden Wangen. „Thomas, der Sturm ist vorbei“, sagte sie leise und lächelte mühsam. „Wir werden weiterfahren, mein Junge, und im nächsten Ort gibt es sicher einen Arzt. Dann wirst du schnell wieder gesund.“

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Was ist, Tommy?“, fragte die Frau leise. „Ich weiß, du gehst nicht gern zu einem Doc. Aber diesmal muss es sein.“

Tommy öffnete den Mund. Speichelfäden zogen sich von der Ober- zur Unterlippe. Das Sprechen schien ihm Mühe zu bereiten. „Das ist es nicht, Mutter.” Die Worte des Jungen waren kaum zu hören. „Ich glaube nicht, dass wir weiterfahren werden. Die Ochsen sind tot, und wir sind vom Trail abgekommen und befinden uns irgendwo im Niemandsland. Wenn uns niemand zu Hilfe kommt, werden wir elend zu Grunde gehen. Unsere Vorräte gehen zur Neige. Wir werden das gelobte Land nicht erreichen, Mutter.“

Theron Baird war mit dem Aufknöpfen der Planen beschäftigt. „Der Herr wird uns beistehen, Sohn, damit wir am Ende alle in Zion ankommen werden. Er wird uns genauso helfen wie vielen anderen, die vor uns diesen Weg gegangen sind.“

„Und was ist mit denen, die Zion nie erreicht haben, Vater? Wo war Gott, als in Nauvoo die Heiden hunderte von uns niedergeschossen oder totgeschlagen haben? Und warum stand er denen nicht bei, die vor uns auf dem Weg ins gelobte Land an Hunger, Kälte und Krankheit gestorben sind?“ Die Fragen des Jungen hingen sekundenlang schwer in der eiskalten Luft.

Trotz der steifen Finger gelang es Theron Bird, den letzten Seilknoten zu öffnen. Als er sich noch einmal umdrehte, fasste er seinen Sohn ins Auge. „Es steht uns nicht zu, an Gott zu zweifeln, mein Sohn. Er prüft jeden, bevor er ihn in das gelobte Land einlässt. Seine Entscheidungen müssen wir akzeptieren. Auch unser Schicksal liegt in seiner Hand.“ Er zog die Schutzplane von der Öffnung. Vereinzelte Schneeflocken wirbelten in den Wagen. Im Zwielicht, das draußen herrschte, waren die fernen Hügel nicht zu sehen, und es gab auch in der Nähe keine Punkte, nach denen sich Theron Baird hätte orientieren können. Aber es schien, als wäre der frühe Wintersturm, von dem sie in dieser grenzenlosen Einöde überrascht worden waren, endlich vorbeigezogen. „Komm, John, wir schauen mal nach den Ochsen. Nimm das Beil mit.“

Der jüngere der beiden Männer öffnete eine der Kisten und entnahm ihr eine langstielige Axt. Die Axt in der Hand, wandte er sich an seinen kleinen Bruder. „Gott hat damit nichts zu tun, Tommy! Wir dürfen einfach nicht aufgeben, dann schaffen wir es schon.“ Er kletterte hinter seinem Vater her aus dem Wagen.

Das Mädchen, das schweigend in einem Korbstuhl gesessen hatte, erhob sich, streifte die dicken Fellhandschuhe ab und rieb sich die Hände, damit die eiskalten Finger warm wurden. Linda Baird war vor einigen Tagen sechzehn Jahre alt geworden und fast einen halben Kopf größer als ihre Mutter. Ein Schwall blonder Haare hing aus der Kapuze ihres Mantels. „Papa hat Recht“, sagte sie. „Wenn wir zu zweifeln anfangen, können wir gleich aufgeben.“

„Das sagst ausgerechnet du“, entgegnete Tommy. „Du wolltest doch zu Hause bleiben, als Vater uns sagte, dass wir unser Glück im Westen suchen werden, in unserem gelobten Land.“

Mrs. Baird sah sich nach ihrem kranken Sohn um. „Tommy das wichtigste ist, dass du wieder gesund wirst. Dein Vater wird auch diese Situation meistern, und wenn er meint, Gott hilft ihm dabei, gibt ihm das vielleicht noch mehr Mut und Kraft.“

„Er kann aber unseren Wagen nicht selbst über den Pass ziehen“, gab ihr Tommy zurück.

„Das stimmt allerdings, Tommy“, pflichtete Linda ihm bei.

Von draußen drangen die Stimmen ihres Vaters und ihres Bruders durch die Wagenplanen. Nicht weit entfernt heulten die Wölfe.

Linda drehte sich ihrem Bruder zu. „Der Sturm hat sich gelegt, Tommy. Bald geht es dir auch wieder besser.“ Mit ihrem Taschentuch wischte sie ihm den Schweiß von der Stirn.

„Es geht mir jetzt schon besser“, antwortete er. „Hörst du die Wölfe? Vater hätte das Gewehr mitnehmen sollen. Sie sind hungrig. Bald sind sie hier, Schwester.“

„Ich werde Vater das Gewehr bringen, Tommy.“ Sie erhob sich und griff nach dem Karabiner. Sie zog die Waffe aus der Decke und wollte den Wagen verlassen.

„Linda, die Patronen sind in der Kiste mit dem Werkzeug“, sagte ihre Mutter. „Ungeladen nützt das Gewehr Vater nichts.“

„Das stimmt, Ma.“ Linda lachte, nahm eine Handvoll Patronen aus der Kiste und steckte sie in ihre Manteltasche. „Wir hätten besser eines dieser neuen Gewehre gekauft, mit denen man ohne nachzuladen fünfzehnmal schießen kann.“

„Es war nicht unsere Absicht, in einen Krieg zu ziehen, Linda. Wären wir nicht hier draußen stecken geblieben, hätte uns dieses Gewehr genügt.“

„Stimmt, Ma, aber wir ziehen nun mal durch ein Land, in dem Krieg herrscht. Wie unerbittlich dieses Land sein kann, hat uns Onkel Joe gesagt, unerbittlich mit seinen ureigenen Gesetzen. Wer hier überleben will, muss stark sein, und stark sein heißt vor allem, gut ausgerüstet zu sein.“

Die Wölfe heulten nun nicht mehr, aber die Stille verhieß nichts Gutes. Wölfe eines Rudels, das sich fort­bewegte, verhielten sich meistens still. Das war ihnen in den vergangenen Tagen oft aufgefallen. Einmal wurden sie von Wölfen mehrere Tage lang begleitet, ohne dass sie je einen Laut gehört hatten.

Linda kletterte aus dem Wagen und sah sich nach ihrem Vater und Bruder um. Sie waren dabei, die Zugochsen aus dem Geschirr zu nehmen. Die vier starken Tiere waren während des Sturmes erfroren. Eine Schneedecke lag über ihnen, aus der ihre starren Beine und die beiden Joche herausragten.

„Für einen langen Winter haben wir Fleisch genug“, rief ihr Theron Baird zu. „Und wenn das Wetter besser wird, könnten wir uns im Windschatten der Hügel ein Quartier einrichten.“

Ein Winter allein hier draußen? Die Chancen, dass die Familie ein solches Unterfangen durchstehen konnte, waren gering. Dieser erste Sturm war nur ein Vorbote für das, was noch kommen sollte.

*

Unter den Sohlen von Lindas Stiefeln knirschte der gefrorene Schnee. Es war noch immer bitterkalt. Allmählich wurden im ersten Licht des Morgengrauens einige bewaldete Hügel sichtbar.

Ihr Bruder John hackte mit der Axt Fleischstücke aus den steifgefrorenen Kadavern.

„Braucht ihr Hilfe?“, fragte Linda ihren Vater.

John unterbrach kurz seine Arbeit und hob den Kopf. „Wir haben alles im Griff, Linda.“

„Gut, dann bleibe ich mit dem Gewehr in der Nähe“, erklärte sie. „Es ist gut möglich, dass uns die Wölfe bald einen Besuch abstatten.“

John übergab seinem Vater die Axt und zog sein Messer aus der Scheide an seinem Gürtel. Mit der Spitze der Klinge begann er die herausgehackten Fleischbrocken an denjenigen Stellen vom Rumpf des Ochsen zu lösen, die er mit dem großen Beil nicht erreicht hatte.

Nachdem Linda das Gewehr gegen eines der beiden Joche gelehnt hatte, half sie ihrem Vater die Zügelriemen aufzurollen. Es begann dichter zu schneien, die Hügelkuppen verschwanden wieder im Schneegestöber. John trug die herausgehauenen Fleischbrocken, einen nach dem anderen, zum Wagen und legte die größeren Stücke unter den Wagenkasten, die kleineren auf den Bock. John war fast ebenso groß und kräftig wie sein Vater, wirkte aber durch die schmalen Schultern nicht so klotzig. Die Kälte hatte sein Gesicht gerötet. Kaum hatte er das nächste Stück Fleisch auf den Bock gelegt, kläffte in der Nähe ein Wolf. Es dauerte nicht lange, da bekam der von anderen Wölfen aus seinem Rudel Antwort.

„Sie sind da, Dad!“, rief John und zeigte in die Richtung, in der er die Wölfe vermutete. „Wirf die Zügel unter den Wagen, Linda, und geh hinein. Dad, wir müssen so viel Fleisch zum Wagen schaffen, wie wir für einige Wochen benötigen. Die Wölfe holen sich den Rest.“

„Nur wenn wir sie lassen, John.“

John ergriff das Beil und arbeitete weiter, während Linda und ihr Vater die Fleischstücke zum Wagen trugen.

Mrs. Baird steckte den Kopf heraus. „Das Wasserfass ist leer“, sagte sie und reichte Linda einen Eimer. Das Mädchen füllte ihn mit Schnee und gab ihn ihrer Mutter zurück. In diesem Moment vernahm sie einen überraschten Ausruf ihres Bruders.

„Dad, ein Reiter!“

Theron Baird ließ die Axt fallen und ergriff das Gewehr. „Geh rein, Linda!“, befahl er.

„Dad, er ist allein und braucht vielleicht Hilfe“, widersprach sie und sah dem Reiter entgegen. John nahm das Gewehr in seine Hände und spannte den Hammer.

Der Reiter näherte sich ihnen im Schritt. Die Sicht war so schlecht, dass noch nicht zu erkennen war, ob es sich um einen Mann oder eine Frau, um einen Indianer oder Weißen handelte. Erst als er nur noch wenige Yard von ihnen entfernt war, konnten sie sehen, dass es sich um einen Weißen handelte, der offenbar Mühe hatte, nicht vom Pferd zu fallen.

Der Mann ritt genau auf den Wagen zu. Ob er das Pferd an den Zügeln lenkte, oder ob das Pferd ohne Hilfe des Mannes voran ging, war nicht zu erkennen. Kaum zehn Schritte vom Wagen entfernt blieb das Pferd schließlich stehen.

Der Mann hob den Kopf an. Er hatte den Hut tief ins Gesicht gezogen. In diesem Gesicht, wie aus Stein gehauen, schienen nur die Augen zu leben. Er hielt ein Gewehr in den Händen, das wie zufällig auf Theron Baird gerichtet war. „Wer zuerst schießt, hat gewonnen“, sagte der Mann, und die Worte klangen wie ein schlechter Scherz.

John runzelte die Stirn. Er war bereit, abzudrücken, aber er tat es nicht. Er hatte noch nie einen Menschen umgebracht, aber er hätte es jetzt getan.

„Ich brauche das Gewehr!“, sagte der Mann.

Theron Baird stemmte seine Fäuste in die Hüften. „Fremder, du kommst hierher und verlangst von uns, dass wir dir dieses Gewehr geben.“

„Genauso ist es.“, sagte der Mann. „Ich verstehe, wenn du es mir nicht geben willst, aber dann müsste ich dich töten.“

Theron Baird wollte ihm darauf eine Antwort geben, aber seine Tochter kam ihm zuvor.

„Sie können von uns jede Hilfe bekommen, Mister, obwohl wir selbst in Schwierigkeiten stecken. Bitte steigen Sie ab. Im Wagen ist noch Platz, und meine Mutter wird ihnen gern etwas zu essen machen.“

Der Mann betrachtete das Mädchen. „Tut mir leid, Miss, aber alles was ich brauche, ist ein Gewehr!“

Nun trat Theron Baird einen Schritt auf den Mann zu. „Fremder, wir sind Mormonen, auf dem Weg in unser Land. Wir sind zu unserem Schutz auf dieses Gewehr angewiesen, wir haben nur eins. Wenn Sie nicht absteigen wollen, reiten Sie weiter. Wir halten Sie nicht auf.“

Der Reiter verzog die Lippen zu einem kalten Lächeln „Zwingen Sie mich nicht, diesen Schuss abzufeuern, Mister.“

Dass es dem Fremden mit seiner Drohung Ernst war, konnte Theron Baird dem Ausdruck in dessen Gesicht ablesen. „Gib ihm das Gewehr, John!“, forderte er seinen Sohn auf.

„Und die Wölfe, Dad?“, stieß John hervor „Wir sind eine Familie in Not, Mister. Außer diesem Jagdgewehr besitzen wir nur noch einen alten Revolver. Von mir bekommen Sie das Gewehr nicht! Von mir bekommen Sie höchstens eine Kugel.“

„Gib es ihm, John!“, forderte Linda ihren Bruder auf. „Vater, bring John zur Besinnung!“

Ohne zu zögern ging Theron Baird auf seinen Sohn zu und streckte die Hand aus. „Gib mir das Gewehr, John!“, befahl er. „Dieser Mann würde dich erschießen und dann das Gewehr trotzdem bekommen.“

„Wozu braucht er das Gewehr, Dad? Er hat selbst eines“, sagte John rau, und seine Augen begannen zu funkeln. „Haben Sie etwa ihre letzte Patrone schon verschossen?“

„Willst du es herausfinden, Junge?“, fragte der Fremde, und einen winzigen Augenblick lang zerriss ein schiefes Grinsen seine Gesichtszüge.

„Gib mir das Gewehr, John!“, forderte Theron Baird seinen Sohn noch einmal auf. Und bevor ihm John eine Antwort geben konnte, packte er die Waffe beim Lauf.

John ließ das Gewehr sofort los. „Dad, ich wette mit dir, dass er keine Kugel im Gewehr hat.“

„Es ist kein Spiel, John“, antwortete Theron Baird, drehte sich um und ging mit dem Gewehr in den Händen auf den Fremden zu.

„Hier, es ist geladen“, sagte er. „Kein Vergleich mit der Winchester, die Sie besitzen.“ Er reichte dem Mann die Sharps.

Der Mann beugte sich etwas vor und übergab Theron Baird die Winchester. „Vielen Dank!“, sagte er schleppend und nahm die Zügel hoch. Dann drehte er sein Pferd, ritt langsam davon und war kurz darauf im Schneetreiben verschwunden.

John bückte sich nach dem Winchester-Gewehr und öffnete den Verschluss mit dem Repetierbügel. Eine leere Messinghülse flog aus dem Auswurf. John nahm den Kolben an die Schulter und richtete die Mündung gegen den Boden. Dann drückte er ab. Ein metallisches Klicken ertönte. „Ich wusste es“, spottete er. „Sie ist leergeschossen! Ziemlich schlechter Tauschhandel, Dad.“

„Niemand konnte das wissen, mein Sohn, auch du nicht!“, antwortete Theron Baird. „Vielleicht hast du es geahnt“, fügte er hinzu. Noch immer hingen seine Blicke an der Stelle, wo der der Fremde verschwunden war. „Kommt, machen wir weiter mit der Arbeit.“

Linda stieß einen kurzen Schrei aus und zeigte in die Leere hinaus, in der jetzt fahle Schatten auftauchten. Die Wölfe waren da. In einiger Entfernung vom Wagen glitten sie lautlos durch den Schnee. Magere, struppige Tiere. Zuerst waren es drei, dann tauchten immer mehr auf, umkreisten in sicherer Distanz den Wagen und die toten Ochsen.

„Sie haben Hunger. Aber sie trauen sich noch nicht heran. Wölfe sollen im Grunde genommen ziemlich scheu sein.” John bückte und nahm die Axt zur Hand. „Trotzdem kann man nie wissen, ob sie nicht unvermittelt angreifen. Gehen wir in den Wagen, Dad?“

„Ja. Sie fressen den Ochsen das Fleisch von den Knochen und verschwinden vielleicht, wenn ihre Bäuche voll sind.“

Baird nahm seine Tochter am Arm und ging mit ihr zum Wagen. Immer wieder drehte er sich um und schaute zurück. John kam hinter ihnen her. In der Linken hatte er die Winchester, in der Rechten die Axt.

Sie hatten den Wagen noch nicht erreicht, als sich zwei große Wolfsrüden mit eisbehangenem Fell über die Ochsen hermachten und ihre Zähne in das hartgefrorene Fleisch schlugen.

II

Es wurde Nacht. Durch die Wagenplanen drang das Geräusch berstender Knochen, von wilden Knurr- und Belllauten begleitet. Mehr als ein Dutzend Wölfe rissen Fleischstücke aus den toten Ochsen. Keiner der anderen wagte sich näher als notwendig an den Wagen heran. Einige, die sich sattgefressen hatten, zogen von dannen und verschwanden in der Nacht.

Im Inneren des Wagens brannte die Lampe nun direkt über dem Lager des Jungen. Seine Mutter hatte den Docht zurückgeschraubt. Sie saß in Decken gehüllt auf einer der Transportkisten und lehnte mit dem Rücken gegen die Schubladen-Kommode, die sie unbedingt auf die Reise hatte mitnehmen wollen. Sie schien zu schlafen.

Dicht neben Tommy lag Linda auf einem Strohsack, der ihr als Bett diente. Für jedes Familienmitglied gab es einen Strohsack, der auf den Boden oder auf die Kisten gelegt werden konnte. Ein Bett mitzunehmen, wäre töricht gewesen. Dieser Studebaker-Wagen war zwar leicht gebaut, aber in schwierigem Gelände trotzdem zuverlässig. Fast hätte Theron Baird den Fehler gemacht, einen der schweren Conestoga-Wagen zu kaufen, die für kürzere Strecken und für flaches Gelände gebaut waren. Es war zwar weniger Platz im Studebaker, und sie hatten viel von ihrem Besitz zurücklassen müssen, um Gewicht einzusparen und den Ochsen den langen Marsch zu erleichtern. Dass alle vier Ochsen im Geschirr erfroren waren, machte sie traurig, aber sie wollte sich nichts anmerken lassen. Viele von denen, die vor ihnen aufgebrochen waren, schleppten ihr Hab und Gut in Handkarren mit sich, und nicht wenige hatten auf dem Weg ins Gelobte Land alles verloren, manche sogar ihr Leben.

Linda starrte zur Plane hinauf, die sich unter dem Gewicht des Schnees nach unten bogen. Am Ende des Wagens hockte John Baird und schnitt Fleischbrocken in Streifen, die er dann in einen Leinensack tat und diesen außen an der Heckbracke aufhängte, damit die Fleischstreifen gefrieren konnten. Neben ihm auf einer Kiste lag griffbereit ein Colt-Revolver, die einzige brauchbare Waffe, die sie noch besaßen.

Theron Baird lag in Decken gehüllt auf dem Boden und las im Buch Mormon. Und immer wieder flogen seine Blicke über den Abschnitt 60 des fünften Kapitels im Buche Almas, in dem es hieß: Und nun sage ich euch: Der gute Hirte ruft euch, und wenn ihr auf seine Stimme hört, wird er euch in seine Herde führen, und ihr werdet seine Schafe sein; und er befiehlt euch, keinen reißenden Wolf unter euch eindringen zu lassen, damit ihr nicht umkommt.

Theron Baird merkte nicht, dass er den ganzen Abschnitt zum vierten Mal laut gelesen hatte.

John wischte das Messer an einem Tuch sauber. „Der Fremde wird nicht wiederkommen“, sagte er. „Er wird erfrieren, und ich werde morgen seiner Spur folgen. Wir brauchen das Gewehr, zu dem unsere Patronen passen. Die hat er vergessen.“

Theron Baird hob den Kopf und schlug das Buch zu. „Es gibt keine Spuren, Sohn“, sagte er ruhig. „Der Schnee liegt morgen bestimmt mehr als drei Fuß hoch.“

„Es hat aufgehört zu schneien, Dad. Ich werde die Spuren finden.“

„Und die Wölfe, John?“ Linda Baird richtete sich auf und sah ihren Bruder fragend an.

„Wenn sie sich sattgefressen haben, ziehen sie weiter. Außerdem habe ich den Revolver.“

„Mit dem du noch nie geschossen hast. Nein, John, wir verzichten auf das Gewehr. Habt ihr euch schon überlegt, wie wir jetzt weiterkommen wollen?“

John schüttelte den Kopf. Auf der Stirn ihres Vaters erschienen zwei tiefe Furchen.

„Man soll die Hoffnung nie aufgeben, John. Wir leben noch, haben unsere Hände und Beine, und wir können denken. Wir sind in einer schlimmen Lage. Aber es gibt immer einen Weg.“

„Und es geschieht ein Wunder. Und vier starke Ochsen fallen vom Himmel“, spottete John.

„Wir sind bestimmt nicht die letzten, die aufgebrochen sind“, erwiderte seine Mutter.

„Aber die einzigen, die vom Trail abgekommen sind“, sagte Linda. „Es kommt hier niemand vorbei, Mutter, schon gar nicht jemand, der ein paar Ochsen verkaufen will. Es hilft alles nichts, wir müssen von hier wegkommen, sobald es das Wetter zulässt. Tommy braucht Hilfe von einem Arzt. Das Laudanum scheint ihm nicht zu helfen.“

Sie blickten stumm zum Lager. Das Gesicht des Jungen war blass und voll roter Flecken. Schweißtropfen glitzerten auf seiner Stirn. Oft warf er sich in den Decken herum, redete dabei wirres Zeug und hustete dumpf. Er war sehr krank, aber niemand konnte ihm helfen.

Plötzlich hob Linda den Kopf. „Habt ihr gehört?“, fragte sie leise. „Draußen war etwas.“

Sie lauschten angespannt.

„Ich höre nichts“, flüsterte John, griff aber zur Waffe.

„Die Wölfe, man hört sie nicht mehr.“

„Ja, das stimmt, Mutter. Irgendetwas ist los. Die Wölfe sind alle abgehauen.“

John griff nach der zweiten Hurrikan-Lampe. Er zündete sie an und knöpfte die Planen auf. Ein Windstoß fegte in den Wagen und zerrte an ihren Schlafdecken. Die Wolkendecke hatte sich gelichtet. Der Mond war umgeben von Tausenden von Sternen und beleuchtete die Gegend fahl. Der Schnee wies eine violette Färbung auf. Am Horizont war eine Kette verschneiter Berge zu erkennen. John zuckte zusammen, als er die Gestalt entdeckte, die sich langsam auf den Wagen zubewegte. „Da ist ein Mann, Dad, er trägt etwas auf dem Rücken.“

Theron Baird erhob sich und blickte über seinen Sohn hinweg. Über die Schneefläche stapfte eine dunkle Gestalt. Sie befand sich kaum mehr als zwanzig Schritte vom Wagen entfernt.

„Der Fremde“, sagte Theron Baird. „Er kommt zurück.“

„Ja, Vater, aber diesmal lasse ich mich nicht mehr erwischen.“ John spannte den Hammer und richtete den Revolver auf die im Tiefschnee herantaumelnde Gestalt. „Ich glaube, er trägt einen anderen Mann auf dem Rücken.“

„Es ist so, John. Du brauchst nicht zu schießen. Lass ihn erklären, was geschehen ist, dann können wir immer noch entscheiden.“

„Es gibt nichts zu erklären, Vater. Er hat unser Gewehr dazu benutzt, einen anderen zu töten.“

*

Zwischen dem Wagen und dem Mann jagten in weiten Sprüngen zwei geschmeidige dunkle Schatten durch den Schnee. Der Mann verharrte. Die beiden Wölfe liefen kaum drei Schritte von ihm entfernt vorbei und verschwanden schließlich hinter schneebedeckten Felsen. Der Mann stapfte mit der schweren Last weiter auf den Wagen zu. Bei jedem Schritt versank er bis fast zu den Knien im Schnee. Offenbar konnte er nur mühsam sein Gleich­gewicht bewahren. Immer wieder geriet er ins Taumeln. Als er keine zehn Schritte mehr vom Wagen entfernt war, fiel er in die Knie, rappelte sich aber gleich wieder auf.

„Halt, Mister! Bleiben Sie stehen!”, rief John Baird dem Mann zu, und dieser blieb tatsächlich wankend stehen.

Thomas erwachte und rief nach seiner Mutter, die versuchte den Jungen zu beruhigen.

„Was ist geschehen?“, rief Theron dem Mann zu. „Warum kommen Sie zurück? Genügt es Ihnen nicht, dass sie uns das Gewehr weggenommen haben?“

„Ich habe einen Schwerverletzten hierhergebracht.“ Der Fremde keuchte. „Er braucht Hilfe!“

„Und unser Gewehr?“, fragte John. „Mister, mein Colt ist genau auf Sie gerichtet. Diesmal falle ich nicht mehr auf Ihre Tricks herein.“

„Ich habe das Gewehr bei mir. Ich wollte ...“ Der Fremde brach unvermittelt ab, knickte in den Knien ein und stürzte in den Schnee.

Ratlos blickte John seinen Vater an.

„Er ist am Ende, Sohn. Wir müssen ihm helfen. Komm!“ Theron Baird kletterte über die Heckbrache des Wagens.

John zögerte einige Sekunden, dann tat er es seinem Vater gleich und sprang aus dem Wagen.

Während John mit gespanntem Colt stehenblieb, ging sein Vater auf die beiden Gestalten zu, die im Tiefschnee lagen. Er packte mit seinen starken Händen zu und zog die beiden Körper auseinander. Die beiden Männer sahen übel aus.

„Wir müssen sie in den Wagen schaffen, Sohn. Sie sind halb erfroren.“

Der Fremde, der den anderen getragen hatte, bewegte sich. Stöhnend richtete er sich auf und ließ sich von Theron Baird auf die Beine helfen. Schwankend und nach Atem ringend stand er vor ihnen und warf einen Blick zum Wagen hinüber. „Mister!“, stieß er hervor. „Der Mann muss in den Wagen.“

Theron Baird hob den Mann vom Boden auf. Wortlos schritt er mit seiner Last zum Wagen. Dort blieb er stehen und drehte sich nach dem Fremden um. „Kommen Sie, es wird sich auch für Sie ein Platz finden lassen. John, steck den Revolver in die Manteltasche!“

„Ich habe es mir für ein paar Stunden ausgeborgt. Dieser Sharps-Karabiner ist ein sehr gutes Gewehr. Ein Schuss genügte.“

„Wozu, Fremder?“, fragte Theron Baird und kniff die Augen zusammen.

Der Mann wandte den Kopf und blickte Theron Baird nach, der den schlaffen Körper des anderen beim Wagenheck in den Schnee gelegt hatte und jetzt dabei war, die Heckbracke herunterzuklappen.

„Haben Sie ihn niedergeschossen?“, wollte John wissen.

Ein eisiger Blick aus den grauen Augen des Fremden traf ihn. „Er und seine drei Freunde verfolgen mich seit Wochen.“

„Mussten Sie ihn deshalb gleich ...“

„Ich versuchte erst, ihn auf andere Art davon abzuhalten“, unterbrach ihn der Fremde. „Schließlich ging mir die Munition aus, als er mich fast eingeholt hatte. Zum Glück hat er nur mein Pferd getroffen.“

„Und dann schossen Sie ihn nieder?“

„Nein, ich dachte, vielleicht zwingt ihn der Sturm aufzugeben. Ich marschierte weiter und stieß auf verwehte Spuren und schließlich auf den Wagen.“

„Dann sind sie mit unserem Gewehr zurückgegangen und haben ihn niedergeschossen.“

„Ich zielte auf seinen Kopf, traf ihn aber in die Brust.“

John Baird schüttelte ungläubig den Kopf. „Und warum haben Sie ihn anschließend hierhergeschleppt? Warum zu Fuß, er hatte doch sicher auch ein Pferd?“

„Er erschoss es, während er fiel, Junge, damit ich nicht auf seinem Pferd davonreite. Brad Canery ist gefährlich, auch wenn er halb tot ist. Er wollte mich mitnehmen in die Hölle.“

„Dieser Brad hat nicht damit gerechnet, dass er in Ihnen seinen Meister gefunden hat?”

„Doch, das wusste er. Er oder ich. Das war letztlich nur eine Frage der Zeit.“

„Und trotzdem haben Sie ihn hierhergeschleppt?“

„Der Blizzard machte uns zu schaffen. Ich fand Unterschlupf zwischen den Felsen, während er ohne Schutz dem Sturm ausgesetzt war.“

„Sie haben ihn niedergeschossen und dann vor dem sicheren Tod bewahrt?“ John schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich weiß nicht, ob es richtig ist, was wir jetzt tun, Mister. Mein Vater ist ein guter Mann. Er wollte unsere Familie ins Gelobte Land bringen, aber angekommen sind wir hier, in dieser gottverlassenen Wildnis. Gehen wir in den Wagen.“ Er ließ den Fremden an sich vorbei und fragte: „Und Ihr Name, Mister?“

Einen Moment stockte der Fremde, dann ging er weiter. „Clem Canery ist mein Name“, sagte er. „Brad ist mein Stiefbruder.“

John Baird wusste nicht, was er darauf antworten sollte und sagte schließlich: „Wir sind die Bairds. Ich bin John. Meinen Vater und meine Schwester Linda haben Sie bereits kennengelernt. Im Wagen sind noch Mutter und mein Bruder Thomas. Kennen Sie sich in diesem Land aus, Mister?“