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Ein Buch über systematischen Machtmissbrauch
Über Jahrzehnte sind junge Frauen in der Musikindustrie benutzt und diskriminiert worden: Egal ob Fans, Groupies, Journalistinnen, Mitarbeiterinnen oder Sängerinnen selbst - der Mythos von Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll, das viele Geld und das extreme Machtgefälle haben sexualisierter Gewalt über alle Genres hinweg den Boden bereitet. Die Diskussion um die Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann zeigt: Diese Zustände brechen jetzt auf. Frauen wehren sich. Und sie finden endlich Gehör. Lena Kampf und Daniel Drepper haben über viele Monate hinweg recherchiert und mit mehr als zweihundert Menschen aus der Musikindustrie gesprochen. Packend geschrieben und einfühlsam erzählen die Autoren vom Machtmissbrauch in der Musikindustrie. Sie beschreiben die Strukturen, die einen solchen Missbrauch ermöglichen. Und sie zeigen, warum dieses System jetzt - dank mutiger Frauen, dank unterstützender Aktivistinnen - allmählich ins Wanken gerät.
»Zeit, über das zu sprechen, über das nicht gesprochen werden soll.« JAN BÖHMERMANN
»Dieses Buch ist ein Backstage-Pass - ins Innere der Musikindustrie. Beste journalistische Aufklärung.« JULIA FRIEDRICHS, SACHBUCHAUTORIN
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Seitenzahl: 396
Über Jahrzehnte sind junge Frauen in der Musikindustrie benutzt und diskriminiert worden: Egal ob Fans, Groupies, Journalistinnen, Mitarbeiterinnen oder Sängerinnen selbst – der Mythos von Sex, Drugs und Rock’n Roll, das viele Geld und das extreme Machtgefälle haben sexualisierter Gewalt über alle Genres hinweg den Boden bereitet. Die Diskussion um die Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann zeigt: Diese Zustände brechen jetzt auf. Frauen wehren sich. Und sie finden endlich Gehör.
Dieses Buch erzählt vom Machtmissbrauch in der Musikindustrie. Es diskutiert die Strukturen, die einen solchen Missbrauch ermöglichen. Und zeigt, warum sie jetzt – dank mutiger Frauen, dank unterstützender Aktivistinnen – allmählich aufbrechen.
Lena Kampf ist stellvertretende Ressortleiterin im Ressort Investigative Recherche der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Zuvor war sie Investigativreporterin beim WDR in Berlin und Brüssel und Teil der Recherchekooperation aus NDR, WDR und SZ. Sie hat 2019 mit einer Reportage über die #Metoo-Bewegung im Europaparlament den DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN JOURNALISTENPREIS gewonnen. Im Sommer 2016 verbrachte sie zwei Monate als Arthur F. Burns Fellow bei der Zeitung Miami Herald in Florida.
Daniel Drepper leitet die Recherchekooperation von NDR, WDR und SÜDDEUTSCHER ZEITUNG. Zuvor hat er das gemeinnützige Recherchezentrum Correctiv mitgegründet und war Chefredakteur von BuzzFeed News Deutschland, wo sein Team unter anderem den MeToo-Skandal um Julian Reichelt aufgedeckt hat. Er ist Vorsitzender des Netzwerk Recherche, dem Verein investigativer Journalist*innen in Deutschland und studierte investigative Recherche an der Columbia University in New York. Seine Recherchen haben zahlreiche Preise gewonnen. Drepper wurde Chefredakteur des Jahres und als Journalist des Jahres ausgezeichnet.
D A N I E L D R E P P E RL E N A K A M P F
R O WZ E R O
G e w a l t u n d M a c h t m i s s b r a u c hi n d e r M u s i k i n d u s t r i e
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Eichborn Verlag
Originalausgabe
Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Ludger Ikas, Berlin / Dr. Matthias Auer, Bodman-Ludwigshafen
Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille
Umschlagmotiv: © Alexey Lysenko/shutterstock
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-5955-7
eichborn.de
Für Sanaz und Ali
Vielen Dank an Jakob Biazza, Sebastian Erb, Laura Hertreiter, Volkmar Kabisch, Elena Kuch, Nadja Mitzkat, Sebastian Pittelkow, Isabel Schneider und Ralf Wiegand, die bei NDR und Süddeutscher Zeitung mit uns zu Rammstein recherchiert haben.
Wir alle sind Fans. Fansein verbindet. Welche Kraft darin steckt, nicht nur für uns selbst, haben die Anhänger*innen von Britney Spears gezeigt. Sie haben ihr Idol befreit.
Fast vierzehn Jahre stand Spears unter der Vormundschaft ihres Vaters. Eine gerichtliche Entmündigung, die für Personen vorgesehen ist, die selbst keine Entscheidungen mehr treffen können. Nach ihrem psychischen Zusammenbruch 2007 kontrollierte Jamie Spears seine erwachsene Tochter, ihr millionenschweres Imperium und ihren Körper. Jahrelang kämpfte Britney Spears darum, von der Vormundschaft befreit zu werden. Und wurde dabei von ihren Fans unterstützt. Sie starteten die Kampagne #freebritney, demonstrierten vor Gerichtsgebäuden und ermutigten damit Spears, weiterzumachen – bis ihr 2021 ein Gericht in Los Angeles schließlich ihre Freiheit zurückgab.
Auch Michael Jackson wird nach wie vor von vielen Fans geliebt, ja, manche haben ihn gar zu einem Heiligen erklärt. Einige dieser Jünger stehen – wie die Fans von Britney Spears – unerschütterlich an seiner Seite. In diesem Fall, um ihn vehement gegen Vorwürfe von Kindesmissbrauch zu verteidigen. Auch jetzt noch, Jahre nach seinem Tod, attackieren und bedrohen sie mutmaßlich Betroffene und alle, die deren Anschuldigungen Glauben schenken.
Die Karrieren der meisten großen Pop- und Rockstars wären ohne die mitunter fast bedingungslose Unterstützung seitens ihrer Fans kaum denkbar. Eine Frage, die sich in diesem Zusammenhang schon seit einiger Zeit, zuletzt aber immer dringlicher stellt, lautet: Tragen wir Fans womöglich auch dazu bei, dass manche dieser Stars glauben, sie seien unantastbar?
Für mich, Lena, ist das auch eine persönliche Frage. Ich kenne den Impuls, mein Idol zu schützen, denn auch ich habe Michael Jackson lange verehrt. Mit elf Jahren gewann ich meine erste eigene CD bei einem Preisausschreiben. Das war 1995. Ich hatte im Einkaufszentrum einen Zettel für Weihnachtswünsche eingeworfen und erinnere mich, dass ich ganz aus dem Häuschen war, als ich von meinem Losglück erfuhr. Stolz holte ich gemeinsam mit meinem Vater das Geschenk ab: Michael Jacksons HIStory, ein Doppelalbum mit 50-seitigem Booklet und einer überlebensgroßen Statue des Musikers auf dem Cover. Überlebensgroß war Michael für mich zu dieser Zeit ohnehin. Ich liebte seine Musik seit der Grundschule. In meinem Kinderzimmer hingen Bravo-Starschnitte von ihm an der Dachschräge. Von HIStory liebte ich vor allem »Earth Song«, »You Are Not Alone« und natürlich »Scream« mit Janet Jackson. Nicht, dass ich damals schon Englisch verstanden hätte, aber ich mochte die Energie und die Wut, mit denen er die Zeile »Stop Pressuring Me« ausspuckte. Wenn ich es jetzt anhöre, kann ich den trotzigen Ton des Albums nicht ignorieren.
Heute frage ich mich: Darf ich das überhaupt noch – Michael Jackson hören? Oder anders: Kann ich das noch so unvoreingenommen tun wie damals als Elfjährige?
Die amerikanische Essayistin Claire Dederer schreibt in ihrem Buch Monsters davon, wie sich in ihren Genuss von Kunst das Bewusstsein über die Taten der Künstler mischt. Sie nennt es den »Fleck«, den Werke bekommen, wie ein weißes Hemd, auf dem Rotwein landet. Einmal da, lässt er sich kaum wieder entfernen. Laut Dederer können wir nichts dagegen machen, »unser Verständnis des Werks hat eine neue Färbung bekommen, ob wir es wollen oder nicht«.
Heute weiß ich, dass HIStory das erste Album war, das Michael Jackson nach dem Aufkommen der Vorwürfe von Kindesmissbrauch gegen ihn aufnahm. 1993 wird erstmals öffentlich bekannt, dass ihm ein Junge vorwirft, ihn sexuell belästigt zu haben. Die Details des Falls sind kompliziert, zivilrechtlich endet er 1994 mit einem Vergleich zwischen Jackson und den Eltern des Kindes. HIStory sollte das Comeback des King of Pop sein.
Auf die ersten Vorwürfe folgen bis zu Michael Jacksons Tod 2009 und noch lange danach immer neue Anschuldigungen. 2019, in dem Dokumentarfilm Leaving Neverland, kommen erstmals zwei mutmaßlich Betroffene ausführlich zu Wort. Beide erzählen eindringlich, wie Michael Jackson sie an sich band. Wie sehr sie ihn liebten. Und wie er ihnen ihre Kindheit nahm.
Bis dahin habe ich es wirklich versucht mit dem Wegwischen – wie offenbar viele seiner Anhänger. Vielleicht auch, weil es zu schmerzhaft gewesen wäre, die Zweifel zuzulassen. Ich hatte nur zu gerne glauben wollen, was Michaels Familie und Nachlassverwalter immer wieder entgegnet haben: Den Eltern der Kinder sei es bloß ums Geld gegangen, Kindern könnten Erinnerungen eingepflanzt werden, und es gehe darum, sein Vermächtnis zu zerstören. Michael Jackson sei außerdem trotz zahlreicher Ermittlungsverfahren nie von einem Gericht für schuldig befunden worden, und er habe Kinder geliebt, weil er selbst noch eines gewesen sei.
Das alles muss sich nicht ausschließen, so viel weiß ich heute. Mittlerweile recherchiere ich als Journalistin auch zu Kindesmissbrauch. Als Mutter kenne ich inzwischen außerdem die Urangst aller Eltern um das Wohlbefinden ihrer Kinder. Und dennoch fällt es mir schwer, mich Michael Jacksons Musik zu entziehen, wenn ich sie höre. Bis mir der Fleck wieder bewusst wird.
In den vergangenen Jahren haben viele Werke Flecken bekommen: So wie ich mich für Michael Jackson begeisterte, brannten andere für den R-’n’-B-Superstar R. Kelly, der über lange Zeit Minderjährige missbrauchte, für den französischen Rockexport Noir Désire, dessen Sänger Bertrand Cantat seine Freundin tötete, oder für den amerikanischen Künstler Ryan Adams, der jungen Musikerinnen eine Karriere in Aussicht stellte und sie dann sexuell belästigt haben soll.
Tatsache ist, dass für viele Fans die Faszination und Begeisterung für ihre Idole davon sehr oft unberührt bleibt. Für andere hingegen lassen sich die Dinge heute nicht mehr so einfach trennen. Und mitunter sind es inzwischen auch die Liedtexte, die wir mit anderen Augen als früher betrachten.
Ich, Daniel, erinnere mich noch sehr gut an die vielen Abende im Keller meines besten Freundes – zwei alte Sofas, zwei Sessel, ein flacher Couchtisch in der Mitte, darauf ein paar Flaschen Beck’s-Bier und eine Shisha. Wir sind gerade noch Teenager, es sind die frühen 2000er Jahre. Und aus den Boxen kommt der damals krasseste Hip-Hop Deutschlands, vom Label Aggro Berlin. Vor allem das Album Ansage Nr. 3, mit Sidos »Mein Block«, mit Bushido und Fler.
Mit der Lebenswelt, die Sido, Bushido oder Fler in ihren Songs beschreiben, habe ich eigentlich nichts gemein. Ich komme aus einem kleinen Dorf in Westdeutschland, hatte eine sehr geordnete Jugend, bin in einem Einfamilienhaus aufgewachsen, in den Sportverein und auf ein katholisches Gymnasium gegangen. Die Texte von Aggro Berlin, aber auch von Kool Savas und anderen Deutschrappern bedeuten für mich damals vor allem Provokation gegenüber dieser meiner Welt. Eine Provokation, über die ich mir lange wenig Gedanken mache. Vielleicht auch deshalb, weil ich mag, was harter Rap mit mir macht, wie er mich antreibt und mir ein gutes Gefühl gibt. Die Außenseiterperspektive des Rap, das aggressive Auftreten gegen »die da oben«, das hat mir oft geholfen als Arbeiterkind, das sich im Studium und im Job immer wieder fremd und überfordert gefühlt hat. Die Provokation des Deutschrap hat wie eine Art trotziger Schutzschild gewirkt, hinter den ich mich zurückziehen konnte. Sie war eine Möglichkeit aufzubegehren, ohne wirklich selbst in Konflikte gehen zu müssen.
Damals, vor knapp zwanzig Jahren, war mir bereits klar, dass manche dieser Texte frauenverachtend sind und Grenzen überschreiten. Ich kann mich allerdings nicht erinnern, als junger Erwachsener kritische Diskussionen dazu wahrgenommen zu haben. Bewegungen wie #Aufschrei oder #MeToo waren noch Jahre entfernt, Social Media ebenso. Heute mache ich mir – so wie übrigens auch einige Rapper selbst – weitaus mehr Gedanken über das, was diese Texte aussagen, was dahintersteht, was sie auslösen. Das heißt nicht, dass ich Deutschrap nicht immer noch genießen kann.
Während der Monate, die wir für dieses Buch recherchieren, werden immer wieder Vorwürfe gegen Künstler*innen öffentlich. Gegen Lizzo zum Beispiel, ein weltweites Vorbild für body positivity, eine Künstlerin, die radikale Selbstliebe propagiert. Anfang August 2023 beschuldigen sie drei ihrer ehemaligen Tänzerinnen in einer Zivilklage, Lizzo habe sie zu unerwünschten sexuellen Handlungen gedrängt – unter anderem zum Besuch eines Amsterdamer Stripclubs – und zu zermürbenden Proben gezwungen.
Oder gegen Sean Combs, auch bekannt als P. Diddy oder Puff Daddy. Er sang 1997 eine Hymne auf den kurz zuvor erschossenen Rapper The Notorious B.I.G. »I’ll be missing you« hat wahrscheinlich Millionen Trauernden weltweit Trost geschenkt. Anfang November 2023 macht die R-’n’-B-Sängerin Cassie öffentlich, dass Combs ihr gegenüber jahrelang gewalttätig gewesen sei und sie auch vergewaltigt habe. Combs und Cassie einigen sich noch im November 2023 auf eine Geldzahlung in unbekannter Höhe. Sowohl Lizzo als auch Combs dementieren die Vorwürfe.
Anfang Dezember 2023 meldet sich dann der Berliner Rapper Kool Savas, alias Savaş Yurderi, in einem bemerkenswerten Spiegel-Interview zu Wort. Der mittlerweile achtundvierzigjährige Yurderi ist einer derjenigen, die Gangster-Rap in Deutschland groß gemacht haben, mit Titeln wie »Lutsch mein Schwanz«, mit homophoben und frauenverachtenden Texten. Doch jetzt sagt er, ihm sei schon vor längerer Zeit klargeworden, dass er sich über viele Jahre schlecht verhalten habe.
Es ist eine Vorwärtsverteidigung, denn zahlreiche Frauen hatten sich zuvor mit Beschwerden an seine Plattenfirma Sony Music und an den Spiegel gewandt. Gleichwohl ist so ein offenes Eingeständnis ungewöhnlich, besonders von einem, der sich als »King of Rap« bezeichnet. Yurderi sagt, er schäme sich für sein »absolut unkorrektes« Verhalten. Ihm habe irgendwann das Korrektiv gefehlt. »Es gibt Machtstrukturen, die in jeder Musikart dominieren, egal ob es Schlager, Rock oder Metal ist. Bist du dort erfolgreich, bist du in gewisser Hinsicht mächtiger als deine Fans. Punkt. Deshalb sage ich ja: Es ist ganz generell ein Problem, mit Fans Sex zu haben.«
Es spricht einiges dafür, dass Kool Savas’ persönliche Abrechnung mit dem eigenen Verhalten, aber auch die von verschiedenen Klägerinnen vorgebrachten Vorwürfe gegen Lizzo und Combs Ausdruck einer größeren gesellschaftlichen Veränderung sind. Sie stehen für ein neues, geschärftes Bewusstsein für Macht und Privilegien. Besonders in sexuellen Beziehungen wird seit #MeToo viel stärker auf ein mögliches Machtgefälle zwischen den Beteiligten geschaut und wie dieses sich auf die Einvernehmlichkeit auswirken kann.
Manches, das jahrzehntelang verherrlicht oder als gewöhnlicher Teil des Showbusiness angesehen wurde, wirkt heute verstörend. Dabei sind es oftmals keine neuen Fakten, die uns irritieren – allein unsere Bewertung der Fakten hat sich geändert. So wie es uns heute aufstößt, wenn sich jemand in einem Restaurant eine Zigarette ansteckt. Noch vor zwanzig Jahren wäre es wohl niemandem groß aufgefallen.
Immer mehr Stars geraten in diesen neu vermessenden Blick der Öffentlichkeit. Und von denjenigen, die auf irgendeine Weise von jenem Machtgefälle betroffen waren oder sind, fühlen sich immer mehr ermächtigt, sich Gehör zu verschaffen. Auch deswegen häufen sich die Fälle einschlägiger Vorwürfe.
Für uns begann alles in der »Row Zero«. Das ist die Reihe ganz vorne, zwischen der Absperrung, hinter der sich die Massen drängen, und der Bühne, auf der die Künstler*innen ihre Musik zur Aufführung bringen.
Die Row Zero ist zu einem weithin bekannten Begriff geworden, seitdem die Nordirin Shelby Lynn am 25. Mai 2023 Anschuldigungen gegen den Sänger der Band Rammstein öffentlich machte. Während eines Konzerts in Litauens Hauptstadt Vilnius sei sie Till Lindemann unter der Bühne begegnet. Er habe dort Sex mit ihr haben wollen, während seine Bandkollegen oben weiterspielten. Sie berichtet von Erinnerungslücken und vermutet, bei einer Party unter Drogen gesetzt worden zu sein.
Als sich daraufhin weitere Frauen zu Wort meldeten, begannen wir gemeinsam mit Kolleg*innen von Süddeutscher Zeitung und NDR den Vorwürfen nachzugehen. Zahlreiche Frauen berichteten uns von ihren Erlebnissen. Anfang Juni 2023 konnte unser Rechercheteam so erstmals eine offenbar systematisierte Form der Zuführung von jungen Frauen für Aftershowpartys und Sex mit Lindemann enthüllen.
Die Vorwürfe haben weitreichende Diskussionen über Machtmissbrauch in der Musikwelt, über den romantisierten Mythos von Groupies, von Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll ausgelöst. Mit diesem Buch möchten wir einen Beitrag dazu leisten, diese Debatten weiterzuführen und zu vertiefen. Row Zero soll über einzelne Vorfälle hinaus die größeren Zusammenhänge aufzeigen und nimmt dafür die Industrie hinter dem Show- und Popmusikgeschäft in den Blick.
Wir arbeiten beide seit mehr als zehn Jahren als investigative Journalist*innen. Unserer Erfahrung nach geht es bei der Aufdeckung von Missständen oder dem Missbrauch von Macht meist um weit mehr als das Fehlverhalten Einzelner. Es geht um eine Art Organisationsversagen. Es geht um fehlende Kontrolle oder Sanktionen, um Mitwissende, die die Taten decken oder ganz einfach schweigen. Es gibt immer Machtgefälle und Abhängigkeiten, die ausgenutzt werden. Wie sieht das nun konkret in der Musikindustrie aus? Welche Strukturen stehen hinter dem, was wir auf der Bühne präsentiert bekommen?
Wann immer Macht, ihr Gebrauch und ihr Missbrauch neu vermessen werden, gilt es genau hinzuschauen und zu differenzieren: Denn die Unterschiede zwischen einzelnen, jeweils individuell zu betrachtenden Situationen sind mitunter groß. Zweifellos gibt es ein Machtgefälle zwischen dem Weltstar Till Lindemann und den ihn idolisierenden, meist deutlich jüngeren Fans. Deren Abhängigkeit ist jedoch allenfalls emotional und weder finanzieller noch beruflicher Art. Anders sieht die Sache bei den Schauspielerinnen in den USA aus, deren Karrieren von dem Filmproduzenten Harvey Weinstein abhängig waren, dessen sexuelle Übergriffe im Jahr 2017 die #MeToo-Bewegung auslösten.
Und natürlich sind nicht alle Vorwürfe strafrechtlich relevant. Gerade deswegen zwingen sie uns als Gesellschaft, eine Haltung zu der Frage zu finden, welches Verhalten wir bei Rock-, Pop- und Rapstars akzeptabel finden und welches nicht – und unter welchen Umständen.
Die Diskussionen darüber treffen auf eine in vieler Hinsicht ohnehin immer härter aufeinanderprallende Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die sich scheinbar aufteilt in diejenigen, die sagen: »Weiter so!«, und diejenigen, die sagen: »So nicht mehr!« Und sie berühren dabei unweigerlich grundsätzliche Fragen zur Kunst selbst: Wie unbequem, wie schmerzhaft darf, ja muss sie sein? Wie viel Zumutung kann eine Gesellschaft ertragen? Ab wann muss sie sich schützend vor Einzelne stellen?
Die Musikbranche ringt schon länger mit diesen Fragen und sucht nach einem eigenen, neuen Umgang damit. Sie befindet sich, wie die Gesellschaft insgesamt, mitten in einem Prozess, in dem alte Gewohnheiten und Machtverhältnisse infrage gestellt werden. Nicht zuletzt drängt eine neue Generation in die Branche, die diesen Prozess auf ihre Weise vorantreibt.
Das vorliegende Buch ist der Versuch, dieses Ringen abzubilden. In den vergangenen Monaten haben wir mit mehr als 200 Menschen aus der Musikindustrie gesprochen. Die Berichte haben wir – wo möglich – durch Gespräche mit Zeug*innen geprüft, wir haben Gerichtsurteile und Akten eingesehen, uns Screenshots von Chats oder E-Mails zeigen lassen. Manches Erlebnis wurde uns an Eides statt versichert. Das bedeutet, dass die betreffenden Personen ihre Aussagen auch in einem möglichen Gerichtsverfahren wiederholen und sich dann bei einer Falschaussage strafbar machen würden. Trotzdem können wir manche Vorwürfe, die uns berichtet wurden, in diesem Buch nicht im Detail beschreiben, viele Namen nicht nennen. Alle Menschen, gegen die in diesem Buch namentlich Vorwürfe erhoben werden, haben wir um Stellungnahmen gebeten. Zum Teil haben wir welche erhalten, sehr oft aber auch nicht.
Wir danken all jenen, die uns in dieser Recherche unterstützt und sich uns anvertraut haben. Alle, die mit uns gesprochen haben, haben das zweifellos getan, weil sie die Musik lieben. Weil sie Fans sind. So wie wir.
Die Halle leuchtet lila, grün und blau im Wechsel, 5500 Menschen feiern seit rund einer Stunde Till Lindemann. Der Auftakt von Lindemanns Solotour ist ausverkauft an diesem 4. Februar 2020 in der Swiss Life Hall Hannover. Weniger Pyrotechnik als auf Konzerten der Band Rammstein, deren Sänger und Frontmann der damals Siebenundfünfzigjährige ist, aber ähnlich bombastisch.
Als die Gitarristen die ersten Klänge von »Platz Eins« anstimmen, wölbt sich links neben der Bühne der Vorhang. Auf Videoaufnahmen ist festgehalten, wie sich ein riesiger durchsichtiger Ball in die Menge schiebt. Till Lindemann und sein damaliger Solopartner, der Schwede Peter Tägtgren, stehen in dem Ball. Sie tragen weiße Anzüge, ihre Gesichter sind weiß geschminkt. Lindemann singt: »Durch die Menge geht ein Raunen. Und die Männer werden staunen. Alle Frauen, alles meins. Alles dreht sich nur um mich.« Es ist der Höhepunkt des Abends.
Um Lindemann und Tägtgren räkeln sich drei junge Frauen in schwarzer Spitzenunterwäsche in dem durchsichtigen Ball. Ihre Gesichter sind verdeckt von weißen Masken, es sind Abgüsse von Lindemanns Gesicht. Eine der drei Frauen ist die zweiundzwanzigjährige Cynthia Ahrens. Lindemanns Musik bedeutet ihr viel, und schon lange hatte sie sich gewünscht, ihm nahezukommen. An diesem Tag geht der Wunsch in Erfüllung. Die Begegnung wird sie jedoch noch lange beschäftigen.
Auch Shelby Lynn ist großer Rammstein-Fan. Gut drei Jahre später, am 22. Mai 2023, steht sie vor Konzertbeginn mit einem Dutzend anderer junger Frauen in einer Reihe vor dem Backstage-Bereich des Vingio Parkas Stadium in Vilnius, Litauen. Die Nordirin ist vierundzwanzig Jahre alt. Sie ist am Tag vorher in die litauische Hauptstadt gereist, um zum ersten Mal ein Rammstein-Konzert zu besuchen. Ein Traum, den sie hegt, seit ihr ein Freund zehn Jahre zuvor zum ersten Mal ein Lied von Rammstein vorgespielt hat: »Pussy«. Lynn ist sofort verliebt in den Rhythmus und in den Klang. Jetzt hat sie vielleicht sogar die Chance, die Band zu treffen, hofft sie.
Wenige Tage vor dem Konzert in Vilnius hat Lynn in einem Fanforum von der Möglichkeit erfahren, über eine Frau namens Alena Makeeva auf Backstage-Partys zu kommen. Sie kontaktiert Makeeva über Instagram. In ihrem Profil nennt sich die Russin »Castingdirektorin«. »Auf Tour mit Till Lindemann«, schreibt sie. Makeeva verbindet Lynn mit anderen Frauen über eine Whatsapp-Gruppe. Sagt ihnen, was sie anziehen und wo sie warten sollen.
Ebendort sind die Frauen von einem Mann, der sich ihnen als Joe vorgestellt hat, abgeholt worden. Später stellt sich heraus, dass es sich um Joe Letz handelt, einen engen Vertrauten Lindemanns. Nun, vor dem Backstage-Bereich, fordert er Lynn und die anderen jungen Frauen auf, sich hintereinander aufzustellen. Er hat ein Handy in der Hand, mit dem er die Körper der Frauen abfilmt. Shelby Lynn ist aufgeregt, sie albert herum. Letz kommt mit der Kamera ganz nah an ihr Gesicht heran.
Lynn ist unsicher, ob sie auf die Party darf. Statt eines bunten Sommerkleids, wie Makeeva es den Frauen nahegelegt hat, trägt sie Gothic Look, ein schwarzes Korsett und einen Minirock. Als Joe Letz die Frauen fragt, wer noch nie backstage war, hebt sie die Hand. Und tatsächlich zeigt er mit dem Finger auf sie. Lynn und eine Handvoll anderer Frauen dürfen also später mitkommen. Allerdings gibt es für die Party klare Regeln: Die Frauen sollen Stimmung machen, viel Alkohol trinken und Lindemann nicht auf seine Musik ansprechen. Und sie müssen ihre Mobiltelefone abgeben. Shelby Lynn ist aufgeregt. Gleich wird das Konzert losgehen.
Rammstein ist eine der erfolgreichsten deutschen Bands, weltweit bekannt für ihre brachiale Musik, die totalitäre Ästhetik, das Feuerwerk der Bühnenshow, die hypersexualisierten Texte. Mehr als 20 Millionen Platten und CDs haben die sechs Musiker aus Berlin in den vergangenen drei Jahrzehnten verkauft. Allein die »Rammstein Stadium Tour« besuchten seit 2019 mehr als vier Millionen Fans. Obwohl die Texte von Rammstein fast ausschließlich auf Deutsch sind, wird die Band auch im Ausland geliebt. Mit dem Konzert in der litauischen Hauptstadt Vilnius eröffnet sie den vorerst letzten Teil ihrer Stadium Tour.
Shelby Lynn trifft an diesem Abend auf ihr Idol, auf Till Lindemann. Er kommt, so schildert sie es in verschiedenen Interviews, die sie später dazu geben wird, ganz plötzlich vor dem Konzert in den kleinen, kargen Raum, in den sie und die anderen Frauen geführt wurden. Wodka, Tequila und andere Getränke auf dem Tisch und in einem Kühlschrank, ein paar Stühle und ein Sofa an der Wand.
Als Lindemann den Raum betritt, fordert er die Frauen auf, mit ihm zu trinken. Er schmeißt sein Glas gegen die Wand, die Frauen sollen es ihm gleichtun. Irgendwann setzt er sich neben Shelby Lynn aufs Sofa. Lynn sagt später, sie habe versucht, mit ihm zu reden, aber er habe davon eher genervt gewirkt. Dann verschwindet er wieder, er muss auf die Bühne.
Bevor Letz die Frauen in die Arena führt, habe er Lynn zur Seite genommen. Wie sie später sagt, habe er sie gefragt, ob sie Lindemann unter der Bühne treffen wolle. Dieser habe eine kurze Pause während des »Deutschland«-Lieds. Sie habe daraufhin wissen wollen, ob das so ein »Sex-Ding« sei. Letz soll geantwortet haben: Nein, sie brauche sich keine Sorgen zu machen.
Während des Konzerts stehen Lynn und die anderen Frauen in der Row Zero. Lynn nimmt sich fest vor, nicht mit Joe Letz mitzugehen, fühlt sich aber zu diesem Zeitpunkt nicht gut. Als das »Deutschland«-Lied anklingt, sei Letz gekommen »und nimmt mich irgendwie mit«, sagt sie. Er habe sie in einen kleinen Raum unter der Bühne geführt, so groß wie eine Umkleidekabine, verhängt mit schwarzem Stoff, der mit orangefarbenem Tape zusammengehalten wird. Shelby Lynn setzt sich auf den Boden und schlingt die Arme um sich. »In meinem Kopf war nur ein Gedanke: Wenn Till kommt, dann musst du Nein sagen, Shelby, du musst Nein sagen. Nein, nein, nein.«
Dann sei Lindemann hereingekommen. »Er war so groß und angsteinflößend«, berichtet Lynn. »Ich habe zu ihm hochgeschaut und gesagt, dass ich keinen Sex mit ihm haben will. Sex ist etwas sehr Besonderes für mich, und ich möchte das nicht.« Lindemann habe sie angeschrien: »Joe meinte, du würdest es tun!« Lynn habe sich bei ihm entschuldigt und noch einmal erklärt, dass Sex etwas sehr Besonderes sei. Das habe sie schon gesagt, soll Lindemann gebrüllt haben. Dann sei er wieder hinter dem Vorhang verschwunden.
Angefasst habe Lindemann sie nicht, sagt Shelby Lynn. Den Rest des Konzerts habe sie in der Row Zero verbracht, doch sie könne sich kaum daran erinnern – obwohl sie nur zwei Drinks genommen habe. Überprüfen lässt sich das nicht. Aber es gibt Videos, auf denen zu sehen ist, wie Lynn später vor der Bühne ausgelassen tanzt. Sie singt die deutschen Texte mit. Die meisten Videos stammen von ihr selbst. Auf einem schreit sie in ihr Handy: »Till Lindemann wollte Sex mit mir haben, und ich habe Nein gesagt.«
Das Nächste, an das sie sich erinnern könne, so Lynn, sei eine Afterparty mit der Band. Sie habe Richard Kruspe gegenübergesessen. Dann habe sie sich auf der Toilette übergeben und sei zurück in ihr Hotel gefahren. Die Übelkeit, das ausgelassene Feiern, die verschwimmende Wahrnehmung. Irgendetwas habe an dem Abend nicht mit ihr gestimmt, sagt sie. Sie sei erschrocken, als sie im Hotel dann auch noch große Hämatome am Körper und an den Armen entdeckt habe. Sie habe Schmerzen gehabt. Irgendetwas musste passiert sein. »Ich war immer noch nicht ganz klar, aber ich habe nur gedacht: Oh mein Gott, ich muss all diese anderen Mädchen warnen.«
Zwei Tage später, als sie wieder zu Hause in Nordirland ist, in der Nähe von Belfast, legt sie sich einen neuen Twitter-Account zu: @Shelbys69666. Am Donnerstag, 25. Mai, um 1:48 Uhr deutscher Zeit, schreibt sie dort: »I’m the girl that was spiked at Rammstein.« Ich bin das Mädchen, das bei Rammstein unter Drogen gesetzt wurde. Sie kündigt an, mit Videos und Fotos über ihre Erfahrungen in Vilnius an die Öffentlichkeit zu gehen.
Pfingsten, Ende Mai 2023. An diesem langen Wochenende füllen sich die Feeds auf Twitter und Instagram weltweit mit Andeutungen und Gerüchten über Rammstein. Seit Shelby Lynn an die Öffentlichkeit gegangen ist, teilen immer mehr Frauen online ihre Erfahrungen bei Konzerten der Band. Einige berichten, sie seien dort angesprochen worden, andere, sie hätten Einladungen zu Afterpartys über Instagram erhalten. Viele der Schilderungen ähneln dem, was Lynn erlebt haben will. Ein Verdacht steht auf einmal im Raum: Werden bei Rammstein-Konzerten junge Frauen für Sex mit Till Lindemann regelrecht rekrutiert?
Wir beide verfolgen an diesem Pfingstwochenende die vielen Tweets und Posts auf Twitter und Instagram aufmerksam. Wir beginnen Screenshots zu machen und können uns nur schwer von unseren Handys lösen. Am Abend des Pfingstsonntags meldet sich die Band erstmals selbst zu Wort und schreibt, ebenfalls auf Twitter, dass sie den »im Netz kursierenden Vorwürfen zu Vilnius« entgegentrete und ausschließen könne, »dass sich, was behauptet wird, in unserem Umfeld zugetragen hat«. Später werden Lindemanns Anwälte mitteilen, dass Behauptungen, Frauen seien bei Rammstein-Konzerten mithilfe von K.-o.-Tropfen oder Alkohol betäubt worden, um ihrem Mandanten zu ermöglichen, sexuelle Handlungen an ihnen vorzunehmen, »ausnahmslos unwahr« seien.
Was von den Vorwürfen wahr ist und was nicht, lässt sich nur überprüfen, wenn wir mit den Menschen hinter den oftmals anonymen Erfahrungsberichten auf Social Media sprechen können. Am Vormittag des Pfingstmontags telefonieren wir miteinander und entscheiden uns schließlich für einen sehr ungewöhnlichen Schritt: Wir werden öffentlich ankündigen, dass wir den Vorwürfen nachgehen wollen.
Investigativreporter*innen versuchen normalerweise, so lange wie möglich unbemerkt zu recherchieren. Gerade bei schweren Vorwürfen wie mutmaßlichen #MeToo-Vorfällen, Korruption oder Bestechung wollen wir diejenigen, gegen die sich die Vorwürfe richten, nicht unnötig schnell aufscheuchen. Sie könnten sonst E-Mails löschen oder Zeug*innen unter Druck setzen und so zum Schweigen bringen. Erst zum Schluss, wenn wir wissen, was die konkreten Vorwürfe sind, und wir sie für belastbar und belegbar halten, suchen wir in der Regel das Gespräch. Das nennt sich Konfrontation.
Doch bei den Vorwürfen gegen Rammstein ist die Situation eine andere. Es gibt zu diesem Zeitpunkt bereits seit Tagen Diskussionen auf Social Media. »Wenn ihr in den letzten Jahren Erfahrungen mit #Rammstein oder der #RowZero gesammelt habt, dann wendet euch vertraulich an uns«, schreiben wir kurz nach unserem Telefonat auf Twitter. Ab da wissen potenzielle Quellen, dass wir uns für sie interessieren. Aber auch Rammstein ist jetzt darüber informiert.
Noch am ersten Tag melden sich zahlreiche Frauen, darunter auch Cynthia Ahrens, die in Hannover in dem durchsichtigen Ball getanzt hat. Sie schreibt uns auf Instagram, am Abend des Pfingstmontags. Sie habe mit Till Lindemann auf seiner Solotour »performt«. Es sei »auch dazu gekommen, dass ich mit Lindemann intim wurde«.
In den folgenden Stunden schreiben wir hin und her. Cynthia Ahrens, die anders heißt, sagt, sie wolle, »dass das alles endlich rauskommt« – bisher sei sie aus Angst vor Lindemann und dessen Umfeld nicht an die Öffentlichkeit gegangen. Deswegen möchte sie auch anonym bleiben. Wir verabreden uns für ein Treffen, gleich am nächsten Tag im Berliner Büro der Süddeutschen Zeitung in der Nähe des Gendarmenmarkts.
Als wir Ahrens auf dem Bürgersteig vor dem Eingang begrüßen, erscheint sie uns jünger als Mitte zwanzig. Sie ist aufwendig geschminkt, wirkt nervös, aber entschlossen.
Im Büro sind viele Kolleg*innen im Pfingsturlaub, die Türen sind geschlossen, die Gänge dunkel. Ahrens möchte nichts trinken und beginnt sogleich zu erzählen, ein Aufnahmegerät läuft mit. Nach wenigen Minuten Gespräch zieht draußen eine laute Demonstration durch die Französische Straße. Auf die Frage, ob sie ihre Erzählung deshalb für einen Moment unterbrechen wolle, antwortet Ahrens sehr klar: »Nein, ich will das jetzt alles rauskriegen.« Sie atmet einmal tief durch – und schildert ihre Geschichte.
Cynthia Ahrens verbringt ihre Kindheit Anfang der 2000er Jahre in einem kleinen Dorf in Westdeutschland. In der Küche fliegen auch mal Teller, es wird viel geweint. Die Eltern trennen sich, da ist sie neun Jahre alt. Noch als sie auf die Grundschule geht, zieht Ahrens mit ihrer Mutter in die nächstgrößere Stadt. Ihren Vater sieht sie nur am Wochenende. Mit ihren braunen Augen, dichten Augenbrauen und dunklen Haaren fällt sie in der Schule auf. Auch wegen ihres Migrationshintergrundes, glaubt sie, schicken ihre Lehrer sie zunächst auf die Realschule. Dort kommt sie nicht zurecht, wechselt daher nach zwei Jahren doch aufs Gymnasium und versucht dort alles, um, wie sie heute sagt, einfach ein gutes Kind zu sein. Trotzdem hat sie ständig das Gefühl, nicht einmal das zu schaffen.
In fast allen Fächern ist Ahrens erfolgreich, aber ihrem Vater reicht das nie. Sie erinnert sich an zahlreiche Situationen, in denen ihr Vater sie abwertet und anschreit, in denen sie stundenlang heult. Ein- oder zweimal habe er sie auch geschlagen. Von den Jungs in ihrer Klasse wird sie gemobbt. Sie laufen ihr nach, spritzen sie mit Capri-Sonne ab, versuchen während des Unterrichts, mit einem Besen ihren Rock anzuheben. Damals habe sie als hässlich und dick gegolten, sagt sie.
Sie flüchtet sich in die Musik. Sie liebt – beeinflusst von ihrer Mutter – die Songs von Depeche Mode, The Cure, den Sisters of Mercy oder Soft Cell, trägt nur Schwarz. Rammstein hört sie auch, aber »ironisch«. Lange Zeit läuft deren Musik einfach so mit in der Playlist. Erst ein paar Jahre später, als Ahrens ihr Studium beginnt, nimmt die Band immer mehr Raum in ihrem Leben ein. Sie hört die Musik immer häufiger, bis irgendwann fast nichts anderes mehr läuft. Ein Albumcover als Laptop-Hintergrund kommt hinzu, Band-T-Shirts, viele Gespräche über die Texte und auch Till Lindemann. Ahrens ist fasziniert von der Provokation, von den düsteren Texten über Tod und Verderben. Ihr Lieblingslied von Rammstein ist »Keine Lust«. Darin geht es um Depressivität und darum, dass man sich nicht aufraffen kann, etwas zu verändern, und sich stattdessen weiter in seinem Elend wälzt. »Damit habe ich mich total identifiziert«, sagt sie.
Auf ihr erstes Rammstein-Konzert geht Cynthia Ahrens zusammen mit zwei Freundinnen. Es ist Anfang Juli 2019, ein schöner Sommertag, erinnert sie sich. Sie ist einundzwanzig Jahre alt. Ahrens hat extra bei einer Freundin in Hannover übernachtet, um sich schon morgens um sechs Uhr vor der Arena anstellen zu können. Sie will unbedingt in die erste Reihe. Eine andere Freundin war schon häufiger auf Konzerten und hat ihr erzählt, dass manche Frauen aus der ersten Reihe in den Backstage-Bereich eingeladen werden. Als das Konzert losgeht, sieht Ahrens, wie einige Frauen hereingeführt werden und sich ganz nach vorn stellen dürfen, noch vor die erste Reihe, in die Row Zero direkt an der Bühne. Wenig später verteilt ein Mann Backstage-Bändchen an weitere Frauen. Auch Ahrens bekommt eines. Nach ihrem Alter wird sie nicht gefragt.
Als das Konzert zu Ende ist, fragt sie sich mit einer ihrer Freundinnen zur Backstage-Party durch, im Erdgeschoss des Stadions. Ein DJ, ein paar bunte Lichter und eine kleine Bar, der Raum ist etwas abgedunkelt und voll mit Crewmitgliedern, deren Freunden und Familien. Auch die Band selbst ist da. Irgendwann betritt Lindemann den Raum, kurz begegnen sich seine und Ahrens’ Blicke. »Ich hatte noch nie in meinem Leben so nah jemanden so Berühmtes gesehen. Ich bin eingefroren«, sagt sie. Lindemann geht weiter, zu einer Gruppe anderer Frauen. Auf Ahrens wirken sie aufgeregt, sie kichern und scheinen einen großartigen Abend zu haben. Sie selbst hingegen fühlt sich unwohl, hat Bauchschmerzen und geht deshalb bald nach Hause.
Cynthia Ahrens sagt heute, sie und ihre Freundin hätten sich im Anschluss eingeredet, dass es im Backstage richtig cool gewesen sei. Sie will dazugehören, mit der Party bei ihren Freundinnen angeben können, will Rammstein und Till Lindemann nahe sein, deren Kunst sie bewundert, deren Lieder sie jeden Tag hört, die ihr so viele gute Gefühle beschert haben. Die Aftershowparty hätte eigentlich genau das sein sollen, wovon sie träumte.
Nach dem Konzert folgt ihr eine gewisse Alena Makeeva auf Instagram. Es ist die Frau, die auch mehr als drei Jahre später Shelby Lynn den Zutritt zum Backstage ermöglichen wird. Makeeva schickt Ahrens eine knappe Nachricht: »Kommst Du nach Wien?«
Dass Alena Makeeva in dem, was später als Castingsystem von Till Lindemann bekannt wird, eine zentrale Rolle spielt, weiß Ahrens zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie sagt Alena Makeeva für Wien ab. Sie hat nicht genug Geld, um mal eben nach Österreich zu fahren. Aber für das Auftaktkonzert von Till Lindemanns Solotour, das im Februar 2020 wiederum in Hannover stattfindet, kauft sie sich wenig später eine Karte. Was sie erst später erfährt: Vor dem Konzert habe Alena Makeeva eine Freundin von ihr angeschrieben, »ob sie Mädchen kenne, die Till kennenlernen wollen«. Außerdem habe sie gefragt, ob die Freundin jemanden kenne, »der eine Nacht mit Till verbringen würde«. Ohne mit Ahrens zu sprechen, habe die Freundin ihr, Ahrens’, Profil an Makeeva geschickt. Diese habe angeblich geantwortet, dass das passen müsste.
Cynthia Ahrens selbst kommt acht Tage vor dem Tourauftakt in Hannover wieder direkt mit Alena Makeeva in Kontakt. Diese schreibt ihr eine Instagram-Nachricht auf Englisch. »Hi! Schreib mir auf WhatsApp. Ich füge dich dann dem Chat für Hannover hinzu.« Ahrens wird daraufhin mit anderen Frauen in eine Whatsapp-Gruppe aufgenommen. Dort wiederum seien drei Frauen gesucht worden, die während des Konzerts in einem großen, durchsichtigen Ball tanzen sollten. »Und ich war eine von den dreien. Ich wollte total gerne Till kennenlernen.« Schon am frühen Nachmittag, sagt Ahrens, sei sie in die Halle bestellt worden. Vor dem Konzert habe es eine Probe für sie und die anderen beiden Frauen gegeben, die in dem Ball tanzen sollten. Eine Choreografie gab es laut Ahrens dafür nicht. Es sei nur wichtig, dass es geil aussehe, habe ihr ein Bodyguard von Lindemann gesagt. Dann führt er sie in den Backstage-Bereich.
Zu dritt warten die jungen Frauen dort in einem kahlen Raum: ein schwarzes Ledersofa, ein paar Stühle, zwei Wandspiegel und ein Kühlschrank mit Cola, Wasser und Corona-Bier. Die drei kennen sich nicht, machen Small Talk, Ahrens ist sehr aufgeregt. »Mein ganzer Bauch hat sich schon so zusammengezogen.« Sie weiß inzwischen, dass ihre Freundin unabgesprochen ein Foto von ihr an Alena Makeeva geschickt hat mit der Info, dass sie auch über Nacht bleiben würde. Aber sie weiß nicht, ob Lindemann diese Nachricht bekommen hat.
Dann sei Lindemann in den Raum gekommen. Er habe nicht Hallo gesagt, habe sich nicht vorgestellt, habe die drei Frauen nicht nach ihrem Namen gefragt. Stattdessen sei er direkt zum Kühlschrank gegangen und habe ihnen Alkohol angeboten. Alle drei hätten abgelehnt.
Auf Ahrens wirkt Lindemann angestrengt, er sei herumgelaufen und habe einen unsympathischen Eindruck gemacht. Dann habe er einen Laptop auf den Tisch gestellt und das Musikvideo seiner neuen Single »Platz Eins« gestartet, zu dem sie später tanzen sollten. Es enthält brutale Sexszenen und wird daher nur auf Pornoplattformen veröffentlicht. Ahrens empfindet es in dem Moment als verstörend. Eine Zeitlang seien die Frauen dann von Lindemann und dessen Manager ignoriert worden. Irgendwann aber habe Lindemann Ahrens zu sich gewunken, weil er ihr »etwas zeigen« wolle. »Ich war noch sehr unerfahren, ich hatte noch keinen richtigen Freund. Ich dachte, kurz vor der Show will er mir wirklich was Cooles zeigen.« Sie habe angenommen, dass sie noch genug Zeit habe, sich alles Weitere noch mal zu überlegen.
»Er hat mich mit in die Garderobe genommen, die Tür zugemacht, und dann ging es halt los. Ich will nicht sagen, dass das eine Vergewaltigung war, weil ich ja zugestimmt habe, aber ich war jetzt auch nicht offensichtlich glücklich darüber, was da passiert. Das war alles ziemlich schnell und ziemlich gewaltvoll.« In dem Augenblick habe sie nur gedacht: »Oh mein Gott, das tut weh, hoffentlich ist es bald vorbei.« Sie habe Lindemann aber nicht sagen wollen, dass es wehtut, weil es eben Till Lindemann war, ihr Idol. »Nach zehn Minuten war er fertig und hat sich bedankt und gesagt, es gehe ihm jetzt besser.« Ahrens sagt, sie habe danach geblutet.
Als Ahrens aus dem Nebenraum zurückkommt, sei sie kreidebleich gewesen, berichtet eine der anderen beiden anwesenden Frauen. »Sie war ganz anders als vorher, und es musste etwas für sie sehr Negatives passiert sein. Sie sah wirklich extrem verstört aus.«
Trotzdem tanzt Ahrens dann am Abend während des Konzerts für Till Lindemann wie abgesprochen in Spitzenunterwäsche in dem großen, durchsichtigen Ball. Nach der Show, im Backstage, sei Lindemann noch einmal auf sie zugekommen und habe sie vor allen anderen geküsst, sagt Ahrens. Lindemann habe sie auf Englisch angesprochen. Offenbar sei er davon ausgegangen, dass sie nicht aus Deutschland komme. Kein Wunder, denkt sie, schließlich habe er sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt. Dennoch habe sie danach einen Bodyguard gefragt, ob sie noch mit zur Party in Lindemanns Hotel kommen dürfe. Der aber habe abgelehnt und sie stattdessen zu sich eingeladen. Das wiederum habe sie nicht gewollt.
Nach dem Abend in Hannover sei sie zunächst »voll verblendet« gewesen, erzählt sie, »weil ich mich in dem Moment so besonders gefühlt habe, wie ein Suchtgefühl«. In den Tagen danach fährt Ahrens sogar noch zu einem weiteren Rammstein-Konzert, diesmal nach Köln, und geht erneut in den Backstage-Bereich. Dort sei sie dann zusammengebrochen. Sie sagt, sie habe fast den ganzen Abend geheult, einige andere Frauen hätten sie getröstet, bis sie schließlich alleine in ihr Hotel zurückgekehrt sei. Eine Woche später will sie trotzdem noch zu einem Konzert nach Offenbach fahren. Am Bahnsteig dreht sie aber wieder um. In dem Moment habe sie sich gesagt: »Ich kann das nicht mehr.«
Weder Till Lindemann noch seine Anwälte beantworten unsere Fragen zu der Begegnung mit Cynthia Ahrens, auch nicht nach einer erneuten Anfrage für dieses Buch. Die Kanzlei, die die Band und zunächst auch Till Lindemann vertritt, schickt uns vor Veröffentlichung in der Süddeutschen Zeitung und beim NDR Anfang Juni 2023 ein Schreiben, in dem auf die Privatsphäre Lindemanns und allgemeine Kriterien der Verdachtsberichterstattung hingewiesen wird. Alena Makeeva antwortet auf keine unserer Anfragen.
Für Cynthia Ahrens hat die Begegnung im Februar 2020 in Hannover vieles verändert. Ein Leben lang, sagt sie, hätten ihr Männer gesagt, dass sie nicht hübsch und nicht gut genug sei, dass sie nie einen Freund haben werde. »Im Kopf war ich immer noch das kleine Mädchen, das alle hässlich finden. Und dann stehe ich in Unterwäsche auf der Bühne bei Lindemann.« Sie habe kein Gefühl dafür gehabt, welche Grenzen sie für sich selbst setzen dürfe und wie sie diese durchsetzen könne. Diese ganze Unsicherheit bringt sie mit in den Backstage-Bereich einer ihr fremden Arena, in einer fremden Stadt, mit einem Weltstar, den sie so sehr anhimmelt, dass sie am Ende Angst hat, eine riesige Szene zu verursachen, wenn sie Nein sagt.
Es dauert allerdings einige Monate, bis sie sich eingesteht, dass die Erfahrung mit Till Lindemann in ihr offenbar doch noch länger nachwirkt. Im Sommer 2020 ist sie mit Freund*innen in einer Karaoke-Bar verabredet. Sie stehen draußen vor der Tür, als drinnen jemand das Lied »Sonne« von Rammstein zu singen beginnt: »Eins, hier kommt die Sonne. Zwei, hier kommt die Sonne. Drei, sie ist der hellste Stern von allen. Vier, hier kommt die Sonne.« Ahrens fängt plötzlich an zu weinen. Von da an blockiert sie Rammstein auf Spotify, sodass keines der Lieder jemals wieder in eine ihrer Playlists rutschen kann. Der Zusammenbruch vor der Karaoke-Bar ist jedoch nur Teil einer viel tieferen Veränderung in ihrem Leben. Ahrens sagt, sie habe davor immer ganz bestimmte Vorstellungen von sich gehabt. Gerechtigkeit war ihr wichtig, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit. Sie trank bewusst keinen Alkohol, hatte keinen Freund – vielleicht auch, weil sie immer die Kontrolle über ihr Leben behalten wollte. Nach dem Erlebnis mit Till Lindemann habe sie sich selbst nicht mehr wiedererkannt. Sie habe, sagt sie, das Gefühl, durch das ganze Geschehen, die Rekrutierung und den Sex in der Garderobe »als Sexobjekt« entmenschlicht worden zu sein. »Und dann habe ich gedacht: Wenn ich der Welt so egal bin, dann ist vielleicht einfach alles scheißegal.«
Ahrens beginnt, Alkohol zu trinken, in Nachtclubs zu gehen, harte Drogen zu nehmen. Sie ist wütend, fühlt sich wie betäubt, kann sich kaum noch über etwas freuen. Umso mehr sucht sie Dinge, die sich lebendig anfühlen. »Ich habe einfach die ganze Zeit immer noch gehofft, dass ich dieses furchtbare Gefühl irgendwie drehen kann. Dass es sich noch in etwas Gutes verwandelt. Um das Erlebnis zu überschreiben.« Sie ist sich selbst nicht mehr wichtig, begibt sich in Gefahrensituationen, wird leichtsinnig. Ihre beste Freundin ist davon überfordert und zieht sich zurück. Sie ist schockiert darüber, wie sehr sich Ahrens verändert, und weiß nicht, wie sie ihr helfen soll.
Irgendwann versucht Ahrens, das Erlebte, so gut es geht, in einer Therapie zu verarbeiten. Sie fühlt sich lange Zeit damit allein. Bis Shelby Lynn am 25. Mai 2023 mit ihren Tweets über Rammstein viral geht. In den Instagram-Storys von Lynn liest Ahrens die dort anonym veröffentlichten Erfahrungsberichte anderer Frauen. Sie schreibt Lynn: »Ich wünschte, ich könnte jemandem meine Geschichte erzählen, aber ich habe Angst.« Lynn macht ihr Mut. Kurz darauf bekommt Ahrens von einer Freundin den Link zu unserem Post auf Twitter. Noch am selben Abend entschließt sie sich, uns zu kontaktieren.
Was ist das für ein System, das dem Rammstein-Sänger offenbar liefert, was immer er will? Gemeinsam mit unseren Kolleg*innen von SZund NDR setzen wir im Verlauf des Sommers 2023 eine Art Puzzle zusammen. Wir sprechen mit Shelby Lynn und Cynthia Ahrens und mit vielen weiteren Frauen, die uns unabhängig voneinander ihre Erfahrungen schildern.
Einige liefern kleine Puzzleteile: Sie sind zwar bei Rammstein-Konzerten oder auf Instagram angesprochen worden, haben die Einladungen zu Backstage-Partys oder in Hotels dann aber aus unterschiedlichen Gründen nicht angenommen. Sie bestätigen gleichwohl die Vielzahl an Rekrutierungsversuchen, die es weltweit gegeben haben muss, und auch die Kriterien, nach denen Fans ausgesucht wurden: Es ging ausschließlich um weibliche, in der Regel sehr junge Fans.
Andere liefern große Puzzleteile: Sie haben wie Cynthia Ahrens und Shelby Lynn alle Stufen des Castings durchlaufen. Ihre Berichte fügen sich zu einem Bild, das wie die industrielle Variante des einst romantisch verklärten Groupietums wirkt. Wie viel hat das noch mit Befreiung zu tun, die der Rock ’n’ Roll so lange versprach? Wie viel mit Dominanz und Unterwerfung, mit denen Lindemann in seiner Kunst spielt? Und wie einvernehmlich sind am Ende solche Begegnungen, wenn Fans dabei in Situationen geraten können, über die sie irgendwann die Kontrolle verlieren? Nur weil sie ein Angebot bekommen, das so reizvoll klingt, dass sie es nicht ablehnen wollen: Till Lindemann kennenzulernen.
Dieses Angebot, so stellt sich heraus, macht vor allem eine Frau: Alena Makeeva, die sogenannte Castingdirektorin.
Makeeva ist eine dunkelhaarige, schlanke Frau Mitte dreißig, die sich auf Instagram in schönen Kleidern zeigt – mal als Prinzessin im Ballkleid, mal als dunkle Königin der Nacht. Ihren gut 40 000 Followern präsentiert sie ein aufregendes Leben zwischen Urlaub am Meer, exklusiven Partys und Konzerten. Ein Leben ganz nah dran an den großen Stars. Sie veröffentlicht Fotos mit bekannten Musikern wie Nick Cave, Iggy Pop, Marilyn Manson, Matthew Bellamy von Muse oder Chris Martin von Coldplay. Immer wieder zeigt sie sich auch mit Till Lindemann, auf Tour, aber auch privat, etwa vor einem Weihnachtsbaum, offenbar in Sankt Petersburg – er in schwarzer Flickenjeans mit Sakko, sie im roten Kleid. Makeeva nennt Lindemann einen »Freund«.
Kennengelernt hat sie den deutschen Sänger 2013 angeblich bei einem Musikfestival in ihrer Heimatstadt Samara im Südosten Russlands. Damals darf sie als eine von zehn Fans mit auf die Bühne. Vorher sei sie selbst von Vertretern der Band in einem Fanforum ausgewählt worden, erzählt sie der russischen Internetseite Express Gazetta. Dieser Moment habe ihr Leben verändert.
In einem Online-Magazin wird sie als »berühmtestes russisches Groupie« bezeichnet. Dabei kommt sie nach eigener Aussage aus einer Welt, die weit weg ist vom Glamour der Stars: »Als ich zum ersten Mal nach Moskau kam, war ich ein kleines Mädchen aus der Provinz, und manchmal konnte ich mir kaum ein Ticket zweiter Klasse in die Hauptstadt leisten.« Mit der Zeit habe sie ihre eigene Methode erfunden, um Künstler kennenzulernen. »Die Essenz des Könnens besteht darin, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und die richtigen Worte zu finden.« Bei Rammstein ist ihr das offenbar gelungen: Sie tritt sogar in einem Musikvideo der Band auf und erfüllt sich damit einen Traum, wie sie in einem Interview sagt. Seit ihrer Kindheit sei sie in Rammstein verliebt, für die Band habe sie extra Deutsch gelernt. Im Video zu »Radio« klettert sie eine Fahne schwingend und oben ohne auf eine Straßenbarrikade. Später wirkt sie in zwei Musikvideos von Lindemanns Soloprojekt mit.
Es ist unklar, wie aus dem Groupie Makeeva jemand wird, der selbst Frauen für Till Lindemanns Partys und Pornodrehs organisiert. Sie hat alle unsere Gesprächsanfragen abgelehnt. Auch Till Lindemann und das Management von Rammstein haben sich nicht dazu geäußert, in welchem Verhältnis Alena Makeeva zu ihnen steht und ob sie Geld für ihre Dienste erhält.
Ein Vertrauter der Band sagt später, Alena Makeeva habe es seiner Meinung nach auf »unbezahlten VIP-Status« abgesehen. Schon Jahre bevor sie zu Rammstein stößt, sollen ihm zufolge Crewmitglieder durch Konzerthallen gelaufen sein, um weibliche Fans für Lindemann anzusprechen. Die Gespräche unseres Rechercheteams mit den gecasteten Frauen legen nahe: Neben Joe Letz, der die Band wohl bisweilen als DJ begleitet, sind offenbar mindestens drei weitere Personen immer wieder in das Rekrutieren von Fans involviert gewesen. Aber Makeeva ist dabei am sichtbarsten.
Spätestens Ende 2018 beginnt Makeeva auf Social Media nach Frauen für Lindemann zu suchen. Anfang November schreibt sie damals auf der russischen Plattform VK, »wer ihn kennenlernen möchte, schreibt mir bitte persönlich. Kosten: 0 Rubel.« Die Anforderungen: minimale Englisch- oder Deutschkenntnisse, angenehmes Erscheinungsbild. Einige Wochen später legt sie auf Instagram nach: »Wer geht zu Rammstein-Konzerten in Russland oder Europa und möchte eine coole Party mit Musikern?«
Am Anfang, so scheint es, interessiert sich Alena Makeeva für die ganze Band. Irgendwann aber geht es in erster Linie um Lindemann. Der feiert, heißt es in seinem Umfeld, nach den Konzerten längst ohne die anderen Bandmitglieder. Auf den offiziellen Aftershowpartys von Rammstein wird er nur noch sehr selten gesichtet. Stattdessen veranstaltet er vor und nach den Konzerten, oftmals auch in Hotels, eigene Partys, für die Alena Makeeva nun offenbar weibliche Fans organisiert.