Wüstenjuwel – Von Göttern gekrönt - Ulrike Koch - E-Book

Wüstenjuwel – Von Göttern gekrönt E-Book

Ulrike Koch

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Beschreibung

Vom Tod geküsst, von den Göttern gezeichnet: Eine mitreißende ägyptische Romantasy für Fans von Laura Kneidl und Sarah J. Maas  »Manchmal frage ich mich, ob wir uns deswegen hassen. Jeder von uns erinnert den anderen daran, was wir verloren haben.«  Vor langer Zeit gab es einen verheerenden Krieg unter den ägyptischen Göttern, der die Menschheit fast zerstört hätte. Seitdem fordern sie jedes Jahr acht Menschen als Gegenleistung für deren Rettung. Als die junge Kija auserwählt wird, versucht sie, sich auf ihr ungewisses Schicksal vorzubereiten, denn niemand weiß, was mit den Tributen geschieht. Doch dann nimmt ihr Zwillingsbruder Amoun unbemerkt ihren Platz ein. Um ihn zu retten, folgt Kija heimlich dem Tross und gelangt so nach Hermopolis, der sagenumwobenen Stadt der Götter. Als sie aufgegriffen wird, erwartet sie, dort ihr Leben zu verlieren, doch Anubis – der Gott des Todes – hat andere Pläne mit ihr ... 

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Dieses Werk wurde vermittelt von der Arrowsmith Agency.

Redaktion: Cornelia Franke

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Giessel Design

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Triggerwarnung

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

Epilog

Danksagung

Erklärung zur Triggerwarnung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für meine Kinder,

ich hoffe, ihr findet den Mut, eure eigenen Träume zu verwirklichen.

Triggerwarnung

Liebe Leser*innen,

im Buch wird das Thema Tod thematisiert. Am Ende des Buches gibt es eine explizite Erklärung, welche Spoiler enthält. Diese dient dazu, die potenziell triggernden Inhalte besser zu erfassen.

Alles LiebeUlli

Lange Zeit, bevor es weder Licht noch Dunkelheit in der Welt gab, betraten vier Götterpaare die Erde und formten sie nach ihren Vorstellungen.

Kuk und Kauket schenkten der Welt den eisigen Kuss der Finsternis, auf dass die immerwährende Dunkelheit ihr Frieden und Ruhe brachte.

Nun und Naunet weinten bittere Tränen im Angesicht der Schwärze, die in dieser neuen Welt herrschte. Aus ihnen entstanden die ersten Seen und Flüsse, tief und unergründlich, bis die Erde von einem sanften Blau überzogen war.

Doch das Wasser fühlte sich einsam und so erschuf das zweite Götterpaar den Mond. In einem immerwährenden Tanz umkreist dieser die Erde, während die Gezeiten sich seinem Willen beugen.

Umgeben von der Finsternis und dem Rauschen des Meeres, froren Heh und Hauhet schrecklich. Sie schmiegten sich aneinander, aber die Kälte war allgegenwärtig, sodass die Götter eine Kugel formten, die der Erde eine nie enden wollende Wärme schenkt.

Jetzt waren sie fähig, sich ihren neuen Aufgaben zu widmen und im Schutz der Nacht Erholung in den Träumen zu finden.

Aber die Welt kam ihnen still und leer vor, also bliesen Amun und Amaunet den Atem des Lebens über die Erde und zogen aus den Tiefen der Meere die Kontinente an die Oberfläche.

Die Welt war nicht länger ruhig, sondern pulsierte voller Leben.

Als die Götter ihre Arbeit beendet hatten, übergaben sie die Erde in die Obhut ihrer Kinder und Kindeskinder.

Die Menschen des Alten Ägyptens liebten und verehrten die Unsterblichen. Tempel wurden ihnen zu Ehren errichtet und rauschende Feste gefeiert. Die Sterblichen fühlten sich sicher und geborgen. Sie nahmen ihr Schicksal dankend an und zweifelten keinen Augenblick an der Allwissenheit der Götter.

Doch es liegt in der Natur des Menschen, Dinge zu vergessen, und so erging es auch den Göttern.

Im Laufe der Jahrtausende verfielen die Tempel und Kultstätten. Die Stimmen der Gläubigen verloren mit jedem Jahr an Kraft, bis sie schließlich ganz verstummten.

Osiris und Seth stritten darum, wie es mit den Menschen weitergehen sollte. Aus anfänglichen Wortgefechten wurde ein erbitterter Kampf, den nur Seth und drei andere Götter überlebten. Doch statt ihn bei seinem Rachefeldzug zu unterstützen, stellten sie sich gegen den dunklen Gott.

Sie hatten Mitleid mit den Sterblichen und schöpften neue Hoffnung beim Anblick einer friedlichen Zukunft.

Bes, Shai und Anubis kämpften an der Seite der Menschen gegen Seth und schafften es, ihn in einen Sarkophag einzusperren. Dieses steinerne Gefängnis verschlossen sie tief im Herzen von Hermopolis, der Stadt der Acht, welche sich hinter einem Schleier vor der Menschenwelt verbarg.

Sollte Seth sich jemals befreien, dann wird er sein Werk fortsetzen und den Untergang der Erde einläuten.

Gegen das Vergessen und als Mahnung fordern die verbliebenen Götter in jedem Jahr acht Menschen als Tribut. Ein Sterblicher steht für einen der Schöpfergötter von Hermopolis und wird per Zufall ausgewählt.

Welches Schicksal sie erwartet, weiß niemand, denn wer von den Göttern berufen wird, kehrt niemals zurück.

1. Kapitel

Kija

Immer wieder las ich die kunstvoll geschriebenen Zeilen, bis die Information in den entlegensten Winkel meines Verstandes vorgedrungen war.

Man hatte mich auserwählt.

Mich.

Ich war eine von acht.

Seit dem Krieg gab es zwar nur eine halbe Million Menschen auf der Welt, und doch hatte ein Gott meinen Namen gezogen, mit nachtschwarzer Tinte den Brief geschrieben und ihn zu mir gebracht. Nach einem schrecklichen Alptraum, der genau dieses Ereignis prophezeit hatte, war ich schweißgebadet am Morgen erwacht. Auf dem Nachttisch hatte sich der Umschlag befunden.

Der Gedanke, dass jemand mühelos in unser Haus gelangen konnte und sich wie ein Schatten bewegte, war nicht halb so erschreckend wie die Nachricht, die die Person zurückgelassen hatte.

Ungewollt zitterten meine Finger, dann folgte der gesamte Körper. Der goldene Brief verschwamm zu einem konturlosen Fleck, der das Ende meines Lebens markierte. Kälte kroch an den Zehenspitzen empor, wie eine Spinne, die sich nicht abschütteln ließ.

»Ist alles in Ordnung?«, erklang die Stimme von Amoun, meinem Zwillingsbruder, hinter mir.

Ich spannte die Muskeln an, damit er mein Zittern nicht bemerkte, und versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken. Amoun durfte auf keinen Fall erfahren, dass sie mich dieses Jahr holten. Je weniger er wusste, desto besser. Mir blieb ein Tag, um mich zu verabschieden, und den sollte ich nicht mit Trauer verschwenden. Ich schluckte meine Gefühle herunter und rang mich dazu durch, hoffentlich normal zu wirken.

»Kija?« Besorgnis schwang in seiner Stimme mit. Vermutlich spürte Amoun, dass ich durch einen Alptraum hochgeschreckt war.

Obwohl ich ihm den Rücken zugewandt hatte, bemerkte ich, dass er sich meinem Bett näherte. Mit einer raschen Handbewegung ließ ich den Brief in der Tasche meiner Schlafhose verschwinden und wischte die Tränen fort.

Schließlich setzte ich ein selbstsicheres Lächeln auf und schaute ihm in die grünen Augen, welche ein Spiegelbild meiner eigenen waren.

»Mir geht’s gut, Mou.«

Mou. Er hasste es, wenn ich seinen Namen auf diese Weise verunstaltete. Das leichte Beben seiner Nasenflügel verriet mir, dass sein Unmut ihn blind machte für meine geschwollenen Augen. Zum Glück.

»Schön.« Er schnaubte. Dennoch hielt er mir die Hand hin, sodass ich mich daran hochzog. »Dein gruseliger Freund steht vor der Tür. Sei froh, dass er mir über den Weg gelaufen ist und nicht Mama.«

Amoun verdrehte die Augen, um seine Ablehnung zu unterstreichen. Unnötig, aber äußerst wirkungsvoll. Als ich nicht auf die Aussage einging, verschwand er aus meinem Zimmer. Ich atmete einmal tief ein und aus und versuchte, die kommenden Ereignisse zu verdrängen.

Mechanisch setzte ich einen Fuß vor den anderen und ging die Stufen zu unserer Eingangstür hinunter. Das Ächzen der Holzdielen, die mich schon oft verraten hatten, wenn ich mich wegschleichen wollte, nahm ich kaum wahr. Alles fühlte sich dumpf an, als würde ich durch eine milchige Glasscheibe in ein Haus schauen. Ich erkannte verschwommene Bilder, aber nicht, was sich genau dahinter verbarg.

Langsam erreichte ich das Ende der Treppe und sah ihn im Türrahmen stehen.

Ein Gesicht mit ockerfarbenen Augen, vollen Lippen, die von einer kleinen Narbe durchzogen waren, und rabenschwarze Haare, welche in alle Richtungen wild abstanden.

Marik.

Sofort rannte ich die Treppe hinunter und warf mich in seine Arme. Die Wärme seines Körpers beruhigte augenblicklich mein aufgewühltes Gemüt.

»Warum so stürmisch?«

Ich konnte das Lächeln in seiner tiefen Stimme hören und liebte es, wie sich seine Nähe anfühlte. Seit einem Monat waren wir zusammen und auch wenn meine Eltern und Amoun es ungern sahen, genoss ich jeden Augenblick mit Marik. Es war nicht so, dass sie etwas gegen ihn hatten, aber sie mussten sich erst eingestehen, dass ich kein kleines Mädchen mehr war.

Dank des Briefs der Götter würden sie sich nicht mehr daran gewöhnen müssen.

Doch in diesem Moment gab es nur mich und Marik. Ich wollte jede Minute begierig aufsaugen und tief in meinen Erinnerungen versiegeln. Das konnte mir kein Gott nehmen.

»Ich freue mich einfach, dich zu sehen«, log ich und erschrak darüber, wie leicht mir das fiel. Aber die normalen Regeln, wie den Liebsten stets die Wahrheit zu sagen, galten nicht mehr für mich.

»Da steckt doch mehr dahinter.« Er löste die Umarmung und nahm mein Gesicht in seine Hände, die schwielig von der Arbeit in der Tischlerei waren. Augen, welche die Farbe von dunklem Bernstein hatten, musterten mich neugierig und ich betete, dass man mir den Schmerz nicht ansah.

Mit einem aufgesetzten Lachen entwand ich mich seinem Griff und ging einen Schritt zurück.

»Es ist wirklich alles gut.«

Lügnerin.

»Also schön«, antwortete er gedehnt.

»Wie komm ich denn zu der Ehre?«, fragte ich und hoffte, dass er auf die Ablenkung einging.

»Ich war gerade in der Nähe und dachte, ich überrasche dich mit einem Besuch.«

Er zwinkerte mir verschwörerisch zu, was etwas von dem Jungen erkennen ließ, der anderen früher gerne Streiche gespielt hatte.

»Das ist wirklich süß. Blöd nur, dass du ausgerechnet in die Arme meines Bruders gelaufen bist.«

Marik winkte ab, als würde es ihn nicht stören.

»Ach was, Amoun hat mich längst ins Herz geschlossen.«

Er sagte das so, als müsste er sich selbst davon überzeugen.

»Das hättest du wohl gerne«, tönte es von der Treppe und Amoun bewegte sich mit der tödlichen Eleganz einer Raubkatze herunter. Seine grünen Augen waren auf Marik fixiert und anhand des angespannten Kiefers war seine Ablehnung für jeden sichtbar.

»Hi, Amoun.« Mariks Stimme war freundlich, dennoch rückte er näher an mich heran, als hätte er Angst, dass Amoun uns voneinander trennen würde.

»Kija, Vater kommt bald von der Arbeit zurück und Mutter hat dich doch gebeten, dass du dich um ihre gerissene Tunika kümmerst. Also solltet ihr euch lieber für einen anderen Tag verabreden.«

Den würde es für mich nicht mehr geben. Mir blieben nur die nächsten Stunden.

»Ist gut«, antwortete ich stattdessen, um ihn loszuwerden. Nachdem Amoun im hinteren Teil des Hauses verschwunden war, griff ich in Mariks waldgrünes Hemd, zog ihn zu mir und küsste ihn mit all der Liebe, die ich empfand. Seine weichen Lippen fühlten sich so gut an, dass ich in diesem Gefühl versank.

Ich wollte nichts anderes mehr spüren. Liebe, Sehnsucht, Leidenschaft und Verlangen verdrängten für einen bittersüßen Moment all den Schmerz. Doch dann löste er sich schwer atmend von mir.

»Ich muss leider los, aber wir machen heute Abend da weiter, wo wir aufgehört haben.«

Er lächelte mich vielsagend an. Zustimmend nickte ich und war unfähig, etwas zu sagen. Zu groß war die Angst, dass nur ein Schluchzen meinen Mund verlassen würde. Ich versuchte, mir jedes Detail seines Gesichts einzuprägen. Angefangen von den struppigen Haaren, über die ungewöhnlichen Augen und die Sommersprossen auf seiner geraden Nase, bis hin zu den unvollkommenen Lippen und einem leichten Dreitagebart.

Er gab mir einen Kuss auf die Wange und mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.

Für einen winzigen Moment wollte ich ihn bitten, zu bleiben, aber dann würde Marik bemerken, dass irgendetwas nicht stimmte. Wir trafen uns selten tagsüber.

Ich schaute ihm nach, als er zwischen den Häusern unseres kleinen Dorfes verschwand und zählte die Stunden, bis ich ihn wiedersehen konnte.

2. Kapitel

Amoun

Wenn dieses riesige Arschloch Kija einen Moment länger angefasst hätte, dann bräuchte ich einen Eimer, um darin meinen Mageninhalt zu entleeren. Marik erinnerte mich an einen Blutegel. Wenn er sich einmal eine Frau ausgesucht hatte, wurde man ihn nur schwer wieder los.

Nachdem er sich im Dorf von einer Dame zur nächsten gehangelt hatte, musste er auf kurz oder lang bei Kija landen. Natürlich konnte der Kerl machen, was er wollte, aber ich kannte meine Schwester gut genug, um zu wissen, dass sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Tja und der Gedanke, dass er mit ihr spielte, ließ mir keine Ruhe.

Unsere Eltern hatten zwar meine Befürchtungen gegenüber Marik mit einem Lächeln abgetan, dennoch war ich froh, dass sie ihn misstrauisch beäugten und Kija nie lang mit ihm allein ließen.

Ich zündete ein paar Kerzen an und schaute den kleinen Flammen dabei zu, wie sie um den Docht tanzten. Ein Kindheitsfreund unseres Vaters züchtete Bienen und ließ uns hin und wieder Honig und Kerzen aus Bienenwachs zukommen. Dafür ging ich ihm und seinen Söhnen bei schweren handwerklichen Arbeiten zur Hilfe.

Schon seit früher Kindheit mussten wir zu Hause und auf dem Feld mit anpacken, während die Schulzeit dafür kürzer ausfiel. Es spielte keine Rolle, ob man gut lesen und schreiben konnte, wenn es zu Hause nichts zu essen gab.

Von dem Reichtum, der in den weitgehend vom Krieg verschonten Städten herrschte, waren wir weit entfernt.

Ich setzte mich in einen der abgewetzten Sessel, die wir schon seit meiner Kindheit besaßen, und betrachtete die Wand mit den Zeichnungen. Überall hingen Bleistiftskizzen und ergaben ein unvergleichliches Muster aus Schwarz und Weiß. Im Schein der Kerzen wirkten sie fast lebendig.

Meine Hände griffen nach dem Zeichenblock aus Papyrus und einem Stift, die unter dem Sessel lagen. Vater hatte aus einem großen Kohlestück mehrere Stifte für mich geformt, sodass ich immer genug Material zur Verfügung hatte. Ich wollte das Familienporträt beenden, bevor ich zu meiner Reise aufbrach.

Zwischen meinen Fingern spürte ich die vertraute Haptik der Kohle und versank in der Welt aus feingliedrigen Strichen.

»Was hast du eigentlich für ein Problem, Mou?«

Innerlich zuckte ich zusammen, als meine Schwester mich so nannte, aber kein Strich wich von seinem vorbestimmten Weg ab. Ich musste Kija nicht ansehen, um zu wissen, dass ihre Nasenlöcher vor Zorn bebten. Eine Eigenart, die wir miteinander teilten.

»Mir gefällt die Schleimspur nicht, die er in unserem Haus hinterlässt.« Das war etwas drastisch, aber verflucht noch mal, der Kerl trieb mich in den Wahnsinn!

»Du führst dich auf wie ein Kind.«

Sie entriss mir das Zeichenpapier und näherte sich langsam der brennenden Kerze. Auf ihren dunkelbraunen Haaren tanzte das Licht der Flammen, und verwandelte sie so in das Abbild einer Rachegöttin.

»Lass das.« Meine Zähne schmerzten, als ich sie fest aufeinanderpresste, um die Schimpfwörter zu unterdrücken, die ich ihr gern an den Kopf geworfen hätte.

Es gab wenige Dinge, die mir so wichtig waren wie meine Kunst. Selbst als wir kein Papier hatten, malte ich Bilder in den Sand oder ritzte mit einem Stein Figuren und Tiere in weichen Lehm. Kija wusste, wie viel mir jede dieser Zeichnungen bedeutete.

»Was meinst du?«, fragte sie mit einem Lächeln auf den Lippen und legte den Kopf leicht schräg, als wüsste sie nicht, was sie da tat.

»Hör auf damit«, knurrte ich und stand auf. Langsam hatte ich keine Lust mehr auf dieses Spielchen.

Ich ging einen Schritt auf sie zu und der Papyrus in ihrer Hand näherte sich bedrohlich der kleinen Flamme.

»Wer von uns ist das Kind?«, fragte ich und unterdrückte die Verzweiflung in meiner Stimme. Die Zeichnung hatte mich Stunden gekostet und ich wollte sie auf keinen Fall verlieren.

»Tja, was soll ich sagen? Dein schlechtes Verhalten färbt eben ab«, konterte sie schulterzuckend. Die Leichtigkeit in ihrer Stimme machte mich wütender, als ich es jemals zugeben würde.

»Du bist mich ja bald los.«

Ich spielte auf meinen Auszug an, der in zwei Wochen stattfinden würde. Während sich Kija für eine Lehre bei einer Schneiderin hier im Dorf entschieden hatte, wollte ich umherziehen und meine Dienste in verschiedenen Landstrichen anbieten. Fünfzig Jahre nach dem Krieg gegen Seth war zwar einiges wieder erbaut worden, dennoch konnte jeder eine helfende Hand gebrauchen.

Plötzlich veränderte sich etwas in ihrer Haltung. Der eben noch amüsierte Ausdruck auf Kijas Gesicht verschwand und sie wich meinem Blick aus. Sofort überkam mich das schlechte Gewissen. Dabei wollte ich sie nur necken und nicht ernsthaft traurig stimmen.

»Schwesterherz, es tut mir leid.«

Ich streckte die Hand nach ihr aus, doch sie wich einen Schritt zurück. Schließlich drehte sie sich um und stapfte die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Meine Zeichnung warf sie achtlos zu Boden.

Verdammt.

Sie war sonst nicht so empfindlich. Ich wollte ihr nachrennen, verwarf den Gedanken jedoch. Wenn Kija sauer war, würde es eine Weile dauern, ehe sie wieder mit mir redete. Aber ich wusste, wie man diesen Prozess beschleunigen konnte.

Ich griff nach einer geschnitzten Figur und einem Beutel mit Münzen und verließ das Haus. Dabei lief ich Vater direkt in die Arme, der gerade von seiner Schicht in der Mine wieder kam. Er überragte mich um fast eine Kopflänge.

»Wo willst du denn hin?«, fragte er mit seiner kratzigen Stimme. Sein Gesicht sowie die Kleidung war mit dunklen Schlieren bedeckt. Der Geruch von feuchter Erde haftete an ihm wie ein unsichtbarer Begleiter. Seit ich denken konnte, arbeitete er in der Mine und ich wusste nicht, wie lange er das noch körperlich schaffen würde.

Sein Wunsch war es, dass ich seinem Beispiel folgte, aber ich konnte mir nicht vorstellen, mein Leben in der Dunkelheit zu verbringen und jeden Tag zu schürfen. Stattdessen verspürte ich den Drang, etwas mit meinen eigenen Händen zu erschaffen.

»Ich habe etwas Dummes zu Kija gesagt und versuche, es wiedergutzumachen«, antwortete ich und wollte an Vater vorbeigehen, doch er wich keinen Schritt zurück. Wie ein Bollwerk ragte er vor mir auf.

»Lass mich raten. Es ging um Marik«, riet er und seufzte.

Ehe ich den Mund öffnen konnte, kam er mir zuvor.

»Amoun, deine Schwester ist zwanzig Jahre alt und kann ihre Entscheidungen allein treffen. Du kannst sie nicht ewig vor all den Monstern dieser Welt beschützen.«

Die Härte, die eben in seiner Stimme gelegen hatte, wich der Resignation.

»Das weiß ich«, erwiderte ich, ohne ihn anzusehen. Selbst wenn er recht hatte, wollte ich es mir nicht eingestehen.

Vater ging einen Schritt beiseite und gab damit den Weg frei. Zögerlich lief ich weiter und er rief mir hinterher:

»Dann handle endlich wie ein Mann.«

Ich hörte, wie die Tür ins Schloss fiel. Seine Laune war zum Wegrennen. Wahrscheinlich war etwas auf der Arbeit vorgefallen. Es geschah immer mal wieder, dass die Gänge einstürzten und Menschen dabei umkamen. Er hatte schon einige Freunde auf diese Weise verloren.

Ich seufzte und lief den gepflasterten Weg entlang, während ich es vermied, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was in ihm vorging. Das Leben in einer vom Krieg zerstörten Welt hatte ihn hart gemacht und er gab nur selten seine Gefühle preis.

Als das Rascheln von Flügeln ertönte, hob ich den Blick zum wolkenverhangenen Himmel. Ein dunkler Punkt wurde immer größer, näherte sich schnell. Ein Sphinx. Weitere der geflügelten Mischwesen würden folgen, um die Menschen an die jährliche Auswahl zu erinnern. Einige von ihnen verfügten über menschliche Gesichter, während der restliche Körper dem eines Löwen ähnelte. Doch sie hatten sich über die Jahrtausende weiterentwickelt, sodass manche in der Lage waren zu fliegen, während andere am Boden patrouillierten.

Sphinxe sorgten für die Ordnung in den Siedlungen. Blöd nur, dass diese Wesen keinerlei Sinn für Humor hatten und sich auf jeden stürzten, der die Götter und deren Entscheidungen infrage stellte.

Vater erzählte mir, dass die Sphinxen früher sprechen konnten, aber ich hatte noch nie ein menschliches Wort aus ihrem Mund vernommen.

Ich ging an einigen Häusern unserer Siedlung vorbei, die den Krieg unversehrt überstanden hatten. Es war erstaunlich, wie rasch sich manche Orte erholten, obwohl andere kaum vorankamen. Die wenigen Städte, die sich aus der Asche der Vergangenheit erhoben hatten, wuchsen am schnellsten. Dort gab es fließendes Wasser und Elektrizität, während wir hier froh sein konnten, wenn unsere Häuser den Elementen standhielten. Selbst das war eher eine Ausnahme. Vor allem die Sandstürme bereiteten uns Schwierigkeiten, da auch die Ernte darunter litt.

Je weiter ich ins Zentrum vordrang, desto bunter wurde es. Die Menschen waren damit beschäftigt, farbige Stofffetzen aufzuhängen. Zudem stellten sie kleine Abbilder der Götter in die Nischen ihrer Lehmhäuser, die sie vor Unheil bewahren sollten. Die meisten davon waren aus Holz oder Stein hergestellt. In stundenlanger Arbeit wurden diese Figuren gefertigt und verkauften sich im Moment besonders gut.

Heute war der erste Tag der Epagnomenen, der Geburtstag von Osiris. Es folgten vier weitere Feiertage, die jeweils einem Gott gewidmet waren. In dieser Zeit wurde ausgelassen gegessen, gelacht und getanzt, um zu vergessen, dass am ersten Tag der Epagnomenen acht von uns ausgewählt wurden, um den Göttern als Tribut dargereicht zu werden.

Kinder rannten lachend an mir vorbei und lenkten damit die Aufmerksamkeit auf sich. Eines von ihnen trug eine Schakalsmaske, die Seth in seiner Tiergestalt zeigte, und jagte seine Freunde. Ich musste aufpassen, um nicht von ihnen umgerannt zu werden. Die anderen Bewohner der Siedlung hatten weniger Verständnis für das ausgelassene Spiel. Viele Ältere schrien die Halbwüchsigen an, dass sie woanders spielen sollten. Wie schnell Erwachsene doch vergaßen, wie es war, ein Kind zu sein. Hoffentlich würde ich nie derart verbittert werden.

Gedankenverloren strich ich über die rußgeschwärzten Lehmziegel eines Hauses, dessen Dachstuhl eingestürzt war.

»Wohin des Weges, Fremder?«, hörte ich eine amüsierte Frauenstimme in meinem Rücken. Mit breitem Grinsen drehte ich mich zu Neeth um.

»Wie lange beobachtest du mich schon?«, fragte ich die Frau mit den vollen, roten Lippen. Sie hatte sie mithilfe einer dunkelroten Paste aus zerstoßenem Stein betont.

»Lange genug, um mich über dein finsteres Gesicht lustig zu machen«, entgegnete sie und strich sich eine Strähne ihrer honigblonden Haare aus dem Gesicht.

Neeth war seit Kindertagen meine beste Freundin. Wir konnten dem anderen an der Nasenspitze ansehen, was in ihm vorging.

»Ich habe mich mit Kija gestritten«, erklärte ich und kratzte mich verlegen am Hinterkopf.

»Lass mich raten. Du hast etwas vollkommen Bescheuertes zu ihr gesagt«, schlussfolgerte Neeth.

»Wie kommst du darauf, dass ich schuld bin?«

»Weil du ein Idiot bist.«

»Herzlichen Dank.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Es war typisch für sie, mir die Schuld zu geben. Kija war in Neeths Augen eine Heilige, der man niemals etwas Böses zutrauen konnte.

»Ein liebenswerter Idiot.« Sie gab mir einen Kuss auf die Wange, um mich milde zu stimmen. Ich strich über die Stelle, nur, um dann festzustellen, dass etwas von der roten Farbe zurückgeblieben war.

Beim Anblick des Kindes, das mit der Seth-Maske durch die Straße tobte, verfinsterte sich ihr Gesicht.

Neeth zog mich in die Schatten der Häuserruine, sodass uns niemand sehen konnte. Ihr Geruch nach Rosen stieg mir in die Nase, als sie die Distanz zwischen uns verringerte. Eine willkommene Abwechslung zu dem Gestank, der sich wegen der schlecht funktionierenden Abwasserbeseitigung überall ausbreitete. Im Sommer war der Geruch doppelt so schlimm.

»Sag mal, weißt du, wer dieses Jahr auserwählt wurde?«, flüsterte sie mir ins Ohr. Dabei fiel mir ein Symbol an ihrem Hals auf. Ich erkannte die Hieroglyphe für Gott, die von einem Strich durchkreuzt wurde. Das Zeichen des Widerstandes.

Um ihretwillen hoffte ich, dass es sich um eine Kohlezeichnung handelte, die nicht von Dauer war. Neeth hatte schon immer rebellische Züge gezeigt, aber sich offen gegen die Götter zu stellen, war naiv.

»Nein, aber ich schätze, dich wird niemand freiwillig zu sich holen«, versuchte ich, die Stimmung zu lockern.

Es war leichter, als daran zu denken, dass man ab dem sechzehnten Lebensjahr die nächsten zehn Jahre um sein Überleben bangen musste. Die Götter forderten stets Menschen in dieser Altersspanne. Den Rest von uns ließen sie in Ruhe, weil man entweder zu jung oder zu alt war.

»Wenn doch, dann reiße ich denen ihren göttlichen Allerwertesten auf«, erwiderte sie augenzwinkernd.

»Wir sind aber heute so streitlustig wie Seth«, entgegnete ich und strich mir die dunklen Haare nach hinten. Langsam musste ich sie abschneiden, sie reichten mir schon bis zur Schulter.

»Versuch, ernst zu bleiben«, bat sie. Ich atmete einmal tief ein und aus.

»Nein, ich weiß von niemandem, der ausgewählt wurde. Außerdem ist es locker zwölf Jahre her, dass in unserem Dorf eine der Kutschen vorgefahren ist.«

Ich erinnerte mich noch gut daran, wie die Eltern des jungen Mannes schrien, weinten und schließlich um das Leben ihres einzigen Kindes flehten. Ich schluckte schwer im Angesicht der Geister der Vergangenheit.

»Wir sollten endlich aufhören, ihre Feste zu feiern, als wären sie unsere Erlöser«, zischte meine beste Freundin.

»Neeth, ich will mich wirklich nicht darüber streiten«, entgegnete ich rasch. Sie war ein freiheitsliebender Mensch und der Gedanke, dass jemand sie darin einschränken könnte, war ihr zuwider. Doch egal, in welchen Winkel der Welt man flüchten würde, die Götter finden einen. Diese Erfahrungen mussten schon einige Tribute machen.

Ihre braunen Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. Damit erinnerte sie mich an eine Katze, die man von ihrem Schlafplatz weggejagt hatte.

»Also schön«, lenkte sie ein und wechselte das Thema. »Was wolltest du für Kija holen?«

3. Kapitel

Amoun

Neeth hakte sich bei mir unter, als wir uns wieder in Bewegung setzten und die Ruine verließen.

»Ich wollte Kija einen neuen Kamm holen. Unser Geburtstag ist bald und ich wollte die Entschuldigung mit einem besonderen Geschenk verknüpfen«, sprach ich meine Vorstellung aus.

»Ist das dein Ernst?«

»Ja«, gab ich zögerlich wieder.

»Du bist wirklich schlecht, wenn es darum geht, Geschenke auszusuchen. Ich denke immer noch mit Schrecken an die Stofffetzen, die du mir zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hast.«

»Du hast dich darüber beschwert, dass du dich immer am Topf verbrennst, wenn du ihn vom Feuer nimmst«, verteidigte ich meine frühere Auswahl.

»Ich beschwere mich auch über die kratzige Decke, wenn ich mich nachts hin und her wälze, aber das bedeutet nicht, dass ich eine neue zu meinem Geburtstag will.«

Ich zog einen Schmollmund.

»Untersteh dich!«

Neeth pikste mich leicht in die Seite, was mich zusammenzucken ließ.

»Lass das. Ich bin sensibel«, erwiderte ich und strich über die Stelle, die sie so präzise getroffen hatte.

»Zwing mich doch«, stichelte sie zurück.

Ich hielt Neeth an den Händen fest und die Wärme ihres Körpers ging sofort auf mich über. Ein leichtes Prickeln setzte an den Stellen ein, an denen wir uns berührten. Es war nicht das erste Mal, dass mir der Gedanke kam, wie es wäre, mit ihr zusammen zu sein.

Doch die Angst, unsere Freundschaft zu gefährden, wog immer schwerer als die Neugier.

Neeths Lachen war verstummt, als würde sie spüren, was in mir vorging und mit denselben Gedanken kämpfen. Schließlich ließ ich sie wieder los, um keine unangenehme Spannung aufkommen zu lassen.

»Was schlägst du stattdessen vor?«, fragte ich und versuchte, das Thema wieder auf Kijas Geschenk zu lenken.

»Wie wäre es mit einer Kette?«

»Sollte ihr so etwas nicht ihr Freund schenken?«

»Sag mir nicht, dass dieser Blutegel sich immer noch an deiner Schwester festgesaugt hat.«

Ich liebte es, wenn Neeth und ich der gleichen Meinung waren.

»Leider ja.« Resignierend schüttelte ich den Kopf.

»Tja, wie heißt es so schön: Ein Verliebter betrachtet eine Blume mit anderen Augen als ein Kamel. Kija wird irgendwann sein wahres Gesicht erkennen. Ich bin mir aber sehr sicher, dass Marik ihr niemals ein Schmuckstück schenken wird. Also kannst du das übernehmen.« Sie wischte meine Bedenken mit einer Handbewegung beiseite.

»Da hast du wahrscheinlich recht. Was für ein Glück, dass ich eine Spezialistin dabeihabe, die sich perfekt mit nutzlosen Dingen auskennt.«

Demonstrativ schaute ich auf Neeths Halsketten. Heute waren es fünf Stück, die sie über dem Mantel zur Schau stellte. An ihren Händen zählte ich acht Ringe und ihre Ohrlöcher waren ebenfalls mit Schmuck verziert. Vieles hatte sie über Jahre gesammelt. Die wenigsten Menschen interessierten sich noch für diesen unnützen Tand. Kaum etwas davon war wertvoll und doch erfreute sich Neeth daran.

»Du bist nur eifersüchtig, weil du nicht so schön im Sonnenlicht funkelst.«

»Erwischt.«

Neeth lotste mich zielsicher durch die engen Gassen, bis wir den Marktplatz erreichten. Hier reihten sich einige fahrende Händler aneinander und priesen ihre Waren an.

Ein Potpourri der Düfte hing wie eine undurchdringliche Kuppel über uns. Der Geruch von ungewaschenen Körpern vermischte sich mit Gewürzen und dem beißenden Gestank der Färbemittel.

Meine beste Freundin zog mich zu einem Stand, bei dem Ketten ausgelegt waren. Handgefertigte Stücke aus Muscheln, Holz und kleinen bunten Steinen.

»Hallo, Kindchen«, begrüßte eine ältere Dame Neeth. Sie hatte eine gebückte Haltung und ihre Haut war von zahlreichen Flecken und Falten gezeichnet. In diesen Zeiten alterten wir alle schneller, weil das Leben uns auszehrte.

Neeth strich der Frau sanft über die Schulter, als wäre sie eine alte Bekannte. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sie eine ihrer besten Kundinnen war.

»Kann ich euch behilflich sein?«, fragte die Verkäuferin, doch meine Freundin winkte ab.

»Ich weiß genau, was wir suchen«, erklärte sie und reichte mir eine goldene Kette mit einem dunkelgrünen Stein.

Das Schmuckstück wirkte so verloren in meiner Hand.

»Bist du dir sicher?«

»Habe ich dich jemals schlecht beraten?«

»Du meinst, abgesehen von dem Mal, als ich den Sprung aus der Baumkrone wagen sollte und am Ende ein verstauchtes Handgelenk hatte? Oder das andere Mal, als du meintest, dass der selbstgebrannte Schnaps nicht so hochprozentig wäre und ich mich anschließend übergeben musste?«

»Schon gut, schon gut«, sagte Neeth mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Zu welchem Stück würdest du tendieren?«, fragte sie schließlich.

Die Frage hatte ich befürchtet.

»Typisch Neeth, erst willst du mir helfen und dann muss ich es am Ende selbst erledigen.«

Meine beste Freundin ging an mir vorbei, als hätte sie die Worte nicht gehört. Nun stand ich ratlos vor dem Schmuck und war mir unsicher, ob so etwas ein passendes Geschenk für Kija war.

Aus dem Augenwinkel erweckte ein Schimmern meine Aufmerksamkeit. Ich sah genauer hin und entdeckte einen Federkiel, der auf einem Leinentuch lag. In die Feder waren dunkelblaue Perlen eingearbeitet. Behutsam hob ich ihn an und musste feststellen, dass er schwerer war als gedacht.

»Die Perlen bestehen aus reinstem Lapislazuli.«

Erschrocken zuckte ich zusammen, ich hatte die Anwesenheit der Verkäuferin vollkommen verdrängt. Es war nur meinen guten Reflexen zu verdanken, dass ich die Feder nicht fallen gelassen hatte.

»Lapislazuli galt als Stein der Pharaonen und wurde oft als Grabbeigabe verwendet. Die blaue Farbe macht ihn zu etwas Besonderem, obwohl er über die Jahrhunderte an Faszination verloren hat. Angeblich bringt er seinem Träger Glück, ob das stimmt, wissen nur die Götter.«

Sie sagte dies mit einer Leichtigkeit, als würde sie selbst nicht daran glauben. Mir war es egal, welche Bedeutung der Stein hatte. Er sah gut aus und Kija liebte es, ihre Gedanken auf Papier festzuhalten. Der Federkiel wäre nicht nur schön, sondern hätte auch eine praktische Funktion.

»Ich nehme ihn«, beschloss ich kurzerhand.

»Was bietest du mir dafür an, junger Mann?«

Zögerlich holte ich einen geschnitzten Vogel, einen Ibis, aus der Tasche. Neugierig betrachtete die Dame die Skulptur, die mich Stunden an Arbeit gekostet hatte. Im ersten Moment schien es so, als würde sie den Tausch nicht akzeptieren, aber dann glitt ihr Blick zu Neeth und sie nickte.

Erleichtert atmete ich auf, da sie nicht mehr verlangte. Ich konnte nur wenig sparen und würde jede Münze für meine Reise brauchen, denn in den Städten gab es keine Tauschgeschäfte. Dort bestimmten Metallstücke, die mit den Gesichtern der Götter geprägt waren, den Wert einer Ware oder Dienstleistung.

Glücklich darüber, das ideale Geschenk für meine Schwester gefunden zu haben, verließ ich mit der Feder den Stand der Frau, die Neeth zum Abschied winkte.

Wir ließen den Marktplatz hinter uns und mir fiel auf, dass meine beste Freundin kaum ein Wort zu mir gesagt hatte, seitdem wir wieder alleine waren. Das war vollkommen untypisch.

Sie atmete tief ein und aus, so als würden ihr die folgenden Worte schwerfallen.

»Ich muss leider schon los. Sina wird bald nach Hause kommen und ich habe ihr versprochen, ihr Lieblingsgericht zu kochen.«

Die Worte, die sie nicht aussprechen musste, waren, dass sie sich alleine um ihre kleine Schwester kümmerte, weil ihre Mutter verstorben und ihr Vater dem Alkohol verfallen war. Unzählige Male hatte ich sie angefleht, zu mir zu kommen, wenn die Situation unerträglich war. Aber sie würde Sina niemals alleine lassen und meine Eltern konnten es sich nicht leisten, vier Kinder durchzufüttern. Also versuchten wir, das Beste daraus zu machen.

Neeth spielte Sina eine heile Welt vor, in der ihre Mutter irgendwann zurückkommen würde. Ich hingegen unterstützte Neeth, wo ich nur konnte. Selbst, wenn das bedeutete, heimlich Essen aus unserer Vorratskammer zu nehmen und es ihr zuzustecken. Vor anderen würde Neeth niemals gestehen, wie es ihr erging. Deswegen trug sie diesen auffälligen Schmuck. Er war ihr Schutzschild und ich würde alles dafür geben, damit ihn niemand durchbrach.

»Ich verstehe. Sehen wir uns morgen?«, fragte ich hoffnungsvoll.

Als sie zögerte, fügte ich schnell hinzu.

»Bring Sina einfach mit. Ich glaube, Kija hat noch etwas von ihrem selbstgemachten Lippenstift und schwarzem Kajal, den sie bestimmt an deiner Schwester ausprobieren würde.«

Neeth lächelte sanft und umarmte mich.

»Wir sehen uns morgen«, flüsterte sie mir zu und verschwand in der nächsten Gasse. Langsam ging ich nach Hause, obwohl ich lieber noch Zeit mit Neeth verbracht hätte.

4. Kapitel

Amoun

Gerade als ich die Haustür öffnete, schlug mir der Geruch von Gebratenem entgegen. Offenbar gab es heute etwas zu feiern, denn Fleisch war eine absolute Ausnahme. Ich zog die Schuhe aus, trat ein und hängte meinen Mantel auf. Vater hatte mit mir zusammen aus Metallresten Haken gefertigt, als ich noch ein Junge gewesen war. Das Besteck war nicht mehr zu gebrauchen gewesen, aber so hatte es einen neuen Zweck.

Kijas Geschenk hatte ich in der Innentasche verstaut, sodass es vor dem neugierigen Blick meiner Schwester sicher war.

Mein Weg führte mich zur Kochnische. Mutter stand am Herd und rührte in einem der Töpfe. Ihre dunkelbraunen Haare, die an manchen Stellen schon ergraut waren, hatte sie zu einem strengen Zopf hochgebunden. Ein schlichtes Baumwollkleid umspielte die Konturen ihres zarten Körpers. Sie warf mir einen Blick über die Schulter zu und lächelte.

Immer mehr Fältchen zeichneten sich an ihren Mundwinkeln ab. Oftmals beäugte sie sich selbst kritisch im Spiegel, aber Vater gab ihr dann einen Kuss auf die Wange und versicherte ihr, dass sie mit jedem Tag schöner wurde.

Ich hoffte darauf, irgendwann auch so eine Liebe zu finden. Das Bild von Neeth tauchte unwillkürlich vor meinem geistigen Auge auf, aber ich verscheuchte es schnell.

»Da bist du ja, Amoun. Ich dachte schon, dein Vater und ich feiern heute alleine. Endlich bekomme ich etwas mehr Lohn.« Sie klatschte vor Freude in die Hände und ich konnte mich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so unbeschwert gewesen war.

Das waren also die guten Neuigkeiten. Unsere Mutter arbeitete als Schreiberin, wodurch wir immer genug Papyrus im Haus hatten. Ihre Aufgabe war es, ältere Schriften zu übersetzen und mündlich überlieferte Geschichten niederzuschreiben. Keine lukrative Arbeit, aber sie war glücklich damit und ihre Schriften wurden in der Bibliothek der nächstgelegenen Stadt gesammelt.

»Wo ist denn Kija?«, fragte ich und schaute mich um.

»Sie wollte noch zu einer Freundin und kommt später nach Hause. Wir sollen ihr etwas vom Braten aufheben«, sagte Mutter und kostete mit einem hölzernen Löffel von dem Essen, das auf der Feuerstelle brutzelte.

Sie trifft sich bestimmt mit dem Blutegel, schoss es mir durch den Kopf. Aber ich sprach meine Gedanken nicht laut aus, sonst würde ich Mutter nur den Abend verderben. Das hatte sie nicht verdient.

»Ach so«, sagte ich stattdessen und begann, den Esstisch einzudecken. Tiefe Kerben zeichneten das Holz und erzählten eine eigene Geschichte. Das Geschirr wies einige abgeplatzte Stellen vor, aber es erfüllte seinen Zweck und nur darauf kam es an. Die Tischplatte wackelte, als Mutter einen dampfenden Topf abstellte. Ich richtete eines der Beine mit einem Stückchen Holz, damit der Tisch nicht mehr von einer Seite zur anderen klapperte.

Vater erschien in der Küche, sodass wir gemeinsam essen konnten.

»Das schmeckt köstlich«, lobte ich, um Mutter ein weiteres Lächeln zu entlocken. Vater war nach der Arbeit meist zu erschöpft für eine längere Unterhaltung. Ein Umstand, an den ich mich als Kind erst gewöhnen musste.

Nach dem Essen half ich beim Abwasch, damit Mutter sich ebenfalls ausruhen konnte. Meine Eltern saßen auf einem selbst gebauten Sofa und ich musste grinsen, als meiner Mutter die Augen zufielen und ihr Kopf immer tiefer auf Vaters Schulter rutschte. Besser ich ging nach oben und ließ die beiden allein. Es wurde Zeit, die Feder zu verstecken. Sobald Kija zuhause war, würde ich ihr sagen, dass das diesjährige Geburtstagsgeschenk auch eine Entschuldigung für mein Verhalten war und sie besser gleich mit dem Suchen anfangen sollte.