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In der traumhaften Rosebery Avenue … … kannst du endlich sein, wie du bist. … findest du ein Zuhause. … wirst du dein Herz verlieren. Frei sein und Zeit für sich haben. Peyton will nichts mehr, als endlich einen Neuanfang zu wagen. Dagegen wird Wyatts Traum bereits wahr: Er eröffnet mitten auf der Rosebery Avenue eine Bar. Als Peyton ihm beim Einrichten hilft, ist er sofort fasziniert von ihr. Doch da er noch genug Zeit für seine kleine Tochter haben will, verbietet er sich jeden Gedanken an Peyton. Aber schon bald müssen sie sich fragen: Kann es einen falschen Zeitpunkt geben, um sich in die richtige Person zu verlieben? Cozy. Prickelnd. Einfühlsam. Band 2 der gefühlvollen New-Adult-Reihe von Jana Schäfer. Noch mehr knisternde Romance von Jana Schäfer: The Way We Fall, Edinburgh-Reihe, Band 1 The Hope We Find, Edinburgh-Reihe, Band 2 Make My Wish Come True
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Seitenzahl: 592
TRIGGERWARNUNGDieses Buch enthält Themen, die potenziell triggern können. Hier befindet sich ein Hinweis zu den Themen.ACHTUNG: Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.Als Ravensburger E-Book erschienen 2023Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2023, Ravensburger Verlag GmbHText © 2023, Jana SchäferLektorat: Tamara Reisingerwww.tamara-reisinger.deDieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Langenbuch & Weiß, Hamburg.Umschlaggestaltung unter Verwendung von Motiven von © Bokeh Blur Background, © Flipser, © ntnt, alle von ShutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-51178-5ravensburger.com
Für Rebekka, meinen Lieblingsbuddy. Ohne dich wäre es nicht dasselbe.
Playlist
Wasting My Young Years London Grammar
Summertime Sadness Lana Del Ray
Homeward Bound Simon & Garfunkel
Dear August PJ Harding, Noah Cyrus
Dreams Fleetwood Mac
Alive Sia
Can’t Get You out Of My Head Glimmer of Blooms
Love Has No Limits Fleurie
This Love Taylor Swift
Matilda Harry Styles
The End of Love Florence + The Machine
Elastic Heart Sia
1. KAPITEL
Peyton
Die Luft schmeckte nach Freiheit. Ich atmete tief ein und verlangsamte meine Schritte. Es gab keinen Grund, mich zu beeilen. Ich hatte Zeit, und was noch besser war: Ich durfte sie nutzen, wie ich wollte.
Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Der milde Septemberwind fuhr durch meine braunen Locken, wirbelte sie durcheinander, als wollte er mir zuflüstern, dass ab jetzt alles besser werden würde. Leichter. Seit die Polizei dieses Arschloch in Untersuchungshaft gesteckt hatte, konnte ich wieder durchschlafen, und das war das schönste Gefühl überhaupt. Die Sorge um Mum und meine Brüder Liam und Leo, die trotz allem in mir aufstieg wie ein alter Instinkt, den ich nie ganz loswerden würde, schob ich beiseite. Damit würde ich mich später befassen, wenn ich sie anrief, um mich zu vergewissern, dass es ihnen bei meiner Tante nach wie vor gut ging.
An der nächsten Kreuzung ließ ich die Hauptstraße hinter mir und bog in eine kleinere Straße ein. Sofort wurde der Autolärm leiser. Ich ging unter Straßenlaternen, an denen Töpfe mit bunten Blumen hingen, entlang – lila und rote Tupfer, die einen hellen Kontrast zu dem grauen Himmel bildeten. Die Leute, die mir entgegenkamen, grüßten freundlich, etwas, was ich aus Birmingham nicht kannte. Vermutlich war das dieses Kleinstadtflair, von dem mein bester Freund Miles geschwärmt hatte, als er mir von Chesthill, seinem neuen Zuhause, erzählt hatte. Und jetzt war es auch meins.
Heute Morgen hatte ich den Mietvertrag unterschrieben. Die Wohnung besaß ein Schlaf- und ein Wohnzimmer, eine kleine Küche und ein noch kleineres Bad, aber für mich reichte sie vollkommen aus. Sie war jetzt mein eigenes Reich, und ich überlegte schon seit Tagen, wie ich es einrichten würde. Ich musste Miles unbedingt fragen, wo es hier ein Gartencenter gab. In Birmingham hatte ich in einer WG mit zwei anderen Studierenden gelebt und nur elf Quadratmeter für mich gehabt. Jeder freie Winkel war mit Zimmerpflanzen vollgestellt gewesen, und ich konnte es kaum erwarten, diesmal mehr Platz zu haben. Ganz für mich allein. Mein Lächeln wurde breiter. Beschwingt beschleunigte ich nun doch meine Schritte, als auf einmal ein kleines Mädchen um die Ecke geschossen kam.
Sie blieb mitten auf dem Gehweg stehen und sah sich suchend um. »Dad?«, rief sie. Sie konnte nicht viel älter sein als vier, höchstens fünf. Lange dunkle Haare umrahmten ihr Gesicht, in dem sich Hoffnung und Frustration abwechselten.
»Hey«, sagte ich und trat langsam auf sie zu. »Du suchst deinen Dad?«
Das Mädchen nickte heftig. »Er soll mich abholen.«
Ich schaute in die Straße, aus der sie gekommen war, konnte aber niemanden entdecken. Was machte sie hier so ganz allein?
»Kommst du vielleicht gerade aus dem Kindergarten?«, hakte ich nach, und die Kleine nickte langsam. »Wollen wir dahin zurückgehen?«
Sie schüttelte heftig den Kopf, sodass ihre Haare nur so flogen. »Mein Daddy kommt gleich«, erklärte sie mit dieser Ernsthaftigkeit, die nur Kinder an den Tag legen konnten. »Er hat es mir versprochen!« Ihre Stimme zitterte leicht, und ihre Augen glänzten verdächtig.
Verdammt, sie würde jeden Moment losheulen. Ich ging in die Hocke und sah sie direkt an. »Wollen wir zusammen warten?«, schlug ich vor, während ich fieberhaft überlegte, wie ich sie dazu bewegen konnte, zurück zu ihrem Kindergarten zu gehen, ohne dass sie Theater machte. Bestimmt wurde sie bereits vermisst. »Vielleicht sind deine Eltern ja schon da und warten vor dem Kindergarten«, versuchte ich es erneut.
»Er hat gesagt, er holt mich ab.« Ihre Lippen bebten, und nun liefen die Tränen los und kullerten in dicken Tropfen über ihre Wangen.
Der Anblick traf mich mitten ins Herz, und ich strich ihr vorsichtig über den Arm. »Na komm, gehen wir mal zum Kindergarten zurück.« Bestimmt suchten die Erzieherinnen bereits nach ihr.
Ich richtete mich gerade auf, als ein Kerl aus derselben Richtung auf uns zurannte, aus der das Mädchen vorhin gekommen war.
»Emy!«, rief er erleichtert und blieb stehen. »Gott sei Dank! Da bist du ja.«
Hinter ihm folgte eine große, schlanke Frau. Sie schoss an dem Mann vorbei und schloss das Mädchen in die Arme. »Was hast du dir nur dabei gedacht, einfach wegzulaufen?«, fragte sie, während die Kleine schluchzend ihre Hände nach dem Mann ausstreckte. »Daddy!«
Zögernd ließ die Frau das Kind los, das sich sofort in die Arme seines Vater stürzte. Ich beobachtete die Szene mit gemischten Gefühlen.
»Danke, dass Sie stehen geblieben sind und nach ihr geschaut haben«, sagte die Frau zu mir.
Ich nickte nur und sah zu dem Kerl, der mich ebenfalls dankbar ansah. Er hatte das Mädchen jetzt auf dem Arm, und die Ähnlichkeit war kaum zu übersehen. Die gleichen dunklen Haare, das gleiche Blitzen in den Augen, die in einem warmen Braun schimmerten.
»Natürlich. Das hätte doch jeder gemacht. Ich muss dann auch mal los. Einen schönen Tag noch«, sagte ich, machte einen Bogen um die drei und ging weiter.
»Tschüss!«, rief der Kerl mir nach, aber ich drehte mich nicht noch mal um.
Die Eltern sahen jung aus – nicht viel älter als ich. Dennoch erklärte das nicht ganz, warum sie ihr Kind auf der Straße herumlaufen ließen, wo regelmäßig Autos fuhren. So wie die Kleine geklungen hatte, war der Kerl zu spät dran gewesen, und wenn ich eine Sache nicht leiden konnte, dann, wenn Kindern Dinge versprochen und anschließend nicht gehalten wurden. Aber ich wollte nicht vorschnell urteilen. Jeder war mal zu spät, und es konnte alles Mögliche dazwischengekommen sein.
Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass ich kurz an meinen eigenen Dad dachte. Daran, dass seine Arbeit immer an erster Stelle gestanden hatte. Ich hätte alles darum gegeben, auch nur ein einziges Mal von ihm vom Kindergarten abgeholt zu werden. Ich konnte für das kleine Mädchen nur hoffen, dass sein Vater es normalerweise nicht vergaß.
Während ich weiterlief, griff ich nach meinem Handy und rief Miles an. Ich hatte ihm versprochen, mich nach der Schlüsselübergabe zu melden. So wie ich ihn kannte, fühlte er sich auf eine verdrehte Art und Weise dafür verantwortlich, dass ich hier einen guten Start hatte. Dabei müsste er mittlerweile wissen, dass ich gut auf mich selbst aufpassen konnte.
»Hey, Peyton«, begrüßte er mich. »Und wie ist es so, endlich deine eigenen vier Wände zu haben?«
»Gut«, erwiderte ich und lachte leise. »Sehr gut sogar. Und wie glücklich bist du, dass ich dein Gästezimmer nicht länger in Beschlag nehmen muss?«
»Du bist bei mir immer willkommen«, protestierte er, aber ich wusste, dass er insgeheim froh war, seine Wohnung wieder für sich zu haben. Seit er mit Audrey zusammen war, freuten die beiden sich über jeden Rückzugsort, den sie kriegen konnten. Da Audrey in einer 3er-WG wohnte, konnte ich es ihnen nicht verübeln, dass ihnen mein Auszug nicht ungelegen kam.
»Es ist Zeit geworden«, sagte ich. »Jetzt, wo ich weiß, dass ich erst mal hierbleiben will.«
»Wie geht’s dir damit?«, fragte Miles, und ich hörte Papier im Hintergrund rascheln. Vermutlich hatte er eine der Szenen durchgearbeitet, die er für sein nächstes Vorsprechen lernen musste. Als Schauspieler standen bei ihm alle paar Monate neue Projekte an, und auch wenn die letzte Aufführung noch nicht allzu lange her war, hielt er die Augen bereits nach neuen Rollen offen.
Ich bog bei der nächsten Gabelung rechts ab und steuerte auf die Rosebery Avenue zu. Die Straße bildete so was wie das Herzstück der Stadt. Mit ihren süßen, kleinen Läden, den schmucken Häuserfassaden und den blumengeschmückten Straßenlaternen war sie eine echte Augenweide. Ich hatte mich sofort in die gemütliche Atmosphäre, das Kopfsteinpflaster und natürlich die große gotische Kathedrale und das Theater verliebt. Hier trafen Geschichte und Kultur auf heimelige Cafés und kleine, leicht verschrobene Geschäfte wie den Antiquitätenladen. Zusammen verliehen sie der Rosebery Avenue einen ganz besonderen Charme. Kein Wunder, dass Miles sich hier auf Anhieb wohlgefühlt hatte.
»Mir geht’s tatsächlich ganz gut«, erwiderte ich, während ich weiter die Straße entlangging. Mein Blick fiel auf den kleinen Park am anderen Ende, hinter dem sich die berühmte Kathedrale von Chesthill befand. Ich hatte sie schon öfter besucht und den filigranen, gotischen Baustil bewundert. Die feinen Spitzbögen und bunten Glasfenster ließen mich jedes Mal ehrfürchtig innehalten. Noch erstrahlten die Blätter der Bäume im Park in einem satten Grün, aber mit dem nahenden Herbst würden sie sich bald verfärben. »Ah, wo ich gerade daran denke: Gibt es hier ein Gartencenter? Ich brauche dringend neue Pflanzen.«
»Natürlich brauchst du das.« Ich konnte Miles’ Schmunzeln praktisch durchs Handy hindurch hören. »Es gibt am Rand der Stadt eins, ich kann dir die Adresse schicken.«
»Super, danke.«
»Kein Problem. Wann steht eigentlich deine Einweihungsparty an?«
Ich verzog das Gesicht. »Ich habe keine geplant.«
»Wie jetzt? Nicht mal mit einer Flasche Sekt anstoßen? Ich hätte dir auch eine Zimmerpflanze geschenkt.«
Ein Lächeln zupfte an meinen Lippen. Miles kannte mich gut genug, um zu wissen, dass er mich damit kriegte. »Vielleicht können wir das ja machen, nachdem ich die Wohnung fertig eingerichtet habe.«
»Mehr erwarte ich gar nicht. Aber das hier ist immerhin der Start in deine erste eigene Wohnung. Das muss zumindest ein bisschen gefeiert werden.«
Ich nickte, obwohl er es nicht sehen konnte. »Vermutlich hast du recht.«
Wir wussten beide, was Miles eigentlich sagen wollte. Es ging nicht nur um eine neue Wohnung, es ging um einen neuen Abschnitt, einen, in dem Roy keine Rolle mehr spielte. In dem meine Aufmerksamkeit und Sorge nicht mehr nur Mum, Leo und Liam galt. In dem ich mich auf mich selbst konzentrieren und herausfinden konnte, was ich mit meinem Leben eigentlich anfangen wollte. Ein verdammt beängstigender Gedanke. Doch während ich auf das Coffee Corner zuging, ein Café, das mitten auf der Rosebery Avenue direkt neben einem Keramikladen lag, breitete sich ein vorfreudiges Kribbeln in meiner Brust aus.
»Sehen wir uns am Wochenende?«, fragte Miles, und ich konnte aus seiner Stimme heraushören, dass er gedanklich wieder zu seinem Skript zurückkehrte.
»Gern, ich habe noch nichts vor.« Bis auf Miles und seine Freundin Audrey kannte ich nur meine Kollegin Mel aus dem Secondhandshop Old but Gold. Sie sprach nur das Nötigste mit mir und vermied meistens den Augenkontakt, weshalb ich sie nicht wirklich als Bezugsperson bezeichnen würde. Anschluss zu finden war einer der Punkte, der auf meiner Liste für meinen Start in Chesthill ganz oben stand. Nicht dass ich das besonders gern machte, aber nachdem ich jahrelang nur ausgewählte Menschen in mein Leben gelassen und den Kreis dadurch klein gehalten hatte, wurde es vielleicht Zeit, offener zu werden.
»Dann Freitagmittag im Coffee Corner?«, schlug Miles vor und wieder nickte ich.
»Das klingt gut. Wir hören uns.«
Nachdem wir aufgelegt hatten, betrat ich das Café, um mir einen Kaffee to go zu holen. Dabei trudelte eine Nachricht von Mum ein. Doch ehe ich sie öffnen konnte, war ich auch schon an der Reihe, daher steckte ich das Handy weg und bestellte einen Cappuccino mit Hafermilch. Die Barista, eine junge Frau mit feurig roten Haaren, lächelte mir freundlich zu. Ich erwiderte es, während ich zahlte, und sah mich dann verstohlen um. Die Einrichtung gefiel mir auf Anhieb. Die Wände waren in einem cremefarbenen Ton gestrichen und auch die Möbel waren aus hellem Holz. Ein paar Pflanzen standen auf den breiten Fenstersimsen und auf jedem Tisch befand sich eine Vase mit einer einzelnen Blume.
»Dein Cappuccino ist fertig.«
Dankend lächelte ich der Barista zu, schnappte mir den Becher und ging nach draußen. Zurück an der frischen Luft überquerte ich die Straße, passierte drei Häuser, auf deren Fenstersimsen bunte Blumenkörbe standen und erreichte das Theater, dessen Steinfassade beinahe majestätisch vor mir aufragte. Wie jedes Mal, wenn ich hier entlanglief, durchzuckte mich der Impuls, mich zu kneifen. Als könnte ein Teil von mir noch immer nicht glauben, dass ich jetzt tatsächlich in Chesthill wohnte. Dass ich meinen Traum von einem Neuanfang wahr gemacht hatte. Ich setzte mich auf eine der Treppenstufen, die neben einer Rampe zum Eingang führten, und zog mein Handy wieder hervor.
Ich unterdrückte ein Seufzen. Es war nicht schwer, zwischen den Zeilen zu lesen. Lass von dir hören, hieß bei Mum so viel wie: Vergiss uns nicht und melde dich öfter. Ich liebte sie und gab mir größte Mühe, nachsichtig und verständnisvoll zu sein. Sie war in den letzten Jahren durch die Hölle gegangen. Aber das waren meine Brüder und ich auch. Leo und Liam mussten viel zu früh erwachsen werden. Während ich immerhin schon dreizehn gewesen war, waren sie gerade mal drei und fünf Jahre alt gewesen, als Dad uns für eine Stelle in den USA verlassen hatte. Von einem Tag auf den anderen hatte ich die Verantwortung für sie übernommen, während Mum immer mehr ein Schatten ihrer selbst geworden war und sich von einer toxischen Beziehung in die nächste gestürzt hatte.
Die Rolle der großen Schwester würde immer zu mir gehören, und ich wollte für Leo und Liam auch gar nichts anderes sein. Doch während ich an meinem Kaffee nippte, erzählte der Spätsommerwind nicht mehr nur von Freiheit, sondern auch von den Opfern, die ich in den letzten Jahren gebracht hatte. Und der Bürde, die mir dadurch auferlegt worden war.
2. KAPITEL
Wyatt
Meine Knöchel traten weiß hervor, so fest umklammerte ich das Lenkrad. Ich presste meine Lippen zusammen und konzentrierte mich auf den Wagen vor mir.
Veronica hatte darauf bestanden, dass sie Emy heimfuhr und ich ihnen folgte. Zwar hatte ich der Erzieherin Bescheid gegeben, dass ich etwas später kam, doch nach Emys Verschwinden hatte sie wohl uns beide kontaktiert. Und jetzt traute Veronica mir offenbar nicht mal mehr verantwortungsvolles Fahren zu. Als hätte das eine etwas mit dem anderen zu tun. Aber im Grunde wusste ich, dass sie das nur machte, weil sie mir immer noch nicht vertraute. Zumindest nicht vollständig. Dabei hatte ich in den letzten Jahren mein Bestes gegeben, um ihr zu zeigen, dass ich nicht mehr der Kerl war, der es vor lauter Überforderung nicht packte, da zu sein. Ich wusste, dass die Schwangerschaft und die Monate nach Emys Geburt Spuren hinterlassen hatten. Dass meine Abwesenheit, verschuldet durch eine depressive Episode, und die Tatsache, dass ich Veronica nicht hatte heiraten wollen, sondern mich stattdessen immer weiter innerlich von ihr distanziert hatte, stets zwischen uns stehen würde. Ich hatte das Kapitel damals mithilfe einer Therapie verarbeitet und war seitdem zum Glück nie wieder in das Loch gestürzt, das mich komplett verschluckt hatte. Es ging mir so viel besser und in den letzten Jahren hatte ich gut aufgepasst, dass mein Leben und meine Psyche stabil blieben. An Veronicas Sorge änderte das aber anscheinend nichts. Dass sie diese Zweifel an mir auch auf meine Rolle als Dad übertrug … ich war es leid, mich wieder und wieder beweisen zu müssen. Trotzdem würde ich genau das tun, wenn es notwendig war. Das war das Mindeste, was ich tun konnte, nachdem ich Veronica alleingelassen hatte, als sie mich am dringendsten gebraucht hatte. Der Gedanke verursachte ein unangenehmes Ziehen in meiner Brust, deswegen verdrängte ich ihn rasch wieder. Er würde nur zu einem Strudel weiterer destruktiver Gedanken führen und das konnte ich gerade absolut nicht gebrauchen.
»Scheiße«, murmelte ich und setzte den Blinker, als Veronica links abbog. Unsere Vereinbarung war klar: An zwei Tagen in der Woche besuchte ich Emy bei Veronica zu Hause. Ich durfte selbst entscheiden, wie lange ich blieb und was ich mit Emy unternahm. Manchmal gingen wir auch raus, Veronica ließ mich durchaus allein etwas mit Emy unternehmen. Nur in meine WG wollte Veronica, oder vielmehr ihre Eltern, Emy nicht lassen. Das ist kein Ort für ein vierjähriges Kind.
Ich hatte anfangs widersprochen und damit argumentiert, dass ich die Wohnung jedes Mal in einen kindgerechten Zustand versetzen würde, war dann jedoch eingeknickt. Zu groß war die Angst, Veronica könnte das alleinige Sorgerecht beantragen, wenn ich nicht kooperierte und mich an ihre Vorgaben hielt. Zwar hatte sie nie ernsthaft damit gedroht, und meine beste Freundin Sutton hatte mir mehrfach versichert, dass mir das Sorgerecht nicht so leicht entzogen werden konnte, aber ich wollte nichts riskieren. Außerdem war es Veronicas Eltern durchaus zuzutrauen, dass sie mich bei der kleinsten Sache beim Jugendamt meldeten. Sie hatten mich nie wirklich leiden können. Auch wenn sie es nie direkt ausgesprochen hatten, war ich das Gefühl nie losgeworden, dass sie mir die Schuld für Veronicas ungeplante Schwangerschaft gaben. Dafür, dass es ihr Leben – genau wie meines – unwiderruflich verändert hatte.
Die Sorge, Emy zu verlieren, begleitete mich seit vier Jahren. Ich bezweifelte, dass ich mich je daran gewöhnen würde.
Ich kniff die Augen zusammen. Dass ich zu spät gekommen war, würde Veronica mir garantiert noch eine Weile vorhalten. Dabei war es nicht meine Schuld gewesen. Kathy, meine Kollegin, hatte ihre Schicht verpeilt und war erst zwanzig Minuten nach dem offiziellen Wechsel im Laden aufgetaucht. Aber das interessierte Veronica nicht. Für sie zählte nur, dass unsere Tochter aus dem Kindergarten auf die Straße gelaufen war, weil sie auf mich gewartet hatte. Hätte die Erzieherin Veronica gar nicht erst informiert, weil sie mich als verlässlichen Dad wahrnahm, wäre mir jede Menge Drama erspart geblieben. Andererseits verstand ich auch, dass in diesem Fall beide Elternteile kontaktiert wurden. Dennoch wurmte es mich, dass ich nun wieder einmal in der Position war, mich beweisen zu müssen. Wäre Veronica nicht zufällig in der Nähe einkaufen und dadurch nur wenige Minuten vom Kindergarten entfernt gewesen, wäre ich vermutlich vor ihr eingetroffen, statt zeitgleich. Und wenn die Erzieherin Emy in dem üblichen Abholgewusel nicht aus den Augen verloren hätte, sodass sie entwischen konnte, wäre die Sache ebenfalls nicht aus dem Ruder gelaufen. Ich konnte ja nicht der einzige Elternteil sein, der spät dran war. Aber letztendlich nützte das alles nichts – Tatsache war, dass Emy auf die Straße gelaufen war, weil sie nach mir gesucht hatte. Und das hätte nicht passieren dürfen.
Ich biss die Zähne zusammen, als ich das Haus von Veronicas Eltern erreichte. Sie wohnte mit Emy im ersten Stock, und obwohl ich sie regelmäßig besuchte, überkam mich jedes Mal ein Anflug von Unwohlsein. Ich gehörte nicht hierher.
Kurz nachdem Veronica den Schwangerschaftstest gemacht hatte, waren wir zusammengezogen. Es war mir damals richtig erschienen, auch wenn ich heute wusste, dass ich es vor allem aus Pflichtgefühl getan hatte. Wir hatten nie über Kinder gesprochen, mit neunzehn hatten wir – naiv, wie wir waren – gar nicht darüber nachgedacht. Als es dann zu der Schwangerschaft gekommen war, hatte es uns beiden den Boden unter den Füßen weggezogen. Doch während Veronica sich recht schnell mit dem Gedanken, Mutter zu werden, angefreundet hatte, hatte mir die Vorstellung, dass wir ab nun Eltern sein würden, Angst gemacht. Ich hatte immer den Plan gehabt, nach der Schule reisen zu gehen. Mehr von der Welt zu sehen und dabei herauszufinden, was ich später machen wollte. Mit neunzehn Vater zu werden und von den Eltern meiner Freundin gedrängt zu werden, zu heiraten, weil es das Vernünftigste sei, hatte nicht dazugehört. Veronica war es damit anders ergangen. Sie hätte es sich vorstellen können – mich zu heiraten und eine »richtige« Familie zu sein. Ob aus Liebe oder weil sie gedacht hatte, dass es die einzig logische Entscheidung wäre, wusste ich nicht. Aber ich würde nie den enttäuschten Ausdruck auf Veronicas Gesicht vergessen, als sie realisiert hatte, dass wir nicht dasselbe wollten. Dass uns ein Kind zwar für immer als Eltern aneinanderband, aber das nicht hieß, dass ich den Rest meines Lebens mit ihr verbringen wollte. Auch wenn ich mir damals nichts mehr gewünscht hatte, als genau dies zu wollen. Nur hatte ich es nicht über mich gebracht, sie zu heiraten und ein Leben aufzubauen, von dem ich wusste, dass es mich ersticken würde.
Veronica und ich waren zu jung gewesen. Aber wenn wir bei all unseren Differenzen und verletzten Gefühlen eines gemeinsam hatten, dann war es der dringende Wunsch, dafür zu sorgen, dass es Emy gut ging. Dass sie alles bekam, was sie für eine gesunde Entwicklung brauchte. Um das zu garantieren, hatte ich mich durch sämtliche Erziehungsratgeber gearbeitet. Mindestens die Hälfte davon hätte ich mir sparen können, aber eine Sache hatte ich begriffen. Was ein Kind – was Emy – vor allem brauchte, war bedingungslose Liebe. Ihr diese zu geben, stand an oberster Stelle. Dafür würde ich, ohne zu zögern, jede Weltreise aufgeben. Und deshalb würde ich jetzt auch aussteigen und mich dem stummen Vorwurf in Veronicas Augen stellen.
Ich straffte die Schultern und öffnete die Autotür. Keine Sekunde später hörte ich das Tapsen kleiner Füße und dann Emys Stimme.
»Daddy, da bist du ja endlich!« Sie kam auf das Auto zugelaufen und wartete ungeduldig, bis ich es abgeschlossen hatte. »Komm schon, ich muss dir unbedingt was zeigen!«
Ich ging in die Hocke und sah sie direkt an. Ihre Augen leuchteten und ein breites Lächeln lag auf ihren Lippen. Den Schreck darüber, dass ich nicht da gewesen und sie deshalb weggelaufen war, hatte sie bereits wieder vergessen. Wärme breitete sich in meiner Brust aus und einem spontanen Impuls folgend, zog ich Emy an mich. Sie quietschte laut auf und schlang ihre Arme um meinen Hals. Ich schloss kurz die Augen. Am liebsten würde ich sie nie wieder loslassen und diesen Moment für immer einfrieren. Doch da löste sie sich bereits wieder von mir.
»Ich habe im Kindergarten was für dich gemalt«, erklärte sie und sah mich erwartungsvoll an. »Kann ich es dir zeigen?«
»Natürlich«, erwiderte ich und strich ihr beim Aufstehen sanft durch die Haare. Sie griff nach meiner Hand und zog mich in Richtung Haus, wo Veronica bereits vor der Tür wartete.
Bei unserem Anblick huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, das echt wirkte. Im nächsten Augenblick wechselte ihre Miene jedoch zu einem vorsichtigen, besorgten Ausdruck. Ich unterdrückte ein Seufzen.
Wir gingen die Treppe hinauf in den ersten Stock, und ich war dankbar, dass Veronicas Eltern nirgends zu sehen waren. In der Wohnung angekommen, streifte ich meine Schuhe ab und stellte sie in das Regal im Flur. Emy tat es mir gleich, und Veronica half ihr aus ihrer nachtblauen Jacke, deren dicke Knöpfe für Emy zu schwer zum Öffnen waren. »Mach schneller«, bettelte sie und zappelte ungeduldig herum, was mir ein kleines Lächeln entlockte.
Anschließend steuerte Veronica die Küche an, wobei sie sich im Gehen noch mal kurz umwandte. »Willst du einen Kaffee, Wyatt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
»Alles klar. Ich bereite schon mal einen Auflauf für heute Abend vor, ihr könnt ja in Emys Zimmer gehen«, sagte sie und klang dabei furchtbar förmlich.
Wie es wohl auf Emy wirkte, dass ihre Eltern so lieblos miteinander umgingen? Vor ihr stets darum bemüht, freundlich zu bleiben, aber ohne echte Herzlichkeit in der Stimme.
»Wo ist denn nun das Bild?«, fragte ich Emy, während Veronica in der Küche verschwand.
»In meinem Rucksack natürlich. Ich zeig es dir in meinem Zimmer, ja?« Sie ging den Flur entlang zu der Tür neben dem Wohnzimmer und stieß sie auf.
In Emys Zimmer herrschte das vertraute Chaos, das mich bei jedem Besuch erwartete. Ich wusste, dass Veronica abends mit ihr gemeinsam aufräumte, aber sobald Emy am nächsten Morgen aufwachte, fing die Unordnung von neuem an. Etwas, was sie eindeutig eher von mir als von ihrer Mum hatte.
In der Ecke neben Emys Bett befand sich ein großer runder Teppich, auf dem Bilderbücher, zwei Puppen – Mirabella und Coco – eine angefangene Lego-Burg und ein paar Autos lagen. In der Spielküche neben dem Kleiderschrank ragten bunte Malstifte aus dem Kochtopf hervor und in der kleinen Pfanne lagen Kastanien.
Emy ging zu dem Maltisch, der mitten im Zimmer stand, und ich folgte ihr. Kaum dass ich mich auf den Teppich gesetzt hatte, ließ sie sich auch schon auf meinem Schoß nieder und zog ein bunt bemaltes Blatt Papier aus ihrem Rucksack hervor. »Schau mal.« Sie hielt mir das Blatt hin und drehte dann den Kopf zu mir um. Erwartungsvoll sah sie mich an, als sie mir das Bild überreichte.
»Wow, vielen Dank! Was genau hast du da denn gemalt?«
»Also, das ist eine Wiese mit Blumen und einem Baum.« Sie zeigte auf eine grüne Linie mit einem braunen Strich darauf, der in einem grünen Kreis mündete. »Und das sind wir beide«, erklärte Emy weiter, und ihr Finger wanderte zu den zwei kleinen Gestalten, die auf den Schaukeln saßen. Zumindest interpretierte ich die beiden Bretter, die an zwei langen Schnüren hingen, als solche. Emy deutete zuerst auf die kleine Figur, dann auf die große. »Das bin ich. Und das bist du.«
Ich schluckte gegen den plötzlichen Kloß in meinem Hals an.
»Danke«, brachte ich hervor und strich ihr sanft durch die Haare. »Das ist ein wirklich tolles Bild! Da hast du bestimmt eine Weile dran gemalt.«
»Ja.« Sie nickte ernsthaft und schmiegte sich dann an mich.
Lächelnd legte ich meine Wange an ihren Kopf, während es eng in meiner Brust wurde. Manchmal fragte ich mich, wie es sein konnte, dass ich etwas so Wundervolles wie Emy in meinem Leben hervorgebracht hatte.
»Liest du mir etwas vor?«, fragte sie, die nie lange stillhielt und oft in Rekordgeschwindigkeit von einer Tätigkeit zur anderen wechselte.
»Klar. Welches Buch soll es denn sein?«
Emy stand auf und kramte in ihrer Bücherkiste, die halb unters Bett gerutscht war. »Das mit den Räubern.«
Ich schmunzelte. »Ist das also noch immer dein Lieblingsbuch?«
Sie nickte nachdrücklich. »Aber du musst die Stimme wieder so lustig verstellen.«
»Kein Problem.« Ich öffnete meine Arme, als Emy erneut auf meinen Schoß kletterte und sich an mich lehnte.
In den nächsten Minuten existierte nichts als Emys Lachen, ihre kleinen Finger, die sich um meinen Arm schlangen, und ihr Kopf an meiner Brust. Ich vergaß die Sorge darüber, wie ich Veronica dazu bewegen konnte, Emy öfter besuchen zu dürfen oder zu mir nach Hause zu nehmen. Ich dachte auch nicht an die Zukunft und meine beruflichen Perspektiven, die als Barkeeper und Aushilfe in einem Touristenladen nicht besonders rosig aussahen. Insgeheim hatte ich schon oft davon geträumt, eines Tages selbst eine Bar zu besitzen, aber das war finanziell komplett unrealistisch. Zumindest dann, wenn man Unterhalt für ein vierjähriges Mädchen zahlte und ihm etwas bieten wollte. Aber auch so bräuchte ich dafür einen gigantischen Kredit und überhaupt war das nicht viel mehr als Wunschdenken. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Tochter und verbannte alle Gedanken an meine Jobs.
Mit Emys Quietschen im Ohr rückten sämtliche Zweifel in den Hintergrund und ich genoss jede Sekunde davon.
»Können wir kurz reden?«, fragte Veronica, als ich später in die Küche kam. Emy saß auf ihrem Bett und hörte ein Hörbuch. Sie hatte müde gewirkt, und es würde mich nicht wundern, wenn sie bald einschlief.
»Klar«, sagte ich und hoffte, dass nur ich das Zittern in meiner Stimme hörte.
Veronica machte eine einladende Geste in Richtung Küchentisch. Ich zwängte mich auf die Bank und sah zum Kühlschrank, an dem lauter Bilder und Zeichnungen von Emy hingen. Der Anblick versetzte mir einen Stich, was nichts Neues war. Es würde nie einfach sein, zu akzeptieren, dass Emys Zuhause hier war, während ich woanders wohnte. Doch es war das Beste für sie, das wusste ich, und darum musste es auch das Beste für mich sein.
»Hör zu, die Verspätung vorhin tut mir leid. Darum geht es dir doch, oder? Meine Kollegin ist nicht aufgetaucht und ich konnte nicht aus dem Laden weg.« Müde fuhr ich mir durch die Haare. Veronica wich meinem Blick aus und malte mit ihrem Zeigefinger unsichtbare Muster auf die verkratzte Tischfläche zwischen uns. Vereinzelt waren Malspuren und eingetrocknete Farbkleckse zu sehen. Ich schluckte schwer. »Ich dachte, sie würden sie im Kindergarten behalten, bis ich komme.«
»Das tun sie normalerweise auch.« Veronica klang ebenso müde. »Sie hat sich schon den ganzen Tag auf dich gefreut, und ich schätze, als die anderen Kinder abgeholt wurden, hat sie es nicht mehr ausgehalten und ist in einem trubeligen Moment den Erzieherinnen entwischt.«
Ich nickte und versuchte, nicht daran zu denken, was hätte passieren können, wenn Emy mitten auf die Straße gelaufen und in dem Moment ein Auto angeschossen gekommen wäre. Wer auch immer die fremde Frau gewesen war, die stehen geblieben und nach Emy geschaut hatte, ihr Timing war perfekt gewesen.
»Ich würde nie etwas tun, was Emy in Gefahr bringt, das weißt du, oder?«
Veronica sah auf. »Ja. Aber ich weiß auch, dass Pünktlichkeit nicht deine Stärke ist und du manchmal so sehr in deinem Chaos versinkst, dass du kaum mitbekommst, was um dich herum geschieht.« Sie runzelte die Stirn. »Emy liebt dich, und es ist gut, dass du regelmäßig vorbeikommst. Trotzdem darf so was wie heute nicht öfter passieren.«
Unter dem Tisch ballte ich eine Hand zur Faust. Das mit dem Chaos war einmal gewesen, ja, aber dieser Mensch war ich nicht mehr. Warum sah Veronica das nicht? Ich hatte an mir gearbeitet, hatte mir therapeutische Hilfe geholt und mir ein eigenes Leben aufgebaut. Veronica wusste all das, und dennoch hatte ich den Eindruck, dass sie es nicht schaffte, das auch wirklich zu sehen. Manchmal kam es mir so vor, als würde ein Teil von ihr unbedingt an meinem damaligen Ich festhalten. Als würde sie es nicht ertragen, sich einzugestehen, dass ich heute ein anderer war.
»Ich weiß«, sagte ich betont ruhig, weil ich genau wusste, dass Konfrontation jetzt nichts brachte. »Ich werde das nächste Mal rechtzeitig da sein. Emy hat höchste Priorität in meinem Leben, und auch wenn ich in der Vergangenheit nicht immer so da sein konnte, wie sie es gebraucht hätte, jetzt kann ich es.«
Veronica nickte langsam. »Okay.«
Ich konnte in ihrem Blick lesen, dass lange nicht alles okay war. Dass ein Teil von ihr es mir nie würde verzeihen können, dass ich sie im Stich gelassen hatte. Dass ich mit der frühen Vaterschaft nicht klargekommen und in eine Depression gerutscht war, in der ich monatelang die ganze Welt ausgesperrt hatte. Selbst das Beste, was mir je passiert war. Ob die Schuld deswegen je leichter zu ertragen sein würde? Auch wenn ich mir jetzt nichts Besseres vorstellen konnte, als Emys Dad zu sein, verfolgten mich diese ersten Monate manchmal noch in meinen Träumen.
»Ist es okay, wenn ich noch zum Abendessen bleibe?«, fragte ich und hasste es, dass es keine Selbstverständlichkeit darstellte, weil ich, anders als Emy, hier nur zu Besuch war.
»Klar. Ich habe extra die große Auflaufform genommen.« Die Andeutung eines Lächelns huschte über Veronicas Lippen und ich entspannte mich wieder.
Zumindest für Emy schafften wir es, uns zusammenzureißen und miteinander zu kooperieren. Unsere Tochter war die einzige Komponente, die uns noch zusammenhielt. Die uns gegenseitig daran erinnerte, dass wir bei all den stummen Vorwürfen und Verletzungen ein Team sein konnten.
3. KAPITEL
Peyton
»Auf dich und darauf, dass du ebenfalls in Chesthill hängen bleiben wirst!« Miles hob seine Kaffeetasse und strahlte mich mit einem breiten Grinsen an, was mich zum Lachen brachte.
Das Coffee Corner war gut besucht, Stimmengewirr lag in der Luft und vermischte sich mit dem leisen Jazzgedudel, das aus den Lautsprechern plätscherte. Wir hatten Glück gehabt und einen Tisch am Fenster ergattern können, da bei unserem Eintreten zwei Gäste gerade gezahlt hatten. Mir hatte es hier schon bei meinem ersten Besuch auf Anhieb gefallen – der schlichte Einrichtungsstil mit den hellen Möbeln war genau meins. Beim genaueren Hinsehen fand ich nur die Deko einen Tick zu überladen. Die Blumenvasen auf den Tischen waren zwar sehr hübsch und passend, harmonierten aber nicht ganz mit den eher rustikalen Retrobildern und Blechschildern an den Wänden. Die waren zwar hip, würden aber eher zu einem industriellen Einrichtungsstil als dem skandinavisch minimalistischen, der hier ansonsten vorherrschte, passen.
»Na los«, forderte Miles mich auf und wackelte mit seiner Tasse, was den Kaffee darin bedenklich zum Schwanken brachte.
»Ist das die Luft hier, die einen so werden lässt?«, zog ich ihn auf und hob ebenfalls meine Tasse.
Wie früher als Kinder stießen wir sie gegeneinander. Das Klirren klang in meinen Ohren wie ein verheißungsvoller Glockenschlag, der eine neue Ära einläutete, dabei hatten mich symbolische Rituale nie wirklich überzeugt.
»Hast du deine Wohnung in den letzten Tagen schon einrichten können?«, fragte er, während er an dem Kaffee nippte.
Ich nickte. »Es fehlen noch ein paar Dinge – eine Couch und ein Bücherregal, aber das meiste steht schon. Oh, und das Gartencenter war ja mal der absolute Hammer! Ich musste mich echt zusammenreißen, nicht mit einem halben Dschungel wieder rauszugehen.«
»Vielleicht sollte dich beim nächsten Mal jemand begleiten«, warf Miles grinsend ein. »Um dir beim Tragen zu helfen – oder auch, um dich davon abzuhalten, den Laden leer zu kaufen.«
Ich hob die Augenbrauen. »Du willst Anstandsdame spielen?«
»Wenn es sein muss. Für dich würde ich das tun.«
Ich lächelte und versteckte meine Verlegenheit, indem ich rasch nach der Kaffeetasse griff. Auch wenn ich es Miles gegenüber nie direkt gesagt hatte, war einer der Gründe, warum ich in Chesthill blieb, er.
In Birmingham hatte ich kaum Kontakte geknüpft. Während die anderen Studierenden am Wochenende feiern gegangen waren, war ich zu Leo und Liam gefahren und hatte sichergestellt, dass sie nicht zu viel von Roys Trinkerei und den Wutausbrüchen mitbekamen. Ich hatte mich nie wie eine normale Studentin gefühlt, deren größte Sorge der nächsten Klausur oder der Frage, wie es nach dem Studium weiterging, galt. Vermutlich hätte ich von Anfang an ahnen sollen, dass es mit dem Studieren nichts werden würde. Ich hatte mich für Grafikdesign eingeschrieben und schnell gemerkt, dass es nicht mein Bereich war. Wenn ich kreativ wurde, brauchte ich Papier und einen Stift. Dass bei den meisten Inhalten das Arbeiten am Tablet Standard gewesen war, hatte mich von Anfang an abgeschreckt.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Miles. Er ließ mich nicht aus den Augen und die Wachsamkeit in seinem Blick rüttelte an mir. So hatte er mich schon früher angeschaut, wenn ich von Roys Ausbrüchen erzählt hatte. Davon, wie Mum geweint und mit bebenden Schultern die Scherben der zerbrochenen Vase aufgekehrt hatte, während Roy in den Pub verschwunden war, um mit seinen Freunden zu trinken oder seine dubiosen Geschäfte abzuwickeln, hinter die ich nie wirklich gekommen war. Miles war einer der wenigen Menschen, denen ich nichts vormachen konnte. Das machte es manchmal verdammt anstrengend, aber gleichzeitig gab es mir auch Sicherheit.
»Du musst mich nicht so ansehen«, sagte ich und er zuckte ertappt zusammen. »Es geht mir gut.«
»Okay.«
Ich entspannte mich etwas und trank einen weiteren Schluck Kaffee. »Wie lief eigentlich dein Vorsprechen?«, wechselte ich das Thema. Auf der anderen Seite des Fensters schlenderte ein Paar in gemütlichem Tempo vorbei. Die Sonne hatte sich durch die Wolkendecke gekämpft und versprach einen milden Abend. Als wollte die Stadt es mir besonders leicht machen, mich hier wohlzufühlen.
»Ganz gut, schätze ich. Joanne und Simon – die Regisseurin und der Produzent – haben sich allerdings nichts anmerken lassen. Manchmal setzen sie ein richtiges Pokerface auf. Ich kriege aber bald Bescheid, ob ich bei dem neuen Stück wieder dabei bin.«
»Bestimmt bist du das«, sagte ich. »Du wurdest für deine letzte Rolle schließlich überall gelobt.«
Miles hatte nach seiner Schauspielausbildung hier am Theater seine erste große Rolle ergattern können. Jetzt hoffte er, auch bei der nächsten Produktion dabei zu sein, um nicht wieder in eine andere Stadt ziehen zu müssen.
»Ich hoffe es, mal abwarten.« Er zuckte mit den Schultern, aber ich kaufte ihm die Gelassenheit nicht ganz ab. »Wie lief es denn bei dir im Laden?«
»Ganz okay«, erwiderte ich und ließ ihm den Themenwechsel durchgehen. »Es war nicht viel los, aber dadurch konnte ich immerhin ein bisschen zeichnen.«
Er grinste. »Das machst du also, während du eigentlich arbeiten solltest.«
»Sieht so aus, ja. Ich habe auch schon überlegt, mir einen anderen Job zu suchen, aber es ist wirklich entspannt im Laden, und ich habe es nicht eilig. Die Leute bringen immer viel Zeit mit, wenn sie kommen, und stöbern am liebsten selbstständig durch die Klamotten. Zwar könnte die Bezahlung besser sein, aber sie reicht gerade so, dass ich gut über die Runden komme.« Ich hatte den Job im Old but Gold nur als Notlösung angenommen, nachdem ich mein Studium abgebrochen hatte und zu Miles geflohen war, weil mir alles über den Kopf gewachsen war.
Das war ein paar Monate her, und damals hatte ich keine Ahnung gehabt, wie es weitergehen sollte. So ganz wusste ich das immer noch nicht, zumindest was die berufliche Richtung anging. Aber immerhin hatte ich einen Ort gefunden, an dem ich bleiben wollte. Und an dem ich hoffentlich herausfinden konnte, was die nächsten Schritte waren. Solange ich das nicht wusste, würde ich den Job erst mal behalten.
»Audrey meinte, du hast den Laden richtig cool eingerichtet. Vielleicht muss ich mal wieder vorbeikommen.«
Die Besitzerin des Shops ließ mir mittlerweile freie Hand bei sämtlichen Gestaltungsfragen, nachdem sie gemerkt hatte, dass ich ein gutes Auge dafür besaß.
»Du bist jederzeit willkommen«, erwiderte ich lächelnd. »Ich glaube, das Einrichten macht mir an dem Job sogar am meisten Spaß, auch wenn es eigentlich gar nicht zu meinen Aufgaben gehört.«
Während der ersten Woche hatte ich einiges umgestellt, Regale und Kleiderständer so platziert, dass mehr Licht durch das Schaufenster fiel, Dekorationen an den Wänden angebracht und ein paar Pflanzen in die Ecken gestellt. Während der Secondhandladen am Anfang etwas verstaubt gewirkt hatte, sah er jetzt deutlich heller und hipper aus, was wiederum mehr junge Leute anzog.
»Du bist in so was echt talentiert, ich freu mich schon darauf, deine Wohnung zu sehen. Steht das Anstoßen morgen Abend noch?«
Ich schmunzelte. Miles ließ echt nicht locker. »Natürlich.«
»Sehr cool. Apropos, ich soll dir von Audrey ausrichten, dass in ihrer WG heute Abend eine kleine Party stattfindet und du herzlich eingeladen bist. Das ist vielleicht etwas spontan, aber sie haben die Party auch erst gestern geplant.« Er schüttelte belustigt den Kopf. »Jedenfalls wollte sie dir eigentlich selbst schreiben, vielleicht hat sie das inzwischen auch, aber ich würde mich auf jeden Fall freuen, wenn du kommst.«
Unschlüssig griff ich nach meiner Tasse und trank den Kaffee leer, um Zeit zu schinden. Miles’ Freundin Audrey und ich hatten nicht den besten Start gehabt. Sie hatte in der Schulzeit bereits ein Auge auf Miles geworfen, aber dann war ihr etwas ziemlich Schlimmes widerfahren, und es hatte Missverständnisse gegeben. Sie war damals davon ausgegangen, dass Miles mich ihr vorzog, und manchmal fragte ich mich, ob sie nur nett zu mir war, weil sie wusste, wie eng er und ich befreundet waren. Andererseits hatte ich Audrey als ehrlich und loyal kennengelernt und mochte ihre aufgeschlossene Art. Etwas, was ich mir für meinen Start in Chesthill auch vorgenommen hatte.
Daher straffte ich die Schultern und nickte, ehe ich es mir anders überlegen konnte. »Danke, ich werde auf jeden Fall mal vorbeikommen.«
»Sehr cool. Ich schreib dir dann noch mal die Adresse.«
»Perfekt, danke.« Ich nickte der Bedienung zu, als sie an unserem Tisch vorbeikam.
»Wir sind bereit zu zahlen, oder?«
»Ja, ich muss leider auch gleich schon los und noch ein paar Sachen einkaufen. Ich habe versprochen, bei den Vorbereitungen in der WG zu helfen, weil Wyatt und Sutton beide arbeiten.«
»Audreys Mitbewohner?«, hakte ich nach.
Er nickte. »Genau. Die sind echt cool, du wirst dich da sicher wohlfühlen.«
Das hoffte ich auch. Es würde nicht schaden, ein paar weitere Kontakte zu knüpfen.
Wir zahlten und gingen nach draußen, wo uns ein milder Wind entgegenwehte. Nachdem Miles sich verabschiedet hatte, ging ich die Rosebery Avenue entlang und blieb vor einem kleinen Bastelladen stehen, der schräg gegenüber dem Theater lag. Im Schaufenster lagen Malutensilien und Zeichenblöcke aus und obwohl ich bereits ein paarmal hier vorbeigekommen war, hatte ich ihn noch nicht betreten. Ich sah auf die Uhr, es war kurz nach fünf, und heute Abend stand bis auf die Party nichts weiter an. Deswegen öffnete ich kurz entschlossen die Tür und betrat den Laden.
Schon nach wenigen Schritten wusste ich, dass ich hier richtig war. Der Geruch nach Papier und Farbe lag in der Luft und die Atmosphäre war ähnlich wie in einer Bibliothek beinahe andächtig ruhig. Meistens zeichnete ich zwar nur mit Bleistift und Kohle auf meinem Block, aber manchmal griff ich auch nach bunten Acrylfarben.
In aller Ruhe sah ich mich um, während ich mich immer mehr entspannte. Außer mir waren nur zwei andere Kundinnen im Laden. Ich ging an dem Regal mit den verschiedenen Leinwänden vorbei, weiter zu den Farbpaletten. Pinsel in unterschiedlicher Größe und Form standen in Glasbehältern, daneben befanden sich kleine Flaschen mit grüner, blauer, weißer, goldener und roter Farbe. Ich brauchte nur die Augen zu schließen, um mir vorzustellen, wie sie auf Leinwänden zum Leben erweckt wurden. Wie sie das leere Weiß mit Kobaltblau und Purpurrot füllten.
Miles hatte mich immer damit aufgezogen, dass ich in sämtlichen Räumen zuerst die Inneneinrichtung inspizierte und Vorschläge machte, wie sie schöner und ansprechender gestaltet werden könnte. Doch inzwischen faszinierten mich auch andere Kunstformen. Ich griff nach einem Zeichenblock mit dickem, festem Papier und fuhr vorsichtig über die leicht angeraute Oberfläche. Sofort begann es in meinen Fingern zu kribbeln und ich konnte es kaum erwarten, mit einem Stift die Rosebery Avenue, die ich eben entlanggelaufen war, einzufangen. Oder vielleicht auch den Blick aus dem Fenster des Cafés.
Ich packte noch zwei neue Bleistifte und eine kleine Palette mit Aquarellfarben ein. Mit beschwingten Schritten verließ ich den Laden wieder. So konnte der Tag gern weitergehen.
Auf dem Heimweg wählte ich Leos Nummer, aber er nahm nicht ab. Vermutlich war er nach der Schule noch zum Fußballtraining gegangen. Kurz überlegte ich, stattdessen Mum anzurufen, aber dann ließ ich es bleiben. Das konnte ich auch am Wochenende noch machen. Ich fühlte mich zwar mies deswegen, aber auf ihre Sorgen konnte ich heute verzichten. Dabei waren sie nur zu verständlich – sie brauchte eine neue Wohnung und vermutlich auch professionelle Hilfe. Und dann waren Leo und Liam mit dreizehn und fünfzehn in einem Alter, in dem sie ebenfalls ein gewisses Maß an Zuwendung benötigten, auch wenn sie das natürlich nie so äußern würden. Das zu meistern, während sie mit Sicherheit noch die Beziehung mit Roy verarbeiten musste, war verdammt hart. Aber ich wusste, wenn ich anrief, würde sie die Sorgen bei mir abladen und dann würden sie mich den ganzen Abend über begleiten. Ich würde gedanklich bei ihr und meinen Brüder sein, bei Jenny und der Frage, wie lange meine Tante und ihr Mann Henry die drei noch bei sich wohnen ließen. Immerhin hatten sie selbst keine Kinder und die Wohnung, die sie besaßen, hatte neben den von ihnen täglich genutzten Räumen nur ein großes Gästezimmer.
Ich schüttelte die Gedanken ab und beschleunigte meine Schritte. Heute Abend würde ich auf diese Party gehen und mich amüsieren. So wie andere Menschen es in meinem Alter auch taten. Alles andere konnte bis morgen warten.
4. KAPITEL
Peyton
Der Weg von meiner Wohnung zu Audreys WG war nicht weit. Mit dem Fahrrad brauchte ich gerade mal fünf Minuten – zu Fuß vermutlich eine knappe Viertelstunde – und fand das Haus sofort. Es lag eine Seitenstraße von der Rosebery Avenue entfernt und machte von außen einen unscheinbaren Eindruck. Genau wie bei den anderen Häusern der Straße handelte es sich um ein Backsteingebäude mit dem typisch rötlichen Schimmer, der sich bei Regenwetter rostrot färbte und mit der Zeit ausbleichte.
Ich kniff die Augen zusammen und suchte nach dem richtigen Klingelschild. Walker, Mitchell & Bell. Das musste es sein. Ich schlang den Schal, den ich trug, enger um meinen Hals und betätigte die Klingel. Audrey hatte mir tatsächlich noch mal selbst geschrieben und mich auf acht Uhr eingeladen. Inzwischen war es kurz nach neun, aber ich hatte zu Hause nicht mit der Zeichnung der Rosebery Avenue mit einer gusseisernen Laterne im Vordergrund warten können und dann die Zeit aus den Augen verloren.
Der Öffner summte und ich flüchtete ins Warme. Im ersten Stock angekommen, entdeckte ich Miles im Türrahmen einer Wohnung. Im Hintergrund waren Musik und Stimmengewirr zu hören und ich atmete tief durch. Aufgeschlossen zu sein, war nichts, was natürlich zu mir kam. Was mich ausmachte und mir mühelos gelang. Aber ich wusste, dass es viel mit meiner Einstellung zu tun hatte, also straffte ich die Schultern und setzte ein Lächeln auf.
»Du siehst aus, als würdest du dich fragen, wo der nächste Fluchtwagen steht«, zog Miles mich auf, als ich ihn zur Begrüßung umarmte.
»Sehr witzig.« Ich stieß ihn mit dem Ellenbogen an, als Audrey den Flur entlang zur Wohnungstür kam.
»Hey«, begrüßte sie mich und lächelte mit dieser Mischung aus Freude und Vorsicht, die jedes Mal in ihrem Gesicht zu sehen war, wenn wir uns begegneten.
»Hey, danke für die Einladung.« Ich stand noch immer im Eingang und machte nun einen Schritt nach vorn.
»Die Jacke kannst du einfach im Flur aufhängen«, meinte Audrey. »Getränke gibt’s in der Küche, und äh, wenn du irgendwas brauchst, melde dich. Meine Mitbewohner Sutton und Wyatt sind auch irgendwo, die kann ich dir nachher vorstellen. Ich glaube, mit Sutton wirst du dich gut verstehen und Wyatt ist ein wahrer Schatz.« Sie strahlte über das ganze Gesicht und ich musste nicht zu Miles schauen, um zu wissen, dass er ebenfalls lächelte.
»Mach ich«, versprach ich und schlüpfte aus Jacke und Schuhen.
Der Flur führte zu einer kleinen Wohnzimmernische, die aus einer Couch und einem Sessel bestand. Dahinter lag die Küche, in der sich vier Leute drängten, die ich alle in etwa auf mein Alter schätzte. Sie unterhielten sich angeregt – zumindest ihren ausladenden Gesten nach zu urteilen.
»Das sind Leute vom Theater«, erklärte Miles, der mir gefolgt war. »Soll ich dir was zu trinken holen? Ein Glas Wein vielleicht?«
Ich nickte. »Das wäre lieb, danke.«
Neugierig spähte ich den Gang entlang, an den drei Zimmer grenzten. Im ersten wurde laute Musik gespielt und zwei Leute tanzten zu Beats, die ich keinem mir bekannten Song zuordnen konnte. Das nächste Zimmer war leer, aber die Tür stand weit offen. Ich konnte nicht anders, als einen genaueren Blick auf die Einrichtung zu werfen. Neben der Tür stand ein Bett, über das eine dunkle Tagesdecke gelegt worden war. Am anderen Ende stand unter dem Fenster eine Kommode und daneben befand sich eine helle Couch, die mit ihren dunkelbraunen Kissen sehr gemütlich wirkte. An der Wand dahinter hing ein Poster mit einer Weltkarte. Sie war fein gezeichnet und mir gefiel der minimalistische Stil auf Anhieb. Ich machte einen vorsichtigen Schritt in den Raum hinein. Neben dem Sofa lehnte eine Gitarre an der Wand und ich entdeckte auf einer zweiten Kommode hinter dem Bett einen Schallplattenspieler. Die Farben waren gut aufeinander abgestimmt und eher dunkel gehalten. Durch das große Fenster mangelte es aber vermutlich dennoch nicht an Licht. Mein Blick fiel auf das breite Sims – hier könnte wunderbar eine Pflanze stehen. Sowieso fehlten dem Zimmer ein paar bunte Tupfer. Vielleicht ein bis zwei gerahmte Bilder an den Wänden mit ruhigen Landschaftsmotiven, die den minimalistischen Stil unterstrichen, aber dennoch für etwas mehr Bewegung und Farbe sorgten. Oder vielleicht auch ein schmales Bücherregal, denn bisher stapelten sich nur einige Bücher auf einem kleinen Holzhocker neben der Kommode unter dem Fenster.
Ich war so in meinen Gedanken versunken, dass ich die Schritte erst hörte, als sie direkt hinter mir waren.
»Oh, danke für den Wein …« Ich drehte mich um und erstarrte. Es war nicht Miles, der vor mir stand.
»Hi«, sagte der Kerl und ich runzelte die Stirn. Etwas an ihm kam mir bekannt vor. Er war groß, hatte kurze dunkelbraune Haare und ein neugieriges Funkeln in den Augen. »Wer bist du?«, fragte er und legte den Kopf schief. »Warte – sind wir uns schon mal begegnet?«
Ich wollte gerade den Kopf schütteln, als es mir wieder einfiel. Das war der Typ, der seine Tochter nicht rechtzeitig aus dem Kindergarten abgeholt hatte. Ihre Tränen waren mir noch allzu deutlich in Erinnerung.
Reflexartig verschränkte ich meine Arme vor der Brust. »Ich glaube schon. Ich war die Frau, die deine Tochter auf die Straße hat rennen sehen.«
Seine Miene verdunkelte sich und das Funkeln erlosch. »Stimmt. Vielen Dank dafür! Das war echt eine doofe Sache, normalerweise bin ich nicht zu spät und –«
Ich machte eine wegwerfende Geste mit der Hand. »Schon gut, du brauchst dich nicht zu rechtfertigen.«
»Okay …« Unschlüssig sah er sich um.
»Tja, ich sollte dann vielleicht mal nachschauen, wo Miles mit meinem Getränk bleibt.«
Ich wollte nicht unhöflich sein, aber nach diesem ungünstigen Moment mit seiner Tochter wusste ich nicht so recht, was ich sagen sollte. Wenn ich Miles sah, würde ich ihn fragen, was der Kerl hier machte. Ob er ein Freund von Audrey war und was sie über ihn wusste. Im Grunde konnte mir das alles egal sein und vielleicht hatte es tatsächlich einen guten Grund für die Verspätung gegeben. So etwas kam vor und das Mädchen hatte es bestimmt längst wieder vergessen. Oder aber es hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt, wie meine Erinnerungen an Dad, der mehr weg als da gewesen war.
»Ah, bist du wegen Miles hier? Ich habe mich schon gefragt …«
Ich würde nicht mehr erfahren, was er sich gefragt hatte, denn in dem Moment kam Miles in das Zimmer. Überrascht sah er zwischen uns hin und her.
»Du hast Wyatt schon kennengelernt? Sehr gut, dann fehlt nur noch Sutton. Sie mixt gerade eine Runde Gin Tonic in der Küche.« Lächelnd kam er auf mich zu und drückte mir das Glas Wein in die Hand.
Ich sah von ihm zu Wyatt, der mich irritiert musterte. »Bist du die Freundin von Miles, die er schon ewig kennt?« Etwas blitzte in seinem Gesicht auf und ich fragte mich unwillkürlich, wie viel er wusste.
Die Auseinandersetzung mit Roy, bei der Audrey ihn dank ihrer Kampfsportkünste zu Boden gerungen hatte, lag einen guten Monat zurück. Der Exfreund meiner Mum – inzwischen war er das zum Glück – hatte mir vor dem Old but Gold aufgelauert, weil er mir die Schuld daran gegeben hatte, dass Mum ihn verlassen hatte. Wäre Audrey nicht mit einem Kollegen vom Theater gekommen und hätte mir beigestanden, wäre es verdammt eng für mich geworden. Ich würde nie vergessen, wie sie auf Roy losgegangen war. Dazu gehörte verdammt viel Mut und dieses Erlebnis verband uns seither, auch wenn wir noch ganz am Anfang einer möglichen Freundschaft standen. Der Vorfall hatte Roy in Untersuchungshaft gebracht, wo sie ihn wegen seiner Vorstrafen und der Befürchtung, er könnte erneut kriminellen Machenschaften nachgehen, festhielten.
Die Geschichte hatte in der WG bestimmt die Runde gemacht. In der WG, in der Wyatt lebte und von dem Audrey mir gesagt hatte, er sei ein Schatz.
»Ja, das ist sie – Peyton. Ich dachte, ihr hättet euch bereits kennengelernt?« Jetzt wirkte auch Miles verwirrt.
»Jetzt jedenfalls schon«, sagte ich, lachte kurz und merkte selbst, wie unsicher das klang. Mit einer entschuldigenden Miene deutete ich in Richtung Tür. »Ich, äh, geh dann mal zu den anderen, wenn das okay ist?«
Miles wirkte noch immer verwirrt, nickte aber. Mit schnellen Schritten ging ich aus dem Zimmer, von dem ich annahm, dass es Wyatts war. Wie unangenehm war das bitte gewesen? Wyatt hatte mindestens genauso peinlich berührt ausgesehen und Miles’ irritierter Ausdruck hatte die Situation auch nicht besser gemacht.
In der Wohnzimmernische entdeckte ich Audrey auf der Couch. Neben ihr war noch ein Platz frei und ich schob mich mit meinem Weinglas zu ihr durch.
»Hey«, sagte ich leicht atemlos. Die Musik, die aus dem ersten Zimmer schallte, war etwas leiser gedreht worden, sodass es gut möglich war, sich zu unterhalten.
»Hey! Hast du die Wohnung begutachtet?«, fragte sie.
»So was in der Art.« Ich zwang mich zu einem unbekümmerten Tonfall, obwohl in meinem Kopf die Gedanken durcheinanderwirbelten. Wyatt lebte in einer WG, obwohl er eine kleine Tochter hatte? Ich hatte angenommen, dass er und die Frau, die ihn begleitet hatte, zusammen waren.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Audrey, die in einem Glas rührte, dessen Inhalt verdächtig nach Gin Tonic roch.
»Ihr habt es wirklich schön hier.« Ich sah mich in der Sitzecke um. An den Wänden hingen Fotos und ein selbst gemachter Makramee-Aufhänger und in der Ecke stand eine große Monstera. Ich liebte die Pflanze, ihre feingliedrigen großen Blätter und das satte Grün machten jedes Zimmer ein bisschen wohnlicher.
»Danke. Du musst es ja wissen – zumindest lobt Miles dich immer für dein gutes Auge, was Inneneinrichtung angeht.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Danke. Profi bin ich zwar nicht, aber ich interessiere mich dafür, das stimmt. Gebäude und ihre Architektur haben so eine ganz bestimmte Wirkung auf mich. Das war schon immer so. Ich finde es spannend, mich zu fragen, welche Geschichte ein Haus oder eine Kathedrale erzählt und wie die Leute sich in einem Raum fühlen. Wie Kleinigkeiten, wie eine Pflanze oder der Makramee-Aufhänger hier, direkt die Atmosphäre verändern können.« Die Worte gingen eine Spur zu schnell über meine Lippen, aber Audrey schien problemlos mitzukommen.
»Jetzt habe ich irgendwie etwas Respekt davor, dir mein Zimmer zu zeigen«, sagte sie lachend.
Ich winkte ab und nippte an dem Wein. »Es wird mir bestimmt gefallen.«
»Und falls nicht, bin ich für Tipps immer offen.«
»Das ist gut zu wissen«, erwiderte ich und zu meiner Überraschung, lächelten wir beide. Das hier fühlte sich gut an. Beinahe leicht. Als hätten wir schon mehrere solcher Gespräche geführt. Etwas von der Anspannung, die die Begegnung mit Wyatt in mir ausgelöst hatte, verschwand.
»Hast du meine Mitbewohner eigentlich schon kennengelernt?« Wie aufs Stichwort sah Audrey sich suchend um und deutete schließlich auf eine blonde junge Frau, die im Türrahmen der Küche stand und sich mit einem Kerl unterhielt.
»Das ist Sutton«, erzählte Audrey. »Wyatt müsste hier auch irgendwo sein.«
»Ihn habe ich schon kennengelernt«, rutschte es mir heraus.
»Ach, echt? Er ist so was wie die gute Seele hier. Seine Gerichte sind der Hammer und wenn man mal jemanden zum Reden braucht, ist auf ihn immer Verlass.«
Ich trank einen weiteren Schluck und bemühte mich um eine neutrale Miene. Das klang tatsächlich nach einem netten Kerl und er hatte vorhin auch einen höflichen Eindruck gemacht, dennoch spürte ich wenig Interesse, ihn näher kennenzulernen. Zu bildhaft war mir die Szene mit seiner Tochter in Erinnerung geblieben, und auch wenn ich ihm damit womöglich unrecht tat, wollte ich nicht, dass die ersten Freundschaften, die ich hier knüpfte, direkt mit komplizierten Themen belastet waren.
»Wie läuft es eigentlich bei dir momentan?«, wechselte ich das Thema. »Bist du weiterhin am Theater angestellt?«
Audrey nickte freudestrahlend. »Sie haben mich auch für die nächste Produktion engagiert. Du weißt schon, die, für die Miles vorgesprochen hat. Ich bin so was wie die zweite Dramaturgin und arbeite bei der Inszenierung und Entwicklung des Stücks mit.«
»Das klingt ziemlich gut.« Ich merkte selbst, dass ich ein bisschen neidisch klang, aber zu sehen, wie Audrey und Miles ihre Leidenschaft gefunden hatten und damit erfolgreich waren, führte mir vor Augen, dass ich keinen Plan hatte, wie es für mich weiterging.
»Ist hier noch ein Plätzchen frei?« Ein Kerl mit dunkelbraunen Haaren, die ihm locker in die Stirn fielen, und sportlicher Statur schob sich an uns vorbei und setzte sich auf die andere Seite von Audrey, die dadurch ein Stück näher zu mir rücken musste.
»Hi, ich bin Oliver, ein Freund von Wyatt.« Er grinste mich freundlich an und ich gab mir einen Ruck.
»Peyton«, erwiderte ich.
Er nickte und deutete dann von mir zu Audrey. »Sorry, ich wollte euch nicht unterbrechen.«
»Schon gut«, meinte ich. »Wir haben nur gerade über Audreys tolle Karriere am Theater gesprochen.«
Audrey sah tatsächlich verlegen aus, als Oliver einen leisen Pfiff ausstieß. »Du und Miles arbeitet beide dort, oder?«
Sie nickte und wand sich sichtlich unter der Aufmerksamkeit. Dabei hatte ich sie nie als sonderlich schüchtern wahrgenommen.
»Und was machst du so?«, wandte Oliver sich an mich.
Ich trank einen Schluck Wein, bevor ich antwortete. »Momentan arbeite ich in einem Secondhandshop. Ansonsten will ich mich erst mal ein bisschen in Chesthill einleben. Ich bin gerade erst so richtig hier angekommen.«
»Verständlich. Machst du gern Sport? Neben meiner Arbeit gebe ich abends manchmal Kurse im Fitnessstudio.«
»Das klingt gut, ich bin nur nicht so die Studiogängerin.«
»Verstehe.« Er nippte an seinem Drink und ich merkte, wie ich mich in den letzten Minuten immer mehr entspannt hatte. Vermutlich war es tatsächlich keine schlechte Idee gewesen, herzukommen.
»Was arbeitest du denn?«, fragte ich Oliver, als er nicht weitersprach.
»Ach, ich jobbe für eine Firma, die sich für Umweltschutz und erneuerbare Energien einsetzt, und bin dort im Marketingbereich.«
»O wow, das klingt richtig cool!«
»Ja, ich hatte echt Glück, dass ich nach dem Studium direkt bei einem guten Arbeitgeber gelandet bin.«
Ich blieb noch eine Weile sitzen und fragte Oliver nach seiner Arbeit aus, wobei sich Audrey ebenfalls in das Gespräch einklinkte. Als die beiden irgendwann über einen Film sprachen, den ich nicht gesehen hatte, lehnte ich mich zurück und sank in das weiche Polster der Couch. Während ich meinen Wein trank, beobachtete ich die anderen Leute, die sich im Wohnzimmer und in der Küche drängten. Es waren geschätzt zwölf, vielleicht fünfzehn Menschen da und die meisten standen in kleinen Grüppchen zusammen und redeten. Ich entdeckte Miles durch die offene Tür in dem Zimmer, in dem Musik lief, wo er mit Wyatt auf dem Sofa saß und sich unterhielt. Drei weitere Leute wippten im Rhythmus der Beats auf und ab und ihr Gelächter wehte hin und wieder zu uns herüber.
Die ausgelassene Stimmung lullte mich schnell ein. Obwohl ich das Gespräch mit Audrey und Oliver genossen hatte, merkte ich, wie ich allmählich müde wurde. Es war ein langer Tag gewesen. Vor der Schicht im Secondhandshop hatte ich noch mal ein paar Dinge in der Wohnung umgestellt. Ich war noch nicht hundertprozentig zufrieden, aber es ging in die richtige Richtung. Dennoch laugte mich das alles aus: der Umzug, die neuen Gesichter, die Sorge um Mum und meine Brüder und die Frage, wie es für mich weitergehen sollte.
Ich hatte nach dem Treffen mit Miles im Internet nach Zeichenkursen und Fortbildungsmöglichkeiten im Bereich Architektur gesucht. Es war einiges Interessante dabei gewesen, vor allem der Studiengang Innenarchitektur klang ziemlich gut, aber ich wusste nicht, ob ich genug Talent dafür besaß. Nachdem ich bereits mein letztes Studium abgebrochen hatte, wollte ich mir meiner Wahl diesmal sicher sein.
Als Audrey aufstand, um sich Getränkenachschub zu holen, wandte Oliver sich mir zu.
»Alles okay?«, fragte er.
Ich nickte. »Bin nur etwas k.o.«
»Lange Woche gehabt?«
»Ja, schon. Der Umzug war dann doch etwas anstrengend. Außerdem schlafe ich in den ersten Nächten in einer neuen Umgebung oft nicht so gut.« Ich sah ihn entschuldigend an. »Sorry, ich glaube, ich mache mich gleich auf den Weg.«
Er zuckte unbekümmert mit den Schultern und warf mir ein breites Lächeln zu. »Kein Problem. Ich kenne das – sich erst mal einzuleben, braucht etwas Zeit. Bestimmt läuft man sich mal wieder über den Weg! Chesthill ist schließlich nicht allzu groß.«
Überrascht über seine Offenheit, erwiderte ich das Lächeln. »Ja, das stimmt.«
Ich winkte ihm zum Abschied kurz zu und ging zu Audrey in die Küche.
»Willst du auch einen Gin Tonic?«, fragte sie.
»Nein, ich glaube, ich mache mich auf den Heimweg.« Ich stellte mein leeres Weinglas auf die Ablage neben dem Waschbecken.
»Oh, wie schade!«
»Ich weiß, es ist noch früh, aber die Woche war ziemlich viel mit dem Umzug und allem …«
»Klar, das verstehe ich. War der Abend für dich denn trotzdem schön?«
»Auf jeden Fall. Vielen Dank noch mal für die Einladung!«
»Gern. Wenn du willst, können wir ja nächste Woche vielleicht mal einen Kaffee trinken gehen?« In ihrer Miene spiegelte sich nichts als ehrliches Interesse und ich nickte.
»Das würde mich freuen«, sagte ich leise.
Audrey streckte ihre Hand aus und drückte kurz meinen Arm, bevor sie sich wieder ihrem Getränk widmete. »Bis bald, Peyton.«
»Bis bald.«