Royal Institute of Magic, Band 1: Die Hüter der verborgenen Königreiche - Victor Kloss - E-Book

Royal Institute of Magic, Band 1: Die Hüter der verborgenen Königreiche E-Book

Victor Kloss

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bist du bereit für eine Welt voller Abenteuer und Magie? Nie hätte Ben sich träumen lassen, dass es überall auf der Welt verborgene Orte voller fantastischer Wesen gibt – bis ihn eine abenteuerliche Drachenbahnfahrt von London zum Royal Institute of Magic führt. Hier sausen mächtige Greife durch die Luft, Trolle helfen mit dem Gepäck und Zaubersprüche werden in bunten Perlen verkauft. Ben ist begeistert. Doch er merkt schnell, dass der Frieden in den verborgenen Königreichen bedroht ist. Denn der König der Dunkelelfen verfolgt einen finsteren Plan …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 390

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alle Abenteuer rund um das „Royal Institute of Magic“:

Die Hüter der verborgenen Königreiche

Auf den Spuren des Schattensuchers

Der Angriff der Dunkelelfen

Weitere Bände sind in Vorbereitung

Als Ravensburger E-Book erschienen 2024 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2024 Ravensburger Verlag Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel„Royal Institute of Magic 1: Elizabeth’s Legacy“. Text copyright © 2014 Layton Kloss Inc. Übersetzung: Sabine Felsberg Coverillustration: Helge Vogt Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51241-6

ravensburger.com

Ein unerwarteter Test

18. Dezember 1589

Die Wache entfernte die Binde. Michael James Greenwood blinzelte, als seine Augen versuchten, sich an das Licht der Fackeln zu gewöhnen.

„Stell keine Fragen. Setz dich“, befahl die Wache.

Michael befand sich in einem prunkvollen Gang, an dessen Seiten sich Männer und Frauen des Adels gegenübersaßen. Die meisten ignorierten ihn. Diejenigen, die ihm einen Seitenblick schenkten, taten dies so verächtlich, als wäre allein seine Anwesenheit eine Beleidigung. In der Tat passte Michael nicht in diese Runde. Er war halb so alt wie die anderen und hatte unordentliches blondes Haar, das zudem noch mit Mehl überzogen war, da er vor weniger als einer Stunde direkt aus der Bäckerei seines Vaters hierhergezerrt worden war.

Michael drehte sich zu dem imposanten Wachmann um, der hinter ihm stand, und zog die Augenbrauen hoch. Protest hatte ihm bislang zwar nur einen Klaps auf den Hinterkopf eingebracht, aber wenn er sich die anderen Anwesenden so ansah, wollte er gern einen weiteren Versuch wagen.

„Sir, das ist vollkommen absurd“, sagte er. „Ihr habt den falschen Greenwood. Bestimmt gibt es einen Lord oder Edelmann mit demselben Namen. Ich habe rein gar nichts mit der Person zu tun, die dieses Treffen geplant hat.“

Das Gesicht der Wache verdüsterte sich. „Dieses Treffen wurde von Ihrer Majestät der Queen einberufen. Zu meinem Bedauern wurde kein Fehler begangen. Nun setz dich und sei still.“

Michael verkniff sich eine Antwort. Nicht etwa aus Angst, sondern weil ihn nun tatsächlich Neugier gepackt hatte. Die Queen hatte diese merkwürdige Versammlung veranlasst? Er hatte die Queen erst einmal in seinem Leben gesehen und das aus großer Entfernung. Er war sich sicher, dass sie nicht einmal wusste, dass er existierte.

Er setzte sich zwischen zwei wohlhabend aussehende Männer und nickte ihnen lächelnd zu. Es überraschte ihn nicht, dass keiner von beiden die Freundlichkeit erwiderte. Stattdessen rückten sie von ihm ab, bemüht, ihre teuren Gewänder nicht mit Mehl zu besudeln.

Michael bemerkte eine gewisse Unruhe unter den Anwesenden. Wussten sie mehr als er? Die Wachen waren urplötzlich in der Bäckerei seines Vaters aufgetaucht und hatten ihn schnurstracks und ohne Erklärung zum Schloss mitgenommen. Sie hatten nur gesagt, dass er in keinerlei Schwierigkeiten stecke und bis zum Abend unbehelligt wieder zu Hause sein würde. Dann hatten sie Michael bis zum Haupttor eskortiert und ihm vor Eintritt eine Augenbinde angelegt.

„Lord Frederick Arnold.“ Der Aufruf der Wache unterbrach die angespannte Stille und riss Michael aus seinen Gedanken.

Ein korpulenter Mann erhob sich und ging zu der Wache, die neben einer Tür in der Mitte des Ganges stand. Der Wachposten flüsterte dem Lord etwas zu. Zwar konnte Michael nicht verstehen, was gesagt wurde, aber er sah, wie der Lord ein Taschentuch aus seinem Gewand zog und sich die feucht glänzende Stirn damit abwischte. Dann atmete er tief durch, öffnete die Tür und verschwand dahinter. Hier und da hörte man jemanden nervös die Luft einziehen. Von einigen Gesichtern konnte Michael pure Angst ablesen, erkannte in anderen aber auch Respekt.

Michael trommelte mit den Fingern auf seine Knie. Zu gern hätte er jemanden gefragt, ob sie wüssten, was gerade passierte, aber er war sich ziemlich sicher, dass ihm das lediglich einen weiteren Klaps einbringen würde. War es möglich, dass er irgendwelche Unterweisungen verpasst hatte? Wahrscheinlicher war es, dass diese reichen und gut vernetzten Lords und Ladys schon im Vorfeld mehr erfahren hatten als er. Was auch immer sie wussten, es erfüllte sie offensichtlich nicht mit sehr viel Zuversicht.

Michael hatte erwartet, dass große Aufregung herrschen würde, nachdem der Lord hinter der Tür verschwunden war. Stattdessen legte sich wieder Stille über die Anwesenden. Nach fünf Minuten öffnete der Wachmann erneut die Tür und steckte den Kopf durch die Öffnung. Scheinbar war er zufrieden mit dem, was er sah, denn er rief einen weiteren Namen aus. Eine „Lady Janet Harris“ stand auf und begab sich mit nur wenig mehr Fassung als ihr Vorgänger zur Wache. Wieder war Gemurmel unter den Anwesenden zu vernehmen und dann schritt auch die Lady durch die Tür.

Zwanzigmal wiederholte sich das Ganze, bis schließlich nur noch Michael im Gang saß – umgeben von leeren Stühlen und weiterhin vollkommen ahnungslos.

„Master Michael Greenwood.“

Seine Nerven flatterten ein wenig, als er aufstand. Eigentlich sollte er Angst haben oder wenigstens, wie seine Vorgänger, ein wenig besorgt sein. Aber so war es nicht. Er war neugierig. Was verbarg sich wohl hinter der Tür? In der letzten Stunde hatte er Dutzende Male beobachtet, wie die Wache den Aufgerufenen Anweisungen zuflüsterte. Er brannte darauf zu erfahren, was der Mann ihnen sagte.

„Du wirst für keine deiner Entscheidungen, die du jenseits dieser Tür triffst, zur Rechenschaft gezogen werden“, sagte die Wache.

Die Anweisung war so kurz, dass Michael sich ein wenig verschaukelt fühlte. Aber sie war auch geheimnisvoll und Michael blieb nach wie vor extrem neugierig.

„Könnt Ihr mir verraten, worum es hier geht?“, fragte Michael.

„Nein, aber ich kann dir sagen, warum du dich in adliger Gesellschaft befunden hast. Du gehörst zu einer kleinen Gruppe von Bürgern, anhand der herausgefunden werden soll, wie gewisse Personen des gemeinen Volks bei dem Test abschneiden.“

„Wen genau meint Ihr mit gewisse Personen des gemeinen Volks?“

„Jung, des Schreibens und Lesens mächtig, körperlich und geistig fit. Zum Glück gibt es nicht sehr viele von euch.“

„Also bin ich ein Experiment?“

„Ja.“ Das Gesicht der Wache zeigte weniger Mitgefühl als die steinernen Mauern des Gangs. „Wenn du meinen Rat möchtest – du solltest verschwinden. Das Institut ist eine hoch angesehene Organisation und sollte nicht durch einfache Menschen besudelt werden.“

„Ich danke Euch für die freundlichen und ermutigenden Worte, Sir“, erwiderte Michael. Noch bevor die Wache reagieren konnte, drehte Michael den Türknauf und betrat den Raum.

Sein ganzer Körper war angespannt, jederzeit bereit, auf mögliche Gefahren zu reagieren. Halb hatte er erwartet, dass sich ein Ritter in voller Rüstung auf ihn stürzen würde. Daher war er fast etwas enttäuscht, als sich seine Augen an das schummrige Licht des Raums gewöhnt hatten und er nichts außer einem einzelnen Stuhl und einem aufwendig verzierten Schreibtisch in einem kleinen quadratischen Zimmer sah. Am hinteren Ende des Raums befand sich eine Flügeltür, die so riesig war, dass sie fast die gesamte Wand einnahm. Zu seiner Linken gab es eine weitere, sehr viel kleinere Tür. Doch Michaels ganze Aufmerksamkeit galt der Wand zu seiner Rechten. Dort hing, kunstvoll eingerahmt und hinter einer Glasscheibe, ein goldenes Schwert. In den Schwertgriff eingelassen waren Edelsteine, deren Schönheit ihm den Atem verschlug.

Er riss sich von dem Anblick des Schwerts los und ging hinüber zu dem Schreibtisch; vielleicht befand sich etwas in den vielen Schubladen, das ihm weiterhelfen könnte.

Noch bevor er den ersten Schritt vollzogen hatte, blieb er erneut abrupt stehen. Etwas schwebte nur wenige Zentimeter über dem Schreibtisch. Wie von einer an der Decke befestigten Schnur aufrecht gehalten, hing dort ein Blatt Papier. Und obwohl kein Luftzug zu verspüren war, kräuselte es sich leicht, wie von Wind bewegt.

War das Blatt schon die ganze Zeit dort gewesen? Er hätte das doch ganz sicher bemerkt. Andererseits war er es auch nicht gerade gewohnt, auf Objekte zu achten, die über Tischen schwebten.

Selbst aus der Entfernung konnte er die mit Tinte verfasste schwungvolle Handschrift ausmachen. Er trat näher heran und indem er mit der Hand oberhalb des Papiers durch die Luft fuhr, suchte er nach einem dünnen Faden, der es schweben ließ. Er konnte nichts erspüren. Fasziniert ging Michael um den Schreibtisch herum, untersuchte das Blatt von allen Seiten. Aber auch hier fand er nichts, was es in dieser Position hielt. Schließlich gab Michael dem Blatt versuchsweise einen Stupser. Leichte Wellen durchfuhren es, bis es schließlich wieder ruhig und glatt an seiner Ausgangsposition schwebte.

Nachdenklich rieb Michael sich das Kinn. Was auch immer für Tricksereien hier angewendet wurden, solche waren ihm noch nie begegnet. Mit wachsender Neugier wandte er sich dem Text auf dem Blatt zu.

An: Sämtliche Bewerber am Royal Institute of Magic

Von: Queen Elizabeth, Kommandeurin des Royal Institute of Magic

Willkommen,

ich bin mir sicher, dass Ihr viele Fragen habt, aber dennoch, so hoffe ich, voller Neugier und nicht verängstigt seid. Lasst mich Euch versichern, dass Ihr in keinerlei Schwierigkeiten steckt; ganz im Gegenteil.

Ihr seid sorgfältig ausgewählt worden, um Euch für eine Stelle am Royal Institute of Magic zu bewerben. Da unsere Organisation der höchsten Geheimhaltungsstufe unterliegt, werdet Ihr nicht wissen können, wie wichtig sie für unser Land ist. Daher lasst mich Euch aufklären.

Im letzten Jahr haben wir gegen die spanische Armada gekämpft und einen großartigen Sieg errungen. Dieser Sieg wurde durch das Royal Institute of Magic ermöglicht. Welche Rolle genau das Institut gespielt hat, darf ich nicht offenlegen. Aber lasst mich betonen, dass es eine überaus wichtige war.

Michael hörte auf zu lesen und setzte sich rasch, bevor ihm die Beine wegsackten. Würde er sich in diesem Moment nicht gerade in einem Schloss befinden, hätte er das Schreiben als einen Streich abgetan. Er richtete seinen Blick kurz auf das Ende des Dokuments und sah die Unterschrift der Queen. Dieses Royal Institute of Magic war wirklich verantwortlich für den Sieg gegen die Spanier? Seine Neugier war mehr als geweckt und so las er weiter.

Eure Bewerbung unterliegt Eurer Einwilligung und einer Aufnahmeprüfung.

Ich werde Euch nicht anlügen. Diese Prüfung wird Euch Furcht einjagen. Sie wird Euch in Euren Überzeugungen bis ins Mark erschüttern. Ich selbst könnte nicht bestehen, was Ihr versuchen werdet. Allein um die Wahrheit zu erkennen und zu akzeptieren, benötigte ich vier Wochen. Euch bleibt eine Stunde.

Aber ich kann Euch einen Rat geben. Vergesst alles, was Ihr über Hexerei und ihre Verbindung zum Teufel zu wissen glaubt. Schaut und hört zu, seid aufmerksam bei allem, was Euch begegnen wird; gute Beobachtungsgabe ist mehr wert als Hörensagen.

Solltet Ihr an der Prüfung scheitern oder wünscht Ihr sie abzubrechen, dürft Ihr jederzeit gehen. Ihr werdet nicht bestraft. Weniger als eine von hundert Personen schließt sie erfolgreich ab. Also seid nicht betrübt.

Solltet Ihr jedoch bestehen, werdet Ihr für das angesehenste Institut arbeiten, das unser Land zu bieten hat. Ihr werdet mir direkt unterstellt sein; die Regierung weiß nichts von unserer Existenz.

Also entscheidet weise. Auch wenn Ihr für Eure Tätigkeit großzügig entlohnt werdet, Ihr werdet wahrhaft Bösem begegnen. Wir haben sehr viel gefährlichere Feinde als die Spanier oder die Franzosen, und einzig und allein das Royal Institute of Magic kann sich diesen entgegenstellen.

Solltet Ihr Euch für die Bewerbung entscheiden, dann geht durch die Flügeltür vor Euch – entscheidet Ihr Euch dagegen, dann geht durch die Tür zur Linken und Ihr werdet nie mehr von uns hören.

Was auch immer Ihr wählt, ich wünsche Euch alles erdenkliche Glück.

Elizabeth.

Michael ließ sich gegen die Stuhllehne sinken, atmete tief durch und versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen.

Das war doch verrückt! Die Queen – die Queen – sprach von Hexerei und dem Teufel. Kein Wunder, dass man das Schreiben nur in diesem abgeschotteten Zimmer zu lesen bekam. Wenn es in die Hände der falschen Leute geriet, würde eventuell ein Bürgerkrieg ausbrechen.

Obwohl der Brief ein paar Fragen beantwortete, so stellten sich doch viele neue. Was genau war das Royal Institute of Magic? Das Schreiben war sehr vorsichtig formuliert, sodass nichts darüber verraten wurde. Michael las noch einmal den Teil über die Prüfung und es wurde ihm kurz flau im Magen.

Wie viel Zeit blieb ihm, bis er sich entscheiden musste? Die Wache würde sicherlich bald nach ihm sehen. Wäre er aus dem Rennen, wenn er dann noch im Zimmer stünde?

Letztlich war das egal, denn Michael hatte seine Wahl getroffen, noch bevor er den Brief zu Ende gelesen hatte. Obwohl er nicht einmal zwanzig Jahre alt war, wusste er eines sicher: Das Leben als Bäcker war nichts für ihn. Sein Vater versprach Michael immer wieder, dass die Bäckerei eines Tages ihm gehören würde, wenn er nur hart arbeitete. Aber für die nächsten zwanzig Jahre jede Woche sechzig Stunden in einem Beruf schuften zu müssen, der ihm keinen Spaß machte, war eine sehr deprimierende Vorstellung.

Abgesehen davon konnte Michael einer so wundersamen Sache nicht einfach den Rücken kehren. Die Prüfung machte ihm schon etwas Angst, aber Rätsel faszinierten Michael und er war oft neugieriger, als gut für ihn war. Wie könnte er also nicht hineingehen?

Er betrachtete die Flügeltür. Welche Gefahren lauerten wohl dahinter? Welcher Art sie auch sein würden, Michael hatte nichts in der Hand, womit er sich verteidigen konnte. Das könnte zu einem Problem werden.

Da erinnerte er sich an das goldene Schwert. Michael ging hinüber, tastete die Glasscheibe ab und klopfte mit seinen Fingerknöcheln dagegen. Auf dem Griff aufgemalt war das Wappen der Queen. Hing das Schwert aus einem bestimmten Grund hier? Kurz wägte er ab: die Gefahr, Probleme mit der Wache zu bekommen, gegen die Vorteile, die Prüfung mit einem glänzenden Schwert zu bestehen. Die Entscheidung fiel ihm nicht sonderlich schwer.

Er schnappte sich den Stuhl und schmetterte ihn gegen das Glas. Es gab ein mächtiges Krachen und das Schwert fiel umgeben von Glassplittern zu Boden.

Er hob es auf und noch bevor die Wache Zeit hatte herauszufinden, was der Lärm bedeutete, rannte Michael zur Flügeltür, griff nach der eisernen Klinke und verschwand auf der anderen Seite.

Die einzige Spur

Gegenwart

Von der Anhöhe aus erblickt Ben Greenwood die beiden Poli-zeiautos, die links und rechts neben dem Mini Cooper seines Dads parken. Er bleibt stehen und versucht, mit zusammengekniffenen Augen irgendetwas zu erkennen, das ihm verrät, weshalb die Polizei dort ist. Nie käme er auf die Idee, dass es mit seinen Eltern zu tun haben könnte; sie wären so ziemlich die letzten Menschen, die Probleme mit der Polizei kriegen würden. Trotzdem beginnt er, den Hang hinunterzujoggen. Er brennt darauf, sie zu fragen, was los ist.

Fast hat er die Einfahrt erreicht, als er vorne am Haus das zerbrochene Fenster sieht.

Ihr zerbrochenes Fenster.

Ben hält an, als wäre es nicht möglich, gleichzeitig zu joggen und zu gucken. Das kann einfach nicht sein Haus sein. Doch neben dem kaputten Fenster befindet sich die gelbe Haustür mit der darauf gemalten Nummer 68. Mit Vollgas sprintet Ben die Einfahrt entlang und kracht regelrecht durch den Hauseingang.

Im Flur stoppt Ben schlagartig und starrt mit Entsetzen auf das Bild, das sich ihm bietet. Als wäre eine Bombe explodiert. Der sonst immer mit Klamotten überladene Kleiderständer ist leer, die Jacken und Mützen sind über den Boden verteilt, zusammen mit so vielen Schuhen, dass der Teppich darunter verschwindet. Ben bahnt sich einen Weg durch die Unordnung und betritt ein regelrechtes Inferno im Wohnzimmer.

Sämtliche Möbelstücke sind umgestoßen, ein Glastisch liegt zersplittert am Boden. Kaputte Bilderrahmen sind überall im Zimmer verstreut, der Teppich ist mit Glasscherben übersät.

Bens Aufmerksamkeit gilt nur für kurze Zeit dem Chaos; es sind Menschen im Raum – viele Menschen, und sie sind laut.

Sie zu beobachten macht ihn schwindelig. Passiert das wirklich oderistallesnureinTraum?IstdasüberhauptseinHaus?Polizisten und Menschen in Anzügen durchwühlen sämtliche Räume, als wären hier irgendwo die Kronjuwelen versteckt. In dem lauten Durcheinander von trampelnden Schritten und Herumgebrülle entsteht eine so spannungsgeladene Atmosphäre, dass Ben eine Gänsehaut bekommt. Verloren steht er in diesem Chaos, bis ein Polizist auf ihn aufmerksam wird.

„Alles okay, mein Junge?“, fragt der Officer und klopft ihm dabei leicht auf die Schulter.

Die Berührung holt Ben aus seiner Betäubung.

„Sind meine Eltern hier?“

Der Officer flucht leise und dreht sich zu den anderen im Zimmer.

„Jamie! Der Sohn ist da. Komm hier rüber!“

Etwas Weiches, Flauschiges traf Bens Kopf und riss ihn aus seinem Traum.

„Charles, wehe, du liegst noch im Bett – es ist zwanzig nach acht!“

Er hörte schlurfende Schritte und dann eine andere Stimme, diesmal sehr viel näher. Das Kissen traf ihn erneut.

„Aufwachen, Ben“, sagte Charlie. „Mein dämlicher Wecker ist wieder nicht losgegangen. Du musst abhauen, bevor Mum reinkommt!“

Ben setzte sich schlaftrunken auf und massierte seinen Rücken. Aus irgendeinem Grund schmerzte der jedes Mal, wenn er auf Charlies Schlafzimmerboden übernachtete.

„Zwing mich nicht dazu, nach oben zu kommen, Charles Hornberger!“

Die Stimme von Charlies Mum dröhnte markerschütternd wie aus einem Megafon, als gäbe es keine Türen.

„Ich komm ja schon!“, brüllte Charlie mit fast genauso viel Wumms zurück.

Charlie watschelte wie ein Pinguin, sprang dabei von einem Bein aufs andere und versuchte, sich seine Hose anzuziehen. Mit jedem Hüpfer wackelten seine Pausbacken auf und ab und seine Zunge war rausgestreckt – Koordination war definitiv nicht Charlies Stärke.

„Bitte, mach hin, Ben. Meine Mum dreht durch, wenn sie dich hier an einem Schultag findet“, sagte Charlie, etwas aus der Puste vom Rumhüpfen.

„Ich dachte, sie wäre schon durchgedreht.“

Aber Charlie war zu panisch, um auf Bens Witz zu reagieren.

„Beruhig dich, Charlie“, fügte Ben hinzu. „Ich bin doch praktisch schon fertig.“

Er schmiss sich in seine Schulkleidung und ging in Charlies Bad, das direkt an sein Zimmer angrenzte. Dort stellte er kurz sicher, dass sein dichtes blondes Haar zerzaust genug war, um gut auszusehen, ohne dabei ungepflegt zu wirken. Dann wusch er sein Gesicht und inspizierte es hoffnungsvoll im Spiegel nach ersten Barthaaren – nix zu holen. Ben rieb sich den Schlaf aus seinen dunkelblauen Augen. Zwar kapierte er nicht, wie sie trotz Schlafmangel immer so strahlend aussehen konnten, aber es war ihm letztlich egal. Seine Augen hatten ihm schon häufiger Ärger eingebracht, als er zählen konnte. Allerdings hatten sie ihm auch aus vielen heiklen Situationen herausgeholfen.

Ein dumpfes Trampeln ließ Ben erstarren. Jemand kam die Treppe herauf.

„So, jetzt reicht’s. Ich schmeiß dich aus dem Bett!“

Ben verließ das Badezimmer und sah Charlie mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen dastehen.

„Halt sie kurz auf, Charlie, ja?“, fragte Ben und gab seinem Freund auf dem Weg Richtung Schlafzimmerfenster einen Klaps auf die Schulter. Er schnappte sich seinen Rucksack, warf ihn über und machte das Fenster auf. Während er bereits ein Bein durch die Öffnung gestreckt hatte, drehte er sich noch einmal zu Charlie um, der jetzt noch panischer aussah.

„Ich kann sie nicht aufhalten“, raunte ihm Charlie angespannt zu. Sein Gesicht glich zunehmend einer reifen Tomate. „Ein geladenes Maschinengewehr könnte sie nicht aufhalten.“

Je weiter Charlies Mum die Treppe heraufmarschierte, desto lauter wurden die Schritte. Ben glaubte, sie wie einen wütenden Stier kurz vor dem Angriff hinter der Tür prusten zu hören. Er schwang beide Beine über das Fensterbrett. Draußen befand sich ein Apfelbaum und er visierte den Punkt an, den er treffen musste, um sicher zu landen.

Ein letztes Mal blickte er zu Charlie, der ihm wild mit den Armen fuchtelnd zu verstehen gab, dass er endlich verschwinden solle.

„Denk an mein Frühstück“, sagte Ben mit einem Grinsen und salutierte kurz. „Ich mag mein Spiegelei einmal gewendet.“

Ben sprang und hörte noch, wie die Tür aufgerissen wurde. Mit einem dumpfen Plumps landete er auf dem Ast und kletterte rasch den Baum runter in den Schutz von Charlies Garten. Ein kurzer Blick durch das Küchenfenster zeigte Charlies Vater beim Frühstück, den Rücken dem Fenster zugewandt. So tief geduckt wie möglich sprintete Ben zur Hecke, die den Garten umgab. Dort angekommen, zwängte er sich auf Händen und Knien durch ein winziges Loch zum nächsten Garten, ohne die stacheligen Zweige zu beachten. Charlies Nachbarn, die Lamberts, waren Frühaufsteher, daher befand sich dort nie jemand im Haus. Er klopfte sich den Schmutz von seiner Kleidung und ging um das Gebäude herum. Dann sprang er über das Gartentor, lief die Einfahrt entlang bis zum Bürgersteig und mischte sich unter die anderen Kids, die auf dem Weg zur Schule waren.

An der Straßenecke machte Ben halt, lehnte sich gegen einen großen Baum und wartete auf Charlie. Ein paar Jungen, manche ein oder zwei Jahre älter als Ben, blieben stehen und fragten ihn, ob er im Sommer Fußball spielen würde. Die Mädchen seines Jahrgangs lächelten ihn im Vorbeigehen an und winkten ihm zu.

Bestimmt waren all diese Kids in ihren eigenen, gemütlichen Betten aufgewacht, hatten wahrscheinlich ein warmes Frühstück vorgesetzt bekommen und waren dann von ihren nörgelnden Eltern aus dem Haus getrieben worden. Niemals hätte Ben gedacht, dass er das Nörgeln einmal vermissen würde.

Kurz darauf erschien Charlie mit einem Sandwich in der Hand.

„Hatte keine Zeit, Eier zu machen. Erdnussbutter und Marmelade müssen reichen. Sorry, dass das Sandwich nicht meinem üblichen Standard entspricht. Mum hat mich rausgeschmissen, bevor ich damit fertig war. Sie glaubt, ich hätte eine Essstörung.“

„Das ist perfekt, Charlie, danke“, erwiderte Ben, nahm das Sandwich und machte sich genussvoll darüber her.

Die beiden starteten ihren Weg zur Schule, der durch gepflegte, aber nicht sehr abwechslungsreiche Nachbarschaften voller Blumenbeete und silberner Kombis führte.

Bens Traum drängte sich immer wieder in seine Gedanken, ließ sich einfach nicht abschütteln.

„Siebzehn Tage“, sagte er frustriert.

Charlie raunzte. „Ich war mir so sicher, dass du ihn diesmal losgeworden warst.“

„Ich auch“, sagte Ben und trat einen Kiesel.

Ben setzte seinen mentalen Zähler wieder auf null zurück. Siebzehn Tage ohne diesen Traum waren ein Rekord gewesen und er hatte angefangen zu glauben, dass er ihn endlich hinter sich gelassen hatte. Zwei Jahre waren eine lange Zeit, einen wiederkehrenden Traum zu haben. Aber vielleicht war das auch normal nach einem traumatischen Erlebnis. War es wirklich schon zwei Jahre her, dass seine Eltern verschwunden waren? Er war jetzt fast fünfzehn, also musste es wohl so sein. Ben konnte sich an die Wochen nach ihrem Verschwinden erinnern, als wäre es gestern gewesen. Jedes Mal, wenn jemand zum Haus kam, jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, mit jedem Brief, der eintraf, glaubte Ben, seine Eltern wären zurückgekommen, um zu erklären, wohin sie verschwunden gewesen waren und warum. Aber nach ein paar Monaten hatte er aufgehört, die Treppe runterzurasen, um die Post reinzuholen, und er hatte aufgehört, ständig seine Grandma zu fragen: „Wer hat angerufen?“, sobald sie den Hörer aufgelegt hatte. Dann hatten die Albträume begonnen und jede Nacht musste er das Ganze erneut durchleben.

„Wo wir gerade davon sprechen“, sagte Charlie. „Ich hab gute Neuigkeiten. Rate mal, wer mir heute morgen eine E-Mail geschickt hat?“

Irgendetwas lag in Charlies Stimme – sie klang zu gelassen. Charlie war nie gelassen.

„Wohl jemand Wichtiges, wenn du so krampfhaft versuchst, relaxt zu bleiben, aber aussiehst, als würdest du gleich explodieren.“

Charlie schlug sich frustriert auf den Oberschenkel. „Wie schaffst du das, immer so cool zu wirken? Das musst du mir unbedingt beibringen.“

„Unmöglich, Charlie. Dir kann man das sofort am Gesicht ablesen. Also, wer hat nun gemailt?“

„Der Stoffexperte!“ Charlie riss triumphierend die Arme hoch, als hätte er gerade einen Sieg errungen. „Wir haben uns sogar schon auf einen Preis geeinigt, für den ich vorher nicht mal meine Niere verkaufen muss. Das Beste ist, er kommt aus London, sodass wir es nicht per Post schicken müssen – wir können einfach selbst hinfahren. Das hatte dir ja Sorgen gemacht. Er ist echt gut. Wenn der unsere Fragen nicht beantworten kann, dann kann es keiner.“

Ben schaffte es, seine Aufregung zu unterdrücken, was Charlie kurz vorher nicht gelungen war. Es hatte schon zu viele falsche Fährten gegeben, um vorschnell in Jubel auszubrechen. Charlie hingegen schien zu verdrängen, dass sie schon Dutzende Experten aufgesucht hatten.

Ben ließ den Stofffetzen, der sich in seiner Tasche befand, durch die Finger gleiten. Er wusste genau, wie er sich anfühlte, bis hin zum kleinsten Fadenstich. Er zog ihn heraus und bewunderte ihn, wie schon tausend Mal zuvor. Immer wieder überwältigte ihn dessen Schönheit. Er war nicht größer als ein Taschentuch, aber es waren die Farben und die Struktur, nicht die Größe, die ihn besonders machten. Laufend passte er seine Farbe der Umgebung an. Jetzt gerade war er hellbraun und von Bens Hand nicht zu unterscheiden. Sobald er ihn gegen seine Hose hielt, wurde er schwarz.

Er erinnerte sich gut daran, wie er, nachdem die Polizei abgefahren war, das Tuch in den Trümmern des Hauses fand. Es war seine einzige Verbindung zum Ort des Verbrechens und er hatte niemandem davon erzählt, aus Angst, dass man ihm den Stoff wegnehmen würde. Ben war sich sicher, dass das Material einzigartig und ein wichtiger Hinweis war. Das Problem: Es war zu einzigartig – niemand hatte je zuvor so etwas gesehen. Und obwohl er viele Kaufanfragen bekommen hatte, konnte ihm niemand irgendetwas darüber sagen.

„Hört sich gut an, Charlie. Lass uns am Wochenende hinfahren.“

„Schon gebucht“, sagte Charlie und rieb sich mit einem verschmitzten Grinsen die Hände.

Plötzlich kam Ben ein Gedanke. „Wie viel wird das kosten?“

Charlies Grinsen verschwand. „Ist doch egal. Das geht auf mich.“

Ben schüttelte den Kopf und wackelte mit dem Zeigefinger. „Ich zahle mindestens die Hälfte. Wie viel verlangt er denn? Und denk nicht mal dran, mich anzulügen.“

Charlie starrte ihn an und seufzte. „Hundert Pfund für eine fünfzehnminütige Beratung.“

Ben verzog das Gesicht. „Wow – ist Frühstück inbegriffen?“

„Sehr witzig, Ben. Der Typ ist Profi; der ist das wert.“

„Das hoffe ich“, erwiderte Ben. „Dafür muss ich nämlich eine extra Zeitungsrunde fahren.“ Es entstand eine kurze Pause. „Können wir ihn auch später bezahlen?“, fragte er dann zerknirscht und raufte sich ein Büschel seiner blonden Haare. „Ich bin nämlich grad etwas knapp bei Kasse. Ansonsten müssten wir den Termin verschieben.“

Charlie verdrehte die Augen und schwang melodramatisch die Arme in die Luft.

„Echt jetzt, Ben“, stöhnte er. „Sorry, aber du kannst dir nicht mal ein eigenes Zimmer leisten, während du hier zur Schule gehst. Du wirst nicht“ – Charlie stampfte energisch mit dem Fuß auf – „hierfür bezahlen.“

Ben konnte sich nicht entscheiden, ob er sich weiterhin störrisch weigern oder sich über Charlies kleine Dramashow amüsieren sollte.

Mit ‚hier‘ meinte Charlie die Kleinstadt Dukinfield in West Sussex, die bis zum Verschwinden seiner Eltern Bens Heimatort gewesen war. Eine reiche Familie hatte ihn nach den Geschehnissen aufgenommen. So konnte er unter der Woche weiterhin in Sussex zur Schule gehen; seine Wochenenden verbrachte er bei seiner Großmutter in Croydon. Die Lösung war optimal gewesen. Aber im letzten Jahr war die Familie weggezogen. Er hatte herumgefragt, aber keine der Familien seiner Freunde konnte es sich leisten, ihn aufzunehmen. Doch das schreckte Ben nicht ab. Statt seiner Großmutter von der Situation zu erzählen, nahm er es selbst in die Hand, sich eine Unterkunft für die Schulwoche zu organisieren. Schließlich besaß er genügend enge Freunde. Warum also nicht mal hier und mal dort schlafen. Es lief perfekt – die Eltern seiner Freunde hegten keinerlei Verdacht, da er nie mehr als eine Nacht pro Woche im selben Haus verbrachte.

Nur hatte Ben den Geheimpakt unter Müttern nicht einkalkuliert: keine Übernachtungen während der Schulwoche. Das verkomplizierte das Ganze zwar, aber Ben schaffte es dennoch, zwei-, dreimal die Woche mit Erlaubnis der Eltern bei einem Freund zu schlafen. Die restlichen Nächte, wie zum Beispiel die letzte Nacht, waren dann etwas abenteuerlicher.

„Ich zahl dir das Geld zurück“, versicherte Ben. „Ich such mir einen zusätzlichen Ferienjob.“

Die Sommerferien standen vor der Tür und Ben war froh, dass dies für mehrere Wochen der letzte Montag in der Schule sein würde.

Die Fahrt zum Stoffexperten und das Ende des Schuljahres zum Greifen nah, zog sich die Schulwoche in die Länge wie Kaugummi. Als der lang ersehnte Freitag endlich da war, übernachtete Ben wieder bei Charlie und am nächsten Morgen stiegen sie in den Bus nach London.

„Müssen wir wirklich den Umweg zu deiner Grandma machen?“, jammerte Charlie.

„Komm, das ist nun wirklich kein Umweg; wir fahren eh direkt durch Croydon. Ich muss nur meinen Kram abliefern.“

„Wird der Teufel auch daheim sein?“

„Meine Grandma ist kein Teufel“, sagte Ben lachend, ohne weiter auf die Beleidigung einzugehen. „Und überhaupt – ist der Teufel nicht männlich?“

„Das habe ich auch gedacht, bis ich deine Grandma kennengelernt hab. Könntest du ihr vielleicht mal beibringen, mich nicht immer Dickerchen zu nennen?“

„Du musst zugeben: Ein bisschen abzuspecken würde dir gar nicht schaden.“

„Meine Mum sagt, das ist nur Babyspeck“, rechtfertigte sich Charlie.

Ehrlich gesagt, hatte Ben kein großes Verlangen, seine Großmutter in Schutz zu nehmen. Charlie lag ja mit seinen Vorwürfen nicht ganz falsch. Deshalb nahm Ben auch gern sein etwas ungewöhnliches Leben in Sussex in Kauf. Aber sie war auch die einzige Familie, die ihm noch geblieben war.

Ben befühlte das Tuch in seiner Tasche und dachte nicht weiter über seine Großmutter nach. Würde dieser Stoffexperte endlich etwas Licht ins Dunkel bringen können? Was, wenn auch er nichts darüber wusste? Dann wäre die einzige Spur, die er zu seinen verschwundenen Eltern hatte, endgültig ins Leere gelaufen. Ben weigerte sich, diese Möglichkeit weiter in Betracht zu ziehen. Er war sich sicher, dass seine Eltern irgendwo da draußen waren; warum sie jedoch nicht nach Hause kommen konnten, blieb für ihn rätselhaft.

Eine halbe Stunde später bog der Bus in die Galaxy Lane ab und blieb an der Haltestelle stehen. Sie stiegen aus und liefen durch eine Siedlung mit Sozialwohnungen bis zu einer kleinen Nachbarschaft mit Häusern. Ben und Charlie folgten einer kurvigen Straße, die zu einer Sackgasse führte. Irgendwann erreichten sie ein kleines schlichtes Backsteinhaus, das seit zwei Jahren Bens Zuhause war. Es besaß keine flippige gelbe Haustür wie sein Elternhaus und auch nicht den wilden Vorgarten, aber es war besser, als gar kein Zuhause zu haben.

Ben suchte in seiner Tasche nach dem Schlüssel, aber zu seiner Überraschung war die Tür bereits offen. Direkt davor stand ein Polizist. Ben war wie erstarrt, sein Herz flatterte.

Er erkannte den Mann auf den ersten Blick – er erschien Ben fast jede Nacht im Traum.

Das Schmuckkästchen

Der Polizist wollte gerade gehen, hielt aber an, als er zwei Jungen auf sich zurennen sah.

„Ben Greenwood?“

Ben nickte und versuchte, im Gesicht des Officers den Grund für dessen Anwesenheit zu erkennen. Sein Atem ging schneller und er merkte, wie Hoffnung in ihm aufkeimte, obwohl er dagegen ankämpfte. Der Officer schien kleiner zu sein als damals, aber vermutlich war Ben einfach nur gewachsen.

„Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht mehr an mich. Ich war einer der Polizisten, die auf den Polizeiruf reagiert hatten, als deine Eltern verschwanden.“

„Inspector Wilkins“, sagte Ben. „Was ist passiert? Haben Sie etwas gefunden?“

Wilkins’ Augenbrauen zuckten kurz überrascht und er zögerte; da wurde Ben klar, dass die Nachrichten nicht gut waren.

„Es tut mir leid, Ben.“ Wilkins kratzte sich die Stirn und schien sich unbehaglich zu fühlen. „Wir haben schon seit einiger Zeit keine neuen Erkenntnisse mehr erlangt. Ich bin gekommen, um ein paar Beweismittel zurückzubringen, die wir damals im Haus deiner Eltern sichergestellt hatten.“

„Warum geben Sie sie zurück?“, fragte Ben mit leiser Stimme. „Sie geben doch nicht auf, oder?“

„Nein“, antwortete Wilkins, weil er es einfach nicht übers Herz brachte, etwas anderes zu sagen. „Wir werden die Ermittlungen nicht beenden, bis wir deine Eltern gefunden haben. Wir haben einige neue Fälle, aber nicht genug Platz auf der Polizeistation, um alle Beweismittel aufzubewahren.“

Ben wollte ihm wirklich glauben. „Sie sind noch am Leben.“ Er spürte einen Kloß in seinem Hals, aber er sprach weiter. „Ich weiß nicht, warum, aber ich bin mir sicher.“

„Ich glaube dir“, versicherte ihm der Inspector mit ernster Miene.

Ben sah Wilkins hinterher, nachdem dieser sich verabschiedet hatte und davonfuhr; mit ihm verschwand auch seine letzte Hoffnung in die Polizei.

„Der lügt.“ Charlie blickte dem Wagen nach. „Wenn er Beweise zurückgibt, bedeutet das, dass sie die Ermittlungen einstellen.“

Ben hätte ihm gern widersprochen, aber er zweifelte nicht an Charlies Mutmaßung.

„Lass uns meine Tasche abladen und von hier abhauen“, sagte Ben.

Charlie nickte. „Ich frage mich, welche Beweisstücke sie zurückgegeben haben.“

Ben fragte sich dasselbe. Was immer es war, der Polizei hatten sie bei ihrer Ermittlung nicht weitergeholfen. Das machte Ben jedoch nicht weniger neugierig.

„Oh Mann, was ist das denn für ein Gestank?“, fragte Charlie, als sie das Haus betraten.

Sie fanden die Antwort in der Küche. Schon vom Flur aus konnte Ben hoch aufgestapeltes Geschirr in der Spüle sehen, schmutzige Teller bedeckten jeden Zentimeter des Küchentisches. Ben hielt den Atem an und rannte hinüber, um die Kühlschranktür zu schließen; der Kühlschrank war leer bis auf einen ekelhaften Käse, der aussah, als wäre er zu einem komplett neuen Organismus mutiert.

Sie schlossen die Küchentür, um den Gestank einzudämmen, und gingen ins Esszimmer. Auf einem kleinen Tisch standen zwei große Kartons; in einen war der Kopf einer zerbrechlichen Dame so weit versunken, dass nur noch ihr weißes buschiges Haar zu sehen war. Sie zog Bücher und andere Dinge heraus und schmiss sie achtlos auf den Boden.

„Müll – Schrott!“, sagte die Dame.

„Grandma, was machst du da?“, fragte Ben und sammelte eilig die auf dem Fußboden verstreuten Sachen zusammen. „Das gehört dir nicht.“

Grandma Anne schaute auf und warf erst Ben und dann Charlie einen grimmigen Blick zur Begrüßung zu.

„Die hätten das alles gleich zur Müllkippe bringen sollen“, sagte sie und schubste angewidert einen Karton von sich. „Schwer genug, das Haus sauber zu halten mit dir hier.“

„Das ist kein Schrott, Grandma.“ Bens Augen weiteten sich, als er einen großen Ordner entdeckte. „Schau hier. Das ist ein Familienfotoalbum.“

Anne ignorierte das Album und zeigte mit einem knochigen Finger auf ihn. „Du sollst mich nicht Grandma nennen! Ich habe genügend echte Enkelkinder.“

„Ich hatte es vergessen“, sagte Ben.

Seltsamerweise fiel es ihm schwer, eine so lange Gewohnheit abzulegen. Erst nach dem Verschwinden seiner Eltern hatte er erfahren, dass Anne seine Stiefoma war.

Ben begann, die Kisten zu durchsuchen. Sofort steckte Anne ihren Kopf wieder in den Karton, wobei ihre lange spitze Nase fast dessen Inhalt berührte. „Ich habe ein Anrecht auf fünfzig Prozent der Einnahmen von dem, was du verkaufst. Also denk nicht mal dran, mich übers Ohr zu hauen.“

Aus einer Ecke des Raums war ein zaghaftes Hüsteln zu hören. Anne wandte sich dem Verursacher zu. „Was ist los, Dickerchen?“

„Nichts – nur, dass Ben als nächster Angehöriger alleinigen Anspruch auf den gesamten Besitz seiner Eltern hat.“

Annes permanent zusammengekniffene Augen verengten sich zu Schlitzen. Ihr finsterer Blick ließ Charlie zusammenzucken. „Wenn Dickerchen recht hat, dann will ich allerdings auch nicht, dass die Kartons hier Unordnung verbreiten. Schaff sie in dein Zimmer.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm sie ihren Gehstock und schlurfte ins Wohnzimmer. Der Fernseher ging an und sie vergaß, dass sie überhaupt anwesend waren.

Ben und Charlie schnappten sich die Kartons und trugen sie die Treppe hoch in Bens Zimmer. Als sie dort ankamen, inspizierte Ben kurz den Raum, um zu sehen, ob irgendetwas umgestellt war. Anne spionierte gern herum und „lieh“ sich Dinge aus. Letzte Woche fehlten die Batterien seines Weckers; Ben fand sie später in der Fernbedienung des Fernsehers wieder. Aber zum Glück war das Bett nicht angerührt, seine Familienfotos standen wie immer auf dem Fensterbrett und der Minifußball lag noch auf seinem Schreibtisch.

Sie luden alles auf Bens Bett ab. Doch anstatt gleich wieder zu verschwinden, beäugten sie die Kartons.

„Ich frag mich, ob irgendetwas Nützliches drin ist“, sagte Ben.

Charlie kratzte sich nachdenklich das Kinn. „Natürlich hat die Polizei bereits alles untersucht.“

„Natürlich.“

Sie starrten weiterhin auf die beiden Kartons.

„Wir haben noch Zeit, bevor wir den Stofftypen treffen“, sagte Ben. „Warum gucken wir sie uns nicht kurz an?“

Charlie nickte so eifrig, dass seine Wangen wackelten.

Sie setzten sich aufs Bett und jeder wuchtete sich einen Karton auf den Schoß.

Ben hielt unbewusst den Atem an, als er den ersten Gegenstand herauszog – ein Telefonbüchlein. Er betrachtete jede einzelne Seite und freute sich, die Handschrift seiner Mutter zu sehen. Es gab noch viele weitere Bücher, ein paar Fotoalben, die Ben gebannt durchsah, und sogar noch einen alten iPod mit leeren Batterien. Hin und wieder blickte er zu Charlie rüber, der den Inhalt seines Kartons mit Bedacht untersuchte. Sein Freund war ein regelrechtes Ein-Mann-Scotland-Yard und Ben hoffte, dass Charlie auf etwas stoßen könnte, das der Polizei entgangen war. Doch obwohl Charlie fasziniert schien, sagte er kein Wort.

Als Ben fast den Boden des Kartons erreicht hatte, konnte er seine Enttäuschung kaum unterdrücken. Er blickte hinein, um die letzten Gegenstände zu begutachten.

Halb von einem Ordner verdeckt, sprang ihm etwas Schimmerndes ins Auge.

Es war ein kleines hölzernes Schmuckkästchen. Ben zog es heraus. Das Holz war wundervoll gearbeitet und mit zarten goldenen Schnitzereien versehen.

Charlie legte das Foto, das er gerade studierte, beiseite und schaute interessiert hinüber.

Ben öffnete das Kästchen und starrte den Inhalt an. Es enthielt ein paar kleinere Schmuckstücke, die aber nicht sonderlich wertvoll schienen. Das überraschte Ben nicht, denn seine Eltern schwammen nicht gerade in Geld.

„Darf ich mal?“, fragte Charlie und Ben reichte ihm das Kästchen. Charlie hielt es ins Licht und mit angestrengtem Gesichtsausdruck inspizierte er es von allen Seiten.

„Ich wette, dass das Schmuckkästchen mehr wert ist als der Inhalt“, sagte Charlie. „Die Kunstfertigkeit ist der Wahnsinn. Schau dir die Gravur an! Edward Clavell, 1548. Das Kästchen ist mehrere Hundert Jahre alt.“

Ben war nicht ganz so beeindruckt wie Charlie. „Ich nehme an, du schaust noch immer jeden Dienstag Bares für Rares?“

„Mein Dad guckt das immer und dann bin ich halt auch süchtig geworden. Ich wette, wir könnten das schätzen lassen, wenn wir uns dort anmelden.“ Charlie klopfte gegen den Boden des Schmuckkästchens und war hellauf begeistert. „Hörst du das? Das könnte hohl sein.“

Ben hörte angestrengt hin, aber es war schwer, etwas auszumachen. Außerdem fand er, dass Charlie sich zu sehr mitreißen ließ.

Charlie untersuchte die feinen Schnitzereien. „Manchmal haben solche Sachen einen doppelten Boden – das habe ich einmal bei Bares für Rares gesehen.“

Nachdem er mehrere Minuten lang gedrückt und gestochert hatte, ließ Charlies Faszination nach und er gab das Kästchen schließlich zurück.

Noch ein letztes Mal untersuchte Ben das Schmuckkästchen. Etwas an den goldenen Schnitzereien stach ihm ins Auge; je länger er sie ansah, desto heller schienen sie zu leuchten. Es war beinahe hypnotisierend. Seine Augen begannen zu tränen, aber er schaffte es nicht, seinen Blick von den goldenen Lichtpunkten abzuwenden. Sie schienen zu tanzen und zu schimmern und mit jeder Sekunde heller zu werden. Fast schon hatte er das Gefühl, durch die Vorführung zu erblinden, als er zu erkennen glaubte, wie das Licht ein Wort buchstabierte.

Greenwood.

Ein leises Klicken ertönte und direkt über dem Sockel des Schmuckkästchens öffnete sich eine winzige Schublade.

Erschrocken zwinkerte Ben und erwachte aus seiner Trance.

„Wie hast du das gemacht?“, fragte Charlie nach Luft schnappend.

Ben rieb sich seine Augen. „Ich bin mir nicht sicher.“

Im Inneren der kleinen Schublade lagen zwei Karten auf einem Stück Papier. Ben streckte seine Hand nach den Karten aus, wurde aber von dem Papier darunter abgelenkt.

Ein Brief. Ben zog ihn hervor.

Es war kein typisches DIN-A4-Blatt; es war dickes gelbes Pergamentpapier, mit einer eleganten Handschrift beschrieben, die Ben kaum entziffern konnte. Der Briefkopf bestand aus einem Siegel mit den Buchstaben R.I.M., welche auf ein aufwendig gestaltetes Wappen geprägt waren. Das Siegel schien ihm vertraut, aber Ben kam nicht darauf, woher er es kannte.

Liebe Jane,

es ist bereits eine Woche vergangen, seit du und Greg hier wart. Wenn ihr morgen früh nicht ankommt, sehe ich mich gezwungen, euch einen Besuch abzustatten. Zwar glaube ich den Gerüchten nicht, aber es besteht kein Zweifel daran, dass sie euch und euren Sohn in große Gefahr bringen können. Ich kenne eure Einstellung, Ben nichts über uns zu erzählen, aber das Institut ist noch immer der einzige Ort, zu dem der Feind keinen Zugang hat. Ich flehe dich und Greg inständig an, mich aufzusuchen.

Mit besten Grüßen

Wren Walker

Der Brief war auf den Tag vor dem Verschwinden von Bens Eltern datiert.

Ben las den Brief dreimal hintereinander und starrte dann lange darauf. In seinem Kopf drehte sich alles und sein Magen schlug Purzelbäume.

„Ich glaube, wir sind da auf etwas gestoßen“, flüsterte Charlie und holte Ben aus seinem Hypnosezustand. Er hatte den Brief über Bens Schulter mitgelesen.

Es gab so viele Fragen, dass Ben kaum wusste, wo er anfangen sollte. Charlie hatte damit jedoch keine Schwierigkeiten. Wie ein verrückter Professor beim Brainstorming lief er auf dem Teppich auf und ab.

„Deine Eltern müssen gewusst haben, dass sie in Gefahr schwebten. Und du warst anscheinend auch in Gefahr.“

„Ich habe mich aber nie in Gefahr gefühlt“, sagte Ben, während er seinen Kopf hin und her drehte, um Charlies Schritten zu folgen.

Charlie nickte. „Und da mittlerweile zwei Jahre rum sind, glaube ich, dass wir davon ausgehen können, dass du nun sicher bist.“

„In welcher Art von Gefahr könnten meine Eltern gewesen sein?“, fragte Ben. „Sie haben für Greenpeace gearbeitet, nicht für den MI5.“

„Das Siegel auf dem Brief hat nichts mit Greenpeace zu tun.“

„Aber was könnte es sonst sein?“

„Ich hab keine Ahnung, aber ich weiß, wie wir es rausfinden können.“

Ben betrachtete den Brief. „Indem wir diese Wren Walker finden?“

„Genau. Wer ist sie? Oder noch wichtiger, was bedeutet dieses R.I.M.-Siegel? Ich wette, das gehört zu dem Institut, das sie erwähnt. Wenn wir das Siegel zuordnen können, können wir sie vielleicht finden.“ Charlies Gesicht war rot angelaufen und er war etwas kurzatmig vom schnellen Reden.

Ben betrachtete noch einmal das Siegel auf dem Pergamentpapier. Es kam ihm wirklich bekannt vor. Die vier Bereiche des Siegels waren Teil eines Schilds und wechselten zwischen einem roten Hintergrund mit einem goldenen Löwen und einem blauen Hintergrund mit merkwürdigen Blumen, die ebenfalls golden waren. Wo hatte er das nur schon einmal gesehen? Ben schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern, wo und wann es ihm begegnet war. Vielleicht in einem Museum? Nein. Im Fernsehen? Nein. Irgendwo an einem Gebäude? Ja! In der Stadt …

Ben riss die Augen auf.

„Ich fass es nicht“, rief er.

Charlie blickte ihn verwirrt an.

„Da bin ich jedes Wochenende dran vorbeigegangen.“ Jetzt war es Ben, der hektisch im Zimmer auf und ab lief.

„In der Nähe des Stadtzentrums gibt’s doch einen Sainsbury’s Supermarkt. Da bin ich jeden Samstag langgegangen. Auf der anderen Seite der Hauptstraße war ein altes schmales Gebäude. Ich erinnere mich daran, weil da immer ein Wachmann vor der Drehtür stand. Oben, wo normalerweise ein Ladenschild hängt, hing das.“

Ben zeigte auf das R.I.M.-Siegel.

Charlie, dem sonst nie die Worte fehlten, verschlug es die Sprache. Er öffnete und schloss seinen Mund, aber er brachte keine Silbe heraus.

Ben hätte am liebsten einen Freudentanz aufgeführt, grinste aber stattdessen nur bis über beide Ohren. Er lief zur Tür und gab Charlie im Vorbeigehen einen Klaps auf die Schulter.

„Lass uns keine Zeit verlieren, Charlie – komm, los.“

„Wohin?“

„Dorthin, wo wir Antworten bekommen.“

„Wenn die dort einen Wachmann haben, glaube ich kaum, dass wir so einfach reinmarschieren können.“

„Natürlich nicht“, sagte Ben. Er hielt an und drehte sich zu Charlie um, der sich auf die Lippe biss.

„Wir werden nichts tun, was ungesetzlich ist, oder? Damit fühle ich mich immer unwohl.“

„Charlie, ehrlich – bevor wir überhaupt nur daran denken, das Gesetz zu brechen, werde ich zwei, vielleicht sogar drei absolut sichere Pläne ausgearbeitet haben.“

„Wie beruhigend.“

Ein ungewöhnlicher Fahrstuhl

Mit schnellen Schritten bahnte sich Ben einen Weg durch die morgendlichen Shopper. Am liebsten wäre er gerannt, aber Charlie pumpte jetzt schon schwer, um mithalten zu können.

„Also, wie sieht dein Plan aus?“, fragte Charlie. Er hatte ein weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche gezogen und tupfte sich damit die Stirn ab.

Ben sprang einem entgegenkommenden Kinderwagen aus dem Weg. „Ich muss mir das Gebäude noch mal ansehen.“

Charlie stöhnte. „Du hast gar keinen Plan, oder? Du denkst dir bestimmt erst was aus, wenn wir da sind.“

„Blödsinn“, erwiderte Ben und schoss einen Blick gespielter Empörung in Charlies Richtung.

Er hatte einen Plan oder jedenfalls so etwas Ähnliches, aber er hoffte, dass ihm ein besserer einfallen würde, wenn er erst einmal dort wäre.

„Was ist mit dem Stoffexperten?“, fragte Charlie.

„Da gehen wir auch noch hin. Aber der Termin ist erst um 15:00 Uhr. Wir haben noch jede Menge Zeit.“

Es war schon eine Weile her, dass Ben diese Straße entlanggegangen war, aber sie hatte sich kaum verändert. Es gab mehrere Kaufhäuser und natürlich die übliche Ansammlung von Handyläden und Cafés. Ben verlangsamte sein Tempo erst, als er in der Ferne das orangefarbene Ladenschild des Sainsbury’s sah. Sorgfältig suchte er die Ladenreihe ab. Es schnürte ihm die Kehle zu, wenn er daran dachte, dass das merkwürdige Gebäude vielleicht nicht mehr da sein könnte.

Dort stand es! Eingepfercht zwischen einem Starbucks und einem O2-Shop. Die Vorderseite hatte eine Drehtür und Fenster mit Milchglas. Über dem Eingang in die Mauersteine eingebettet prangte das Zeichen, das sie im Briefkopf gesehen hatten. Die Buchstaben R.I.M. waren in Bronze in das Wappen eingeprägt. Angesichts der leuchtenden Ladenschilder darum herum überraschte es nicht, dass dieses Gebäude kaum Blicke auf sich zog.

„Krass“, staunte Charlie und starrte mit offenem Mund zum Wappen hoch.

Ben schubste ihn leicht. „Geh weiter.“

Sie gingen über die Straße und machten beim Buchladen Waterstones halt. Ben tat so, als würde er interessiert die Bücher im Schaufenster betrachten.

„Was tun wir gerade?“, fragte Charlie. Noch immer starrte er das merkwürdige Gebäude an.

Ben streckte seine Hand nach Charlie aus und drehte dessen Kopf in eine andere Richtung. „Wir versuchen, unauffällig zu sein“, erwiderte er. „Dein Glotzen vermasselt das.“

„Sorry. Wofür nutzt man wohl so ein Gebäude?“

„Darin wird mit Sicherheit nichts verkauft“, sagte Ben und warf heimlich einen Blick darauf. Es war unmöglich, irgendetwas durch das Milchglas der Fenster zu erkennen. „Siehst du den Wachmann?“

„Ist schwer zu übersehen.“

Der Wachposten stand vor der Drehtür. Sein schwarzer Anzug hob sich von der Menge der bunt gekleideten Passanten ab. Auch seine Körpermasse stach hervor. Es würde nicht einfach werden, an ihm vorbei durch die Tür zu kommen.

„Ich finde, jetzt wäre ein super Zeitpunkt, deinen Plan zu verraten“, meinte Charlie.

„Der ist eigentlich simpel. Wir gehen einfach rein.“

„Was?“

„Das ist schließlich eine Drehtür“, erklärte Ben. „Die ist extra dafür gemacht, dass Menschen leicht rein und raus gehen können. Wenn wir so tun, als gehörten wir dazu, dann klappt das schon.“

Charlie blickte ihn an, als würde er an seinem Verstand zweifeln. „Und warum steht dann ein monströser Wachmann davor? Etwa, um dich zu begrüßen?“

Ben wusste, dass seine Logik etwas fragwürdig war. Die Milchglasscheiben waren ein klares Zeichen, dass man möglichst keine Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Aber ein besserer Plan war ihm nicht eingefallen. Er hatte gehofft, sie könnten von hinten in das Haus gelangen oder über eines der Nebengebäude, aber das schien nicht machbar.

„Der soll bloß Passanten abschrecken“, sagte Ben.

„Das glaubst du doch selbst nicht und ich auch nicht.“

Ben grinste ihn mit aufblitzenden blauen Augen schief an. „Das werden wir gleich herausfinden. Bist du so weit?“

„Echt jetzt? Nein, natürlich bin ich das nicht.“