Route to Myself - Ulrike Koch - E-Book

Route to Myself E-Book

Ulrike Koch

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Beschreibung

Nach dem Tod ihres Vaters findet sich die 23-jährige Bianca Wolff auf dem Camino del Norte wieder. Um ihr Erbe zu erhalten muss sie ohne elektronische und finanzielle Hilfsmittel die Strecke bewältigen. An ihrer Seite ist der 25-jähriger Jasper Kent, ein Freund ihres Vaters, der dieses Unterfangen bewachen soll und dabei feststellt, dass die Reise auch für ihn weitreichende Veränderungen mit sich bringt. Spanische Sommernächte gepaart mit dem schottischem Flair Galiciens machen diese Reise zu einem unvergesslichen Erlebnis.

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Seitenzahl: 312

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Edel Elements

Ein Verlag der Edel Verlagsgruppe

Copyright © 2024 Edel Verlagsgruppe GmbH

Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Projektkoordination: Claudia Tischer

Lektorat: Rotkel e. K., Berlin

Korrektorat: Tatjana Weichel

Vermittelt durch: Arrowsmith Agency, Hamburg

ePub-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

eISBN: 978-3-96215-492-9

 

 

Gewidmet meinem neunzehnjährigen Ich:Vielleicht wäre deine Geschichte eine andere gewesen, wenn du dich getraut hättest.

Sei kein Feigling, und tut verdammt noch einmal das, wofür dein Herz schlägt.

1. KAPITEL

BIANCA

Vollkommen übermüdet schlurfte ich in der pinken Lieblingsjogginghose und einem locker fallenden T-Shirt zum Postfach im Studentenwohnheim. Mein Blick sprang zwischen den Turnschuhen und dem angestrebten Ziel hin und her, bis ich abrupt stehen bleiben musste. Andernfalls wäre ich in eine Gruppe Sportler hineingelaufen, die sich gegenseitig lautstark für die gelungene Trainingseinheit lobten. Ihr unverkennbarer Geruch nach durchgeschwitzten Sweatshirts gepaart mit löchrigen Glückssocken, die nie eine Waschmaschine von innen gesehen hatten, zog wie eine dunkle Wolke hinter ihnen her.

Yummy.

Das Trainingsfeld war nur ein paar Meter vom Studentenwohnheim entfernt, sodass die meisten es vorzogen, in ihren eigenen vier Wänden zu duschen – zum Leidwesen aller Menschen, die über einen intakten Geruchssinn verfügten.

Nachdem die grölende Menge vorbeigezogen war, nahm ich mein Ziel wieder ins Visier und atmete sicherheitshalber durch den Mund.

Routiniert ließ ich den metallenen Schlüssel ins Schloss des Briefkastens gleiten, der mit einem leisen Quietschen seinen Inhalt preisgab. Ich wollte so schnell wie möglich zurück in mein Zimmer, aber dann sah ich den dicken Umschlag. Beim Anblick des Logos meldete sich das ungute Gefühl, das ich in den letzten Winkel des Bewusstseins verdrängt hatte, zu Wort. Mit zittrigen Fingern griff ich nach dem Kuvert und vergewisserte mich, dass mir mein Verstand keinen Streich spielte. Doch egal wie sehr ich die Augen zusammenkniff, es änderte nichts an dem Absender: Studentenwerk.

Fluchend schmiss ich das metallene Türchen des Briefkastens zu und riss den Umschlag auf.

Ich überflog die ersten Zeilen und stützte mich mit einer Hand an der Wand ab, um Halt zu finden. Immer wieder las ich das Wort KÜNDIGUNG, bis sich mein gesamter Körper darüber im Klaren war, dass ich in wenigen Wochen auf der Straße sitzen würde. Meine Atmung beschleunigte sich mit jedem Herzschlag, und bald tanzten schwarze Punkte vor den Augen in einem endlosen Wirbel. Kurz bevor ich das Gleichgewicht verlor, spürte ich, wie jemand mich sanft an der Schulter berührte.

„Bi, ist alles in Ordnung?“, hallte Phils tiefe Stimme in den Ohren. Mein bester Freund sprach so leise, dass nur ich ihn verstand, und schirmte mich mit seinem Körper von den Blicken der anderen Studenten ab, die den Nervenzusammenbruch fasziniert verfolgt hatten.

Ich schluckte schwer und reichte ihm wortlos das Schreiben.

Er überflog die Standardsätze, denen jegliches Mitgefühl fehlte. Mit jeder Zeile spannte sich sein Kiefer weiter an.

„Fuck!“, war alles, was er hervorbrachte, und mehr brauchte es nicht. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Phil legte einen seiner durchtrainierten Arme um meine Mitte und schob mich sanft durch die stickigen Flure des Studentenwohnheims. Die Wärme seines Körpers verlangsamte den rasenden Herzschlag.

Ehe ich begriff, was Phil vorhatte, öffnete er die Tür zu seinem Zimmer und bugsierte mich aufs Bett, das etwa die Hälfte des gesamten Raumes einnahm. Normalerweise hätte ich die Bleistiftzeichnungen an den Wänden, die bei jedem Besuch zahlreicher waren, bewundert, doch jetzt herrschte nur Leere in mir. Ich fiel und wusste nicht, ob ich jemals das Ende erreichen würde oder das überhaupt wollte.

„Also, du hast jetzt die Wahl: Umarmung, Kate anrufen, Cocktails trinken oder ins Kissen schreien. Was willst du zuerst tun?“ Phil nahm mir gegenüber auf einem ledernen Drehstuhl Platz. Als ich nicht reagierte, wedelte eine seiner beringten Hände vor meinem Gesicht hin und her.

„Ist da jemand?“, fragte er gespielt komisch. Er rückte dichter an mich heran, und der Geruch seines zitronigen Aftershaves verdrängte den Sportlergestank.

„Es ist erst zehn Uhr morgens“, sagte ich, als würde das alles erklären.

„Und?“ Er hob verwundert eine Augenbraue, was ihm den Charme eines Jungen verlieh, der nur Unsinn im Kopf hatte.

„Es ist zu früh für Alkohol“, erklärte ich und wischte mir über die feuchten Wangen. Dass mein Körper das Weinen nicht leid war, verwunderte mich. In den letzten Wochen hatte ich kaum etwas anderes getan.

„Bi, du hast gerade die Kündigung für das Zimmer erhalten, dein Vater ist gestorben, deine Noten sind beschissen und ich weiß nicht, wann ich dich das letzte Mal habe lächeln sehen. Ich denke, da ist es nie zu früh für einen guten Drink“, erläuterte er ruhig.

„Danke, dass du die Ereignisse der letzten Wochen so präzise zusammengefasst hast“, entgegnete ich tonlos und fixierte einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand.

„Dafür hat man doch Freunde“, erwiderte er in dem sarkastischen Tonfall, den ich über die Jahre zu schätzen gelernt hatte. Nur in diesem Augenblick stand mir nicht der Sinn nach Wortgefechten.

Phils Hände umfassten meine und erst da fiel mir auf, dass sie zu Fäusten geballt waren. Endlich löste ich den Blick von der weißen Raufasertapete und schaute in warme, braune Augen.

„Was soll ich jetzt machen?“, fragte ich zögerlich, denn jedes Wort kostete mich Überwindung.

Seit der Schulzeit waren wir beste Freunde und nach der Aufnahme an derselben Uni waren wir noch unzertrennlicher. Es hätte kein Problem sein sollen, offen über alles zu sprechen, aber das war es.

Phil schaute noch einmal zu dem Brief, den ich ihm gegeben hatte, und der jetzt auf dem Schreibtisch lag.

„Also, wenn ich das richtig verstanden habe, hast du drei Monate Zeit, um auszuziehen oder die fehlenden zweitausend Euro zu überweisen“, fasste er nüchtern den Inhalt des Schreibens zusammen.

„Ich hab das Geld nicht“, gestand ich, obwohl es überflüssig war.

„Jetzt stehen die Semesterferien an. Vielleicht kannst du dir einen Job suchen, um das Geld zusammenzubekommen? Außerdem kann ich dir-“

Bevor er ganz ausgesprochen hatte, schüttelte ich vehement den Kopf. „Auf gar keinen Fall nehme ich Geld von Freunden an.“ Ich brauchte eine kurze Pause, um mich zu sammeln, derweil überschlugen sich die Gedanken in meinem Kopf. „Bezüglich eines Jobs habe ich schon im Internet und auch in der Stadt nachgesehen. Ich bin von Geschäft zu Geschäft gelaufen und habe nachgefragt, aber wenn es Stellen gab, dann waren sie bereits vergeben. Zudem reichen drei Monate nicht aus, um genug zu verdienen, um alles zu begleichen“, antwortete ich, und die Resignation war nicht zu überhören.

„Wir werden schon eine Möglichkeit finden.“ Phils Finger strichen beruhigend über meine, und ich war wieder einmal dankbar, ihn als besten Freund zu haben.

„Ich dachte, nach dem Tod meines Vaters kann es nicht schlimmer werden“, sagte ich mehr zu mir selbst.

„Heute Abend werden wir uns alle zusammensetzen und eine Lösung finden, Bi. Ich bin mir sicher, dass es bald bergauf gehen wird.“

„Du bist ein unverbesserlicher Optimist.“ Ich rang mir ein müdes Lächeln ab.

„Mag sein, aber Trübsal blasen hat noch nie jemandem geholfen.“

Sein Telefon gab einen fordernden Piepston von sich. Phil wandte sich von mir ab und schaute stirnrunzelnd aufs Display, und nach wenigen Momenten verdrängte der Anflug eines Lächelns den Unmut über die Störung.

„Mark möchte einen Kaffee mit mir trinken gehen, bevor seine Vorlesung beginnt.“

„Das ist doch großartig.“ Ich versuchte krampfhaft, die Mundwinkel gegen die Schwerkraft nach oben zu bekommen, denn ich wusste, dass Phil in Mark verliebt war. Dennoch rang mein bester Freund mit sich, und der Grund dafür saß vor ihm. Er würde mich in diesem Zustand nie allein lassen.

„Ich muss jetzt los. In zwei Stunden verkündet der Anwalt den letzten Willen“, sagte ich und griff nach der Kündigung.

„Du hast gar nicht erwähnt, dass das heute ist“, erwiderte er zweifelnd und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Wenn es um Geheimnisse oder Lügen ging, hatte Phil einen sechsten Sinn. Es war unmöglich, ihm etwas vorzumachen.

„Ich hab den Gedanken daran einfach verdrängt“, gestand ich, und das war die Wahrheit.

Phils Finger glitten über seinen getrimmten Bart, während er darüber nachdachte, ob ich ihn anlog.

Ich stöhnte auf und zog mein Telefon aus der Hosentasche, um ihm die Terminerinnerung zu zeigen. Phil zögerte einen Moment und nickte dann zufrieden. Offenbar hatte ihn dies überzeugt.

„Brauchst du jemanden, der dich begleitet?“, fragte er fürsorglich.

Gerne hätte ich Ja gesagt, aber es gab Dinge, die man allein erledigte, und diese Sache war eins davon. Stumm schüttelte ich den Kopf.

„Schön.“ Ergeben hob er die Hände. „Ich hab noch ein paar Minuten Zeit, also werden wir jetzt drei der vier Dinge abhaken, und die Cocktails heben wir uns für heute Abend auf.“ Seine entschiedene Stimme ließ keinen Raum für Widerworte. Er reichte mir ein grünes Kissen mit goldenen Punkten.

Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, befürchtete aber, dass er hartnäckig genug war, so lange mit mir hier zu sitzen, bis ich in das verdammte Stoffding rein schrie. Meine Finger umfassten den weichen Stoff und ich ertastete die feinen Federn im Inneren. Gott, das hier war nur albern!

„Und jetzt denkst du bitte an all das Unrecht, das du bisher erlebt hast, und glaub mir, du hattest wirklich genug davon.“ Phil lächelte mich mitfühlend an, und auf einmal kam ich mir so zerbrechlich vor. Ein Gefühl, das ich zutiefst verabscheute. Es tauchten Bilder vor meinem geistigen Auge auf, wie ich an Vaters Bett saß und er immer schwächer wurde. Wie ich als Achtjährige tränenüberströmt hinter Mama herlief, die uns für einen anderen Mann verlassen hatte. Wie mich die erste große Liebe enttäuschte, weshalb ich seitdem niemandem mehr mein Herz geöffnet hatte. Es war alles zu viel in diesem Moment. Der Schmerz bahnte sich einen Weg hinaus, und ich ließ ihn gewähren. Ein tiefer Schrei entstieg meiner Kehle und wurde durch das Kissen gedämpft. Ich wusste nicht, wie lange dieser Zustand andauerte, aber schließlich fiel das Kissen kraftlos zu Boden. Obwohl ich es niemals zugegeben hätte, fühlte ich mich etwas besser.

„Jetzt kommt der zweite Teil.“

Phil zog mich in eine innige Umarmung und ich erwiderte den sanften Druck. Seine Nähe hatte stets etwas Tröstendes und ich stellte mir vor, dass es sich so anfühlte, wenn man einen Bruder hatte. Der Augenblick verstrich, und wir lösten uns voneinander.

Seine Finger glitten nahezu geräuschlos über das Display des Handys, und schon ertönte Kates hohe Stimme am anderen Ende der Leitung. Er gab die wichtigsten Informationen in Kürze durch und ich hörte das Fluchen meiner besten Freundin. Wenn es um Kraftausdrücke ging, standen wir drei uns in nichts nach.

Einige Minuten später war das Telefonat vorbei.

„So, Bi, Kitty Kat holt dich heute Abend zur Happy Hour ab und wir treffen uns im Eldorado. Dann schmieden wir einen Plan, wie wir dich aus diesem gigantischen Scheißhaufen herausholen.“

Phil schnippte mit den Fingern, als wäre das keine unüberwindbare Aufgabe, sondern nur ein kleines Hindernis. Ein Kieselstein auf einer gepflasterten Straße, den man nur beiseite kickte.

Bei Phil sah vieles leichter aus, als es in Wirklichkeit war. Eine Kunst, die er bis zur Perfektion beherrschte.

„Okay, dann mach ich mich jetzt fertig“, sagte ich und hoffte, dass man mir die Unsicherheit nicht anhörte.

„Wenn irgendetwas passiert oder du es dir doch anders überlegst, ruf an. Du weißt, wir sind für dich da.“ Phil stand auf und ich folgte seinem Beispiel. Dann gab er mir einen sanften Kuss auf die Wange und ich verließ sein Zimmer, damit er sich für die Verabredung herausputzen konnte.

Obwohl mein bester Freund alles versuchte, um mich aufzubauen, fühlte ich mich so hilflos wie schon lange nicht mehr. Würde dieses Gefühl jemals aufhören oder würde es mich für immer begleiten?

2. KAPITEL

BIANCA

Mit jedem Schritt in Richtung des kleinen Büros verschlimmerte sich meine innere Unruhe. Dabei wusste ich nicht einmal warum, denn die Beerdigung war mit Abstand das Schmerzhafteste gewesen, was ich bisher hatte erleben müssen. Zumindest hatte ich das bis zu diesem Moment geglaubt.

Aber dieser Augenblick reihte sich in eine lange Kette von düsteren Erinnerungen, die mir verdeutlichten, dass mein Vater gestorben war. Dass das alles kein schrecklicher Albtraum war, aus dem ich verzweifelt versuchte, zu erwachen.

Das Büro des Anwalts lag in einem noblen Stadtteil von Mainz, ich hatte eine dreiviertel Stunde mit der Straßenbahn dorthin fahren müssen. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln brauchte man eine halbe Ewigkeit, aber ein Taxi war finanziell nicht drin. Jetzt wäre es mir lieber gewesen, die Fahrt hätte nie geendet.

Nie zuvor war ich bei einer Testamentsverkündung, aber es schien mir richtig, mich ebenso anzuziehen wie bei der Beerdigung selbst. Um genau zu sein, trug ich ein knielanges schwarzes Kleid, dessen lange Ärmel mich in einem klimatisierten Zimmer nicht frieren ließen. In solchen Büroräumen musste man damit rechnen, dass sie im Hochsommer viel zu kalt waren.

Ich nahm meinen verbliebenen Mut zusammen, klopfte an die hölzerne Tür und wartete darauf, hineingelassen zu werden. In Gedanken begann ich die verstrichenen Sekunden zu zählen, bis Schritte durch die Tür zu hören waren.

Ein Mann öffnete sie, der ebenso wie ich in Schwarz gekleidet war. Seine breiten Schultern verdeckten den Blick auf alles, was hinter ihm lag. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug und hatte seine längeren Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Interessiert betrachtete er mich aus seinen verschiedenfarbigen Iriden.

Verwunderung verdrängt meine Nervosität, da ich mir Herrn Svenson nach unserem Telefonat als einen Mann Mitte fünfzig vorgestellt hatte. Dieser Fremde schien nicht älter zu sein als ich selbst. Offenbar sollte man das Lebensalter eines anderen Menschen niemals anhand der Telefonstimme schätzen.

Ich streckte ihm zaghaft die Hand entgegen. „Ich bin Bianca Wolff.“ Meine Stimme klang fest, obwohl die Beine sich wie Pudding anfühlten. Hoffentlich hielten sie angesichts dieser mentalen Zerreißprobe stand.

Für einen Augenblick schien ihn diese Geste zu verwundern, aber schließlich ergriff er meine Hand. Seine Finger fühlten sich rau an, als wären ihnen handwerkliche Tätigkeiten vertraut. Noch ein Punkt, der mich an dem Gesamtbild verwunderte. Mein Verstand war zu sehr an das Klischee eines Anwalts gewöhnt, dem dieser Mann offenkundig widersprach.

„Freut mich, Frau Wolff, ich bin Jasper Kent.“

Erschrocken entzog ich ihm meine Hand, und er quittierte die Reaktion mit einer hochgezogenen Augenbraue. Offenbar reagierten andere deutlich erfreuter, wenn er sich vorstellte.

„Verzeihung. Ich muss mich wohl im Raum geirrt haben.“ Verwirrt schaute ich zur Zimmernummer, aber sie entsprach der auf meinem Schreiben.

Verwechslung ausgeschlossen.

„Sie sind hier richtig, Frau Wolff.“

Aus dem hinteren Teil des Büros erklang eine vertraute Stimme und Herr Kent trat beiseite, um den Blick auf den Sprecher freizugeben.

Dort saß hinter einem imposanten Mahagonischreibtisch, dessen Wert mit Sicherheit den Preis meiner gesamten Möbel im Studentenwohnheim übertraf, Herr Svenson. Das goldene Namensschild vor ihm ließ keinerlei Zweifel daran.

Davor standen drei schlichte Stühle, von denen einer durch meine Mutter besetzt war.

Dieser Tag wurde ja immer besser.

Wie auch bei der Beerdigung trug sie eine zu enge Jeans und ein tief ausgeschnittenes Top.

Wenn es darum ging, das unpassendste Outfit für einen traurigen Anlass zu finden, dann war sie bei jedem Wettbewerb die klare Siegerin. Zu meinem Bedauern war sie gegen Verbesserungsvorschläge und tadelnde Worte vollkommen immun. Die Sturheit hatte ich eindeutig von ihr geerbt.

Herr Kent lächelte freundlich und bedeutete mir dann, einen Platz zu wählen. Stumm fragte ich mich, ob er hier ein Praktikum machte und ob es eine Erklärung geben würde, warum er hier war.

Ich setzte mich neben meine Mutter und strich das Kleid glatt. Mein linkes Bein wippte im Takt des Herzschlags auf und ab, ich konnte die Nervosität kaum verleugnen. Die dunkelbraunen Augen meiner Sitznachbarin durchbohrten mich förmlich. Medusa wäre beeindruckt von der Fähigkeit meiner Mutter, Menschen ebenso zu Stein erstarren lassen zu können wie sie. Nur ohne die Schlangenhaare.

Herr Svenson war dabei, ein paar Unterlagen zu sortieren, und ich betrachtete die Vielzahl an beeindruckenden Zeugnissen und Urkunden, die an der Wand hingen. Zwischendrin gab es Motivationsposter, die meinem Vater mit Sicherheit gefallen hätten.

Jeden Montag hatte er mir ein aufbauendes Zitat für die kommende Woche geschickt. Niemals glaubte ich daran, diese kleinen Botschaften mal zu vermissen, denn sie hatten mich immer nur genervt. Es war erschreckend, wie plötzlich einem Dinge fehlten, die man nicht einmal zu schätzen gewusst hatte.

„Schön, dass Sie den Weg hierher gefunden haben, Frau Wolff“, begrüßte mich der Anwalt.

Statt zu antworten, nickte ich nur.

Der Stuhl zu meiner Rechten wurde zurückgezogen, und Herr Kent setzte sich darauf.

Es war bemerkenswert, dass er Wärme ausstrahlte, während meine Mutter die Eiskönigin in Person war. Man sollte annehmen, dass der Platz zwischen diesen beiden Fronten wohltemperiert wäre, aber in Wahrheit spürte ich nur, wie sich über mir ein Gewitter zusammenbraute, bereit, sich in jedem Augenblick zu entladen wie ein Pulverfass. Und ich war drauf und dran, die Lunte anzuzünden.

„Warum bist du hier?“, fragte ich Mutter leise, aber mit einer Schärfe, die meinen Unmut vollends zur Geltung brachte. Meine Selbstbeherrschung hatte sich fröhlich pfeifend bei ihrem Anblick verabschiedet.

„Was soll die Frage? Er war mein Mann, Bianca“, erklang ihre schrille Stimme. Ich hatte vergessen, welche Tonhöhen sie erreichen konnte, wenn jemand ihre Absichten infrage stellte.

Meine Mutter fasste sich mit der linken Hand an die Brust, als würde ihr Herz bei den Worten zerbrechen. Die geweiteten braunen Augen und der leicht geöffnete Mund hätten jeden anderen von ihrer Empörung überzeugt.

Nur mich nicht.

„Das fällt dir ja früh ein“, gab ich zynisch zurück und schaute sie direkt an. Ich konnte mich nicht erinnern, in diesen Augen jemals Liebe oder wenigstens Zuneigung gesehen zu haben. Da war nur eine endlose Leere, in die ich unzählige Male gefallen war, als ich etwas in ihr suchte, was sie nie sein wollte.

Eine Mutter.

„Du warst kein einziges Mal im Krankenhaus oder hast auch nur einen Finger gerührt, als es um die Organisation der Beerdigung ging. Er war dir doch vollkommen egal!“

Ich bemerkte erst, dass ich laut geworden war, als mich die zwei Männer mit großen Augen ansahen. Selbstbeherrschung war nie meine Stärke gewesen. Allerdings muss ich mir zugutehalten, dass die Verbindung aus Trauer und Wut eine explosive Mischung war, gegen die kaum jemand ankam.

Meine Mutter schnaubte nur verächtlich und wandte dann den Blick von mir ab, als wäre ich niemand. Meine Fingernägel bohrten sich schmerzhaft in die Handinnenflächen, aber ich verringerte den Druck nicht. Ich musste mich von dieser Wut ablenken, sonst würde ich durchdrehen.

Herr Svenson, der Anwalt, der sich um den Nachlass meines Vaters kümmerte, räusperte sich lautstark, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er rückte seine dicke Brille gerade und strich dann mit der rechten Hand sein lichter werdendes Haar zurecht.

„Guten Tag, meine sehr geehrten Damen und Herr Kent, wir haben uns hier versammelt, um das Testament von Josef Klaus Wolff zu verkünden und seinen Willen durchzusetzen.“ Im Gegensatz zu mir klang er gefasst und langsam färbte diese Ruhe auf mich ab.

Während er einige Paragrafen herunterrezitierte, versuchte ich, mein aufbrausendes Gemüt weiter zu beruhigen. Der Druck der Fingernägel verringerte sich, sodass nur deren Abdruck einen Einblick in die aufgewühlte Gefühlswelt gab. Ich straffte die Schultern und versuchte, mit geradem Rücken meiner Mutter zu trotzen. Ich war kein weinendes Kind mehr, das ihr nachlief und sie bat zu bleiben.

Jetzt saß neben ihr eine erwachsene Frau, die ihr Leben unter Kontrolle hatte. Gut, das stimmte nicht, aber das brauchte sie nicht zu wissen.

„Meiner Ex-Frau Vivien Strunk vermache ich die Liebe für unsere Tochter Bianca. Pass gut auf unser kleines Mädchen auf.“

Herr Svenson wollte weiterreden, aber meine Mutter schnitt ihm das Wort ab.

„Soll das alles sein? Das ist ein schlechter Witz. Wir waren zehn Jahre verheiratet und ich bekomme gar nichts?“

Ihre Stimme klang so schrill, dass jede Silbe in meinem Inneren schmerzte. Selbst Hunde, die sich in kilometerweiter Entfernung befanden, mussten sich vermutlich die Ohren zuhalten, um nicht durchzudrehen.

„Frau Strunk, Sie haben sich vor über sieben Jahren scheiden lassen, also haben Sie keinerlei Rechtsanspruch auf ein Erbe“, erklärte der Anwalt mit ruhiger Stimme.

Seine Ausführungen waren ein sinnloses Unterfangen, wenn ich daran dachte, wie unbelehrbar sie war. Tränen liefen warm an meinen Wangen hinunter, denn mich berührte zutiefst, dass mein Vater noch nach seinem Tod versuchte, aus ihr einen besseren Menschen zu machen, obwohl es aussichtslos war.

„Und warum, verflucht noch einmal, sollte ich dann hier erscheinen?“, schimpfte sie und stand von ihrem Platz auf.

Ich rührte mich nicht und starrte geradeaus, als würde das alles nicht passieren.

„Weil Herr Wolff es sich so gewünscht hatte.“

Der Anwalt bedeutete ihr, sich wieder hinzusetzen, aber sie zeigte ihm nur den Mittelfinger, griff nach ihrer pinken Handtasche und stürmte aus dem Zimmer wie eine Furie. Zurück blieben drei fassungslose Menschen.

Obwohl ich mir sicher gewesen war, wie alles ablaufen würde, wenn Vater ihr nichts vermachte, war ich dennoch schockiert. Gedankenverloren biss ich mir auf die Unterlippe, bis der metallische Geschmack von Blut auf der Zunge lag. Wortlos stand Herr Kent auf und schloss die Tür, durch die sie gestürmt war. In dieser Geste lag mehr Würde, als sie in ihrem ganzen Leben gezeigt hatte. Ich widerstand dem Drang, mich für ihr Verhalten zu entschuldigen, denn sie war schon lange kein Teil meiner Familie mehr.

3. KAPITEL

BIANCA

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, um klar sehen zu können. Herr Kent reichte mir wortlos ein Taschentuch, das ich dankbar entgegennahm. Es dauerte ein paar Minuten, ehe mein hämmerndes Herz sich wieder beruhigt hatte. Ich war froh darüber, dass mein Vater das alles hier nicht mehr miterleben musste, auch wenn er mir unsagbar fehlte.

Wir hatten jedes Wochenende miteinander telefoniert, und selbst als er tot war, hatte ich wie besessen auf mein Telefon gestarrt, um keinen Anruf zu verpassen. Das war so lange gegangen, bis Phil mir das Handy weggenommen und mich dazu gezwungen hatte, etwas mit ihm zu unternehmen.

„Nun gut, wir sollten weitermachen, denn ich habe in ein paar Minuten den nächsten Termin“, sagte Herr Svenson und sah mich entschuldigend an.

Mir war alles recht.

Ich wollte nur so schnell wie möglich in die Sicherheit meines Bettes zurück und das hier vergessen. Dies als faden Widerhall einer Schreckensnachricht abtun und mich verkriechen.

Herr Kent und ich signalisierten nickend unser Einverständnis.

„Meiner wundervollen Tochter vermache ich meine gesamten Ersparnisse.“

Herr Svenson machte eine kurze Pause und raschelte mit den Unterlagen, während ich verwirrt nachdachte. Das Geld auf Vaters Konto hatte gerade für die Beerdigung gereicht. Mehr war nicht drauf gewesen. Von welchen Ersparnissen sprach er?

Das Rascheln wurde lauter und der Blick des Anwalts gehetzter. Neben mir blieb Herr Kent auffällig ruhig, und ich versuchte, etwas von dieser inneren Ruhe zu übernehmen. Aber es gelang mir kaum.

„Einen Moment bitte, ich suche den Zettel mit den finanziellen Daten. Ah, da ist er ja.“ Herr Svenson zog triumphierend ein Blatt aus dem Stapel, das sich optisch nicht im Geringsten von den anderen unterschied. „Es handelt sich hierbei um die Summe von 47.348 Euro.“

Die Worte hallten in mir nach, und es dauerte, bis ich endlich die Bedeutung verstand. Es fühlte sich an, als wäre eine Münze in einen tiefen Brunnen gefallen, und erst der Aufprall verriet, dass sich in der Dunkelheit des Schachtes Wasser befand.

„Was? Das muss ein Irrtum sein. Mein Vater hat nie über viel Geld verfügt“, wandte ich ein.

„Ich versichere Ihnen, dass die Summe stimmt. Er hat Geld zur Seite gelegt, um ein finanzielles Polster für Sie zu haben. Außerdem sind wir sehr gründlich, wenn es darum geht, die monetären Ressourcen unserer Mandanten ausfindig zu machen.“ Herr Svenson lächelte mich an, doch es lag keine Wärme darin. Er hatte diese Aufgabe nicht aus Nächstenliebe übernommen, sondern um seinen Anteil am Geld zu sichern.

Die Gedanken überschlugen sich. Wie hatte mein Vater es geschafft, so ein Vermögen beiseitezulegen? Ich war froh gewesen, dass sein Geld für die Beerdigung gereicht hatte, und jetzt gab es so viel mehr. Das war nicht möglich.

Aber was, wenn es wahr wäre? Dann könnte ich die Schulden bezahlen und mich die nächsten Jahre auf das Studium konzentrieren. Dieser unverhoffte Geldsegen würde mir zumindest die finanzielle Last von den Schultern nehmen.

Vollkommen in Gedanken versunken hatte ich den Worten von Herrn Svenson keine Beachtung mehr geschenkt.

„Es bleibt also Ihnen überlassen, ob Sie das Erbe annehmen“, beendete er soeben seine Aussage.

Bildete ich es mir nur ein oder hatte sich Herr Kent mit den letzten Worten versteift? Da war kein Anzeichen mehr von irgendeiner Gelassenheit. Ich konnte förmlich seinen Blick auf mir spüren. Jetzt musste ich einmal nachfragen, was genau ich verpasst hatte.

Ich räusperte mich.

„Verzeihung, ich war etwas in Gedanken. Könnten Sie den letzten Teil wiederholen?“, überwand ich mich.

Herr Svenson hob verwundert eine Augenbraue, aber setzte dann schnell wieder seine professionelle Maske auf. Dass ihm jemand nicht die volle Aufmerksamkeit schenkte, hatte ihn aus der Bahn geworfen. „Selbstverständlich.“ Er richtete seinen Blick erneut auf das Testament meines Vaters. Die Worte, die er in den letzten Wochen seines Lebens zu Papier gebracht hatte, wirkten so surreal.

„Bianca, ich weiß, hinter dir liegen ein paar schwere Monate, und das Geld wird dir mit Sicherheit weiterhelfen, jetzt wo ich es nicht mehr kann.“

Ich unterdrückte ein Schluchzen und klammerte mich an die Sitzfläche des Stuhles wie eine Ertrinkende an ein Stück Holz.

„Als ich zwanzig Jahre alt war, habe ich meine Sachen gepackt und bin den Camino del Norte an der Nordküste Spaniens entlanggewandert. Die Reise hat aus mir den Menschen gemacht, der ich war. Dieses Erlebnis wünsche ich mir für dich, und daher wird dir das Geld nur überwiesen, wenn du diesen Pfad wanderst. Um dich voll und ganz auf dich und deine Umgebung zu konzentrieren, müssen alle elektronischen und finanziellen Hilfsmittel zu Hause bleiben.

Sieh es als Geschenk und nicht als Bürde an, mein Stern. Sofern du dich dazu bereiterklärst, wird Jasper dich begleiten. Er wird darauf achten, dass du dich an die Regeln hältst und keine Abkürzung zum Ziel nimmst.

Es gibt so viele Dinge, die ich dir noch gerne gezeigt hätte. Allerdings hat das Universum wohl andere Pläne für mich. Es ist schwer, dass du ab jetzt ohne mich leben musst. Sieh es mir daher nach, dass ich noch eine letzte Lektion für dich bereithalte. Welche das ist, wirst du am Ende des Camino del Norte erfahren.

Ich liebe dich über alles.“

Die Minuten vergingen, während ich erneut mit den Tränen kämpfte. Als die Trauer langsam von der Erkenntnis verdrängt wurde, dass er mich darum bat, in Spanien umherzuwandern, schnellte mein Kopf zwischen den zwei Männern hin und her. Beinahe hätte ich dieselbe Frage wie Mutter gestellt, nämlich ob das ein Scherz sein sollte. Doch die versteinerten Mienen verrieten mir, dass es sich um keinen Irrtum handelte.

„Darf ich das Testament mal sehen?“, fragte ich nach und wusste selbst nicht, was ich zu finden hoffte.

Wortlos reichte mir der Anwalt das Schreiben.

Ich überflog die Zeilen und blieb am letzten Teil hängen, in dem es um die Bedingungen für das Erbe ging. Immer wieder las ich die Sätze, konnte mir aber keinen Reim darauf machen.

„Warum sollen ausgerechnet Sie mich begleiten?“, fragte ich Herrn Kent.

„Weil Ihr Vater mir vertraut hat und wusste, dass ich im Zweifelsfall auf Sie achtgeben würde.“ Er hatte einen leicht britischen Akzent, der jedem seiner Worte einen melodischen Klang gab. Unter anderen Umständen wäre ich von diesem schönen Mann fasziniert gewesen, aber dies war weder der passende Zeitpunkt noch der richtige Ort, um sich solchen Fantasien hinzugeben.

„Und warum haben Sie in diese irrsinnige Idee eingewilligt?“, hakte ich nach.

„Ich habe zusammen mit Ihrem Vater in einem Tierschutzverein gearbeitet. Er hat mir durch eine schwierige Phase geholfen und ich bin froh, dass ich nun die Schuld begleichen kann.“

Offenheit hatte der Kerl ja drauf. Dieser Tag wurde mit jeder Minute verrückter.

„Nur damit ich das richtig verstehe. Ich erhalte das Erbe nur dann, wenn ich ohne Geld und elektronische Geräte diese vorgegebene Route in Spanien entlanglaufe? In Begleitung von einem fremden Mann?“ Ich deutete mit dem Finger auf Herrn Kent. „Das ist doch Irrsinn“, fasste ich die Ereignisse des Tages zusammen.

„Frau Wolff, es steht Ihnen frei, das Erbe auszuschlagen. In diesem Fall tritt ein anderer Verwendungszweck in Kraft.“

Die Sachlichkeit des Anwalts trieb mich in den Wahnsinn.

„Und welcher?“

„Das Geld geht dann an die Tierschutzorganisation, für die ich arbeite“, mischte sich Herr Kent ein.

„Darum sind Sie also wirklich hier.“ Ich schaute ihn direkt an und wusste nicht, was ich empfinden sollte. Konnte man sich von einem Fremden betrogen fühlen?

„Josef war mein Freund. Ich versichere, dass ich nur aus diesem Grund hier bin.“

Ich musterte das kantige Gesicht auf der Suche nach einer Lüge, konnte aber nichts erkennen.

Es machte keinen Unterschied.

„Wenn ich diese Reise ablehne, geht das Geld automatisch an die Organisation. Und was passiert, wenn ich die Strecke laufe und mich dazu entschließe, umzukehren oder ein Telefon zu benutzen?“

„Dann kommt das Geld ebenfalls dem Tierschutz zugute“, beantwortete Herr Svenson die Frage.

„Er“, ich deutete mit dem Finger erneut auf Herrn Kent, „soll mich beaufsichtigen, obwohl er der Nutznießer meines Scheiterns wäre? Er kann diese Angelegenheit doch unmöglich neutral betrachten.“

„Ich versichere Ihnen, dass ich das kann. Schließlich hat mir Josef genug vertraut, um mir diese Aufgabe zu übertragen. Da ist es wohl nicht zu viel verlangt, wenn Sie es auch tun.“

Jetzt wurde mir der Kerl langsam unsympathisch.

Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Herr Svenson mischte sich ein.

„Sie müssen sich nicht sofort entscheiden. Ihr Vater hat Ihnen eine Woche Bedenkzeit eingeräumt.“

Ich nickte mechanisch, war aber unfähig, etwas zu sagen.

„Nun gut, sofern es keine weiteren Fragen gibt, würde ich die Testamentseröffnung damit beenden.“

Herr Svenson schaute zwischen mir und Herrn Kent hin und her, und als keiner von uns Einspruch erhob, nickte er schließlich.

„Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag und erwarte in spätestens einer Woche Ihre Antwort.“

Mit diesen Worten entließ er uns.

4. KAPITEL

BIANCA

„Du musst das machen!“ Kates sonst so leise Stimme war über die Musik der Bar hinweg zu hören.

Soeben hatte ich meinen Freunden von den Ereignissen bei der Testamentseröffnung erzählt. Ich hatte bewusst gewartet, bis wir zu dritt waren, um nicht alles doppelt erzählen zu müssen, auch wenn Kate vehement versucht hatte, mir vorher Informationen zu entlocken.

Im Laufe der Erzählung konnte ich in ihren Gesichtern das Wechselbad der Gefühle erkennen, das während der ganzen Sitzung bei Herrn Svenson auch in mir getobt hatte. Trauer, Freude, Verwirrtheit, Fassungslosigkeit gaben sich dabei die Klinke in die Hand.

„Das kann ich nicht.“ Meine Stimme war nur ein Flüstern, und ich sank erschöpft in dem weichen Sessel zurück. Die Anspannung der letzten Stunden verließ langsam meinen Körper.

„Was heißt hier, du kannst das nicht? Wenn jemand diese Route entlangläuft, dann ja wohl du“, warf Phil ein, dessen Miene grimmige Entschlossenheit zeigte.

„Ich kann doch nicht mit einem wildfremden Kerl quer durch Nordspanien wandern gehen“, begründete ich. Zwar hatte ich Respekt vor der körperlichen Anstrengung, war mir aber sicher, dass diese das geringste Problem wäre. Mein Vater hatte mich oft genug zum Zelten mitgenommen, sodass diese Art des Reisens mich nicht abschreckte.

„Okay, okay.“ Phil hob beschwichtigend beide Hände. „Versuchen wir mal, alles rational zu betrachten. Du brauchst dringend Geld, und das wäre eine schnelle Methode, um dieses Ziel zu erreichen.“

Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch er fuhr unbeirrt fort:

„Dein Vater hat diesem Jasper vertraut, sonst hätte er ihn wohl kaum darum gebeten, auf dich achtzugeben. Du musst es wenigstens versuchen, und vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm, wie du es dir ausmalst.“

Phils Worte sollten mich aufbauen, aber das schaffte momentan nicht einmal er.

„Dieser Kerl braucht nur irgendwas erzählen, sodass ich das Erbe nicht erhalte. Meine Aussage steht dann gegen seine, allerdings werden seine Worte mehr gewichtet. Es kann mir niemand garantieren, dass es dabei fair zugeht.“

„Denkst du, dein Vater hätte jemanden damit beauftragt, der derart hinterhältig wäre?“, fragte mein bester Freund.

„Ich habe keine Ahnung, was genau ich glauben soll. Er hat mir nichts von dem Geld erzählt, geschweige denn von diesem Mann, mit dem er so eng befreundet war.“ Ich atmete tief ein und aus, konnte jedoch meinen rasenden Herzschlag nicht beruhigen.

„Sieh es doch einmal so: Was hast du zu verlieren? Du siehst etwas von der Welt, und wenn man deiner Beschreibung glauben darf, auch noch in gut aussehender Begleitung.“ Kate zwinkerte mir zu. Irgendwie schien sie meine Bedenken nicht allzu ernst zu nehmen.

„Warum spielt es eine Rolle, ob er gut aussieht?“

„Stell dir doch mal eine stürmische Nacht vor. Ihr seid vom Regen vollkommen durchnässt, sodass die Kleidung eng an euren frierenden Körpern klebt. Ihr könnt kein Feuer entzünden und müsst euch daher ausziehen, um euch warm zu halten“, malte Phil aus.

„Ab sofort verbiete ich dir, jedwede Art von schnulziger Liebesgeschichte zu lesen, zu sehen oder zu hören. Dein Bedarf an kitschigen Szenen ist eindeutig mehr als gedeckt, wenn du solche Fantasien entwickelst. Und um eins klarzustellen, sein Aussehen ist absolut nebensächlich, wenn sich herausstellt, dass er ein Axtmörder ist“, protestierte ich.

„Wenn du kein Handy auf dem Weg benutzen darfst, dann erfahren wir eben durch die Nachrichten, was dir zugestoßen ist“, entgegnete Phil achselzuckend.

„Bei solchen Freunden ist ein Axtmörder wirklich mein geringstes Problem.“ Ich schüttelte abwehrend den Kopf, denn diese ganze Diskussion war absurd. Eine Sache musste ich aber zugeben: Ich hatte nichts mehr zu verlieren, und das Geld würde einige Probleme lösen.

Innerlich verfluchte ich die Rationalität der beiden.

„Was darf es denn sein?“

Eine Kellnerin, die heute Abend allein alle Gäste bediente, war an unseren Tisch herangetreten. Mit ihrer dunklen Kleidung passte sie perfekt zum Flair der Bar, deren gedämpftes Licht eine Wohltat für die Augen war.

„Eine Runde Cuba Libre für meine Mädels und mich“, verkündete Phil schnell, bevor eine von uns etwas anderes sagen konnte.

„Alles klar. Bin gleich wieder da.“

Ich wollte die Bestellung umändern, da mir ein Cocktail lieber gewesen wäre, aber die Dame war bereits außer Hörweite.

Ein genervtes Schnauben meinerseits war der Dank für Phils gemeinschaftliche Getränkebestellung. Mit Zeige- und Mittelfinger massierte ich meine pulsierenden Schläfen, die Kopfschmerzen wurden mit jeder vergangenen Stunde stärker.

Kate und Phil unterhielten sich angeregt über die Typen, die drei Tische weiter saßen. Kate wickelte eine ihrer honigblonden Haarsträhnen um den Zeigefinger und wiederholte diesen Prozess immer wieder. Ich kannte das Verhalten nur allzu gut. Sie hatte einen der Männer in die engere Auswahl gezogen.

Phil hingegen hatte seine Aufmerksamkeit auf das Handy in seiner linken Hand gelenkt. Ein verträumtes Lächeln umspielte seine Lippen. Wenn ich hätte raten müssen, dann wäre ich davon ausgegangen, dass der Grund Mark hieß und ihr Treffen harmonisch verlaufen war.

Mein Blick schweifte über alte Bandposter von Sängern, die hier vor Jahren aufgetreten waren. Die Bar hatte eine dreißigjährige Geschichte hinter sich. Zudem lockte sie die ortsansässigen Studenten mit einer Auswahl an günstigen alkoholischen Getränken. Das war zumindest unser Hauptgrund, uns hier alle zwei Wochen zu treffen.

„Können wir bitte ins Wohnheim gehen? Ich bin seit achtzehn Stunden wach und sollte wenigstens versuchen zu schlafen“, sagte ich und hoffte auf etwas Mitgefühl.

„Wir können gehen, wenn unsere Getränke geleert sind und du dich entschieden hast“, warf Kate ein und funkelte mich herausfordernd an. Phil nickte zustimmend. Manchmal machten es mir die beiden äußerst schwer, sie gerne zu haben.

„Ist das dein Ernst?“, fragte ich ungläubig.

„Bi, ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du diese Entscheidung bis zur letzten Minute aufschieben und dann ein emotionales Wrack sein wirst. Also erspare dir diese Zeit und entscheide dich jetzt.“

Ich knirschte mit den Zähnen und trommelte mit den Fingern auf die hölzerne Tischplatte. Wie ich es hasste, wenn sie den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf traf. In zwei Sätzen hatte sie präzise mein Verhalten wiedergegeben. Das war einer der Nachteile, wenn man Menschen zu dicht an sich heranließ. Irgendwann kannten sie einen besser, als einem lieb war.

Vor mir wurde ein Glas mit einer dunklen Flüssigkeit und zwei Eiswürfeln darin abgestellt. Unsere Getränke waren angekommen, und entgegen jedweder Vernunft kippte ich den Drink in einem Zug hinunter. Der Alkohol rann meine Kehle hinab und verbreitete eine wohlige Wärme in mir, die die Kälte der Müdigkeit vertrieb. Ich wurde dadurch zwar nicht wacher, aber meine schlechte Laune grollte etwas leiser.

Das war zumindest schon mal ein Anfang.

Meine Gedanken kreisten wie ein unaufhaltsames Karussell um meinen Vater. Zu gerne hätte ich ihn gefragt, was er sich dabei gedacht hatte, seine Tochter auf eine Hunderte Kilometer lange Tour zu schicken, noch dazu mit einem Fremden.

Es musste einen triftigen Grund dafür geben, und die Erklärungen im Testament klangen im Nachhinein zu vage.

„Glaubt ihr, ich schaffe das?“ Ich blickte in das geleerte Glas und verspürte den Wunsch, mir etwas mehr Mut anzutrinken.

Eine Hand legte sich auf meinen linken Arm. Zögerlich schaute ich in Kates azurblaue Augen.

„Wenn es jemand schafft, dann du.“

„Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass du ein Dickkopf bist und es allein deswegen schon schaffen wirst“, ergänzte Phil. Das schiefe Lächeln unterstrich seine Worte.

„Wenn ich es schaffe, euch zu ertragen, dann ist ein kilometerlanger Marsch quer durch Nordspanien ein Klacks.“

Wir lachten alle und ich hoffte inständig, dass die Unsicherheit in meiner Stimme nur für mich selbst wahrnehmbar war.