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Spannend, fesselnd, sinnlich: Romantic Thrill von Bestsellerautorin Lisa Jackson! Shelby Cole, Tochter des gefürchteten, manipulativen Richters Jerome Cole, kehrt nach zehn Jahren in ihre Heimatstadt, Bad Luck, zurück. Ihre Mission: ihre tot geglaubte Tochter Elizabeth ausfindig zu machen. Wegen ihrer traumatischen Kindheit, der Vergewaltigung durch den brutalen Ross McCallum und der Totgeburt ihrer Tochter Elizabeth wollte Shelby nie wieder einen Fuß in die Kleinstadt setzen. Ihr Vater weigert sich ihr zu helfen und auch von den Hausbediensteten erfährt Shelby nichts, was ihr bei der Suche hilft. Nur ihre Jugendliebe und potentieller Vater von Elizabeth, der Rebell Nevada Smith, verspricht Unterstützung. Doch Richter Cole und der eben aus dem Gefängnis entlassenen Ross McCallum ziehen alle Fäden um die Wahrheit zu vertuschen. Kann die wiederaufflammende Leidenschaft und Liebe zwischen Shelby und Nevada das dichte Gespinst aus Lügen, Gewalt, Manipulation und Intrigen die Bad Luke umgeben aufdecken und die Lebensbedrohung von Shelby abweisen? feelings-Skala (1=wenig, 3=viel): Erotik: 3, Spannend: 3, Gefühl: 1 »Ruf nach Rache« ist ein eBook von feelings*emotional eBooks. Mehr von uns ausgewählte romantische, prickelnde, herzbeglückende eBooks findest Du auf unserer Facebook-Seite: www.facebook.de/feelings.ebooks Genieße jede Woche eine neue Liebesgeschichte - wir freuen uns auf Dich!
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Seitenzahl: 551
Lisa Jackson
Ruf nach Rache
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp
Knaur e-books
Spannend, fesselnd, sinnlich: Romantic Thrill von Bestsellerautorin Lisa Jackson!
Shelby Cole, Tochter gefürchteten, manipulativen Richters Jerome Cole, kehrt nach zehn Jahren in ihre Heimatstadt, Bad Luck, zurück. Ihre Mission: ihre tot geglaubte Tochter Elizabeth ausfindig zu machen. Wegen ihrer traumatischen Kindheit, der Vergewaltigung durch den brutalen Ross McCallum und der Totgeburt ihrer Tochter Elizabeth wollte Shelby nie wieder einen Fuß in die Kleinstadt setzen. Ihr Vater weigert sich ihr zu helfen und auch von den Hausbediensteten erfährt Shelby nichts, was ihr bei der Suche hilft. Nur ihre Jugendliebe und potentieller Vater von Elizabeth, der Rebell Nevada Smith, verspricht Unterstützung. Doch Richter Cole und der eben aus dem Gefängnis entlassenen Ross McCallum ziehen alle Fäden um die Wahrheit zu vertuschen. Kann die wideraufflammende Leidenschaft und Liebe zwischen Shelby und Nevada das dichte Gespinst aus Lügen, Gewalt, Manipulation und Intrigen die Bad Luke umgeben aufdecken und die Lebensbedrohung von Shelby abweisen?
Dieses Buch ist meinen Söhnen
Matthew und Michael Crose gewidmet,
die zweifelsohne das Licht meines Lebens sind.
Danke, Jungs! Ihr seid die Besten!
Bad Luck, Texas 1999
Hitze waberte über das trockene Weideland. Schatten war hier rar, die Sommerluft voller schwerem Staub. Nevada Smith zielte. Schloss sein geschädigtes Auge. Drückte ab.
Wumm!
Der Rückstoß der Winchester traf ihn hart an der nackten Schulter. Sein Ziel, eine verrostete Dose, flog vom Zaunpfosten und prallte auf den von der Hitze festgebackenen Boden. Die Langhornrinder auf dem angrenzenden Feld zuckten nicht mit der Wimper, während Nevada zufrieden das nächste Ziel in Angriff nahm – eine leere Bierflasche, die er in Millionen kleinster Scherben zerschießen wollte.
Erneut hob er das Gewehr. Spannte den Hahn. Reckte das Kinn vor und kniff die Augen zusammen. Sein Finger legte sich um den Abzug, doch er zögerte.
Er spürte den Pick-up, bevor er ihn hörte. Als er den Kopf hob, entdeckte er eine Staubfahne entlang der Zaunpfosten, die die Zufahrt zu seiner kleinen Ranch säumten. Im selben Augenblick ertönte das Brummen eines Motors. Nevada spähte angestrengt durch seine zerkratzte Foster-Grant-Brille und erkannte Shep Marsons roten Dodge.
Mist.
Was mochte der alte Fiesling von ihm wollen? Shep arbeitete als Deputy für das Büro des Sheriffs, ein sturer Hund, der es auf Teufel komm raus selbst zum County Sheriff bringen wollte. Gnadenlos korrupt war Shep, der Neffe eines Richters am hiesigen Amtsgericht. Er war verheiratet mit der Tochter eines einst vermögenden Viehzüchters und kurz davor, sein Ziel durch einen politischen Umschwung zu erreichen, zumal die Verbrechen in diesem Teil des Berglands von Texas rapide zunahmen.
Nevadas Nerven waren gespannt wie ein Schöpfseil, und das nicht nur, weil Shep ein mieser, bigotter Scheißkerl war, der hier, so weit außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs, absolut nichts verloren hatte.
Nein, leider war Shep zudem zufällig ein entfernter Cousin von Shelby Cole, der Tochter des Richters, für den Nevada kurze Zeit gearbeitet hatte. Weder für den Richter noch für Shep hegte Nevada freundschaftliche Gefühle. Im Gegenteil.
Die Winchester in einer Hand, ging Nevada an einem Beet mit verwilderten Rosenstöcken vorbei, schnappte sich sein verschlissenes T-Shirt, das er über einen der Zaunpfosten gehängt hatte, und ließ es an einem Finger über die Schulter baumeln.
Eine Wespe war eifrig damit beschäftigt, sich in den Dachsparren des Blockhauses, das er sein Zuhause nannte, ein Nest zu bauen, und sein verkrüppelter alter Hund, ein Mischling mit mehr Border-Collie- als Labrador-Anteil, lag im Schatten der durchhängenden Eingangsveranda. Als Nevada an ihm vorbeiging, klopfte sein Schwanz freudig auf den staubigen Boden, dann hob er den Kopf und gab ein verstimmtes »Wuff« in Richtung des näher kommenden Dodge ab.
»Pscht, ist schon okay«, sagte Nevada beschwichtigend, obwohl er wusste, dass das eine Lüge war. Ein Besuch von Shep war alles andere als okay. Er versuchte, das Pochen in seinem Schädel zu ignorieren, den Kater, der vom gestrigen Abend zurückgeblieben war und der immer schlimmer statt besser zu werden schien, je höher die Sonne stieg und die Hitze zum Flimmern brachte, so weit das Auge reichte. Nevada schnürte sich der Magen zusammen. Sein Auge schmerzte leicht. Ärgerlich zerquetschte er eine hirnlose Bremse, die nicht begriffen hatte, dass sich die Herde hundert Meter weiter westlich befand, dicht zusammengedrängt in einem Wäldchen aus Buscheichen und Mesquitebäumen, die angriffslustigen Pferdefliegen mit den Schweifen vertreibend.
Der Pick-up kam vor dem alten Werkzeugschuppen zum Stehen. Marson stellte den Motor ab.
Nevadas Nackenmuskeln spannten sich an – so wie sie es immer taten, wenn er es mit den Gesetzeshütern zu tun bekam. Früher einmal hatte er selbst dazugehört, jetzt war er ein Verstoßener.
Shep kletterte aus der Fahrerkabine. Er war ein Bär von einem Mann, der die Unterlippe stets ein wenig vorgewölbt hatte, weil er von seiner Leidenschaft für Kautabak nicht loskam. Jetzt marschierte er um die fliegengesprenkelte Motorhaube herum und schlenderte über den staubigen Pfad auf das Blockhaus zu. Er trug Schlangenlederstiefel, verwaschene Jeans und ein Westernhemd, das um den Bauch etwas zu eng war. In seinen dicken Fingern hielt er zwei Dosen Coors-Bier.
»Smith.« Er spuckte einen Strahl schwarzen Tabaksaft durch die Zähne. »Hast du ’ne Minute Zeit?«
»Kommt drauf an.«
»Worauf?«
»Geht es um was Offizielles?«
»Nein.« Shep fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Über seiner Oberlippe zeigte sich der Ansatz eines Schnäuzers. »Nur ein Schwätzchen unter zwei alten Freunden.«
Nevada glaubte ihm keine Sekunde. Er und Shep waren nie Freunde gewesen – nicht einmal, als sie demselben Team angehört hatten. Das wussten sie beide. Trotzdem hielt er den Mund. Es gab einen Grund dafür, dass Marson hier war, und zwar mit Sicherheit keinen guten.
Shep warf Nevada eine Dose Coors zu, die dieser in der Luft fing. »Teufel, ist das heiß«, brummte er, riss den Deckel auf und lauschte dem erfrischenden Zischen. Dann hob er die Dose, prostete Nevada zu und nahm einen großen Schluck.
»Es ist immer heiß.« Nevada öffnete sein Bier. »Sommer in Texas.«
»Das hatte ich wohl vergessen.« Shep gab ein humorloses Lachen von sich. »Komm, setzen wir uns.« Er deutete mit dem Kinn auf die Veranda, auf der zwei Plastikstühle geduldig Staub ansetzten. Schweiß lief Sheps Schläfen hinunter und fing sich in den dünnen Koteletten, die langsam grau wurden. »Hast du das von dem alten Caleb Swaggert gehört?«, fragte er, den Blick auf den Horizont gerichtet, wo ein paar Wolkenfetzen und der Kondensstreifen eines Jets zu sehen waren.
Nevadas Nackenhärchen sträubten sich warnend. Er lehnte sich gegen einen Verandapfosten, während Shep es sich auf einem der beiden Flohmarktstühle bequem machte. »Was ist mit ihm?«
Shep nahm einen weiteren Schluck Bier, während seine Augen über die heruntergekommene Ranch glitten, die Nevada geerbt hatte. Schließlich gab er ein Grunzen von sich und sagte: »Sieht so aus, als würde der alte Caleb bald die Radieschen von unten betrachten. Krebs. Die Ärzte in Coopersville geben ihm nur noch weniger als einen Monat.« Ein weiterer großer Schluck. Nevadas Finger schlossen sich um sein Coors. »Und siehe da, Caleb behauptet, er habe zu Jesus gefunden. Will nicht als Sünder sterben, deshalb zieht er seine Zeugenaussage zurück.«
Jeder einzelne Muskel in Nevadas Körper spannte sich an. Mit zusammengepressten Lippen fragte er: »Und das heißt?«
»Das heißt, dass Ross McCallum ein freier Mann ist. Erst bringt ihn Calebs Aussage in den Knast – seine und die von Ruby Dee –, und jetzt sieht es so aus, als würde Caleb widerrufen und Ruby Dee zugeben, dass sie Ross lediglich eins auswischen wollte. Dabei wusste doch damals schon jeder, was für ein verlogenes Miststück Ruby ist.«
Nevada wurde übel. Eine heiße Brise strich wie der Atem Satans über seinen Nacken.
Shep setzte erneut seine Dose an und leerte sie bis auf einen kleinen Schluck. »Ich weiß, dass du den Dreckskerl festgenommen und hinter Gitter gebracht hast, und ich dachte, du würdest gern wissen, dass Ross in ein paar Tagen rauskommt – hängt davon ab, wer seinen Fall prüft. Ich muss dir nicht extra sagen, dass bei ihm leicht eine Sicherung durchbrennt. Verdammt, als Halbwüchsiger war er in mehr Schlägereien verwickelt als du, auch wenn die Hälfte davon mit dir war!« Als Nevada nichts erwiderte, nickte Shep, wie um sich selbst zu bestätigen, und trank sein Bier aus. »Wenn er rauskommt, wird er so gefährlich sein wie ein verwundeter Grizzly.« Mit der Bierdose deutete er auf Nevada. »Kein Zweifel, dass er dich aufsuchen wird.« Er drückte die leere Dose mit seiner fleischigen Faust zusammen und fügte hinzu: »Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Weißt du, was ich meine?«
»Ja.«
»Gut.« Er warf den Müll auf die halb verrotteten Bodenbretter der Veranda und stand auf. »Weißt du, Nevada, ich habe das nie recht verstanden. Ihr zwei wart doch mal beste Freunde, oder? Er war Quarterback im Footballteam und du sein Wide Receiver. Zumindest, bevor er aus der Mannschaft geflogen ist. Was ist zwischen euch passiert?«
Nevada zuckte die Achseln. »Menschen verändern sich.«
»Tatsächlich?« Shep blickte skeptisch drein. »Vielleicht tun sie das, wenn eine Frau im Spiel ist.«
»Kann sein.«
Shep stieg die zwei Stufen von der Veranda hinab, dann drehte er sich um und warf einen Blick über die Schulter, als sei ihm plötzlich ein Gedanke gekommen. »Es gibt noch etwas, was ich dir mitteilen wollte, Junge«, sagte er. Seine Stimme klang todernst.
»Was?«
»Es geht das Gerücht, dass Shelby nach Bad Luck zurückkehrt.«
Nevadas Herz setzte einen Schlag lang aus, doch es gelang ihm, sein ausdrucksloses Gesicht beizubehalten.
»Offenbar ist da was dran«, sagte Shep, als spreche er mit sich selbst. »Ich hab’s von meiner Schwester gehört. Shelby hat sie heute Morgen angerufen. Wenn sie also tatsächlich wieder aufkreuzt, will ich keinen Ärger, klar? Ross und du habt euch ihretwegen genug Auseinandersetzungen geliefert. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich euch deswegen verhaftet habe. Ihr wart ganz schön übel zugerichtet. Du bist im Krankenhaus gelandet und hast einen Teil deiner Sehkraft eingebüßt, Ross hatte mehrere angeknackste Rippen und einen gebrochenen Arm. Vermutlich hat er damals geschworen, dich umzubringen.«
»Bloß hat er nie die Gelegenheit dazu bekommen.«
»Bis jetzt, Kumpel.« Shep blickte sich auf dem trostlosen Hof um. Dann zog er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, wischte sich das Gesicht und blinzelte, wodurch die Falten in seinen Augenwinkeln noch tiefer wurden. »Wie ich schon sagte: Ich will keinen Ärger. Nächstes Jahr werde ich für das Amt des Sheriffs von Blanco County kandidieren, und ich möchte nicht, dass mein Name mit irgendeinem Mist in Verbindung gebracht wird.«
»Ich wüsste nicht, inwiefern.«
»Gut. Sorgen wir einfach dafür, dass das so bleibt.« Shep marschierte zurück zu seinem Pick-up.
Nevada, der wusste, dass man schlafende Hunde besser nicht weckte, gab sich alle Mühe, sich eine Erwiderung zu verkneifen, doch er schaffte es nicht. »Warum kommt Shelby ausgerechnet jetzt nach Bad Luck zurück?«
»Das ist eine gute Frage, nicht wahr?« Shep blieb stehen und rieb sich nachdenklich das Kinn. Auf seinem Hemd bildeten sich Schweißflecken. »Eine verdammt gute Frage. Ich hoffte, du würdest eine Antwort darauf wissen, aber offenbar ist das nicht so.« Er blickte in die Ferne und spuckte einen weiteren Schwall Tabaksaft auf das sonnengebleichte Gras, das rings um einen Zaunpfosten wucherte. »Vielleicht weiß Ross etwas.«
Nevadas Schläfen pochten.
»Findest du’s nicht merkwürdig, dass Shelby und er gleichzeitig nach Bad Luck zurückkehren? Was für ein Zufall.«
Das ist mehr als nur ein Zufall, dachte Nevada, aber diesmal hielt er wirklich den Mund und beobachtete stattdessen, wie der ältere Mann in die Fahrerkabine des Pick-ups kletterte. Nevada konnte sich nicht vorstellen, was Shelby Cole – schön, verwöhnt, die einzige Tochter von Richter Jerome »Red« Cole – noch einmal in den Bergen von Texas zu suchen hatte.
Shelby drückte das Gaspedal des gemieteten Cadillacs durch. Sträucher, Buscheichen, verblühende Wildblumen und eine stachelige Kaktusfeige flogen an ihr vorbei. Totgefahrene Tiere lagen auf dem Schotterbett des Highways, hauptsächlich Gürteltiere und ein paar unglückliche Hasen. Sie näherte sich Bad Luck, einer kleinen Stadt westlich von Austin, einer Stadt, in die sie nie wieder einen Fuß hatte setzen wollen – das hatte sie sich damals geschworen.
Das Sonnendach war offen, die grelle Sonne brannte ihr auf die Stirn, aus dem Haarknoten am Hinterkopf lösten sich rotblonde Strähnen. Es war ihr egal. Sie hatte am Flughafen ihre High Heels abgestreift und fuhr barfuß, die Augenbrauen konzentriert zusammengezogen. Im Radio dudelte ein alter Bette-Midler-Song, doch sie hörte kaum hin.
Sie bog ein bisschen zu schnell um eine Kurve. Die Reifen des Cadillacs quietschten, trotzdem bremste sie nicht ab. Zehn Jahre war sie fort gewesen, zehn Jahre in der Verbannung, zehn Jahre hatte sie in Seattle ihr eigenes Leben geführt, und jetzt konnte sie es kaum erwarten, zu dem hundert Jahre alten Haus zu kommen, in dem sie aufgewachsen war. Sie hatte nicht vor, lange zu bleiben. Wollte nur hinter sich bringen, was sie zu erledigen hatte, und so schnell wie möglich wieder verschwinden.
Ihre Finger schlossen sich ums Lenkrad. Erinnerungen übermannten sie, Erinnerungen, gefangen in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, Erinnerungen an Lügen und Versprechungen, an Zärtlichkeiten und Leidenschaft während eines Frühlingsgewitters und das Entsetzen wegen eines abscheulichen Betrugs. Sie schluckte. Nein, diesem schmerzhaften Gedankengang würde sie nicht noch einmal folgen.
Sie stellte das Radio aus und setzte eine Sonnenbrille auf. Heute konnte sie nichts ertragen, was auch nur ansatzweise sentimental oder romantisch war. Vielleicht könnte sie das nie mehr. Sie warf einen Blick auf den Beifahrersitz neben sich, wo ihre Handtasche lag. Aus der Seitentasche ragte ein brauner Umschlag, darin steckte ein Brief – anonym geschrieben – mit einer Briefmarke aus San Antonio. Das war der Grund dafür, dass sie bei dem Immobilienbüro, in dem sie arbeitete, um Urlaub gebeten, kurzentschlossen eine Reisetasche gepackt und den erstbesten Flug vom Sea-Tac Airport in Seattle nach Austin, Texas, genommen hatte.
Weniger als vierundzwanzig Stunden, nachdem der Brief bei ihr eingegangen war, fuhr sie nun durch das Netz von Straßen im Zentrum der Kleinstadt, die sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens ihre Heimat genannt hatte.
Viel hatte sich nicht verändert.
Der Drogeriemarkt mit angrenzender Apotheke sah genauso aus wie immer, bis hin zu der Original-Pferdestange, die vor dem Seiteneingang installiert war und an der nebeneinander bis zu fünf Pferde Platz gefunden hatten. Mit einem schiefen Grinsen dachte sie daran, wie sie ihre Initialen in die Unterseite jenes Balkens geritzt hatte, und fragte sich, ob sie wohl noch da waren – ein bestimmt längst verwittertes kleines Herz, das ihre Liebe zu einem Mann bekundete, der ihr am Ende das Herz gebrochen hatte.
»Dumme Kuh«, murmelte sie und hielt vor der einzigen Ampel von Bad Luck an. Eine schwangere Frau überquerte die Straße, sie schob einen Buggy mit einem brüllenden Kleinkind vor sich her. Die Sonne brachte den Asphalt zum Glühen, trübte Shelbys Sicht und drohte die Straßendecke aufzuweichen. Mein Gott, war das heiß hier! Das hatte sie ganz vergessen. Schweiß ließ ihre Kopfhaut kribbeln und klebte ihr die Baumwollbluse an den Leib. Sie hätte das Sonnendach schließen, die Fenster hochkurbeln und die Klimaanlage einschalten können, aber das wollte sie nicht. Nein. Sie wollte Bad Luck im Bundesstaat Texas als das elende Fleckchen Erde erinnern, das es war. Benannt vermutlich von einem Ölsucher aus längst vergangenen Zeiten, war die Stadt langsam gewachsen, und nur einige der Bewohner waren erfolgreich gewesen. Ihr eigener Vater hatte es am weitesten gebracht. Als sie später den Staub von Bad Luck erst einmal abgeschüttelt hatte, war ihr klar gewesen, dass sie nie mehr dorthin zurückkehren würde.
Trotzdem war sie jetzt hier.
Und sann auf Rache.
Zielsicher fuhr sie durch die brütend heißen Seitenstraßen und bog um die Ecke eines Betonblocks, der ein Motel namens Well Come Inn beherbergte. Ein riesiges Neonschild warb mit günstigen Zimmerpreisen, Klimaanlage und Kabelfernsehen. Shelby lenkte den Cadillac an einem Tante-Emma-Laden vorbei, auf dessen schlaglochübersätem Parkplatz zerbeulte Autos in der Sonne gleißten. Etwas weiter die Straße hinauf standen kleine Bungalows, manche davon mit einem ZUVERMIETEN-Schild im Fenster. Shelby umkurvte die Statue von Sam Houston inmitten einer kleinen Grünanlage und fuhr durch ein Wohngebiet, in dem schattenspendende Bäume für ein wenig Erleichterung von der Hitze sorgten. Ein paar der älteren Häuser hatten sich den typischen Charme des neunzehnten Jahrhunderts bewahrt.
Weiter vom Stadtzentrum entfernt, näher bei den Hügeln, lagen die repräsentativeren, weitläufigeren Anwesen.
Das im viktorianischen Stil erbaute Haus ihres Vaters war das größte von allen, ein wahrhaft herrschaftlicher Wohnsitz, an Bad-Luck-Standards gemessen. Gut eine Meile von der Stadt entfernt, eingebettet in fünf Morgen sanft ansteigenden Hügellands, verfügte die Ziegelsteinvilla über drei Stockwerke mit einer überdachten Veranda ringsherum. Kunstvoll verschnörkeltes Gitterwerk und riesige Fenster wurden von Hängekörben mit farbenfrohen Fuchsien verschönert; der Rasen war gemäht, saftig grün und mit sauber gestochenen Kanten, die blühenden Sträucher geschnitten, der nierenförmige Swimmingpool hinten im Garten ein schillernder, türkisfarbiger künstlicher See – ein Symbol für Richter Red Coles Wohlstand, seine Macht und seinen Einfluss.
Shelby runzelte die Stirn und dachte daran, welche Sticheleien sie als Kind und Jugendliche über sich hatte ergehen lassen müssen; geflüsterte Worte voller Ehrfurcht und gleichzeitiger Verachtung, die sie vorgab, nie mitzubekommen.
»Reiches Miststück.«
»Die glücklichste Göre westlich von San Antonio.«
»Sie hat alles, was man sich nur wünschen kann. Sie muss nur ›Bitte, Daddy‹ sagen oder mit ihren babyblauen Augen klimpern.«
»Hartes Leben, was, Süße?«
Selbst jetzt noch krümmte sie sich, wenn sie daran dachte, und spürte, wie ihre Wangen vor Verlegenheit zu brennen anfingen, genau wie damals, als man ihr verboten hatte, mit Maria, der Tochter des Gärtners, zu spielen. Man hatte sie auch vor Ruby Dee gewarnt, die ein »schlechtes Mädchen« von »üblem Ruf« sei. Außerdem hatte sie erfahren, dass ihre Appaloosa-Stute mehr wert war, als Nevada Smith in einem ganzen Jahr verdiente, selbst wenn er jede Menge Überstunden auf der Rinderfarm ihres Vaters acht Meilen nördlich der Stadt schob.
Kein Wunder, dass sie davongelaufen war.
Vor der Garage trat sie auf die Bremse, stellte den Motor ab, schlüpfte in ihre High Heels und warf die Autoschlüssel in ihre Handtasche. »Gib mir Kraft«, murmelte sie zu niemand Bestimmtem, dann stieg sie aus dem Wagen, ignorierte die Tatsache, dass ihr die Bluse am Rücken klebte, und stöckelte den Plattenweg zur Haustür hinauf. Sie machte sich nicht die Mühe, den schweren Messingtürklopfer zu betätigen, auf dem der eingravierte Name »Cole« prangte. Sie dachte an den ekelhaften Kinderreim, den sie in der Grundschule gehört hatte.
Richter Cole, die schmutzige Seele,
Will jedem und allen an die Kehle.
Schreit nach der Schlinge,
Schreit nach der Klinge,
Befiehlt seinen Schergen abscheuliche Dinge …
Shelby öffnete die Haustür und wurde begrüßt von dem vertrauten Duftpotpourri aus Möbelpolitur und Zimt. Italienischer Marmor lugte unter den teuren Teppichen hervor und glänzte im Sonnenlicht, das durch die hohen, blitzsauberen Fenster hereinfiel.
»Hola! Ist da jemand?«, rief eine altbekannte Stimme mit hörbarem spanischem Akzent. Aus der Küche kamen Schritte, und als Shelby um die Ecke bog, wäre sie um ein Haar mit Lydia, der Haushälterin ihres Vaters, zusammengestoßen.
Lydias dunkle Augen weiteten sich, als sie die Besucherin erkannte. Ein freudiges Lächeln trat auf ihr Gesicht. »Señorita Shelby!« Die ehedem schwarzen Haare der Haushälterin, jetzt durchzogen von silbernen Strähnen, waren ordentlich geflochten und am Hinterkopf zusammengesteckt. Einzelne drahtige Haare waren dem strengen Knoten entwischt und umrahmten nun das Gesicht, an das sich Shelby so gut erinnerte. Mit den Jahren war Lydia rundlicher geworden, aber ihr Gesicht war faltenlos, ihre kupferfarbene Haut über den für Mexikaner typischen ausgeprägten Wangenknochen glatt wie immer.
»Dios!« Lydia schlang die Arme um die junge Frau, die sie großgezogen hatte. »Warum hast du nicht angerufen und Bescheid gegeben, dass du kommst?«
»Das war eine spontane Entscheidung.« Unerwünschte Tränen brannten in Shelbys Augen, als sie Lydias Umarmung erwiderte. Mit ihrem schwarzen Kleid, der weißen Schürze und den Gesundheitssandalen hatte sich die Haushälterin in all den Jahren, die Shelby fort gewesen war, nicht verändert. Sie roch immer noch nach Vanille, Talkum und Zigarettenrauch. »Es … es ist schön, dich zu sehen.«
»Und dich erst, niña.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Hätte ich gewusst, dass du kommst, hätte ich dir dein Lieblingsessen gemacht – Speck und Süßkartoffeln und zum Nachtisch Pekannuss-Pie. Aber das werde ich gleich heute vorbereiten! Ist das immer noch deine Leibspeise?«
Shelby lachte. »Ja, aber mach dir bitte keine Umstände, Lydia – ich weiß noch nicht, wie lange ich bleibe.«
»Pscht. Wer wird denn von Abschied reden, wenn du gerade erst zur Tür hereingekommen bist? Ach, niña!« Tränen glänzten auch in den Augen der älteren Frau. Sie blinzelte rasch, dann sagte sie: »Du bist wie eine fantasma – eine Erscheinung –, der Geist deiner Mutter!« Seufzend hielt Lydia Shelby auf Armeslänge von sich entfernt und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Aber du bist zu dünn … dios! Wissen die da oben im Norden denn nicht, wie man kocht?«
»Nein, das weiß niemand«, sagte Shelby lächelnd. »In Seattle sind alle nur Haut und Knochen. Sie trinken nichts als Kaffee, hetzen durch den Regen und klettern auf Berge – oder so ähnlich.«
Lydia kicherte. »Nun, das werden wir ändern, zumindest was dich anbetrifft.«
»Später. Jetzt möchte ich erst einmal den Richter sehen«, sagte Shelby, die sich nicht von der Freundlichkeit der Haushälterin oder einem Anflug von Nostalgie beirren lassen wollte. Sie hatte ein festes Ziel. »Ist er zu Hause?« Sie löste sich aus Lydias Umarmung.
»Sí. Auf der Veranda, mit zwei Besuchern. Ich werde ihm sagen, dass du da –«
Doch es war zu spät. Shelby war bereits auf die Fenstertür zugetreten, die in den Garten hinausführte. »Das mache ich schon selbst. Danke, Lydia.«
Sie ging an dem glänzenden Mahagonitisch mit den zwölf Stühlen vorbei, der das Esszimmer dominierte. Ein Strelitzien-Arrangement, die Lieblingsblumen ihrer Mutter, schmückte seine Mitte – jede Woche ein frisches, seit dem Tod von Jasmine Cole vor über zwanzig Jahren. Kristall und Porzellan, funkelnd, auf Hochglanz gebracht, waren hinter den Glasscheiben eines mächtigen Geschirrschranks zu bewundern.
Nichts schien sich hier zu verändern, dachte Shelby, als sie die Glastür öffnete und die mit großen Bodenfliesen versehene Veranda betrat, die auf den Pool hinausging. Unter der Decke hingen Ventilatoren, die träge die stickige Luft durcheinanderwirbelten und ein wenig die brütende Sommerhitze milderten, genau wie die Lebenseichen und Pekannussbäume, die den terrakottagerahmten Pool beschatteten. Sonnenstrahlen glitzerten auf dem türkisblauen Wasser.
Ihr Vater saß in schwarzem Anzug und weißem Hemd an einem kleinen Tisch, einen Stetson vor sich auf der Tischplatte, den Gehstock mit dem geschnitzten Elfenbeingriff quer über den Schoß gelegt, und war mit zwei Männern ins Gespräch vertieft. Nicht unbedingt Schergen, aber, so nahm Shelby an, wenn sie die beiden Typen in Jeans und mit hochgekrempelten Hemdsärmeln betrachtete, doch zwei Jasager, Opportunisten. Einer von ihnen hatte einen braunen Schnurrbart und dünner werdendes Haar, der andere trug einen silbrigen Kinnbart und eine dunkle Sonnenbrille.
Alle drei blickten auf, als hinter ihr die Tür zufiel. Die beiden Typen runzelten die Stirn und musterten sie. Langsam wich das Stirnrunzeln Interesse.
Sie ignorierte die zwei.
Ihr Vater starrte sie überrascht an. »Shelby!«
Sie spürte, wie sich ihr Inneres schmerzhaft zusammenzog, als sie den Ausdruck reiner Freude auf seinem Gesicht entdeckte. Mein Gott, war er gealtert! Mit den Jahren waren seine Gesichtszüge erschlafft; er hatte Hängewangen bekommen, und auch seine Augenlider hingen herab. Falten furchten Hals und Stirn. Sein rotes Haar war dünner geworden und mit Grau durchsetzt, dennoch war er immer noch ein stattlicher Mann, und als er sich zu seiner vollen Größe von über eins neunzig aufrichtete, musste sie daran denken, wie einschüchternd er auf der Richterbank gewirkt hatte.
»Du liebe Güte, Mädchen, ist das schön, dich zu sehen!« Er breitete die Arme aus, aber Shelby rührte sich nicht vom Fleck.
»Wir müssen reden.«
»Was um alles in der Welt tust du hier, Liebling?« Enttäuschung umwölkte seine blauen Augen, und ein Teil von ihr wäre am liebsten zu ihm gerannt, hätte sich in seine Arme geworfen und gerufen: Ach, Daddy, ich habe dich ja so vermisst! Doch das entsprach nicht der Wahrheit. Daher riss sie sich zusammen und drückte ihr Rückgrat durch. Sie war nicht mehr das ängstliche kleine Mädchen.
»Allein, Richter. Wir müssen allein reden.« Sie warf seinen neuesten Laufburschen einen durchdringenden Blick zu.
Der Richter nickte den Männern zu, und sie schoben ihre Stühle zurück und verließen die Veranda. Stille trat ein, in der nichts zu vernehmen war außer Bienensummen und dem Trommeln eines Spechts. Shelby verschwendete keine Zeit, griff in ihre Handtasche und zog den großen, braunen Umschlag hervor. Sie öffnete ihn und breitete den Inhalt auf der Glasplatte des Tisches aus, auf dem drei halb geleerte Gläser mit schmelzenden Eiswürfeln standen.
Ein Mädchen von neun oder zehn Jahren starrte ihnen von einem Schwarzweißfoto entgegen. Der Richter zog scharf die Luft ein, dann ließ er sich langsam auf seinen Stuhl sinken. Shelby bemerkte, dass sein Ehering eine Vertiefung in den Ringfinger der linken Hand gedrückt hatte, ein Ring, den er seit über dreißig Jahren nicht abgenommen hatte. An seiner rechten Hand trug er einen blitzenden Diamanten, um den ihn viele Bräute in Hollywood beneiden würden.
Shelby beugte sich über den Tisch, so dass sie mit der Nasenspitze fast die ihres Vaters berührte. Mit einem Finger deutete sie auf die Schwarzweißaufnahme. »Das ist meine Tochter«, erklärte sie mit zitternder Stimme. »Deine Enkelin.«
Sie suchte nach Zeichen des Erkennens im Gesicht des alten Mannes, doch seine Miene blieb unbewegt. »Sie sieht aus wie ich. Und wie Mom.«
Der Richter betrachtete das Foto. »Es besteht in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit.«
»Nicht nur eine ›gewisse Ähnlichkeit‹, Richter, das Mädchen sieht aus, als sei es meine Doppelgängerin. Und hier …« – sie zog ein Blatt Papier unter der Aufnahme hervor –, »hier ist eine Kopie seiner Geburtsurkunde. Und das … ein Totenschein. Angeblich ist es als Baby verstorben – Komplikationen direkt nach der Geburt. Lies mal – Elizabeth Jasmine Cole. Du … du hast mir weisgemacht, sie hätte es nicht geschafft. Dass die Asche, die ich in den Hügeln verstreut habe … großer Gott, wem mag die gehört haben?« Sie schüttelte den Kopf, nicht bereit, sich weitere Lügen anzuhören. »Sag nichts …« Shelby spürte einen Kloß in der Kehle. Hoffentlich würde sie sich nicht übergeben müssen! Sie räusperte sich. »Du hast mich belogen, Dad. Warum?«
»Ich habe dich nicht –«
»Nein, Dad! Sprich nicht weiter!« Sie streckte ihm die Handflächen entgegen und trat einen Schritt vom Tisch zurück. Bittere Galle stieg ihr hoch, vor Zorn fing sie an zu zittern. »Irgendjemand – keine Ahnung, wer – hat mir das zugeschickt. Wo ist meine Tochter, Dad?«, fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Was zum Teufel hast du mit ihr gemacht?«
»Liebling –«
»Hör auf damit! Sofort! Nenn mich nicht Liebling, Süße, Kleine, verschon mich mit diesen Kosenamen, okay? Ich bin erwachsen, falls dir das entgangen sein sollte. Aus dieser Sache kannst du dich nicht herausreden, Richter. Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Ich bin nur zurückgekommen, um mein Kind zu finden – meine Tochter.« Sie deutete mit dem Daumen auf ihre Brust.
»Deine Tochter – und wer ist der Vater?«, fragte er. Sein Lächeln war verschwunden, die alte Schärfe, die sie so gut erinnerte, kehrte in seine Stimme zurück.
»Das – das spielt keine Rolle.«
»Nicht?« Der Richter überflog die Papiere, die vor ihm ausgebreitet lagen, die Augen hinter dem Drahtgestell seiner Lesebrille zusammengekniffen. »Seltsam, nicht wahr? In derselben Woche, in der Ross McCallum aus dem Gefängnis entlassen wird, werden dir Beweise in die Hände gespielt, dass dein Kind lebt.«
»Wie bitte?« Fast hätten ihre Knie nachgegeben. Sie konnten McCallum doch nicht einfach rauslassen! Nicht jetzt. Nie! Furcht breitete sich in ihr aus. Plötzlich war ihr heiß und kalt zugleich.
»Ach, das wusstest du nicht?« Der Richter lehnte sich in seinem Stuhl zurück und spielte mit dem Elfenbeingriff seines Gehstocks, wobei er Shelby über den Rand seiner Brille hinweg anblickte. »Jawohl, so ist das. Ross wird ein freier Mann sein. Ach … Nevada Smith ist übrigens auch noch in der Gegend.«
Ihr albernes Herz machte einen Satz, doch es gelang ihr, sich nichts anmerken zu lassen und ein ausdrucksloses Gesicht aufzusetzen. Nevada war nicht mehr Teil ihres Lebens. Schon seit langer, langer Zeit nicht mehr. Daran würde sich nichts ändern. Niemals.
»Tja«, fuhr der Richter fort, »er hat ein felsiges Stück Land geerbt, auf dem er Viehwirtschaft zu betreiben versucht. Keiner weiß, wie er die Nachricht von Ross’ Entlassung aufnehmen wird, doch vermutlich wird das unschöne Folgen haben.« Er biss sich auf die Unterlippe und legte nachdenklich die Stirn in Falten, wie er es am Gericht oft getan hatte, wenn er sich ausschweifende Plädoyers hatte anhören müssen. »Ausgerechnet jetzt schickt dir jemand einen Köder – um dich in die Stadt zurückzulocken, in die du nie wieder einen Fuß hattest setzen wollen. Jemand hält dich zum Narren, Shelby«, sagte er und nickte bedächtig mit dem Kopf, als wolle er seine eigenen Worte bestätigen, »und dieser Jemand bin nicht ich.«
Ausnahmsweise glaubte sie ihm.
Sie war völlig überstürzt hierher zurückgekehrt, voller Selbstgerechtigkeit, fest entschlossen, ihr Kind ausfindig zu machen. An diesem Wunsch hatte sich nichts geändert, auch wenn sie sich nun manipuliert fühlte, und ja, wie ihr Vater richtig gesagt hatte, zum Narren gehalten. Unwissentlich war sie in eine Falle getappt, die ein Unbekannter mit ganz eigenen Absichten für sie aufgebaut hatte.
Sei’s drum!
Entschlossen straffte sie die Schultern.
Sie würde einen Weg aus dieser Falle finden und Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Bad Luck, Texas, so schnell wie möglich hinter sich zu lassen – ein für alle Mal.
Doch diesmal würde sie ihre Tochter mitnehmen, das schwor sie sich, bei allem, was ihr heilig war.
Aber du kannst doch nicht einfach wieder fahren! Bitte, niña, du bist doch gerade erst gekommen!«, beharrte Lydia. Hartnäckigkeit zählte zu jenen Eigenschaften der Haushälterin, die im Laufe der Jahre nicht schwächer geworden waren. Zwar mochte ihr Haar grau und ihre Taille fülliger geworden sein, aber sie strotzte vor Entschlossenheit, genau wie immer. »Der Richter braucht dich«, drängte sie und gab sich alle Mühe, mit Shelbys schnellem Schritt mitzuhalten, als diese durchs Haus auf die Eingangstür zustrebte.
»Er braucht niemanden.«
»Ich dachte, du bist zu Besuch hier.«
»Nein. Ich habe etwas zu erledigen.« Shelby schüttelte den Kopf; sie konnte nicht hierbleiben, nicht in diesem Haus, dieser riesigen Gruft, in der sich ihre Mutter das Leben genommen hatte, wo sie als einziges Kind mit dem unbeugsamen Richter als Vater aufgewachsen war, wo ständig irgendwelche gesichtslosen Menschen den Richter mit diesem oder jenem Anliegen aufgesucht hatten, nicht ahnend, dass Shelby sie vom dunklen Treppenabsatz aus beobachtet hatte, verborgen in einer Nische neben dem Wäscheschrank. Reglos hatte sie dort verharrt und durch die Blätter einer Birkenfeige hinab ins Foyer gespäht.
»Aber Shelby …« Lydias Stimme brach, und Shelby blieb an der Haustür stehen. Sie drehte sich um und sah die aufrichtige Traurigkeit in Lydias dunklen Augen. »Ich habe dich vermisst, niña. Es ist kalt im Haus, seit du fort bist.«
Das Eis um Shelbys Herz brach, als sie die Worte der Frau hörte, die sich ihrer nach Jasmine Coles Entschluss, den Suizid einer Scheidung vorzuziehen, angenommen hatte. Es war Lydia gewesen, die sie in die Arme schloss, wenn sie sich fürchtete, Lydias üppiger Busen, an dem sie ihren Kopf geborgen und dem beständigen Schlag ihres aufrichtigen Herzens gelauscht hatte. Lydia hatte sie ermutigt, das zu tun, was sie wollte, hatte sie getröstet, wenn ihr etwas nicht gelang. Lydia Vasquez hatte ihre aufgeschrammten Knie mit Jod verarztet und sie auf Spanisch unter Beschuss genommen, wenn sie Mist gebaut hatte; Lydia war es gewesen, die ein Auge zudrückte, wenn sie sich wieder einmal die Schlüssel zum Pontiac, Baujahr 1940, ihres Vaters für eine Spritztour »borgte«.
»Ich kann hier nicht bleiben«, sagte Shelby jetzt und hielt Lydias fleischige Unterarme umfasst.
»Nicht für immer, das weiß ich ja. Aber für ein paar Tage? Das würde ihn so trösten … ihm eine solche Freude bereiten.« Sie legte den Kopf schräg und wies zur Rückseite des Hauses Richtung Veranda. »Und mir genauso. Por favor – bitte! Nur ein paar Tage. Eine semana.«
»Eine ganze Woche?« Shelby schnappte nach Luft. »Unmöglich. Das kann ich nicht.«
»Was würde es schon schaden? Dein Vater wäre glücklich darüber, und ich … ich würde dafür sorgen, dass du ein bisschen zunimmst. Es hat sich vieles geändert, seit du fortgegangen bist.« Sie schürzte die Lippen, und um ihre Augen wurden kleine Fältchen sichtbar. »Er ist nicht das … das … Wie hast du ihn genannt? Das monstruo.«
Shelby konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Ich habe ihn ein Ungeheuer genannt, Lydia, nicht ein Monster. Nur um das klarzustellen.«
»Sí. Ein Ungeheuer.«
»Ich … ich werde darüber nachdenken.«
»Tu das, ich werde dafür beten. Zur heiligen Mutter Maria und –«
»Das genügt. Du musst nicht sämtliche Heiligen anflehen«, sagte Shelby und amüsierte sich über den Ausdruck nackten Entsetzens ob dieser blasphemischen Bemerkung auf Lydias rundem Gesicht. Lachend drückte sie der älteren Frau einen Kuss auf die Wange. »Lass mich das Ganze einfach auf meine Weise angehen, okay? Ich brauche weder dich noch die Heilige Jungfrau oder gar Gott höchstpersönlich, die mir sagen, was ich zu tun habe.«
Während Shelby zum Türknauf griff, bekreuzigte sich Lydia mit der Fertigkeit und dem Eifer der wahrhaft Gläubigen und murmelte auf Spanisch etwas über die störrischen jungen Frauen, die den für sie vorgesehenen Platz auf Gottes Erde nicht zu kennen schienen. Obwohl Shelby nur die Hälfte davon verstand, begriff sie das Wesentliche und schloss mit Nachdruck die Tür hinter sich.
Sie wollte nicht unter einem Dach mit ihrem Vater sein, konnte sich nicht vorstellen, hier noch einmal all die Hoffnungen, Träume und Enttäuschungen zu durchleben, die die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens geprägt hatten. Trotzdem würde es nicht falsch sein, hierzubleiben, in der Nähe des Mannes, der auf so herzlose Art und Weise ihr Leben zerstört hatte. Nur so konnte sie herausfinden, was genau vor zehn Jahren passiert war, herausfinden, wie tief er in diesen gewaltigen Schwindel involviert war.
Ihre Beine zitterten leicht, als sie zu ihrem gemieteten Cadillac ging, dennoch glitt sie, ohne zu zaudern, hinters Steuer. Der Schalensitz war heiß von der Sonne. Als sie den Motor anließ, warf sie einen Blick zurück zum Haus und hätte schwören können, dass sich die Gardine im Arbeitszimmer bewegte. Ihr Vater? Lydia? Jemand anderes?
Egal. Sie schob ihre Sonnenbrille auf die Nase und setzte zurück, wobei sie beinahe gegen die Garagenecke geprallt wäre. Eilig stellte sie die Automatik auf D und trat aufs Gas. Vielleicht wäre es tatsächlich einfacher, bei ihrem Vater zu bleiben, doch im Augenblick war sie noch nicht bereit, zu Kreuze zu kriechen.
Wäre es dann nicht leichter, ihm seine Geheimnisse zu entlocken? Mit ihm zu reden, zu hoffen, dass er sich dir öffnet und dir die Wahrheit sagt?
»Verdammt«, murmelte sie und lenkte den großen Wagen ins Stadtzentrum und auf das alte Steingebäude zu, in dem sich Doc Pritcharts Praxis befunden hatte. Ihr Kopf hämmerte. Ross McCallum würde aus dem Gefängnis entlassen werden.
Ihre Finger am Lenkrad waren plötzlich feucht, ihr Herz pochte heftig. Wieder schmeckte sie bittere Galle, und sie konnte sich nur mit Mühe auf den Verkehr konzentrieren.
Kurz darauf gelangte sie zu dem Gebäude, in dem sie einst wegen allem behandelt worden war, angefangen bei Bronchitis bis hin zu Bindehautentzündung.
Das vierstöckige Haus hatte sich äußerlich nicht verändert. Die großen Fenster waren mit Draht verstärkt. Wie immer stand ein Abfalleimer mit Aschenbecher neben der Eingangstür. Die Klimaanlage innen war allerdings neu; und die abgetretenen Linoleumböden waren durch einen braunen Industrieteppich ersetzt worden. Auf der Glastür im ersten Stock, die einst zu Dr. Pritcharts Praxis geführt hatte, stand jetzt der Name einer Versicherungsgesellschaft.
Shelby spürte Enttäuschung in sich aufsteigen, dennoch drehte sie den Knauf und betrat einen kühlen, in verschiedenen Blautönen gehaltenen Empfangsbereich. Eine schnippische, schmuckbehangene Rezeptionistin, deren Haarfarbe gut zum Silberblau der Wände passte, blickte von ihrem Computer auf, als Shelby eintrat. Auf ihrem Namensschild stand Roberta Fletcher.
»Ich suche nach Dr. Ned Pritchart«, erklärte Shelby, bevor die Frau fragen konnte, was sie für sie tun könne. »Ich war seine Patientin, als er hier noch seine Praxis hatte.«
Das zuckersüße Lächeln der Frau erreichte nicht ihre Augen. »Doc Pritchart? Er ist schon lange nicht mehr hier, ungefähr zehn Jahre, glaube ich. Wir haben diese Räumlichkeiten vor sechs Jahren übernommen, davor war ein Rechtsanwalt darin – ein Mr. Blackwell. Arthur Blackwell.«
»Wissen Sie, wer Dr. Pritcharts Praxis übernommen hat oder wo ich ihn finden kann?«
Ms. Fletcher zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich habe gehört, er sei in Ruhestand gegangen und aus Bad Luck fortgezogen, leider kann ich mich nicht erinnern, wohin. Ich habe ihn nicht persönlich gekannt.« Sie zögerte eine Sekunde, während sie Shelby musterte. »Sind Sie nicht die Tochter von Richter Cole? Shelby? Ich erinnere mich an Sie … Sie sind das Ebenbild Ihrer Mutter, möge sie in Frieden ruhen.«
»Ja, die bin ich. Danke.« So also war das – jeder in Bad Luck würde sie erkennen.
»Es tut mir leid um sie. Wissen Sie, meine Liebe«, fuhr die Frau, plötzlich zuvorkommend, fort, »sie war eine wundervolle Person.«
»Ich weiß. Daran kann ich mich gut erinnern.«
»Wie geht es Ihrem Vater? Ich habe ihn schon länger nicht mehr gesehen.«
»Gut. Es geht ihm – ähm, gut.« Shelby räusperte sich.
»Wie lange bleiben Sie in der Stadt?«
»Eine Weile«, erwiderte Shelby vage, der die Tücken einer Kleinstadt jetzt mit voller Wucht ins Bewusstsein kamen: Jeder wusste über jeden Bescheid. »Ich weiß es noch nicht genau.«
Da ihr klar war, dass sie von der Rezeptionistin nichts erfahren würde, und sie auch keine weiteren Fragen beantworten wollte, bedankte sie sich bei Roberta Fletcher, ging die Treppe wieder hinunter und stieß die Tür zur Straße auf. Die sengende Nachmittagshitze schlug ihr entgegen. Auf der anderen Straßenseite befand sich die einzige Apotheke der Stadt, angeschlossen an einen Drogeriemarkt mit einem Imbiss und einer Sitzecke im hinteren Teil. Dort hatte sie sich herumgedrückt, im Niemandsland zwischen Kindheit und Pubertät, hatte auf den roten Plastikdrehstühlen Kirschcola getrunken, die Beine baumeln lassen und Pommes frites in Ketchup mit Tabascosoße und einem Spritzer Zitrone getaucht, während sie von dem einen oder anderen Teenie-Idol oder Fernsehstar träumte, deren Namen sie längst vergessen hatte. Zwischen diesem so sorgenfreien Leben und heute schienen Ewigkeiten zu liegen.
Da nicht viel Verkehr herrschte, überquerte sie bei Rot die Straße und bog um die Ecke, wo sich neben dem Seiteneingang die berühmte Pferdestange befand. Ausgedrückte Zigaretten narbten das weiche, verwitterte Holz, und als sie ihre Fingerspitzen über die Unterseite gleiten ließ, spürte sie das Herz – nach all den Jahren war es immer noch da.
Mein Gott, wie verrückt sie nach ihm gewesen war! Damals hatte sie die Highschool besucht. Er war schon älter gewesen, bei der Armee und auf Kurzurlaub, als sie sich in ihn verliebte.
Nicht die cleverste Entwicklung in deinem Leben, rief sie sich vor Augen, richtete sich auf und wischte sich die Hand ab. Sie wollte sich nicht von albernen Erinnerungen überwältigen lassen, wo sie doch derart unter Zeitdruck stand. Jeder Tag, der ihr durch die Finger schlüpfte, waren weitere vierundzwanzig Stunden ohne ihre Tochter.
Sie presste die Zähne zusammen und ging durch eine schmale Straße zu einer Telefonzelle, wo sie die eingerissenen, zerknitterten Gelben Seiten durchblätterte, in der Hoffnung, auf Dr. Ned Pritcharts Namen zu stoßen.
Doch sie hatte kein Glück. Sie ließ den Zeigefinger über die Zeilen gleiten und wünschte sich eindringlich, sie würde sich an den Namen eines seiner Kollegen oder Angestellten erinnern, aber es gelang ihr nicht. Der Wind frischte auf. Heiß wie ein Glutofen, trieb er Papierfetzen und trockene Blätter die Straße entlang. Eine gefleckte, graue Katze schlüpfte aus einem Hauseingang in den Schatten unter einem sonnenglühenden Chevrolet, der aussah, als parkte er schon seit zwanzig Jahren an ein und derselben Stelle.
Ja, in Bad Luck tickten die Uhren wesentlich langsamer als im hektischen Seattle, wo Fußgänger, Radfahrer, Autos, Lkw und Busse die Straßen Richtung Hafen verstopften. Möwen kreisten schreiend über den Touristenhorden, Seehunde bedrohten die Wanderung der Lachse, riesige Fähren pflügten durch das kabbelige graue Wasser des Puget Sound, während alle erdenklichen Arten von Segelbooten, die Segel prall gefüllt mit dem harschen Nordwind, kreuz und quer durch den Sund fuhren. Seattle war voller Leben, voller ungezähmter, pulsierender Energie, geprägt durch die vielseitige Mischung der Menschen, die dort lebten, arbeiteten oder jene Stadt im Nordwesten mit ihren dicht entlang der Küste gedrängten Wolkenkratzern besuchten. Die Luft war frisch und roch nach dem Salz des Ozeans, die Straßen waren blank gespült vom häufigen Regen und bevölkert von Passanten in Regenmänteln oder Parkas, die, den Kopf gegen den stürmischen Wind gebeugt, eilig ihren Zielen entgegenhasteten. Wahrhaftig ein Kontrast zu der Langsamkeit im sommerlichen Bad Luck.
Shelby trat aus der Telefonzelle und ging auf die Apotheke zu, während sie sich mit dem Handrücken über die Stirn wischte. Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Als sie den Kopf hob und bis zur Straßenecke blickte, wo ein zerbeulter Pick-up parkte, entdeckte sie einen Mann, der einen Sack Getreide auf die Ladefläche warf. Seine Augen hinter der Sonnenbrille schienen direkt auf sie gerichtet zu sein.
Eine Sekunde lang stockte ihr der Atem, Erinnerungsfetzen, manche bitter, manche süß, zuckten vor ihrem inneren Auge auf wie Blitze an einem Gewitterhimmel. Nevada Smith. Ohne zu lächeln, setzte er sich in Bewegung und kam mit dem leicht federnden Schritt auf sie zu, den sie so gut kannte. Zentimeter vor ihr blieb er stehen, im Schatten der Apothekenmarkise. Er trug abgewetzte, sonnengebleichte Levis, staubige Stiefel und ein fadenscheiniges, einst dunkelgrünes T-Shirt. Sein Haar war feucht von Schweiß.
»Shelby Cole.« In seiner Stimme schwang Abneigung mit. »Nun«, sagte er gedehnt und musterte sie, »dann war also etwas dran an dem Gerücht, dass du wieder in der Stadt bist.«
»Ach?« Warum bloß hämmerte ihr Herz so wild? Was sie einst miteinander geteilt hatten, war vorbei. Schon lange. Und so sollte es auch bleiben. Dieser ungeschliffene Cowboy, der da vor ihr stand, war ein Fremder für sie.
»Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell in Bad Luck.« Er lehnte sich mit der Hüfte gegen die Pferdestange.
»Vermutlich.«
Sein Kinn war so markant wie eh und je und überzogen mit einem dunklen Bartschatten, seine Haut gebräunt, bronzefarben, und sein Gesicht drückte wie immer sarkastische Respektlosigkeit aus. »Was führt dich zurück nach Bad Luck?«, fragte er und verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust.
Einen Augenblick lang verspürte sie tatsächlich das Bedürfnis, ihm die Wahrheit zu sagen. Schließlich hatte er ein Recht darauf zu erfahren, was sie nun wusste. Irgendwo lebte ihre gemeinsame Tochter, von deren Existenz er nichts ahnte, ein neunjähriges Mädchen, das er hätte lieben oder zurückweisen können. Zumindest hatte sie sich über all die Jahre hinweg eingeredet, dass das Kind von ihm war, auch wenn die winzige Chance bestand … Schluss damit! Ihr Magen drehte sich um bei dem entsetzlichen Gedanken, der von ihr Besitz ergriff – dem Unvorstellbaren.
Ein Minivan fuhr mit heruntergelassenen Fenstern an ihnen vorbei, eine frustrierte Mutter brüllte ihre Kinder an, weiter die Straße hinauf flatterte eine Krähe aufgeregt den Rinnstein entlang, auf der Suche nach einem Leckerbissen.
Er wartete noch immer auf ihre Antwort. Sie räusperte sich. »Ich bin aus verschiedenen Gründen hier«, gab sie zu und blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Jetzt oder nie. »Einer dieser Gründe betrifft dich. Wenn du mal eine Minute Zeit hast, sollten wir reden.«
»Und das dauert nur eine Minute?« Er musterte sie durch seine Sonnenbrille. Am liebsten hätte sie ihm das schwarze Ding von der Nase gerissen.
»Zehn … höchstens zwanzig.«
»Wie wär’s mit sofort?«
»Jetzt?« Für einen Augenblick schnürte sich ihr die Kehle zu. So viele Nächte hatte sie grübelnd wach gelegen und sich gefragt, ob sie das Thema wirklich ansprechen, ihm das Geheimnis verraten sollte, das sie seit fast zehn Jahren in ihrem Herzen verschlossen hielt, ohne zu einer brauchbaren Antwort zu finden. Bis gerade eben. Und nun blieb ihr vermutlich keine andere Wahl. Besser, sich das Ganze jetzt von der Seele zu reden, anstatt die Dinge einfach laufen zu lassen. »Okay. Warum nicht?«
»Ich lade dich auf einen Drink ein. Du bist doch inzwischen volljährig, oder?«
»Schon ziemlich lange«, gab sie zurück.
Er deutete mit dem Kinn auf den White Horse Saloon und setzte sich in Bewegung, während Shelby schon einmal all ihren Mut zusammennahm, um ihm die Wahrheit zu sagen. Nevada hielt ihr die Tür auf, die in den alten Angeln quietschte, und sie betraten einen großen, niedrigen Raum mit rauchgeschwärzten Deckenbalken. Eine altmodische Klimaanlage kämpfte laut brummend gegen die Hitze an – erfolglos. Über ihren Köpfen drehten sich zudem mehrere Ventilatoren. Untermalt wurden diese Geräusche von blecherner Musik, die aus versteckten Lautsprechern rieselte, und dem unverwechselbaren Klacken von Billardkugeln im hinteren Teil des Saloons. Eiswürfel klimperten in Gläsern, der Geruch nach abgestandenem Rauch und Bier stieg Shelby in die Nase. Als sie mit Nevada zu einem Tisch in der Nähe der Bar ging, spürte sie, dass ihr mehr als nur ein neugieriges Augenpaar folgte.
»Bier?«, fragte Nevada, als sie sich setzte.
»Okay.« Es war ihr egal. Sie ließ ihre Sonnenbrille in ein Seitenfach ihrer Handtasche gleiten und sah zu, wie er zur Bar ging und der Bedienung, einer schmächtigen, zerbrechlich wirkenden Frau mit sprödem blondem Haar, übertriebenen Augenbrauen und verblasstem Lippenstift, mit zwei Fingern ihre Bestellung anzeigte.
»Zwei, Lucy.«
»Kommt sofort.«
Er glitt Shelby gegenüber auf die Sitzbank und warf seine Sonnenbrille auf den Tisch. Im gedämpften Licht bemerkte sie, dass seine Augen leicht unterschiedlich waren. Eine Pupille war größer als die andere – das Resultat, so erinnerte sie sich, seines Zusammenstoßes mit Ross McCallum vor langer Zeit. »Schieß los«, sagte er, »was gibt’s, Shelby? Was ist plötzlich so wichtig, dass du hierher zurückkehrst?«
Sie warf einen nervösen Blick über die Schulter und sagte sich, dass dieser Tag früher oder später ohnehin gekommen wäre. Es war das Beste, es gleich hinter sich zu bringen. »Es gibt etwas, das ich dir schon vor langer Zeit hätte sagen müssen«, fing sie an und sah, wie sich die Muskeln an seinem Hals anspannten. »Etwas Wichtiges.«
»Was?«
Lucy kam, legte vier Bierdeckel mit einer Landkarte von Texas auf den Tisch und stellte zwei langhalsige Flaschen und zwei Gläser darauf. Sie zögerte kurz, dann holte sie noch einen kleinen Korb mit Erdnüssen und knallte ihn auf die zerschrammte Tischplatte. »Möchtet ihr sonst noch etwas?«, fragte sie.
»Ich denke nicht«, erwiderte Nevada.
»Gebt mir Bescheid, wenn ihr eure Meinung ändert.«
Während Lucy hinter der Bar verschwand, schenkte Nevada Bier ein, dann sah er Shelby an. »Jetzt aber.«
Sie spürte, wie sie sich verspannte, und sagte so leise wie möglich: »Du und ich, wir … wir hatten ein Baby.«
Seine Hand, die nach einer Erdnuss gegriffen hatte, erstarrte in der Luft. Einen Augenblick lang verharrte er reglos, dann kniff er die Augen zusammen und betrachtete Shelby, als würde er sie ins Visier seines Gewehrs nehmen. »Wie bitte?«, flüsterte er schließlich mit rauher Stimme.
»Es ist die Wahrheit.« Großer Gott. »Ein … ein Mädchen.«
Dann herrschte Schweigen. Ohrenbetäubendes, bedeutungsschweres Schweigen. Nevada starrte ihr prüfend ins Gesicht, als suche er nach Anzeichen dafür, dass sie log.
»Und du hast mir nichts davon gesagt?« Gewitterwolken ballten sich in seinen Augen zusammen.
»Nein.«
»Wo ist sie?« Seine Lippen bewegten sich kaum.
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht?« Die Erdnuss und das Bier waren vergessen. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick über den Tisch langen, sie beim Kragen packen und schütteln. »Was meinst du damit?«
»Ich … ich dachte, sie sei tot zur Welt gekommen«, stammelte Shelby, bemüht, ruhig zu bleiben.
»Was? Wie konntest du das denken, du warst doch dabei!«, sagte er ungläubig, verwirrt.
Er hat recht, das klingt wirklich sehr dürftig. »Ich stand unter Narkose, und hinterher haben mir alle gesagt, sie sei tot gewesen. Inzwischen weiß ich, dass man mich belogen hat, dass sie am Leben ist, aber ich habe keine Ahnung, wo. Wahrscheinlich wurde sie illegal zur Adoption freigegeben, auf dem Schwarzmarkt sozusagen.«
»Augenblick mal!« Er hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, dann drehte er sich zur Bar um, wo Lucy die lange glänzende Oberfläche wischte und näher heranrückte, vermutlich, um zu lauschen.
Nevada zückte seine Brieftasche und legte ein paar Scheine auf den Tisch. »Komm«, drängte er und nahm seine Sonnenbrille. »Das Wechselgeld kannst du behalten!«, rief er Lucy zu und schob Shelby Richtung Tür.
Draußen schlug ihnen die Hitze entgegen. Geblendet kniffen sie die Augen zusammen. Fliegen und Wespen umschwärmten einen Mülleimer in der Nähe des Eingangs, Autos und Pick-ups rollten langsam an ihnen vorbei.
Nevada griff entschlossen nach Shelbys Ellbogen und führte sie zum Parkplatz.
»Wohin gehen wir?« Sie versuchte, ihm ihren Arm zu entziehen, doch er verstärkte seinen Griff.
»Zu mir.«
»Und wo ist das?«
»Ein paar Meilen außerhalb der Stadt. Mein Pick-up steht gleich da drüben.«
Er hat ein felsiges Stück Land geerbt, auf dem er Viehwirtschaft zu betreiben versucht. »Auf keinen Fall.«
»Du möchtest also lieber hier reden?«, fragte er, blieb abrupt stehen und sah sich um. Zwei Jugendliche rasten auf ihren Fahrrädern an ihnen vorbei. Von allen Seiten wurden ihnen neugierige Blicke zugeworfen.
Ein Mann mit Pilotenbrille und einer Oilers-Kappe fuhr dicht an ihnen vorbei und starrte sie mit unverhohlenem Interesse durch das heruntergekurbelte Seitenfenster seines Pick-ups an.
Shelby kam sich plötzlich völlig fehl am Platze vor.
»Die Leute erkennen dich«, warnte Nevada.
»Ja, ich weiß.« Sie zögerte bloß eine Sekunde. »Ich nehme meinen eigenen Wagen, einverstanden?«
Er ließ ihren Ellbogen los. »Fahr hinter mir her.«
Sie brauchte keine weitere Aufforderung. Als der Typ in dem Pick-up einen Strahl Kautabaksaft auf den Gehsteig spuckte, hastete Shelby zu ihrem gemieteten Cadillac und schloss die Tür auf. Sie stellte die Klimaanlage auf die höchste Stufe und wendete. Nevada fuhr los, und sie reihte sich hinter ihm ein.
Leise fluchend setzte sie ihre Sonnenbrille auf. Das ist Wahnsinn, sagte sie zu sich selbst. Was tust du da? Fährst zu Nevada nach Hause? Mit zusammengebissenen Zähnen folgte sie ihm durch die Stadt Richtung Westen ins offene Hügelland. Endlich zeigte die Klimaanlage Wirkung.
Das umliegende Weideland war von Stacheldrahtzäunen umgeben, Ebereschen wetteiferten mit Lebenseichen. Ziegen-, Schaf- und Rinderherden durchstreiften das trockene, ausgedörrte Land nach Grasflecken. Die Meilen flogen vorbei. Hinter einer Trockenschlucht, durch die einst ein rauschender Fluss geströmt war, bog Nevada ab in ein Eichendickicht, wo eine Kiesauffahrt voller Schlaglöcher zu seinem Ranchhaus führte.
Der Cadillac hüpfte über die Grasnarbe zwischen den Reifenspuren und setzte mehrfach mit der Unterseite auf den Boden auf.
»Na prima«, knurrte Shelby, die Hände fest ums Lenkrad geschlossen.
Hier ist Nevada also gelandet. Ein Streifen stacheldrahtumzäuntes, ausgedörrtes Weideland mit einer Blockhütte darauf, die man mit viel gutem Willen als rustikal bezeichnen konnte. Hier und da standen ein paar Langhornrinder, einige Pferde grasten im spärlichen Schatten und versuchten, mit den langen Schweifen die stets präsenten Fliegen zu verscheuchen.
Nicht gerade das Paradies auf Erden.
Sie stellte den Cadillac neben einem kleinen Pumpenhaus ab, wartete, bis sich der aufgewirbelte Staub gesetzt hatte, dann griff sie nach ihrer Tasche und stieg aus.
Nevada wartete auf sie.
Genau wie der Hund, der sich die Seele aus dem Leib bellte.
Nevada warf ihm einen Blick zu. »Sei still, Crockett! Es ist alles in Ordnung.« Der Mischling stand, die Beine gespreizt, die Nackenhaare gesträubt, auf der Zufahrt und knurrte Shelby mit gebleckten Zähnen an. »Aus!«
Das Knurren verstummte, doch die dunklen, misstrauischen Augen des Mischlings blieben auf sie gerichtet. Die Muskeln unter dem schwarz-weißen Fell angespannt, schien er nur auf den Befehl zum Angriff zu warten. »Aus, habe ich gesagt«, mahnte Nevada, dann bückte er sich und kraulte den Hund hinter den Ohren. »Komm rein«, sagte er an Shelby gewandt und hielt die Fliegengittertür für sie auf.
Shelby betrat das Holzhaus, in dem es nicht kühler war als draußen. Die Möbel waren abgenutzt und standen scheinbar planlos auf einem fadenscheinigen Teppich, der den Linoleumboden bedeckte. Nichts passte zusammen. Alles war alt. Vorausgesetzt, Nevada Smith war nicht gerade pleite, legte er augenscheinlich keinerlei Wert auf Komfort. Ein paar Zeitschriften lagen auf einem Couchtisch, der schon bessere Tage gesehen hatte, aber noch zu neu war, um als retro durchzugehen.
Nevada führte sie an einer briefmarkengroßen Küche vorbei zu einer Hintertür. Die Veranda lag im Schatten, so dass es hier zum Glück etwas kühler war. Ein verblichenes Metallschild mit einer Rasierschaumwerbung hing neben der Hintertür, daneben ein verrostetes Thermometer, das schweißtreibende dreiunddreißig Grad im Schatten anzeigte. »Setz dich«, forderte er Shelby auf, und sie ließ sich auf einen Plastikstuhl an einem kleinen Tisch fallen. »Eistee?«
»Hast du welchen da?«, fragte sie überrascht. Eigentlich wollte sie sich nicht von ihm bewirten lassen, aber ihre Kehle war völlig ausgedörrt, außerdem war sie nervös wie eine Hummel auf einer Venusfliegenfalle. Etwas zu trinken würde sie vielleicht ein bisschen beruhigen.
»Ich kann welchen machen. Instant.«
»Gern.«
Er verschwand im Haus, so dass Shelby Gelegenheit hatte, den Garten zu betrachten, in dem ein paar vereinzelte, trockene Grasflecken um einen Kompostbehälter wuchsen. Sie entdeckte einen gemauerten Grill, der bereits zu bröckeln begann, eine Wäscheleine erstreckte sich von der Hausecke zu einem Pfosten. Hinter dem Zaun sah sie ein paar Pferde, deren Fell in der Sonne glänzte. Sie tranken aus einem Betontrog. Die Fliegengittertür öffnete sich quietschend; der alte Hund, jetzt ganz friedlich, wedelte mit dem Schwanz, als Nevada aus der Küche kam. Er hielt zwei nicht zueinander passende Gläser mit Eis und einer trüben bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die nicht sehr viel Ähnlichkeit mit Tee aufwies, in den Händen.
Er reichte ihr ein Glas. »Und jetzt erzähl mir von dem Baby.« Mit einem unversöhnlichen Ausdruck im Gesicht machte er es sich auf einem Stuhl bequem. »Von unserer Tochter.«
Shelbys Schultern sackten nach vorn, dann straffte sie sie energisch wieder. Sie würde sich nicht von ihm einschüchtern lassen. »Wie ich schon sagte, Nevada, ich dachte, sie sei tot.«
»Du hast sie zur Welt gebracht.«
»Auch das habe ich dir bereits erklärt – ich stand unter Narkose.«
»Verdammt.« Der Blick, den er ihr zuwarf, sprach Bände.
Shelby räusperte sich. »Ich habe Kopien von einer Geburtsurkunde und einem Totenschein.«
»Wer hat sie dir ausgehändigt?«
»Beide sind unterschrieben von Doc Pritchart, dem Arzt aus der Klinik.«
»Der Kerl ist ein Scharlatan, aber das beantwortet nicht meine Frage.«
»Der Kerl ist verschwunden«, erwiderte Shelby, ohne auf seine Worte einzugehen, und nahm einen Schluck Tee.
»Kurz nachdem du die Stadt verlassen hast, hat auch er Bad Luck den Rücken gekehrt.«
»Das hätte ich mir denken können.« Sie zog den braunen Umschlag aus ihrer Handtasche, der ihr Leben verändert hatte. »Sieh dir das mal an«, sagte sie und schob ihn über den Tisch zu ihm rüber, auch wenn sie sich fragte, ob es wohl ein Fehler war, ihn so weit einzuweihen, dass er jetzt die Dokumente, den Brief und das Foto von Elizabeth Jasmine Cole, wie sie ihre Tochter genannt hatte, kannte.
»Du hast das Kind nie gesehen?« Seine Stimme klang ruhig, doch Shelby sah, dass in seinem Mundwinkel ein Muskel zuckte.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Nicht noch einmal, Nevada: Man hatte mir eine Narkose gegeben.« Tränen brannten hinter ihren Augenlidern, doch sie drängte sie zurück. Für Selbstmitleid war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.
Er kniff die Augen zusammen. »Was war passiert? Oder willst du behaupten, Doc Pritchart hätte dich einfach so unter Narkose gesetzt?«
»Nein …« Sie verzog gequält die Lippen. »Ich habe eine Dummheit begangen. Ich bin im achten Monat aufs Pferd gestiegen – da hat die Kleine eben beschlossen, früher zur Welt zu kommen.« Sie richtete den Blick in die Ferne. Dunst lag über den Hügeln, ein einsamer Falke zog seine Kreise über den Mesquitebäumen. Es gab keinen Grund, Nevada von dem Schmerz, der Angst, dem vielen Blut zu erzählen, das sie zu Tode erschreckt hatte. Er musste weder von der Fahrt im Rettungswagen erfahren noch, dass Doc Pritchart nach Alkohol gerochen hatte, auch nicht von der schlichten Tatsache, dass sie sich seit zehn Jahren damit quälte, schuld am Tod ihrer Tochter zu sein.
»Als ich aufgewacht bin, haben mir alle erzählt, das Baby sei tot, und mein Vater als mein gesetzlicher Vormund, der er damals noch war, habe eine Obduktion und anschließende Einäscherung veranlasst.«
»Und du hast das nicht hinterfragt?«
»Ich war siebzehn!« Sie drehte sich um und warf Nevada einen zornigen Blick zu. »Ich hätte nie gedacht, dass er mich belügen würde.«
»Das war dein erster Fehler.«
»Nicht der erste«, widersprach sie eisig und sah, wie sich seine Halsmuskeln anspannten. »Damals habe ich mehr als genug Fehler gemacht.«
»Haben wir das nicht alle?«
Ihr Herz schmerzte, doch sie ließ sich nichts anmerken. Sie war gekommen, um ihm die Wahrheit zu sagen, und genau das hatte sie jetzt getan. Viel mehr gab es nicht zu besprechen.
Nevada betrachtete die Fotografie in seinen Händen, als suche er nach Beweisen dafür, dass das darauf abgebildete Mädchen tatsächlich seine Tochter war. »Hast du mit dem Richter gesprochen?«
»Sicher.«
»Und?«
»Er leugnet alles.«
»Aber du glaubst ihm nicht.«
»Keine Sekunde.«
»Offenbar hast du dazugelernt.«
»Hoffentlich.« Sie leerte ihr Glas mit einem großen Schluck und stellte es auf den Tisch. »Ich bin erwachsen geworden.« Damit stand sie auf und griff nach den Unterlagen.
»Wer hat dir die geschickt?« Nevada warf einen letzten Blick auf das lächelnde Mädchen auf dem Foto, dann reichte er es Shelby, die es zusammen mit den Papieren in den Umschlag steckte.
»Um das herauszufinden, bin ich hier.«
Die Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen, nahm er ihr den Umschlag aus der Hand, drehte ihn um und fasste die Briefmarke ins Auge. »San Antonio.«
»Ja. Nicht weit von hier entfernt. Das ist auch der Grund dafür, dass ich mich frage, ob sie hier irgendwo in der Nähe lebt, in der Gegend um Bad Luck … Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass Elizabeth hier oder in einer der Nachbarstädte aufgewachsen ist oder auf einer abgelegenen Ranch irgendwo in Texas. Vielleicht ist die Briefmarke aber auch nur eine falsche Fährte, um mich hierherzulocken, obwohl sie in Wirklichkeit in Kalifornien, Mexiko, Quebec oder Gott weiß wo ist.« Wieder verspürte Shelby den altbekannten Kloß im Hals, dieselbe Traurigkeit, die sie all die Jahre empfunden hatte, in denen sie glaubte, ihre Tochter sei tot. Doch jetzt zusammenzubrechen, war auch keine Lösung. Sie nahm den Umschlag aus Nevadas Hand und schob ihn wieder ins Seitenfach ihrer Tasche.
»Wirst du mit der Polizei reden?«, fragte er, noch immer lässig auf seinem Stuhl lümmelnd, doch sie nahm an, dass er trotz seiner äußerlichen Coolness so aufgewühlt war wie sie.
»Ich weiß nicht«, gab sie zu. »Ich habe den Umschlag erst gestern erhalten. An wen sollte ich mich wenden? An die Polizei von San Antonio? Ans Büro des Sheriffs? An die Ranger?« Während sie darüber nachdachte, machte sich wieder ihr Kopfschmerz bemerkbar. »Nein. Ich denke, ich kümmere mich selbst darum. Ich möchte nicht, dass die Presse davon Wind bekommt, zumindest nicht, bevor ich einige Erkundigungen angestellt habe.«
»Ich bin erstaunt, dass du mich eingeweiht hast.«
»Warum?«
»Ich hätte nicht gedacht, dass du den Mut dazu hast.«
»Dann kennst du mich nicht besonders gut.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust, kippte mit dem Stuhl nach hinten gegen die verwitterte Verandawand und bedachte Shelby mit einem prüfenden Blick von oben bis unten und wieder zurück, bis er bei ihren Augen hängenblieb. »Ich kenne dich gut genug.«
»Kannte, Smith. Kannte. Ich war damals noch ein Kind.«
»Ein ziemlich hübsches Kind, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ich war mit Sicherheit naiv«, fuhr sie, ungeachtet seiner Worte, fort, »und vermutlich ganz schön dumm.«
Nevada stand auf und rieb sich über die Bartstoppeln. »Du hast nicht lange gezögert, nach Bad Luck zurückzukehren.«
»Fast zehn Jahre sind lange genug.« Sie nahm ihre Tasche und machte Anstalten aufzubrechen.
»Wohnst du bei deinem Dad?«
Sie zögerte. »Das weiß ich noch nicht.«
»Ruf mich an, wenn du eine Entscheidung getroffen hast.«
Sie drückte das Rückgrat durch, setzte ihre Sonnenbrille auf und funkelte ihn durch die getönten Gläser hindurch an. »Wieso sollte ich?«
»Ich möchte mit dir in Verbindung bleiben.«
»Das halte ich für keine gute Idee. Wirklich nicht.«
»Nun, ich denke, es lässt sich nicht vermeiden.«
»So klein ist die Stadt nun auch wieder nicht.«
»Davon rede ich nicht, und das weißt du. Du kommst nach Bad Luck und lässt vor meinen Füßen eine Bombe hochgehen – behauptest, ich hätte irgendwo eine Tochter. Wenn das wahr ist …«
»Es ist wahr«, erwiderte sie mit Nachdruck und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.
»Wenn das wahr ist, dann habe auch ich ein Wörtchen mitzureden.« Stahlharte Augen blickten in ihre. »Ich will meine Tochter kennenlernen.«