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Isabel Kerrilyan wird in Las Vegas von dem zwielichtigen Geschäftsmann Lee entführt. Die Wandlerin Keira, die Isabel beschützen sollte, folgt der Spur der jungen Frau nach San Francisco, begleitet von Sawyer, dem Anführer einer Gruppe von Berglöwenwandlern aus Nevada. Auch der junge Wandler Bowen spürt über seine geistige Verbindung zu Isabel ihre Furcht und schließt sich der Suche an. Doch schnell müssen sie feststellen, dass Lee ein weit gefährlicherer Gegner ist, als sie bisher glaubten.
Achtung, neue Ausgabe der beliebten Ghostwalker-Reihe!
Die Ghostwalker-Reihe:
1. Die Spur der KatzeDas E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Das Buch
Isabel Kerrilyan wird in Las Vegas von dem zwielichtigen Geschäftsmann Lee entführt. Die Wandlerin Keira, die Isabel beschützen sollte, folgt der Spur der jungen Frau nach San Francisco, begleitet von Sawyer, dem Anführer einer Gruppe von Berglöwenwandlern aus Nevada. Auch der junge Wandler Bowen spürt über seine geistige Verbindung zu Isabel ihre Furcht und schließt sich der Suche an. Doch schnell müssen sie feststellen, dass Lee ein weit gefährlicherer Gegner ist, als sie bisher glaubten.
Die Autorin
Schon als Kind war Michelle Raven ein Bücherwurm, deshalb schien der Beruf als Bibliotheksleiterin genau das Richtige für sie zu sein. Als sie alle Bücher gelesen hatte, begann sie, selbst für Nachschub zu sorgen. Und wurde zu einer der erfolgreichsten deutschen Autorinnen im Bereich Romantic Fantasy und Romantic Thrill. Bislang hat sie 49 Romane veröffentlicht, von denen einer auf der SPIEGEL-Bestsellerliste landete. 2008 erhielt sie die "DeLiA" für den besten deutschsprachigen Liebesroman. Wenn sie nicht vor dem Laptop sitzt, erkundet sie gern den Westen der USA und holt sich dort Inspiration für ihre Romane.
Weitere Informationen
https://www.michelleraven.de
Michelle Raven
Ghostwalker
Ruf der Erinnerung
Roman
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne Zustimmung der Autorin kopiert, nachgedruckt oder anderweitig verwendet werden.
Dieses Buch ist ein fiktives Werk. Namen, Figuren, Unternehmen, Organisationen, Orte, Begebenheiten und Ereignisse werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, realen Handlungen und Schauplätzen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Copyright © 2020 Michaela Rabe
Originalausgabe Copyright ©2011 EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Covergestaltung: Wolkenart – Marie-Katharina Wölk, https://www.wolkenart.com
Bildmaterial: ©Shutterstock.com
Textredaktion der Originalausgabe: Katharina Kramp
ISBN 9783754664391
Michelle Raven c/o autorenglück.de Franz-Mehring-Str. 15 01237 Dresden
Email: [email protected]
Weitere Informationen: https://www.michelleraven.de
Stand: August 2022
Prolog
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Das Finale der Ghostwalker …
Band 1 der Ghostwalker verpasst?
Die Romane von Michelle Raven
Der Geruch drang als erstes an seine Sinne. Schweiß, Kunststoff und … Mensch. Ein Zittern lief durch Bowens Körper, dicht gefolgt von Schmerz. Etwas hielt seine Hand- und Fußgelenke umschlungen, sodass er sich nicht rühren konnte. Auch über seine Brust war ein Lederriemen gespannt. Und er war völlig nackt. Furcht breitete sich in ihm aus und verstärkte das Gefühl eingesperrt zu sein. Sein laut pochendes Herz übertönte beinahe das Atemgeräusch. Jemand war mit ihm im Raum!
»Gut, du bist endlich wach.« Ein harmlos aussehender Mann, den Bowen noch nie gesehen hatte, beugte sich über ihn.
Er wusste nur noch, dass er im Wald einem Menschen gefolgt war, um zu sehen, was der vorhatte. Doch der Unbekannte hatte ihn in einen Hinterhalt gelockt und betäubt. Und jetzt war Bowen hier, wo auch immer das sein mochte. Auf jeden Fall nicht mehr in ihrem Gebiet in der Nähe des Yosemite National Parks. Egal wie, er musste entkommen!
Aus den Augenwinkeln sah er etwas aufblitzen. Der Mann hielt ein Skalpell in der Hand, dessen Klinge höllisch scharf wirkte. Der erste Schnitt war wie ein Schock. Auch wenn Bowen gefangen gehalten wurde, hatte er doch nicht geglaubt, dass ihn jemand verletzen würde. Doch genau das tat der Verbrecher wieder und immer wieder, bis Bowen Mühe hatte, die Schreie zurückzudrängen, die in seiner Kehle aufstiegen.
Bald verlor die Zeit an Bedeutung, jede Sekunde schien sich hinzuziehen, bis Bowen sich in einer endlosen Schleife aus Schmerzen, Verzweiflung und Hass befand. Ein süßlicher Geruch stieg in seine Nase und riss ihn für einen Moment aus seinen Qualen. Isabel. Viel zu früh verschwand sie wieder und ließ ihn in der Hölle zurück.
Bowen setzte sich abrupt in seinem Bett auf, sicher, sich wieder in dem Keller in Stammheimers Haus zu befinden, wo der Wissenschaftler ihn mehrere Tage lang gefoltert hatte. Nur langsam kehrte er in die Realität zurück und ließ seinen hämmernden Herzschlag von den Geräuschen und Gerüchen des Waldes beruhigen. Seit beinahe einem Jahr lebte er wieder unter den Berglöwenwandlern, aber noch immer träumte er von den Geschehnissen in Nevada. Die Panik, als er dort aufgewacht war und festgestellt hatte, dass er an ein Bett gefesselt war. Die Schmerzen, die Stammheimers Experimente ausgelöst hatten. Die Furcht, sich ungewollt zu verwandeln und damit dem Wissenschaftler das zu geben, was er wollte.
Mit beiden Händen rieb er über sein schweißnasses Gesicht. Heute wunderte ihn der Traum allerdings nicht, schließlich hatte Ambers Gefährte Griffin gestern die Beweise ins Lager gebracht, die Stammheimer damals über die Existenz von Wandlern gesammelt hatte. Darunter waren auch die Videos von BowensFolterungen und der Verwandlung.
Auch wenn er wusste, was es in ihm auslösen würde, hatte Bowen darauf bestanden sie zu sehen. Übelkeit war in ihm aufgestiegen, als er sich selbst nackt und hilflos dort liegen gesehen hatte, sein Körper von den Folterungen und dem Kampf gegen die Verwandlung gezeichnet.
Und dann war da Stammheimers Tochter Isabel gewesen. Ihr Auftauchen im Keller war ihm wie ein Traum vorgekommen, wie eine Illusion, um nicht verrückt zu werden. Doch sie war real gewesen und sie hatte viel riskiert, um ihm zu helfen. Zu viel. Isabel hatte versucht, ihn zu befreien und war schließlich von ihrem Vater mit Bowen zusammen eingesperrt worden. Sein Herz zog sich vor Sehnsucht nach ihr zusammen. Seit er sich in Stammheimers Haus von ihr verabschiedet hatte, ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf. Ihr süßer Duft, ihre sanfte Stimme, die langen rotbraunen Haare und großen blauen Augen. Vor allem aber ihr Mut war ihm in Erinnerung geblieben.
Unruhig stand Bowen auf und verließ lautlos die Hütte, um seine Mutter nicht zu wecken. Draußen atmete er tief durch und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Er verwandelte sich und lief leichtfüßig durch den stillen Wald. Schon immer hatte er es geliebt, in Berglöwengestalt durch die Wildnis zu streifen – doch nach seiner Gefangenschaft in der Menschenwelt war es zu einer Notwendigkeit geworden. Nichts anderes half, wenn es unter seiner Haut kribbelte und er nicht wusste, wie er mit den Erinnerungen leben sollte. Aber er hatte auch gelernt, sich nie weit vom Lager zu entfernen und immer darauf zu achten, was um ihn herum vor sich ging.
Heute allerdings brauchte er dringend Bewegung, um die Erinnerungen wenigstens für kurze Zeit zu verdrängen. Doch es gelang ihm nicht. Isabels Bild hielt sich hartnäckig in seinem Kopf und er glaubte beinahe, ihre sanfte Stimme zu hören und ihren unverwechselbaren Duft zu riechen. Sie hatte sich in Nevada mit Marisa, Coyle und Keira getroffen, um die Beweise aus dem Haus ihres Vaters zu bergen. Das war ihnen auch gelungen, aber auf dem Rückweg zum Lager war der Wagen von Marisa und Coyle von der Fahrbahn abgedrängt und die Menschenfrau dabei schwer verletzt worden. Glücklicherweise waren Isabel und Keira zu dem Zeitpunkt bereits mit einem anderen Wagen auf dem Weg in ein Motel gewesen. Was hätte Bowen getan, wenn es stattdessen Isabel gewesen wäre, die in dem verunglückten Auto saß? Sein Magen krampfte sich zusammen.
Er hätte mit nach Nevada fahren sollen. Auch wenn Bowen wusste, dass eigentlich die Menschen daran schuld waren, fühlte er sich doch verantwortlich. Wäre er damals nicht so unvorsichtig gewesen, hätte Stammheimer ihn nie in die Finger bekommen. Coyle hatte ihn gefragt, ob er mitkommen wollte, aber er hatte sich nicht dazu bringen können, noch einmal das Haus zu betreten, in dem er gefoltert worden war. Jedenfalls redete er sich damit heraus, doch eigentlich traute er sich nur nicht, Isabel wiederzusehen. Würde sie überhaupt noch mit ihm reden, nachdem er sich die ganze Zeit über nicht bei ihr gemeldet hatte? Oder was, wenn sie ihn hasste, weil seinetwegen ihr Vater getötet worden war? Noch schlimmer wäre es allerdings, wenn ihre geistige Verbindung, durch die sie seine Gefühle hatte wahrnehmen können, immer noch bestand und Isabel ihm so nah war wie damals. Wie sollte er damit leben, sie wieder gehen zu lassen? Beim ersten Mal war es beinahe schlimmer gewesen als die Folterungen zu ertragen. Noch einmal würde er das nicht überstehen.
Er war zu feige gewesen, ihr gegenüberzutreten, so einfach war das. Isabel war eine Menschenfrau, sie würde nie im Lager mit ihm leben wollen, und er konnte nicht in die Stadt ziehen. Sein Herz schmerzte, wie immer, wenn er darüber nachdachte, wie unmöglich eine Beziehung zwischen ihnen war. Deshalb hatte er sich dem Drang widersetzt, sie zu sehen und mit ihr zu reden. Sie vielleicht sogar zu berühren, wie damals, als er sich von ihr verabschiedet hatte. Noch jetzt konnte er ihre weichen Lippen auf seinen fühlen, das Zittern ihres Körpers.
Von seiner eigenen Unsicherheit angewidert, lief Bowen noch schneller. Isabel war seinetwegen überhaupt erst in diese Lage gekommen und er schaffte es nicht einmal, für sie dazusein. Dabei war sie so mutig gewesen, in das Haus ihres Vaters zurückzukehren, um die Beweise in Sicherheit zu bringen, die Stammheimer durch seine Schuld sammeln konnte. Wie lange würden ihn die Erinnerungen daran noch quälen? Isabel war ihm damals unter die Haut gegangen, und er schaffte es nicht, sie zu vergessen. Aber das musste er, wenn er irgendwann wieder sein Leben aufnehmen wollte. Bisher hatte es niemand gewagt, ihn direkt darauf anzusprechen, oder ihn aufgefordert, endlich etwas für die Gruppe zu tun. Doch die Blicke waren eindeutig. Er sollte wirklich endlich seine Ausbildung zum Wächter fortsetzen und für den Schutz des Lagers sorgen. Dann würde er sich wenigstens nicht so nutzlos vorkommen.
Entschlossen verlangsamte er seine Schritte und holte tief Luft. Es war genug Zeit vergangen. Er musste etwas tun, sonst würde er verrückt werden. Und wenn ihn bestimmte Geräusche oder Gerüche in den dunklen Keller zurückkatapultierten, musste er lernen, damit umzugehen. Auch andere Mitglieder der Gruppe hatten Schlimmes erlebt und schafften es trotzdem, ihr Leben normal zu führen.
Schließlich setzte er sich an dem kleinen See in der Nähe des Lagers ans Ufer, wie immer, wenn er Zeit für sich brauchte. Er wusste, dass ihn niemand hier stören würde. Kurzentschlossen sprang Bowen auf und stürzte sich in das Wasser. Bevor er auf die Oberfläche traf, verwandelte er sich. Als Berglöwe konnte er zwar schwimmen, aber er vermied es, wenn es ging. In Menschenform jedoch genoss er das durch die Sommertage erwärmte Wasser und schwamm in kräftigen Zügen bis er so erschöpft war, dass er auf Händen und Knien herauskroch und am Ufer zusammenbrach. Nach Atem ringend lag er auf den kalten Steinen und starrte zum samtschwarzen Himmel hinauf, an dem unzählige Sterne funkelten. Ob Isabel sie auch sehen konnte, wo immer sie auch gerade war?
Müde stieg Isabel vor dem Motel, in dem sie bereits die letzte Nacht verbracht hatten, aus ihrem Auto und blickte Keira über das Dach hinweg an. Die Berglöwenwandlerin hatte seit dem Verlassen des Krankenhauses, in dem sie Marisa Gesellschaft geleistet hatten, die dort seit ihrem schlimmen Unfall lag, noch keinen Ton gesagt. Eigentlich war sie auch davor schon alles andere als gesprächig gewesen und Isabel konnte ihre Unruhe spüren. Aber nachdem sie nun auch erfahren hatten, dass Coyle zum Glück nur leicht verletzt worden war, ging wenigstens der Schmerz etwas zurück, den Keira konstant aussandte.
Isabel rieb über ihre Schläfen. Warum musste gerade sie die Gefühle von Katzen in ihrem Kopf spüren können? Sie hatte nie darum gebeten und es war mehr Fluch als Segen. Zumal sie auch überhaupt nichts tun konnte, um das Leiden zu lindern. Weder bei den Tieren, noch bei den Wandlern. Und schon gar nicht bei der Wächterin der Berglöwen, die ihre Gedanken stets hinter einer ausdruckslosen Maske verbarg. Wie auch jetzt wieder.
»Ich sehe mich hier draußen noch um.« Damit drehte Keira sich auf dem Absatz um und verschwand in den Büschen neben dem Motel.
Isabel fühlte sich seltsam allein gelassen, zuckte dann aber nur die Schultern. Selbst wenn Keira mitgekommen wäre, hätte sie mit ihr nicht über das Geschehene reden können. Keira war auf Marisa nicht gut zu sprechen, seit die ihr Coyle vor der Nase weggeschnappt hatte. Wahrscheinlich konnte Isabel schon froh sein, dass die Berglöwenfrau schließlich zugestimmt hatte, mit ihr ins Krankenhaus zu fahren. Mit einem tiefen Seufzer schlang Isabel den Rucksack über ihre Schulter und ging zur Tür des Motelzimmers. Sie fühlte sich wie zerschlagen und konnte es kaum erwarten ins Bett zu kriechen. Morgen würde wieder ein anstrengender Tag werden, wenn sie ganz bis nach Los Angeles fahren musste.
Ihr Vorhaben, einem Immobilienmakler das Haus ihres verstorbenen Vaters zu zeigen, damit er es verkaufte, verschob sie auf unbestimmte Zeit. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal auf die Verbrecher treffen, die ihnen auf dem Grundstück aufgelauert hatten und denen sie nur knapp entronnen waren. Ein Schauder lief über ihren Rücken und sie sah sich unbehaglich um. Beinahe glaubte sie, Augen auf sich zu spüren, aber sie schüttelte das Gefühl ab. Wahrscheinlich war es nur Keira, die sich vergewissern wollte, dass Isabel wirklich in ihr Zimmer ging. Nach einem letzten Blick in Richtung der Büsche zog sie die Schlüsselkarte durch das Schloss und schob die Tür auf. Die Luft im Zimmer war eiskalt an ihren nackten Armen, anscheinend hatten sie vergessen, die Klimaanlage herunterzustellen. Rasch ging sie zu dem Gerät und schaltete es aus. Angenehme Stille breitete sich in dem Raum aus.
Isabel warf ihren Rucksack auf den Tisch und zog die Vorhänge zu. Dadurch kam sie sich zwar noch eingeschlossener vor, aber das war besser als von draußen beobachtet zu werden. Und wenn Keira gleich zu ihr stieß, war es ohnehin notwendig, denn die Berglöwenfrau hielt sich in der Regel nicht damit auf, ihren Körper mit Kleidung zu bedecken. Ein widerwilliges Lächeln hob ihre Mundwinkel. Irgendwie mochte sie Keira, sie war stark und unabhängig und ließ sich von niemandem etwas vormachen. Vermutlich konnte Isabel noch viel von ihr lernen.
Aber erst nach einer langen, heißen Dusche, die hoffentlich ihre verspannten Muskeln lockern würde. Glücklicherweise hatte sich ihre Befürchtung, dass sie auch angegriffen werden könnten, nicht bewahrheitet. Trotzdem sehnte Isabel sich nach der Anspannung nach einem entspannenden Bad. Sie öffnete die Badezimmertür und schaltete das Licht an. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr dunkle Augenringe und Falten neben ihrem Mund und auf der Stirn. Isabel schnitt eine Grimasse. Niemand würde bei diesem Anblick vermuten, dass sie noch nicht einmal ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Anscheinend war sie im letzten Jahr nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich um Jahre gealtert.
Schließlich wandte sie sich ab und wollte in den anderen Raum zurückgehen, doch die Türöffnung wurde von einem Mann blockiert, der aus dem Nichts aufgetaucht war. Isabel erstarrte und blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus, bevor er wieder lospolterte. Es dauerte einen Moment, bis ihr Gehirn den Befehl sandte, so laut zu schreien wie sie konnte. Doch bevor sie ihn umsetzen konnte, war der Mann bei ihr, schlang einen Arm um sie und presste seine Hand auf ihren Mund. Isabel erwachte aus der Starre und sie versuchte, sich aus der Umklammerung zu lösen. Heftig riss sie an der Hand, die ihren Mund bedeckte, doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Verzweifelt stieß sie ihren Ellbogen in den Magen des Mannes, doch auch das brachte keine Reaktion. Stattdessen schien er sie nur noch fester zu halten als zuvor. Furcht raste durch ihren Körper. Irgendwie musste es ihr gelingen, Keira auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
»Ganz ruhig, ich tue dir nichts.« Die leise Stimme des Mannes erklang direkt an ihrem Ohr. »Ich will nur mit dir reden.«
»Hmhm.« Isabel brachte nur ein paar unterdrückte Laute hervor. Zeitgleich mit der Angst wuchs auch ihre Wut.
Der Angreifer lockerte seinen Griff ein wenig und stellte sich so vor sie, dass sie ihn direkt ansehen konnte. Schwarze Haare umrahmten ein kantiges Gesicht mit einer scharfen Nase und schmalen Lippen. Ausdrucksvolle blaue Augen blickten sie durchdringend an. Er war wesentlich größer und kräftiger und bestimmt fünfundzwanzig Jahre älter als sie. Auch wenn sie wusste, dass Äußerlichkeiten täuschen konnten, wirkte er doch nicht wie ein Verbrecher auf sie. Aber er war hier und hielt sie gefangen, das war eine Tatsache, die sich nicht leugnen ließ. Der Schmerz in ihrem Kopf wurde schärfer, und sie glaubte für einen Moment erleichtert, dass Keira in das Zimmer gekommen war und sie befreien würde. Doch nach einigen Sekunden erkannte sie, dass das Leid nicht von der Berglöwenfrau ausging, sondern von diesem Mann. Aber wie konnte das sein, er war ein Mensch wie sie, oder?
Seine Augen weiteten sich, er ließ sie rasch los und zog sich zurück. Allerdings blockierte er mit seinem Körper die Tür, sodass sie nicht flüchten konnte. Isabel schlang ihre Arme um sich und starrte den Fremden an.
»Wer sind Sie? Oder besser gesagt: was?«
Die Augen des Mannes verdunkelten sich, in ihrem Kopf spürte sie sein Unbehagen. »Mein Name ist Dave Caruso.« Er atmete tief durch. »Ich bin dein Vater.«
Für einen Moment stand ihre Welt still, der Atem stockte in ihrer Kehle. Ihr Herz pochte schmerzhaft und ihre Knie drohten nachzugeben. Es dauerte einige Zeit, bis sie antworten konnte. »Mein Vater war Henry Stammheimer. Und Sie sind ein mieser Mistkerl, der es scheinbar nötig hat, andere Menschen in Hotelzimmern zu überfallen.«
Caruso trat einen Schritt vor und streckte eine Hand aus, als wollte er sie berühren. Sofort wich Isabel zurück, bis sie mit der Hüfte gegen das Waschbecken stieß. »Stammheimer war nicht dein leiblicher Vater. Felicia hat sich vor achtzehn Jahren von mir getrennt und ihn kurz darauf geheiratet.« Seine Miene spannte sich an. »Hätte ich gewusst, dass sie schwanger war, hätte ich sie nie gehen lassen.«
»Das glaube ich nicht!« Es war schlimm genug zu wissen, dass Henry einen unschuldigen Jugendlichen gefoltert hatte, aber dass er ihr Vater war, stand völlig außer Frage für sie. »Sie lügen!« Ihre Stimme zitterte. »Ich weiß nicht, was Sie damit bezwecken, mir so eine Geschichte aufzutischen, aber Sie können sich die Mühe sparen und jetzt gehen.«
Caruso hörte nicht auf sie, sondern trat stattdessen noch näher. »Was denkst du, von wem du die blauen Augen hast? Sieh mich an und sag mir ins Gesicht, dass du die Ähnlichkeit nicht erkennst.«
Obwohl sie es nicht wollte, versank sie in seinen Augen. Sie musste zugeben, dass sie nicht nur die gleiche Farbe hatten wie ihre, sondern dass auch die Form sehr ähnlich war, bis hin zu den leicht nach oben gebogenen äußeren Augenwinkeln.
»Deine Mutter hat nicht diese Augenfarbe, und Stammheimer hatte sie auch nicht, soweit ich weiß.« Carusos Stimme klang beinahe mitleidig.
Isabel schob das Kinn vor. »Dann habe ich die Augen eben von meinen Großeltern geerbt.«
»Oder von mir. Spürst du nicht unsere Verbindung, Isabel?« Seine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. »Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe.« Als sie nicht reagierte, lächelte er. »Es ist im Moment vermutlich etwas viel für dich, ich wollte nur, dass du weißt, dass es mich gibt und ich dich gerne kennenlernen möchte.«
Das Lächeln veränderte ihn, es ließ seine Gesichtszüge weicher erscheinen und machte ihn regelrecht sympathisch. Isabel blinzelte erstaunt und spürte, wie etwas in ihrem Innern nachgab. Nein, sie durfte diesen Kerl nicht an sich herankommen lassen! Sicher war das alles nur eine Methode, um etwas von ihr zu bekommen. Was auch immer das war. »Wie haben Sie mich gefunden?«
Caruso nahm seine Hand von ihrer Schulter, so als spürte er, dass sie nicht bereit war, von ihm berührt zu werden. »Ich hatte in der Gegend zu tun und habe deine Nähe gespürt.«
Skeptisch zog Isabel eine Augenbraue hoch. »Und das, obwohl Sie angeblich vorher nichts von mir wussten? Das klingt für mich nicht sehr überzeugend.«
»Ruf deine Mutter an und frag sie nach mir. An ihrer Reaktion wirst du merken, dass ich die Wahrheit sage.«
Verwirrt starrte Isabel ihn an. War das ein Bluff, damit sie ihm glaubte? Dachte er, sie würde ihre Mutter nicht anrufen? Da hatte er sich geirrt. Selbst wenn sie nicht unbedingt gerne mit Felicia telefonierte und schon gar nicht, wenn es um etwas Wichtiges ging, ließ sie sich nicht von so einem Kerl an der Nase herumführen. Und überhaupt, was hatte er davon, wenn sie glaubte, er wäre ihr Vater? Sicher wollte er jetzt nicht den liebevollen Daddy spielen, der seine verlorene Tochter kennenlernen wollte.
Als sie nicht sofort antwortete, trat er wieder näher. »Tu es, Isabel. Dann können wir das ein für allemal klären. Bitte.«
Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, und ihr Misstrauen blieb. Schließlich konnte er genauso gut zu den Männern gehören, die offenbar hinter ihnen her waren. Aber dann hätte er sie doch sicher einfach mitgenommen und ihr nicht so eine Geschichte aufgetischt, oder?
»Dann lassen Sie mich hier raus, damit ich an mein Handy komme«, sagte sie, weil sie sich immer noch von dem Fremden bedroht fühlte.
Sofort trat er in den Raum zurück, so dass sie unbehelligt das Badezimmer verlassen und zurück ins Zimmer gehen konnte. Während sie das Handy aus ihrem Rucksack holte, behielt sie ihn weiterhin im Auge. Es konnte auch ein Trick sein, sie in Sicherheit zu wiegen, auch wenn sie nicht wusste, was er davon hatte. Doch er blieb mit vor der Brust verschränkten Armen stehen und machte keine Anstalten, sie anzugreifen.
Auch wenn es schon spät war, würde ihre Mutter noch wach sein, da war Isabel sicher. Vermutlich war sie sogar noch mit ihrem neuesten Liebhaber unterwegs. Ein Stich fuhr durch ihr Herz und sie unterdrückte rasch den Gedanken. Nach einem tiefen Atemzug wählte sie die Nummer ihrer Mutter. Ihr Blick traf Carusos als sie darauf wartete, dass Felicia sich meldete. Es war keine Spur von Unsicherheit in seinem Gesicht zu erkennen. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle.
»Isabel, Schätzchen, du weißt doch, dass ich …«
Isabel unterbrach ihre Mutter. »Mom, ich muss dringend mit dir sprechen.«
»Hat das denn nicht Zeit bis morgen? Ich bin gerade …«
Wieder ließ sie Felicia nicht ausreden. »Nein, das hat es nicht. In meinem Motelzimmer steht gerade ein Dave Caruso und behauptet, dass er mein Vater ist. Kannst du mir bitte sagen, dass er lügt?«
Totenstille herrschte am anderen Ende der Leitung. Dann hörte sie ein Ächzen, das Isabel einen Schauer über den Rücken jagte. »Mom? Geht es dir gut?« Caruso bewegte sich unruhig und Isabel hatte das Gefühl, er hätte ihr am liebsten das Telefon aus der Hand gerissen, um selbst mit ihrer Mutter zu sprechen. Doch das würde sie auf keinen Fall zulassen, sie musste selbst hören, dass Henry Stammheimer ihr Vater und sie nicht ihr ganzes Leben lang belogen worden war.
»Ich denke, wir sollten darüber reden, wenn du wieder in Los Angeles bist.« Die Stimme ihrer Mutter zitterte.
Das Blut wich aus Isabels Kopf, sie schwankte. »Warum? Es reicht doch, wenn du mir versicherst, dass Henry mein Vater war, dafür musst du mich nicht persönlich sehen.«
»Bitte, Isabel, ich möchte dir erklären …«
Isabel hatte genug von den Ausflüchten. »Ja oder nein, so schwer kann das doch nicht sein!« Ein Schniefen war zu hören und Isabel wurde kalt.
»Henry war dein Vater, er hat dich aufgezogen. Aber du hast tatsächlich nicht seine Gene. Und bevor du jetzt denkst, dass Henry dich deshalb vielleicht manchmal ein wenig geistesabwesend behandelt hat – er wusste nicht, dass er nicht dein Vater ist.« Felicias Stimme brach. »Ich wollte doch nur das Beste für uns. War das so falsch?«
Die Kälte breitete sich in Isabel weiter aus, ihre Hand umklammerte das Handy. »Nein, aber es mir nie zu sagen, besonders nachdem Henry letztes Jahr gestorben ist, war falsch. Jetzt habe ich nur noch eine einzige Frage an dich: Ist Dave Caruso mein leiblicher Vater?«
Einen Moment herrschte Stille, dann seufzte ihre Mutter theatralisch. »Ja! Und du kannst diesem Mistkerl sagen …«
Isabel beendete das Gespräch, ohne Felicia ausreden zu lassen. Zuerst überlegte sie, das Handy ganz auszuschalten, doch dann erinnerte sie sich, dass sie es im Krankenhaus auf stumm gestellt hatte. So würde sie zumindest nicht mitkriegen, wenn ihre Mutter versuchte, sie zurückzurufen – oder eben auch nicht. Den Kopf gesenkt steckte sie das Handy in die Hosentasche, während sie versuchte, die Tränen zu unterdrücken, die hervorbrechen wollten. Wie konnte ihre Mutter ihr das antun?
Caruso trat näher und legte seine Hand auf ihre Haare. »Geht es dir gut?« Isabel konnte seine Besorgnis in ihrem Kopf spüren. Spätestens jetzt wurde ihr endgültig klar, dass er wirklich die Wahrheit sagte, und die Tragweite dieser neuen Erkenntnis traf sie mit voller Wucht.
Zögernd blickte sie auf, eine Träne löste sich und lief über ihre Wange. »Es tut mir leid, ich kann nicht …«
Heftig schüttelte sie seine Hand ab und rannte an ihm vorbei. Sie riss die Tür des Motelzimmers auf und stürzte nach draußen. Caruso rief etwas, aber sie konnte jetzt mit niemandem reden, sondern wollte nur allein sein, um ihre Gefühle und Gedanken unter Kontrolle zu bringen. So schnell sie konnte, lief sie über den Parkplatz und über die daran anschließende Wiese. Hinter einem Baum brach sie zusammen und sackte zu Boden. Zitternd schlang sie die Arme um ihre Beine und vergrub ihr Gesicht an ihren Knien. Als Kind hatte sie Henry Stammheimer geliebt und wollte immer so werden wie er, ein bedeutender Wissenschaftler, der Gutes für die Menschen tat. Doch das hatte sich gegeben, als sie älter wurde und ihr Vater die Arbeit seiner Familie immer mehr vorzog, was letztendlich zur Scheidung geführt hatte. Als er sie dann letztes Jahr auch noch zusammen mit Bowen im Keller seines Hauses eingesperrt hatte, hatte sie sich gefragt, ob sie Henry überhaupt je gekannt hatte. Trotzdem war es ihr nicht gelungen, jegliche Gefühle für ihn abzulegen.
Hatte Henry gemerkt, dass sie nicht seine Tochter war, und hatte sie deswegen einfach so abschreiben können, als wäre sie nicht mehr als ein lästiges Anhängsel, das ihn bei seiner Arbeit störte? Ihr Herz schmerzte bei dem Gedanken, aber es war eine Erklärung dafür, wie er ihr so etwas hatte antun können. Durch seinen Tod war es ihr nicht möglich gewesen, ihn wirklich dafür zu hassen, zu groß war der Schmerz gewesen. Doch jetzt drängte Wut über sein Verhalten in ihr hoch, und die Frage quälte sie, ob er gewusst oder zumindest geahnt haben konnte, dass sie nicht seine leibliche Tochter war. Das war noch eine Sache, die sie nun nie herausfinden würde.
Isabel hob den Kopf und blickte mit verschwommenem Blick in den dunklen Himmel. Trotz der bestimmt immer noch dreißig Grad zitterte sie. Mühsam stand sie auf. Keira würde sicher bald zum Motel zurückkehren und sie wollte die Berglöwenfrau nicht beunruhigen. Ob Caruso noch da war? Oder hatte er sich überlegt, dass es vielleicht doch nicht so spaßig war, ein Teil ihres Lebens zu werden? Sie konnte es ihm nicht einmal verdenken. Nach allem was im letzten Jahr passiert war, wollte sie selbst nicht an ihrem Leben teilnehmen. Leider konnte sie es sich nicht aussuchen.
Genervt schüttelte Isabel den Kopf. Nein, es war nicht alles schlecht gewesen, es hatte durchaus auch schöne Momente gegeben. Ihre Freundschaft zu Claire zum Beispiel oder die Tatsache, dass sie jetzt ihren Highschool-Abschluss in der Tasche hatte. Und die wenigen Momente, in denen sie Bowen so nahe gewesen war wie vorher noch keinem Menschen. Noch jetzt glaubte sie, ihn manchmal in ihrem Kopf spüren zu können, doch das konnte nur Einbildung sein. Ihre Verbindung war endgültig abgerissen, als sie sich im Haus ihres Vaters verabschiedet hatten und Bowen mit Coyle weggegangen war. Bowen schien sie vollständig aus seinem Leben gestrichen zu haben, sonst hätte er sich irgendwann bei ihr gemeldet oder wäre mit Marisa und Coyle nach Nevada gekommen. Die Tatsache, dass er es vorzog, im Lager zu bleiben, sollte ihr ein für alle Mal klar machen, dass er trotz des Kusses im Keller kein Interesse an ihr hatte.
Das tat weh, aber sie würde lernen, damit zu leben. Vielleicht traf sie an der Universität einen interessanten Mann, der ihr half, Bowen zu vergessen. Ungebeten tauchte sein Gesicht vor ihren Augen auf: die schwarzen Haare und grüngoldenen Augen, der weiche Mund und die hohen Wangenknochen. Dazu der kräftige Körper, der bereits wie der eines Erwachsenen gewirkt hatte. Er war der erste Mann, den sie in der Realität nackt gesehen hatte. Wärme stieg in ihre Wangen und ein Kribbeln lief durch ihren Körper.
Isabel verzog den Mund. Das Problem war nur, dass sie bei diesen lebhaften Erinnerungen Schwierigkeiten hatte, andere Jungen überhaupt wahrzunehmen. Im Moment konnte sie sich nicht vorstellen, bei einem normalen Menschen jemals das Gleiche zu empfinden. Ihr fehlte die mühsam gebändigte Kraft, diese Wildheit, die sie in Bowen gespürt hatte. Wie so oft zuvor beschloss sie Bowen zu vergessen, doch sie wusste schon jetzt, dass es ihr wieder nicht gelingen würde. Zu tief war er in ihr Inneres vorgedrungen. Aber damit würde sie leben müssen und sie sah nicht mehr ein, ihr Leben nach anderen Personen auszurichten. Weder nach Bowen, noch nach ihrer Mutter. Entschlossen wischte sie die Tränen ab und hob das Kinn. Sollte dieser Caruso noch da sein, würde sie sich seine Adresse und Telefonnummer geben lassen und dann in Ruhe entscheiden, ob sie mehr über ihn erfahren wollte oder nicht. Erleichtert, einen Plan zu haben, drehte Isabel sich um und ging auf das Motel zu.
Ohne Vorwarnung fiel ein rauer Stoff über ihren Kopf und etwas umschlang ihren Körper mit gewaltiger Kraft. Nach einer Schrecksekunde begann Isabel sich zu wehren, aber sie war hoffnungslos unterlegen. Sie erreichte nur, dass sich der Stoff enger um ihr Gesicht legte und sie kaum noch Luft bekam. Ihre Arme waren an ihren Seiten gefangen, ihre Rippen schmerzten unter dem Druck.
»Keira! Hilfe!« Über dem Rauschen in ihren Ohren und dem Stoff vor ihrem Mund war ihr Schrei kaum zu hören.
Isabel versuchte, sich herum zu werfen, aber auch das vereitelte ihr Angreifer. Verzweifelt trat sie um sich, traf aber nur Luft. Schließlich verlor sie den Boden unter den Füßen – sie wurde hochgehoben. Mit aller Kraft bockte sie und wand sich in dem brutalen Griff, doch mehr als ein schmerzerfülltes Grunzen ihres Angreifers und einen Rippenstoß als Strafe brachte ihr das nicht ein. Vor allem aber wurde der Sauerstoff immer knapper und sie stand dicht vor der Bewusstlosigkeit. Das durfte nicht passieren! Egal was dieser Kerl auch von ihr wollte, wenn sie ohnmächtig war, konnte sie nicht handeln und sich retten.
Mit Mühe zwang sie sich, still zu halten und auf eine Gelegenheit zur Flucht zu warten. Ihre Atmung wurde gleichmäßiger, etwas mehr Sauerstoff drang durch den Stoff in ihre Lunge. Während sie im Dunkeln ausharrte, versuchte sie, mit ihren anderen Sinnen etwas zu spüren, doch da war nichts. Ein wenig erleichtert, dass der Angreifer zumindest nicht Dave Caruso war, überlegte sie, was sie nun tun konnte. Vermutlich wurde sie irgendwo hingebracht, denn der Verbrecher wollte sicher nicht riskieren, dass einer der anderen Motelgäste bemerkte, wie er sie entführte. Auf jeden Fall musste sie verhindern, von hier fortgeschafft zu werden.
Keira war in der Nähe, sie würde merken, dass etwas vor sich ging, und sie befreien. Schwach konnte Isabel Sorge und kurz darauf Wut bei der Wandlerfrau spüren, doch dann brach ihre Konzentration, weil sie unvermittelt auf ein Polster geworfen wurde und sie mit dem Kopf gegen etwas Hartes stieß. Schmerz zuckte durch ihren Schädel, helle Punkte flimmerten vor ihren Augen. Ihr Aufschrei drang nicht durch den Stoff. War sie wieder in ihrem Motelzimmer? Nein, das konnte nicht sein, um es zu erreichen, waren sie noch nicht lange genug unterwegs gewesen. Isabel versuchte sich aufzurichten, wurde aber unsanft wieder zurückgestoßen.
»Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich gehen!«
Schweigen antwortete ihr und Isabels Wut kehrte zurück. Sie schnellte hoch und griff gleichzeitig mit den Händen nach dem Stoff über ihrem Kopf. Es war ihr egal, ob sie sich damit Haare ausriss, sie wollte nur endlich wieder frei atmen können und vor allem sehen, wo sie war und wer sie angegriffen hatte.
»Verdammt, halt sie fest!«
Rohe Hände griffen nach ihr und hinderten sie daran, sich zu befreien. In einem Teil ihres Gehirns registrierte sie, dass anscheinend mehrere Männer an ihrer Entführung beteiligt waren, doch sie hatte nur einen Gedanken: zu entkommen. Sie trat so kräftig zu wie sie konnte und erntete dafür einen weiteren Fluch. Der feste Griff an ihren Armen lockerte sich etwas, und sie schöpfte neuen Mut. Sie bockte und trat um sich, soweit es die Umklammerung und die engen Platzverhältnisse zuließen.
»Beendet die Sache endlich, wir können nicht ewig hier stehen. Irgendwann wird jemand auf uns aufmerksam werden.« Eine andere Stimme, seltsam hoch. »Noch einmal können wir uns ein Versagen nicht leisten.«
Isabel erstarrte. Könnten die Kerle auf dem Grundstück ihres Vaters sie etwa erneut gefunden haben? Aber was hätten sie davon, sie zu entführen, sie war nicht einmal eine Wandlerin! Mit neuer Entschlossenheit kämpfte sie um ihre Freiheit, doch sie merkte, wie ihre Kraft nachließ. Hände pressten sie auf das Polster, bis sie sich nicht mehr rühren konnte.
»Macht schnell, da kommt jemand!«
Hoffnung stieg in Isabel auf. Keira, endlich! Ein scharfer Stich in ihrem Arm ließ sie heftig zusammenzucken, dann spürte sie, wie sich unter ihrer Haut etwas warm ausbreitete. Nur noch undeutlich registrierte sie, dass die Kerle ihr eine Spritze gegeben hatten, denn fast sofort erfasste eine seltsame Lethargie ihren Körper und sie konnte ihre Arme und Beine nicht mehr bewegen. Auch ihre Augen fielen zu, die Stimmen der Männer wurden leiser und verklangen schließlich ganz. Isabel versuchte gegen die Betäubung anzukämpfen, doch es gelang ihr nicht. Bevor sie das Bewusstsein verlor, spürte sie ein seltsames Schaukeln und der Untergrund auf dem sie lag, vibrierte. Sie war in einem Auto! Für einen kurzen Moment durchdrang Panik die Wirkung des Mittels und sie rief stumm nach Bowen, dann verlor sie den Kampf gegen die Bewusstlosigkeit.
Das schlechte Gewissen trieb Keira schließlich zurück zum Motel. Es war egoistisch von ihr gewesen, Isabel einfach allein zu lassen. Doch sie war noch nie so lange in der Menschenwelt – und vor allem auf Tuchfühlung mit Menschen – gewesen und der Wunsch, sich zu verwandeln und all den Gerüchen und Geräuschen zu entkommen, war übermächtig in ihr geworden. Also hatte sie genau das getan und Isabel alleine ins Zimmer gehen lassen. Sie hatte noch nicht einmal sichergestellt, dass dem Mädchen keine Gefahr drohte! Verdammt, sie war eine Wächterin und es war ihre Aufgabe, Isabel zu schützen. Sie hätte niemals so nachlässig sein dürfen!
Rasch holte Keira ihre Kleidung aus einem hohlen Baumstamm und streifte sie über. Die Unruhe verstärkte sich, als sie sich dem Motel näherte. Isabels Geruchsspur war ungewöhnlich kräftig, normalerweise hätte sie in dieser Entfernung nur einen schwachen Duft wahrnehmen dürfen. War die Menschenfrau ihr gefolgt? Aber dann hätte sie ihr inzwischen begegnet sein müssen. Lautlos trat Keira an den Rand der Wiese und blickte über den Parkplatz. Gedämpfte Geräusche drangen an ihre Ohren, dann Isabels seltsam verzerrte Stimme.
Doch sie kam zu spät und musste hilflos mit ansehen, wie Isabel von mehreren Männern zu einem Wagen getragen wurde. Wut durchströmte Keira und sie rannte los, als sie die Männer erkannte: es waren dieselben, gegen die sie bereits auf Stammheimers Grundstück gekämpft hatte. Sie würde nicht zulassen, dass diese Verbrecher die Kleine verschleppten! Isabels Sicherheit lag in Keiras Verantwortung und sie würde nicht wieder versagen. Außerdem mochte sie die junge Frau, auch wenn sie es nie zugeben würde. Isabel war loyal und mutig – und sie hatte einen beinahe so großen Dickschädel wie Keira selbst.
Angst mischte sich unter die Wut, als die Männer Isabel hochhoben und auf den Rücksitz des Wagens warfen. Keira rannte los, doch bevor sie Isabel erreichen konnte, heulte plötzlich hinter ihr ein Motor auf und sie wurde mit Wucht von einem Auto getroffen. Schmerz zuckte durch ihre Beine und raste durch ihren Körper. Ohne Vorwarnung wurde sie durch die Luft geschleudert und traf hart auf dem Asphalt auf. Punkte flimmerten vor ihren Augen, sie bekam keine Luft. Es dauerte einen Moment, bis sie sich wieder bewegen konnte. Aber sie schaffte es nur, den Kopf zu heben und zu beobachten, wie zwei Wagen mit quietschenden Reifen vom Parkplatz fuhren. Isabel war fort.
Keira stieß einen rauen Fluch aus und ließ ihren Kopf zurücksinken. Als ihr lädierter Hinterkopf das Pflaster berührte, zuckte sie zusammen. Irgendwie musste es ihr gelingen, Isabel zu befreien und nach Hause zu bringen. Allerdings wusste sie im Moment noch nicht einmal, wie sie wieder hochkommen sollte. Jeder Zentimeter ihres Körpers tat weh und … Keira erstarrte, als sie den fremden Geruch wahrnahm. Ein Mensch, aber da war noch etwas anderes, kaum zu entdecken.
»Geht es Ihnen gut?« Die Stimme war leise und angenehm. Die Frage klang normal, doch als er sich vor sie hockte, erkannte sie an seinen Augen, dass er alles andere als ruhig war.
Mit Mühe drängte Keira die Verwandlung zurück und wartete, bis ihre Eckzähne wieder die normale Größe erreicht hatten, bevor sie den Mund öffnete. »Ich fühle mich, als wäre ich von einem Auto angefahren worden.« Sie hielt ihm ihre Hand hin. »Können Sie mir vielleicht aufhelfen?«
Der Mann zögerte, bevor sich seine kräftige Hand um ihr Handgelenk schloss. Darauf hatte Keira nur gewartet. Blitzschnell hakte sie ein Bein hinter seine und zog kräftig an seinen Armen. Der Fremde verlor das Gleichgewicht und fiel direkt auf sie. Verdammt, das tat weh!
Bevor Keira sich unter ihm hinauswinden konnte, stützte er sich auf die Arme und richtete sich langsam auf. Sein Gesicht war nahe an ihrem und sie konnte das Feuer in seinen tief blauen Augen sehen. »Halt still, ich will dir nicht wehtun.«
»Leider kann ich nicht dasselbe von mir sagen.« Unauffällig prüfte Keira die Beweglichkeit ihrer Glieder und atmete erleichtert auf, als zumindest die Knochen heil zu sein schienen.
Seine Hand auf ihrer Schulter drückte langsam fester zu. »Keine weiteren Spielchen, ich habe keine Zeit zu verlieren.«
Ein lautes Fauchen ließ sie beide herumfahren. Mit einem weiten Satz sprang der Berglöwe auf sie zu und riss den Fremden mit sich. Endlich wieder frei, rappelte Keira sich rasch auf und starrte das ungleiche Paar an. Als sie den Duft erkannte, stöhnte sie lautlos. Sawyer! Womit hatte sie das verdient? Sie war zwar dankbar, dass der Anführer der Nevadaberglöwen ihr erneut zu Hilfe kam, aber er würde sie nie vergessen lassen, dass er sie gleich zwei Mal in zwei Tagen gerettet hatte. Dabei hätte sie beide Male die Situation selbst lösen können, auch wenn sie auf Stammheimers Grundstück froh über die Hilfe gewesen war. Wut baute sich in ihr auf, wie immer, wenn sie das Gefühl hatte, unterschätzt zu werden.
Der Fremde stand tief gebückt da, die Arme angewinkelt, die Augen direkt auf die des Berglöwen gerichtet. Seltsamerweise schien er nicht überrascht oder entsetzt zu sein, wie man es eigentlich annehmen sollte, wenn plötzlich eine große Raubkatze mitten in der Stadt auftauchte. Unbehaglich sah Keira sich um. Sie mussten unbedingt verschwinden, bevor die Polizei oder irgendwelche schießwütigen Leute auftauchten. Außerdem war es jetzt wichtiger, Isabel wiederzufinden. Vermutlich hätte sie sich die Kennzeichen der Wagen merken müssen, aber zu der Zeit hatte ihr Gehirn noch nicht ausreichend funktioniert. Mühsam richtete Keira sich auf und stöhnte unterdrückt, als sich ihre Verletzungen schmerzhaft bemerkbar machten.
Sawyer wandte ihr seinen Kopf zu. Als er einen Schritt in ihre Richtung machte, schüttelte sie scharf ihren Kopf.
»Wenn du mich nicht wieder angreifst, helfe ich dir hoch.« Der Fremde hielt seinen Blick dabei weiterhin auf Sawyer gerichtet. Kluger Mann.
Auch wenn ihr jeder Knochen und Muskel im Leib wehtat, weigerte sie sich, Hilfe anzunehmen. Sie war Wächterin, kein zartes Pflänzchen, das verhätschelt werden musste. »Nicht nötig.« Mit zusammengebissenen Zähnen stemmte sie sich hoch, bemüht keinen Laut von sich zu geben. Als sie sicher war, dass sie stehen bleiben würde, hob sie den Kopf und stellte fest, dass sowohl Berglöwe als auch Mensch sie beobachteten. Sie unterdrückte ihre hitzige Reaktion, weil es wichtiger war, hier wegzukommen und so viele Informationen wie möglich zu sammeln.
Sie blickte in Sawyers braune Augen und konnte dort Besorgnis erkennen. Sofort hob sie das Kinn und schottete sich dagegen ab. Fast unmerklich gab sie ihm ein Zeichen, dass er verschwinden sollte. Nach einem drohenden Grollen in Richtung des Fremden zog er sich in den angrenzenden Park zurück. Bereits nach wenigen Metern war er nicht mehr zu sehen, aber sie wusste, dass er sich noch in der Nähe aufhielt. Auch wenn sie es nicht zugeben würde, war sie froh, nicht ganz allein in der Menschenwelt zu sein, vor allem wenn es darum ging, Isabel so schnell wie möglich zu finden und zu befreien. Und dann war da auch noch der Mann, der immer noch keinerlei Erstaunen darüber zeigte, dass ihr eine Raubkatze geholfen hatte. Wieder hatte sie den Eindruck, dass er nicht nur ein Unbeteiligter war, der zufällig vorbeigekommen war. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, Ungeduld und noch etwas anderes war in seinen blauen Augen zu erkennen.
Keira rieb ihre aufgeschürften Hände an ihren Jeans ab. »Okay. Noch einmal von vorne: wer bist du und was hast du hier zu suchen?«
Der Hauch eines Lächelns glitt über seine Züge und verschwand sofort wieder. »Mein Name ist Caruso, ich war hier um Isabel zu treffen.«
Keira bewegte sich so schnell, dass Caruso keine Zeit hatte, zu reagieren. Ihre Finger krallten sich in seinen Hemdkragen und sie schob ihr Gesicht dicht an seines heran. »Hast du etwas mit Isabels Entführung zu tun?« Als er nicht gleich antwortete, schüttelte sie ihn. »Antworte.« Sie spürte, wie ihr Krallen herausglitten, aber es war ihr egal.
Carusos Augen blitzten auf, er legte seine Hände um ihre Handgelenke und drückte zu. »Ich habe nichts damit zu tun, sie ist nach unserem Gespräch aus dem Zimmer in den Park gelaufen. Nach einer Weile habe ich sie gesucht, aber sie war nirgends zu finden. Dann habe ich den Aufprall gehört, als du angefahren wurdest, und konnte nur noch beobachten, wie die beiden Wagen wegfuhren.« Etwas wie Furcht stand in seinen Augen. »Haben sie Isabel mitgenommen?«
Keira löste ihre Finger, die von seinem Griff taub geworden waren, und trat einen Schritt zurück. »Du willst also behaupten, dass du nichts mit ihrer Entführung zu tun hast?«
Seine Augen schlossen sich, als sie seine Vermutung bestätigte. Als er sie wieder öffnete, waren sie dunkler als zuvor. »Ja. Ich würde Isabel nie etwas tun.«
Nachdenklich sah Keira ihn an. Ihr Instinkt sagte ihr, dass er die Wahrheit sagte. »Was wolltest du von Isabel?«
Caruso holte tief Luft und stieß sie hart wieder aus. »Sie ist meine Tochter.«
Keiras Augen verengten sich. »Ihr Vater ist tot. Und du siehst auch nicht aus wie Henry Stammheimer. Denk dir also eine bessere Ausrede aus.«
Diesmal flammte Wut in den Augen auf, Carusos Gesichtszüge verhärteten sich. »Ich bin Isabels Vater. Stammheimer war mit ihrer Mutter verheiratet und hat sie aufgezogen, ja. Aber sie hat meine Gene.« Seine Stimme wurde leiser. »Ich habe es gerade erst erfahren, sonst hätte ich mich früher bei ihr gemeldet.«
Wieder spürte sie, dass er die Wahrheit sagte. Und jetzt wusste sie auch, warum ihr seine Augen so bekannt vorgekommen waren. Sie ähnelten Isabels. »Okay, nehmen wir mal an, ich glaube dir. Das erklärt aber noch nicht, was du hier machst und woher du überhaupt wusstest, dass wir hier sind.«
»Können wir uns das für später aufheben? Im Moment finde ich es wichtiger, zu erfahren, was mit Isabel passiert ist und wie ich sie wiederfinden kann.«
Das hatte sie tatsächlich für einen Moment vergessen. Das Schuldgefühl verstärkte sich. »Als ich aus dem Park kam, habe ich gesehen, wie Isabel in einen Wagen gezerrt wurde. Ich wollte zu ihr, aber bevor ich sie erreichen konnte, wurde ich von dem zweiten Auto angefahren. Und dann warst du da.« Sie rieb über ihre schmerzende Schulter. »Hast du zufällig die Kennzeichen erkennen können?«
»Das eine, ja.« Er zog ein Handy aus der Hosentasche. »Ich rufe die Polizei, vielleicht können sie die Wagen irgendwie ausfindig machen und stoppen.«
Keira legte ihre Hand auf seinen Arm. »Nicht.«
Caruso starrte sie wütend an. »Es geht hier um Isabels Leben! Oder hast du einen besseren Vorschlag, was wir tun können, um sie zu finden?«
Den hatte sie dummerweise nicht. Sie konnte schlecht durch die ganze Stadt laufen und die Wagen suchen. Vermutlich waren sie sowieso schon weit weg. Sie konnte zwar Isabels Geruchsspur ein paar Meter folgen, aber nicht mehr, wenn sie in einem geschlossenen Wagen saß und quer durch die Stadt fuhr. Sie war kein Spürhund. Keira runzelte die Stirn. Das brachte sie auf eine Idee: Marisas Bloodhound Angus konnte Geruchsspuren etliche Meilen verfolgen.
»Wir könnten einen Spürhund auf sie ansetzen.«
Nachdenklich neigte Caruso den Kopf. »Das ist keine schlechte Idee, würde aber zu lange dauern. Wer weiß, was in der Zwischenzeit mit Isabel passiert. Kein Hund kann einem Auto so weit folgen. Zumindest nicht schnell genug, um sie zu retten, bevor ihre Entführer ihr etwas antun.«
Keira biss auf ihre Lippe. »Okay, ruf die Polizei, aber ich kann nicht hier bleiben.« Sie sah zum hell erleuchteten Motel hinüber. »Und ich muss vorher meine Sachen aus dem Zimmer holen.«
Caruso blickte sie einen langen Moment an und sie konnte nicht erkennen, was er dachte. Es schien beinahe so, als könnte er in ihr Innerstes eindringen und ihre Gedanken lesen. »Ich weiß, was du bist. Versteck dich mit deinem Freund und wir treffen uns wieder hier, wenn die Polizei weg ist.«
Keiras Augen verengten sich zu Schlitzen. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
Ohne den Blick von ihr zu nehmen, strich Caruso über seinen Kragen und schob einen Finger durch das Loch, das ihre Krallen hinterlassen hatten. »Du gehörst zu den Wandlern, ich schätze mal Berglöwe, so wie dein Freund dort drüben.« Er deutete in Richtung der Bäume.
Woher wusste der Kerl das? Keira hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren sollte. Einerseits durften die Menschen nichts über die Existenz der Wandler erfahren, andererseits war Caruso aber Isabels Vater, die von ihnen wusste, seit Bowen sich vor ihren Augen verwandelt hatte. »Ich weiß nicht, wovon …«
Caruso hob eine Hand. »Sparen wir uns das, Isabel hat keine Zeit zu verlieren. Lassen wir es einfach dabei bewenden, dass ich von euch weiß und aus verschiedenen Gründen nicht vorhabe, irgendjemandem davon erzählen. Ich rufe jetzt die Polizei, du solltest dich also zurückziehen.«
Es widerstrebte Keira, von jemandem Befehle entgegen zu nehmen – denn das war es eindeutig gewesen – aber er hatte mit einem Recht: Ihre wichtigste Aufgabe war es jetzt, Isabel wohlbehalten wiederzufinden. Alles andere konnte warten. Ohne ein Wort drehte sie sich um und lief zu ihrem Zimmer, um dort sämtliche Spuren ihres Aufenthaltes zu beseitigen. Nach einer Minute trat sie mit ihrem Rucksack nach draußen. Caruso beobachtete die Straße, drehte sich aber sofort um, als hätte er ihre Anwesenheit gespürt. Keira nickte ihm zu, bevor sie zwischen den Bäumen verschwand.
Sie war nur einige Schritte weit gekommen, als Sawyer in seiner Berglöwen-Gestalt lautlos neben ihr auftauchte. Seine Zunge glitt über ihre Hand und Keira zog sie rasch aus seiner Reichweite. Wütend funkelte sie ihn an. »Was willst du hier?«
Sawyers Mundwinkel zogen sich nach hinten, bis sie seine Zähne sehen konnte. Er grinste sie an! Keira widerstand dem Drang, frustriert aufzuschreien oder an ihren Haaren zu ziehen und tauchte tiefer in die Natur ein, damit sie nicht von der Polizei aufgespürt wurde. Zwar hatten sie keinen Grund, die Gegend abzusuchen, wenn Caruso ihnen erzählte, dass die Verbrecher mit Isabel weggefahren waren, aber sie wollte kein Risiko eingehen. Vor allem traute sie dem Mann nicht. Irgendetwas war merkwürdig an seiner Geschichte. Allerdings, wenn er wirklich Isabels Vater war, konnte er dann auch ihre Fähigkeit haben, die Gefühle von Katzen zu spüren? Vielleicht wusste er deshalb, was sie waren.
Genervt, weil sie nichts anderes tun konnte, als sich wie ein Tier zu verkriechen, beschloss Keira schließlich, dass sie sich weit genug von dem Motel entfernt hatten, und kroch in ein Gebüsch. Sawyer folgte ihr ungebeten und nahm einen Großteil des zur Verfügung stehenden Platzes ein, als er sich neben sie legte.
Keira stieß ihn mit dem Fuß an. »Mach dich nicht so breit oder such dir einen eigenen Unterschlupf!« Auch wenn sie es nicht zugeben mochte, es war seltsam beruhigend, noch einen anderen Wandler in der Nähe zu haben, selbst wenn es ein nervender, ungehobelter Kerl war.
Sawyer ignorierte ihren Befehl und legte stattdessen seinen Kopf auf ihren Oberschenkel. Ein Schnurren vibrierte in seiner Kehle und drang in ihr Bein. Seine warmen braunen Augen blickten sie schmachtend an. Für einen Moment war Keira versucht, ihre Finger durch sein weiches Fell gleiten zu lassen und ihn zu kraulen, doch glücklicherweise kam sie noch rechtzeitig zur Besinnung. Sie ballte ihre Hände hinter ihrem Rücken zu Fäusten und setzte ihren vernichtendsten Blick auf. »Runter, sofort.«
Sawyer verwandelte sich und grinste sie an. »Warum? Es gefällt mir hier.« Er rieb seine Wange an ihrem Schenkel. »Außerdem habe ich dich schon wieder gerettet, du könntest mir zumindest ein wenig Dankbarkeit entgegen bringen.«
»Wenn du nicht gleich dort Kratzer haben möchtest, wo sie richtig wehtun, solltest du mich nicht weiter reizen.« Bedeutsam nickte sie in Richtung seiner nackten Körpermitte. Als sie seine Erektion sah, die bei ihren Worten noch größer wurde, stieg Hitze in ihr auf, die sie hastig unterdrückte.
Mit einem Seufzer setzte Sawyer sich auf, rückte aber nicht wesentlich von ihr ab, sodass seine Schulter bei jeder Bewegung ihre streifte. »Wieso dachte ich nur, du könntest zur Abwechslung mal froh sein, mich zu sehen?«
Keira ging nicht auf seine Frage ein, auch wenn er mit seiner Einschätzung völlig Recht hatte. Oder vielmehr gerade deshalb. »Sagst du mir jetzt, was du hier machst? Ich dachte, euer Gebiet wäre in der McCullough Range. Ist das nicht ein wenig weit für einen Ausflug?«
Sawyers Miene wurde ernst. »Harken hat mich gebeten, euch im Auge zu behalten. Er hat befürchtet, dass euch jemand folgen und versuchen könnte, euch anzugreifen.«
Die lange aufgestaute Wut brach aus ihr hervor. »Und warum hat er uns dann nicht Bescheid gesagt? Ich kann uns durchaus selbst verteidigen, wenn ich weiß, dass es jemand auf uns abgesehen hat!« Sie senkte ihre Stimme. »Und wo warst du, als es darauf ankam? Ein toller Beschützer!«
Seine Augen verengten sich, ein Muskel zuckte in seiner Wange. Trotzdem klang seine Stimme ruhig, als er ihr antwortete. »Ich bin gerade erst angekommen, als dieser Caruso dich am Boden festgehalten hat.« Seine sonst so humorvolle und lockere Art war wie weggeblasen und zum ersten Mal konnte sie einen Hauch seines wahren Charakters erkennen. Ein Schauder lief über ihren Rücken, ihre Nackenhaare sträubten sich. Er war ein ernstzunehmender Gegner und sie sollte versuchen, ihn sich nicht zum Feind zu machen. Gleichzeitig fand sie diese Seite von ihm irgendwie … erregend.
Froh, dass sie Kleidung trug, setzte Keira sich gerader auf und räusperte sich. »Okay, Schuldzuweisungen bringen uns jetzt sowieso nicht weiter.« Vor allem, weil es ihre Aufgabe gewesen war, Isabel zu schützen und sie versagt hatte. Es war nicht Sawyers Problem und trotzdem war er hier und versuchte, ihr zu helfen. Vermutlich sollte sie ihm danken, doch das brachte sie nicht über sich. »Konzentrieren wir uns darauf, Isabel wiederzufinden. Irgendeine Idee, wie wir das am besten hinkriegen?«
Sawyers Anspannung verringerte sich, seine Augen füllten sich wieder mit Wärme. Anscheinend hatte er zwischen den Zeilen gelesen und erkannt, dass Keira wütend auf sich selbst war und nicht so sehr auf ihn. »Ich glaube, die beste Chance ist es tatsächlich, die Autos oder deren Halter von der Polizei suchen zu lassen. Oder vielleicht hat Isabel auch ihr Handy bei sich. Kann man das nicht orten und damit ihren Aufenthaltsort ermitteln?« Er hob die Schultern. »Ich hatte bisher kaum Kontakt mit Menschen, daher kenne ich mich nicht so gut mit den technischen Möglichkeiten aus.«
Keira blickte ihn erstaunt an. Verdammt, warum war sie nicht selbst auf die Idee gekommen? Aufregung breitete sich in ihr aus. Als sie im Motelzimmer ihre Sachen zusammengesucht hatte, war ihr nirgends das Handy aufgefallen. Das hieß, dass Isabel es vermutlich bei sich hatte. Zumindest solange wie ihre Entführer es nicht bemerkten. Rasch stand sie auf. »Das muss Caruso erfahren, damit er es an die Polizei weitergeben kann.«
Wissend lächelte Sawyer sie an. »Ich bin wohl doch nicht völlig unnütz, oder?«
Keira schnaubte nur und trat aus dem Gebüsch hervor. Hinter sich konnte sie ein Rascheln hören, als Sawyer sich verwandelte und ihr dann folgte. Als er ihr Bein im Vorbeilaufen streifte und über seine Schulter zu ihr zurück blickte, hoben sich ihre Mundwinkel.
Bowen wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er aus dem Wasser gekrochen und auf den kalten Felsen zusammengebrochen war. So sehr er es auch versuchte, es gelang ihm nicht, Isabel aus seinen Gedanken zu vertreiben. Vor allem sein Verhalten ihr gegenüber drückte auf sein Gewissen. Vielleicht sollte er sie anrufen und ihr zumindest erklären, warum er sich nicht gemeldet hatte. Nach allem, was sie für ihn und seine Gruppe getan hatte, hatte sie es verdient, dass er ehrlich zu ihr war. Sie würde ihn verstehen, dessen war er sich sicher.
Glücklicherweise hatte sie nicht in dem Wagen von Marisa und Coyle gesessen, sonst wäre sie jetzt wahrscheinlich auch schwer verletzt oder vielleicht sogar tot. Ein Schauder lief bei dem Gedanken durch seinen Körper. Hoffentlich war sie so schlau, sich nie wieder in die Nähe der Wandler oder der Verbrecher zu begeben, die sie jagten. Marisa hatte ihm erzählt, dass Isabel studieren wollte. Sie würde dort neue Leute kennenlernen und hoffentlich nie wieder mit den Problemen seiner Spezies in Berührung kommen. Bowen ignorierte das schmerzhafte Ziehen in seiner Brust. Wichtig war nur, dass Isabel glücklich war und vor allem nie wieder in Gefahr geriet.
Zufrieden mit seiner Entscheidung machte Bowen sich langsam auf den Rückweg. Der dunkle Wald wirkte beruhigend auf ihn, wahrscheinlich weil er wusste, dass sich kein Mensch nachts jemals so weit hinein wagen würde. Er war fast bei der Hütte angekommen, als er plötzlich Isabels Stimme hörte.
»Bowen!«
Sie klang so deutlich, als stünde Isabel direkt neben ihm, doch er wusste, dass sie nicht hier war. Es roch nur nach Wald und er konnte nirgends eine menschliche Präsenz spüren. Bowen schüttelte den Kopf, doch er schaffte es nicht, das Gefühl drohenden Unheils zu unterdrücken. Der Ruf hatte verzweifelt geklungen und Bowen hatte deutlich Isabels Angst gespürt. Damals in Nevada waren sie auf eine merkwürdige Weise geistig miteinander verbunden gewesen, doch er konnte sich nicht vorstellen, dass die Verbindung auf diese Entfernung noch wirkte. Aber was, wenn Isabel wirklich in Gefahr schwebte? Wenn er ihr helfen konnte, aber nichts tat, weil er den Ruf für Einbildung hielt, würde er sich das nie verzeihen. Zumindest musste er herausfinden, wo sie gerade war und ob es ihr gut ging. Nachdem er die Entscheidung getroffen hatte, lief Bowen zum Lager zurück.
Er nahm sich gerade noch die Zeit, sich zu verwandeln, bevor er kurz an Finns Tür klopfte. Gerüche stiegen in seine Nase, die ihm wieder bewusst machten, dass Jamila seit einigen Monaten bei Finn lebte. Hoffentlich hatte er sie nicht bei irgendetwas unterbrochen, aber er wollte nicht bis zum Morgen warten, um zu erfahren, ob es Isabel gut ging. Gerade als er noch einmal klopfen wollte, wurde die Tür aufgerissen.
Finn stand nackt in der Türöffnung und blickte Bowen ernst an. »Ist etwas passiert?«
Bowen senkte die Hand und richtete sich zu voller Höhe auf. Neben Finn kam er sich stets klein vor, dabei war er inzwischen auch schon beinahe 1,90 Meter. Im Gegensatz zu Finns muskulösem Körperbau war er jedoch eher schlank. »Ich war eben draußen unterwegs und hatte plötzlich das Gefühl, dass irgendetwas mit Isabel geschehen ist.«
Finns Augenbrauen zogen sich zusammen. »Isabel ist mit Keira in Nevada. Ich habe nichts von irgendwelchen Problemen gehört.«
Röte stieg in Bowens Wangen. »Das weiß ich. Aber irgendwie …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe etwas gespürt. Könntest du sie anrufen und nachfragen, ob alles in Ordnung ist?«
Für einen Sekundenbruchteil stand etwas wie Unbehagen in Finns Augen, dann nickte er. »Natürlich. Komm herein.«
Bowen folgte Finn in die Hütte und nahm am Tisch Platz, während der Ratsführer das Telefon holte.
Jamila kam in eine Decke gehüllt die Treppe hinunter. »Hallo Bowen. Kann ich dir etwas zu trinken anbieten? Einen Tee?« In ihrer sanften Stimme war ihre afrikanische Herkunft deutlich zu hören. Auch ihre dunkle Hautfarbe zeugte davon, dass sie keine Berglöwenwandlerin war.
Es hatte einige Zeit gedauert, bis Bowen akzeptieren konnte, dass die schwarze Leopardin nicht mehr zu seinen Feinden gehörte, sondern nun Teil der Gruppe war. Immer noch gab es einige Gruppenmitglieder, die dagegen waren, dass Finn sie zur Gefährtin genommen hatte. Doch niemand wagte es mehr, es ihm ins Gesicht zu sagen, nachdem er sehr deutlich gemacht hatte, dass er mit Jamila das Lager verlassen würde, wenn sie von den anderen nicht akzeptiert wurde. Und es gab derzeit keinen anderen geeigneten Kandidaten für den Posten des Ratsführers.
Bowen neigte den Kopf. »Hallo Jamila. Nein, danke, ich werde gleich wieder nach Hause gehen, sobald ich weiß, dass alles in Ordnung ist.«
Finn kam in den Wohnraum zurück und seine Augen leuchteten warm auf, als er Jamila sah. Während er an ihr vorbei ging, strich er mit den Fingern über ihre nackte Schulter. »Warum gehst du nicht wieder zurück ins Bett? Ich komme in ein paar Minuten nach.«
Jamila wirkte, als wollte sie protestieren, aber dann nickte sie nur. »Ich hoffe, dass alles in Ordnung ist.« Freundlich lächelte sie Bowen zu, bevor sie die Treppe hinauf ging und aus seinem Blickfeld verschwand. Als Bowen sich zu Finn umdrehte, erwischte er ihn dabei, wie er Jamila sehnsüchtig hinterherblickte.
Finn räusperte sich. »Dann rufe ich jetzt bei Isabel an, damit wir alle weiterschlafen können. Es ist bestimmt alles in Ordnung. Keira hätte mich benachrichtigt, wenn es ein Problem gäbe.« Ganz sicher wirkte er aber nicht. Es war niemandem verborgen geblieben, dass es seit einiger Zeit Spannungen zwischen Finn und seiner Schwester gab. Aber Bowen wusste, dass sie ihre Aufgabe als Wächterin sehr ernst nahm.
Er hielt den Atem an, während Finn Isabels Nummer wählte. Es musste ihr einfach gut gehen! Der Freiton war in dem stillen Raum gut zu hören und Bowen ballte seine Hände unter dem Tisch zu Fäusten, während er darauf wartete, dass Isabel sich endlich meldete. Je länger es dauerte, desto düsterer wurde Finns Miene. Als sich wenig später die Mailbox anschaltete, hinterließ er eine kurze Nachricht, dass sie sich sofort bei ihm melden sollte. Langsam legte er das Satellitenhandy auf den Tisch.
Sein besorgter Blick traf Bowens. »Vielleicht sind sie gerade unterwegs und haben das Handy nicht dabei.« Es war offensichtlich, dass er selbst nicht daran glaubte.
Bowens Kehle zog sich vor Furcht um Isabel zusammen. Inzwischen war er sich sicher, dass er tatsächlich Isabels Panik gespürt hatte und ihr etwas geschehen war. Irgendetwas musste er unternehmen, um ihr zu helfen. Doch wo sollte er anfangen, wenn er nicht einmal wusste, wo sie gerade war?
»Ich weiß, was ich gespürt habe, Finn. Isabel ist in Schwierigkeiten.« Er schluckte hörbar, seine Hände krampften sich um die Tischkante. »Sie hatte furchtbare Angst und dann war da plötzlich nichts mehr, so als ob …« Er brach ab, ein Zittern lief durch seinen Körper.
Finn ging zu ihm und legte eine Hand auf Bowens Schulter. »Wir werden Isabel finden und nicht zulassen, dass ihr etwas geschieht.«
Aber was, wenn es bereits zu spät war?
Bowen kehrte in seine Hütte und sein Bett zurück, doch er konnte nicht mehr einschlafen. Unruhe erfüllte ihn, die mit jeder Minute stärker wurde, in der er keine Benachrichtigung erhielt, dass es Isabel gut ging.
Caruso rieb über seine schmerzenden Schläfen und blickte in den Park, in dem die Berglöwenfrau und ihr Freund vor einiger Zeit verschwunden waren. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er nicht einmal ihren Namen kannte, aber das war auch nicht wichtig. Es zählte jetzt nur, Isabel so schnell wie möglich zu befreien. Obwohl er seine Tochter gerade erst kennengelernt hatte, fühlte er eine erstaunlich große Verbundenheit, die nur mit ihrer Verwandtschaft nicht zu erklären war. Er hatte ihre Verwirrung und ihren Schmerz in seinem Kopf gespürt, als er ihr erklärt hatte, wer er war, und offensichtlich hatte sie diese Fähigkeit – oder vielmehr diesen Fluch – von ihm geerbt.
Unruhig blickte er auf die Uhr. Man sollte annehmen, dass die Polizei von Las Vegas etwas schneller an einen Tatort kam, wenn es um eine Entführung ging. Besonders in so einem gepflegten Stadtteil. Jede Minute, die verstrich, war eine, in der Isabel leiden musste, in der sie Angst und womöglich auch Schmerzen hatte. Caruso biss die Zähne zusammen und bemühte sich, seine Wut zu unterdrücken. Es hatte bisher noch nie geholfen, wenn er seinen Gefühlen freien Lauf ließ, deshalb hielt er sie immer unter Kontrolle. Manche nannten ihn gefühlskalt oder hartherzig, aber das war ihm egal. Er hatte bei seinem Freund Gary Jennings gesehen, was passierte, wenn man sich nur noch nach Gefühlen richtete und die Logik ignorierte, als dieser Jagd auf die Berglöwenwandlergruppe gemacht hatte, um seine Verlobte Melody zu rächen. Caruso schnitt eine Grimasse. Aber eigentlich war es wohl eher so, dass Gary sich selbst hatte rächen wollen, weil Melody sich in einen Berglöwenwandler verliebt und Gary dafür verlassen hatte.
Auch wenn er ihn verstand, schließlich hatte er den Kummer seines Freundes damals hautnah miterlebt, war er doch gegen den Rachefeldzug gewesen. Aber Gary hatte nicht auf ihn gehört und war dafür gestorben. Die Muskeln in Carusos Kiefer verspannten sich. Schuld daran war nur dieser Lee, der ihn gegen die Wandler aufgestachelt hatte. Und Caruso hatte geschworen, seinen Freund zu rächen, egal was es kostete. Im Unterschied zu Gary ging er dabei durchdacht und logisch vor und würde deshalb gewinnen. Die Frage war nur, welchen Preis er am Ende dafür zahlen würde.
Als ein Streifenwagen dicht gefolgt von einem Zivilfahrzeug auf den Parkplatz einbog, ging Caruso ihnen schnell entgegen. Sie hatten keine Sekunde zu verlieren und genau das würde er den Polizisten klar machen. Der Streifenwagen hielt direkt vor ihm an und die Beifahrertür ging auf. Der Polizist stieg aus und sah ihn durchdringend an, seine Hand über dem Griff seiner Dienstwaffe.
»Sind Sie Dave Caruso?«
»Ja, ich habe eine Entführung gemeldet.« Ungeduldig blickte Caruso zu dem anderen Wagen, der immer noch mit laufendem Motor hinter dem Streifenwagen stand.
»Wo und wann hat die Entführung stattgefunden?« Der Polizist wirkte, als würde er ihm immer noch nicht ganz glauben.
»Hier, vor etwa zehn Minuten.« Sein Geduldsfaden riss. »Hören Sie, können wir die Sache etwas beschleunigen? Es geht um das Leben einer jungen Frau!« Selbst von seinem Ausbruch überrascht, presste er seine Lippen zusammen, damit nicht noch mehr hervorsprudelte. Aus langer Erfahrung wusste er, dass die Ermittlungen durch Ungeduld kein bisschen schneller fortschreiten würden – im Gegenteil.
»Sie kennen das Opfer also?« Hanlon, so stand auf seinem Namensschild, redete genau in dem gleichen Tonfall weiter wie vor Carusos Ausbruch.
Mit zusammengepressten Zähnen antwortete er. »Ja, sie ist meine Tochter.«
Als er das Klappen einer Autotür hörte, blickte er wieder zu dem Zivilfahrzeug. Eine hochgewachsene, schlanke Frau mit kurzen dunkelbraunen Haaren gesellte sich zu ihnen. Sie trug keine Uniform, sondern eine schlichte dunkelgraue Hose und ein ebensolches Jackett über einem hellen T-Shirt.
Geschäftsmäßig gab sie ihm die Hand. »Es tut mir leid, ich musste noch etwas überprüfen. Ich bin Detective Dawn Jones.«
Caruso nickte. »Detective.«
Mit ungewöhnlichen hellbraunen Augen blickte sie ihn durchdringend an. »Also, was ist hier vorgefallen? Mir wurde gesagt, es handelt sich um eine Entführung.«
»Wie ich Ihrem Kollegen gerade schon sagte, ist vor etwa zehn Minuten meine Tochter auf diesem Parkplatz entführt worden.« Selbst er konnte das untypische Brechen seiner Stimme hören. Hitze stieg in seine Ohrspitzen.
Der Blick der Polizistin wurde etwas sanfter. »Wie ist ihr Name?«
»Dave Caruso.«
Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen. »Das weiß ich. Ich meinte den Ihrer Tochter.«
»Isabel Kerrilyan.«
»Ist sie Ihre leibliche Tochter?« Auf seinen finsteren Blick hin fügte sie rasch hinzu: »Wegen des Nachnamens.«
»Ja, sie ist meine Tochter, aber sie lebt bei ihrer Mutter.«
Detective Jones nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Wie alt ist Isabel?«
»Siebzehn.«
»Dann hat ihre Mutter das Sorgerecht?«
»Ja.« Seine Zähne knirschten, so fest biss er sie zusammen. »Ich verstehe nicht, was das zur Sache tut. Sie wurde entführt und könnte jetzt schon wer weiß wo sein! Sollten Sie nicht lieber versuchen, sie zu finden, anstatt mir sinnlose Fragen zu stellen?«
Die Polizistin ließ sich durch seinen Tonfall nicht aus der Ruhe bringen. »Ich versuche in Erfahrung zu bringen, wen ich verständigen muss. Vielleicht gibt es ja auch eine Lösegeldforderung oder ähnliches. Oder haben Sie bereits mit Ihrer Exfrau gesprochen?« Sein Gesichtsausdruck sprach wohl Bände, denn sie nickte. »Das dachte ich mir. In der Aufregung wird das oft vergessen.«
»Wir waren nie verheiratet, und ich hatte schon vor Isabels Geburt keinen Kontakt mehr zu Felicia.« Und warum glaubte er, sich rechtfertigen zu müssen? Vor allem weil er damit in den Augen des Detectives sicher nicht besser dastand. »Ich will damit nur sagen, ich kenne ihre Adresse nicht. Damals hieß sie Felicia Kerrilyan und lebte in Los Angeles.«
Die Augenbrauen von Detective Jones ruckten in die Höhe. »Sie wissen nicht, wo Ihre Tochter wohnt?«
Der Vorwurf in ihrer Stimme ließ Caruso wieder explodieren.