Russengold - Richard Grosse - E-Book

Russengold E-Book

Richard Grosse

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Beschreibung

Berlin / Moskau, 1977: Kurz vor ihrem Abschluss an der Lomonossow Universität feiern Rainer und Ullrich mit ihren Kommilitonen Boris, Wolodja und Lena ausgelassen auf der Datsche von Wolodjas Eltern. Am nächsten Morgen ist Boris verschwunden. Er wird erst einige Tage später unter einer Schneedecke nahe der Datsche aufgefunden – tot. Da DDR-Bürger in den Vorfall verwickelt sind, fährt Kommissar Bircher nach Moskau. Doch er und sein sowjetischer Kollege müssen den Fall ungelöst ad acta legen. Zurück in Berlin trifft Bircher erneut auf Rainer und Ullrich. Anscheinend verdienen sie sich durch unerlaubten Verkauf von Eheringen aus der UdSSR, sogenanntem Russengold, ein ansehnliches Zubrot. Dann stürzt Jakob Schukin von der Warschauer Brücke. Ein Zufall, dass auch er in Moskau studiert hat? Als Wolodja, der für ein Forschungsprojekt in Berlin weilt, ebenfalls umkommt, wird es für Bircher höchste Zeit zu handeln … Zu einer Zeit, als Berlin noch die Hauptstadt der DDR war, entfaltet sich zwischen Ostbahnhof, Alexanderplatz und Weidendammer Brücke ein mitreißendes Szenario, das den Leser in Atem hält.

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Seitenzahl: 682

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Richard Grosse

Russengold

Ein Berlin-Krimi

Kommissar Birchers zweiter Fall

Bild und Heimat

Von Richard Grosse liegt bei Bild und Heimat außerdem vor:

Mordshochhaus (2015)

Dank an Herrn Dr. Jäger-Hülsmann für wertvolle sachliche und formale Hinweise und Frau Dr. E. Fietze für die Beratung bei medizinischen Fragen.

eISBN 9783959587501

1. Auflage

© 2017 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: © bpk | Gisela Stappenbeck

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Für G.

Die Handlung ist frei erfunden. Jedweder Bezug der Roman­figuren zu realen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

An das Ende der Party auf der Datscha von Wladimirs Eltern vor den Toren Moskaus konnte sich Rainer nicht erinnern. Es war eigentlich wie immer gewesen: Zusammen mit Wladimir, Ull­rich, Boris und Lena hatte er ausgiebig den Beginn einiger unbeschwerter Tage gefeiert. Irgendwann war Boris verschwunden, wahrscheinlich draußen rauchen, dachte Rainer anfänglich, dann war Lena weg, weil sie wohl müde war, und schließlich er selbst beziehungsweise sein Gedächtnis. Das Ende der Party blieb in ihm verschüttet wie ein flüchtiger Traum. Er wachte mit dem Gefühl auf, als hätte man ihn innerhalb weniger Minuten um die Erde kreisen lassen. Es war ihm unmöglich, einen einzigen Eindruck präzise zu schildern, die einzelnen Bilder vermischten sich, als wären sie übereinandergelagert oder in rasendem Tempo aneinandergereiht. Wo war Wolodja, als ich abging? Und Ull­rich, war er bei Boris? War ich zum Schluss allein? Hatte es geschneit? War ich überhaupt anwesend?

Den ganzen Morgen fühlte sich sein Kopf wie unter einem Presslufthammer an; es dröhnte und rauschte hinter seinen Schläfen, als würde jemand unter Hochdruck seine Ohren spülen, alle paar Sekunden raubte ihm ein stechender Schmerz fast die Besinnung. Er berührte mit beiden Händen vorsichtig seine Schläfen, als müsste er sich vergewissern, dass sein Schädel keine Risse aufwies. Er spähte durchs Fenster und versuchte sich zu erinnern, wie das Fest zu Ende gegangen war. Irgendetwas war vorgefallen, das ihnen die Stimmung verhagelt hatte. Aber was? Ratlos starrte er hinaus in den russischen Frost, der das Holzhaus wie ein Eisschrank in sich einschloss. Von den vier Wodkaflaschen, die sie am Tage zuvor in den Schnee gesteckt hatten, grüßte noch eine wie vergessen aus der Winterlandschaft.

Langsam keimte in Rainer ein verschwommenes Bild auf: es stellte Boris dar, der vor dem Fenster rauchte und ihm wie ein Zauberkünstler erschien, der sich in einer Wolke auflöst. Später hatte er Boris’ Rauchpausen nicht mehr wahrgenommen, Boris kam und ging wie ein ruheloser Gastgeber. Bis zu dem Moment, als Rainer sich kurz wunderte, warum es so leer und ruhig im Wohnzimmer war. Er sah draußen im Glimmen einer Zigarette die Umrisse seiner Freunde, die irgendwelche Mätzchen im Garten aufführten. Das Letzte, woran sich Rainer erinnerte, war Ull­richs gleichgültiges Achselzucken, als er ihn irgendwann nach dem Befinden ihres gemeinsamen Freundes befragte. Wo Boris eigentlich sei, ob er im Bett sei, wie üblich stocknüchtern und bedacht auf einen ungestörten Schlaf, flachste Rainer, und schenkte sich noch ein Gläschen ein. Ull­rich reagierte mit einer abwertenden Geste, als wäre die Frage überflüssig. Gleich darauf schlief Rainer ein.

1

März 1977

Karl Bircher legte den Telefonhörer auf und ließ sich langsam nach hinten fallen. Er runzelte die Stirn und presste aus verkniffenem Mund einen Schwall Luft über die leere Schreibtischplatte. Wie immer, wenn ihn eine unangenehme Nachricht erreichte, griff er mit der rechten Hand nach dem Brillenbügel, hob das Gestell an und knetete mit der anderen Hand seine Nasenwurzel. Seine Augen glitten zur Tür, als hoffte er, dass ihn dahinter ein leichteres Schicksal erwartete.

»Mist«, murmelte er, »warum ausgerechnet ich. Gibt doch andere, bessere Kandidaten für diesen Zweck.« Ich muss mir was einfallen lassen, grübelte er, und kniff die Augen wie bei einem plötzlichen Kopfschmerz zusammen. Er raffte sich hoch und angelte mit ausgestrecktem Arm lustlos nach einem Aktendeckel, warf einen kurzen Blick auf die erste Seite und wollte ihn gerade wieder zur Seite schieben, als es klopfte. Bevor er noch »Herein!« rufen konnte, tauchte der Rotschopf seiner Sekretärin Manuela Riescher auf.

»Was gibt’s, Manuela?«, brummte Bircher, ohne den Blick zu heben. Wer sonst außer ihr würde es wagen, unaufgefordert einzutreten. Vielleicht wollte sie nur wissen, ob er sie noch brauchte.

»Das Sekretariat des Generals ist in der Leitung. Genosse General Meier will dich sprechen«, flüsterte sie geheimnisvoll.

Es kam nicht so häufig vor, dass er außerhalb der wöchentlichen Lagebesprechung nach ihm verlangte. Bircher hob den Blick und nickte ihr wortlos zu. Manuela war lange genug an seiner Seite, um zu ahnen, dass ihn in den letzten Minuten irgendetwas Unerwartetes verärgert haben musste. Grübelnd schloss sie die Tür.

Bircher atmete kurz durch, stellte sich neben seinen Schreibtisch, blickte teilnahmslos in Richtung Volkspark Friedrichshain und griff nach dem Hörer.

»Also, stell bitte durch«, sagte er ruhig.

»Karl, ich grüße dich«, hörte er an seinem Ohr die sonore Stimme Meiers, die ihn immer wieder an die des Nachrichtensprechers der »Aktuellen Kamera« erinnerte, »ich habe hier eine Anfrage aus Moskau. Es handelt sich um den Tod eines sowjetischen Studenten, der uns eigentlich nicht tangieren würde, wäre darin nicht auch ein DDR-Bürger verwickelt. Der war mit auf einer Party bei Moskau, in deren Verlauf sein Freund verschwand. Es war sibirisch kalt in der Nacht. Die Genossen vermuten, dass der junge Mann nicht freiwillig aus dem Leben geschieden ist. Also Verdacht auf Mord oder Totschlag.«

Meier machte eine Pause, als würde er Birchers Reaktion abwarten. Der schwieg und hoffte, nicht nach Moskau geschickt zu werden. Lange Reisen waren ihm ein Gräuel. Da Bircher keine Anstalten machte, den naheliegenden Dienstreiseauftrag selbst auszusprechen, nahm Meier das Gespräch wieder auf.

»Die Miliz bittet uns, jemand rüberzuschicken. Der Student Ull­rich Mann, der in der bewussten Nacht dabei war, muss befragt werden. Vielleicht auch noch ein gewisser Rainer Krohn, der mit dem Toten befreundet war. Krohn teilt sich das Zimmer mit Wladimir Schukin, der eingeladen hatte. Seinen Eltern gehört die Datscha, wo sie feierten. Und dann war da noch ein Mädchen. Steht alles in der Handakte, die auf dem Weg zu dir ist. Alles klar?«, schloss er, als hätte er einen Beschluss vom Blatt abgelesen.

Bircher schwirrten die russischen Namen durch den Kopf. In seinen Ohren klang Meiers Frage wie »Gute Reise«.

»Also, dann schicke ich Schmidter rüber. Der kann das übernehmen, versteht sogar drei Sätze auf Russisch und ist auch sonst ein geübter Reisender«, stellte sich Bircher unwissend.

»Nein, du musst wohl selbst fahren. Ich befürchte, dass die Sache nicht ganz so einfach wird. Nicht nur was den Fall selbst betrifft, auch die äußeren Umstände könnten deinen Einsatz erfordern. In wenigen Monaten werden die Diplome an der Lomonossow-Universität verteilt, und dann geht’s für die deutschen Studenten zurück in die Heimat. Davor würden die Moskauer Kollegen gerne den Fall abschließen. Also, du fährst. Ich habe angekündigt, dass du in den nächsten Tagen in Scheremetjewo landen wirst. Ist mal was anderes, oder?«

Bircher schielte auf den Kalender an der Wand. Demnach wäre er am achten März in Moskau, stellte er fest, und ein leichtes Grienen überzog sein Gesicht. Seine müden Augen hellten sich ein wenig auf, die schweren Lider strafften sich, und für einen Moment ging etwas Schelmisches von seinem Gesicht aus. Wie ein Junge, der sich diebisch an einem gelungenen Streich erfreut.

»Gut. Dann fliege ich also selbst nach Moskau.«

»So ist es. Bis bald, Karl.« Meiers Stimme klang aufgeräumt. Vielleicht freute er sich auf einen interessanten Fall, der auch ihn nach Moskau führen würde.

Bircher stand in seinem Arbeitszimmer und überlegte, was er jetzt tun sollte. Seine Frau Karola benachrichtigen? Nein, das hat Zeit bis zum Abend, schob er den Gedanken zur Seite. Ist schließlich keine FDGB-Reise, die wir angeboten bekommen haben. Also, erst mal Schmidter und Manuela informieren. Angler ist bis zum Jahresende zur Schulung. Der hätte sich um die Reise gerissen. Bircher öffnete die Tür zu seinem Vorzimmer und nickte seiner Sekretärin zu.

»Soll ich reinkommen?«, fragte sie.

»Ne, bleib ruhig sitzen. Also, ich muss nach Moskau. Bitte benachrichtige Genossen Schmidter. Und setze dich mit der Reisestelle in Verbindung, die haben Befehl vom General, mich ins Flugzeug zu setzen«, klärte Bircher sie auf.

Manuela schaute ihn an, als hätte sie sich verhört. Der Chef ins Flugzeug nach Moskau? Sie konnte sich seine Gelassenheit nicht erklären, schließlich wusste jeder im Präsidium, dass er Reisen so hasste wie schlechten Wein. Nun aber schien er alles andere als verärgert zu sein.

Bircher hielt Schmidter für einen zurückhaltenden und umsichtigen Ermittler. Nach der erfolgreichen Überführung des Mörders vom Haus des Kindes am Strausberger Platz war er um einen Dienstgrad befördert worden. Schmidter ist ein guter Ehemann und auch noch Vater, der ist bestens für die Frauentagsrede geeignet, beschloss Bircher.

»Was ist, Manuela, habe ich dich erschrocken? Hast du Angst, dass mir in Moskau etwas zustoßen könnte? Also, bereite alles vor«, sagte er ruhig und wollte bereits zurück in sein Zimmer gehen, als ihm noch etwas einfiel. Er verharrte für einen Moment, drehte sich noch mal um und grinste wie nach einem gelungenen Trick: »Ja, das habe ich fast vergessen. Vorhin kam noch ein Anruf vom Parteisekretär Huber, der mich bat, die Rede zur Frauentagsfeier zu halten. Also, das macht Schmidter. Soll sich vorher den Frauenförderungsplan ansehen.«

Manuela blies leicht die Wangen auf, als müsste sie gleich los­prusten.

»Tut mir leid, dass du auf mich als Festredner verzichten musst«, sagte er tonlos.

Beide lächelten kurz, wie nach einem gelungenen Scherz. Er schloss die Tür hinter sich.

Jetzt fahre ich nach Hause und suche mein Russisch-Wörterbuch, dachte Bircher. Vorher könnte er zur Feier des Tages noch am Delikatladen in den Rathauspassagen anhalten, kam ihm eine verlockende Idee. Er wuchtete sich aus dem Stuhl, ging gemächlich die paar Schritte zum Kleiderständer und zog seinen Mantel über. Vielleicht hatte er Glück und bekam einen Weißwein aus Meißen. Den letzten hatten sie vor über einem Jahr zu Weihnachten getrunken, als der Nachbar, ein Arzt an der Charité, mit einer Flasche vor der Tür gestanden hatte. Das ist ja ein echter aus Sachsen, hatte Karola später gerufen, die Flasche wie eine Trophäe halb hoch haltend. Na ja, hatte Karl gemurmelt, gelobt seien die Ärzte, die uns treu bleiben.

Die Aktentasche unter die Achsel geklemmt, suchte Bircher nach den Mantelknöpfen. Umständlich hantierte er mit angezogenen Ellenbogen an der Knopfleiste, ließ leise schnaufend die Arme fallen und schloss im offenen Mantel die Tür hinter sich. Er schritt langsam den Korridor entlang, der in eine kleine Halle mündete, wo sich die Schächte für die zwei Paternoster befanden. Für einen Moment blieb Bircher stehen und musterte die offenen Kabinen, in denen wie in einer Geisterbahn Menschen auftauchten und verschwanden – zunächst die Füße, dann die Beine, schließlich die Oberkörper und endlich die ganze Gestalt, und wenn man sich dem benachbarten Schacht zuwandte, wiederholte sich das Schauspiel in umgekehrter Folge. Bircher erinnerte sich an die verspiegelten Wände auf dem Rummelplatz, die einen auf den Kopf stellten. Was wäre, so dachte er ein ums andere Mal, würde man in dem winzigen Augenblick, wenn Kabine und Etagenboden eine Ebene bildeten, den Absprung verpassen? Aus den Augenwinkeln hatte Bircher mehr als einmal wahrgenommen, wie einige Kollegen mit dem Kopf im Nacken den Kabinenlauf verfolgten, die Blicke verstohlen an die davonschwebenden Röcke geheftet.

Bircher wollte sich gerade der Treppe zuwenden, als er bemerkte, wie jemand besonders schwungvoll aus der Kammer sprang, obwohl die sich noch einen Meter über dem Fußboden befand. Gleich darauf hörte er seinen Namen. Natürlich, Schmidter. Wer sonst hüpft wie ein Frosch aus dem Fahrstuhl? Wie hat der mich erkennen können, fragte sich Bircher. Mit dem Kopf war der doch noch im Schacht.

»Schmidter, was gibt’s denn so Wichtiges?«, fragte Bircher mürrisch.

Sein hochaufgeschossener Mitarbeiter nahm unwillkürlich Haltung an. Unschlüssig, etwas verlegen, sah er aus. Es war ihm nicht entgangen, dass Bircher im Begriff war, das Präsidium zu verlassen. Der schaute ihn kurz an, von den Gondeln abgelenkt, in denen die Mitarbeiter des Präsidiums wie Kasperlepuppen auf- und absegelten. Er riss sich von dem Anblick los und fixierte ihn.

»Entschuldigen Sie, aber mich hat gerade Manuela angerufen. Sie fliegen nach Moskau?« Schmidter verstummte, als erhoffte er eine nähere Erläuterung.

Bircher nickte und schwieg beharrlich.

»Ja, also, ich soll an Ihrer Stelle die Rede zum Frauentag halten«, fügte er hastig hinzu.

Bircher nickte erneut. Spuck es aus, deinen Wunsch, davon befreit zu werden, dachte er im Stillen.

»Ich habe das noch nie gemacht und habe eigentlich auch keine Zeit, mich vorzubereiten. Und überhaupt, müsste bei diesem Anlass nicht jemand aus dem zentralen Leitungsgremium sprechen?«, sprudelte es aus Schmidter heraus.

»Alles macht man bekanntlich zum ersten Mal, und vorbereiten müssen Sie sich nicht. Holen Sie sich von Manuela den Frauenförderungsplan und sehen Sie zu, dass Sie alle Punkte abarbeiten. Und nicht länger als zwanzig Minuten sprechen, die Frauen wollen gutgelaunt zum Büfett.«

»Darf ich fragen, ob Sie Material von früheren Reden haben?«

»Ne, wäre ja auch meine erste Frauentagsrede gewesen. Jetzt kommen Sie mir zuvor. Also heben Sie die Rede schön auf«, sagte Bircher gleichmütig und wandte sich den Stufen zu. »Wir sehen uns morgen.«

Schmidter sah ihm ratlos hinterher, wie er mit wehendem Mantel langsam die breite Treppe hinunterstieg.

Bircher überquerte den Alexanderplatz, streifte mit einem Blick die Weltzeituhr und besann sich kurz: Zwei Stunden Zeitunterschied zwischen Berlin und Moskau. Falls ich mittags fliege, wird es Abend sein, wenn ich im Hotel bin, dachte er. Dann geht’s wahrscheinlich direkt ins Restaurant.

Er erreichte die Rathausstraße und stieg langsam die wenigen Stufen zur Einkaufspassage hoch. Vor einem Jahr hatte die Regierung beschlossen, sogenannte Delikatläden zu eröffnen. »Delikat« stand hier nicht für »heikel« oder »zart«, sondern für »wohlschmeckende« Lebensmittel. Obwohl Bircher und seine Frau beim Essen wählerisch waren, hatten sie bisher noch keinen Delikatladen aufgesucht. Das Angebot war ziemlich teuer, obwohl es zum größten Teil aus einheimischer Produktion stammte. Das rief insbesondere bei Karola einen leichten Widerstand hervor.

Bircher betrat den Laden und ließ seinen Blick über die Regale und Auslagen schweifen. Die Größe des Geschäfts überraschte ihn ein wenig. Es gibt sogar eine Käsetheke, stellte er fest, natürlich die Wurstauslage und eine Spirituosenabteilung. Am stärksten beeindruckte ihn der Stand, an dem eine Vielzahl von Schüsselchen, Schalen und Platten seine Neugierde entfachte. Bircher schluckte genießerisch und trat näher, um das Sortiment zu studieren: Geflügelsalat, Rindfleischsalat, Eiersalat, Champignonsalat, aber auch feingeschnittenes Roastbeef mit einer Meerrettichcreme und Medaillons vom Schwein, auf denen Mayonnaisehäubchen thronten.

Das wär mal was Neues, sagte er sich. Schimmelkäse, Mandarinen in der Büchse, Hackbratenfix oder Britzer Knacker, das hatten sie zur Genüge, aber so eine kalte Vorspeisenplatte war etwas Besonderes und passte zum Dienstreiseauftrag. Sakuski1* nannten es die Freunde. Ein Häppchen und ein Gläschen, Karola würde es freuen.

»So machen wir das«, murmelte er zufrieden und gab seine Bestellung auf. Stirnrunzelnd zählte er das Geld ab und nahm sich vor, nicht vor Weihnachten wiederzukommen. Er wollte das Geschäft gerade verlassen, da streifte sein Blick das Weinregal. Er trat näher, um das Angebot zu prüfen. Da war nichts, was ihn hätte begeistern können. Die üblichen Sorten aus Ungarn, Rumänien und Bulgarien, dazu der Gotano, ein gefährlich süßer Wermut aus Gotha, von dem Bircher nur wusste, dass er beim Abiball die Mädchen hinraffte. Ein Etikett fiel ihm auf, weil er es nicht kannte und es ihn an seine Heimat erinnerte. Es bildete inmitten einer dörflichen Landschaft die Umrisse einer Kirche ab. Bircher schob die Brille eine Idee nach vorn.

»Liebfrauenmilch«, las er und nickte einer Verkäuferin zu, die sich ihm bedächtig zuwandte. »Sagen Sie, ist das ein Riesling oder ein Silvaner?«

»Där kummt aus der Bundesrepublik. Is ä Weißähr«, antwortete sie in unverkennbarem Sächsisch.

»Ja, aber können Sie mir die Rebsorte nennen?«

Unschlüssig angelte sich die Verkäuferin eine Flasche aus dem Regal und drehte sie wie einen fremden Gegenstand in der Hand.

»Geehne Ahnung, is jedenfolls äh Weißwein.«

»Ist das ein trockener Wein, wissen Sie das zufällig?«, fragte Bircher in gleichbleibend ruhigem Ton, als würde er bei der Zugauskunft stehen.

»Ich globe, is ä Sießer, wie unser Rotgäbchensekt.«

»Aha, na danke«, erwiderte er und verließ den Laden. Zufrieden schielte er auf seine Aktentasche mit den in Papier eingeschlagenen Pappbechern. Er überquerte den Alexanderplatz, um die Straßenbahn auf der Mollstraße zu nehmen. Bei dem Gedanken, wie Karola gleich die Delikatessen auspacken würde, huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

Als Bircher die Wohnung betrat, empfing ihn eine ungewohnte Stille. Nichts wies auf Karolas Anwesenheit hin, weder hing Tabak­rauch in der Luft, noch schwebten klassische Klangwellen durch das Wohnzimmer, noch musste er ihren Stiefeln ausweichen. Das gelöste Kreuzworträtsel vom Frühstück lag noch auf dem Tisch. Er sah auf die Küchenuhr, es war kurz nach neunzehn Uhr, also würde sie jeden Moment eintreffen. Ihre Lehrtätigkeit als Dozentin für Kunstgeschichte verlief in einem vergleichsweise geordneten Rhythmus. Dein Arbeitstag ist geregelt wie der von Nonnen im Kloster und wird dir ein langes Leben bescheren. Wir ungläubigen Polizisten sterben früher, spöttelte er gelegentlich. Mit einer Ausnahme, bemerkte Karola dann immer.

Behutsam entnahm Karl Bircher seine kleinen Becher aus der Aktentasche und stapelte sie in den Kühlschrank. In diesem Moment hörte er seine Frau die Wohnung betreten.

»Hallo, Karl, bist du etwa schon zu Hause?«, schallte ihre Stimme durch den kleinen Korridor.

»Ja, bin ich.«

Karola betrat im Mantel die Küche und schaute ihn verwundert an. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihn zum letzten Mal vor der »Aktuellen Kamera« begrüßt hatte.

»Ist was passiert, fühlst du dich nicht gut, oder musst du noch einmal weg?«, fragte sie besorgt und umarmte ihn gleichzeitig.

»Oh, du bringst die Kälte ins Haus«, murmelte er und zog sie fest an sich. »Nein, es ist nichts. Alles ist in Ordnung, meine kleine Dozentin«, flüsterte er ihr ins Ohr, »ich fahre nach Moskau.«

Karola wand sich vorsichtig aus seinem Arm, trat einen Schritt zurück und neigte den Kopf, als müsste sie den Inhalt der Nachricht überprüfen.

»Jetzt gleich, heute noch?«, fragte sie besorgt.

»Ne, natürlich nicht, in ein paar Tagen. Eigentlich nichts Besonderes, aber Meier hat es befohlen.«

»Warum fährt dann nicht dein Mitarbeiter Angler, der würde doch am liebsten nebenberuflich als Reiseführer arbeiten, warum schickst du den nicht?«

»Angler ist wegen seiner Schulung freigestellt.«

Es klang, als müsste sie ihren Mann in Schutz nehmen. Seine Unlust, in fremden Hotels übernachten zu müssen, war sprichwörtlich. Nun ja, das Glück unserer Ehe liegt halt hier in der Leninallee, pflegte er mit schiefem Lächeln zu sagen, wenn ihn seine Frau darauf ansprach. Aber wir können uns ja einen Garten zulegen, dann hätten wir ein Ausflugsziel. Du spinnst wohl, wir beide im Trainingsanzug gebückt beim Unkrautjäten, fegte sie den Gedanken vom Tisch.

»Meier besteht darauf. Leider kann ich deshalb die Rede zur Frauentagsfeier nicht halten«, bemerkte er beiläufig.

»Wie kommen die denn auf dich?« Karola sah ihn entgeistert an. Es schien, als hätte man ihr soeben mitgeteilt, dass Karl Bircher zum Direktor eines Interhotels ernannt worden wäre.

»Keine Ahnung. Vielleicht haben es die Frauen gefordert«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen.

Karolas Augen glitten langsam über sein Gesicht, und sie entdeckte in seinen Augen ein winziges Lächeln, gut verborgen hinter den dicken Brillengläsern. Sie lachte auf und ließ sich auf den Küchenstuhl fallen.

»Du Schelm, du haust vor deinen Frauen ab, und gleich bis nach Moskau! Na, dann: Vsewo choroschewo, Towarischtsch Bircher!«, rief sie und zog sich im Sitzen den Mantel aus. »Und nun sag mir noch, worum es eigentlich geht. Darfst du?«

»Ja, das geht schnell.« Bircher berichtete kurz über den Tod des sowjetischen Studenten und die mögliche Verwicklung seines deutschen Freundes. Eigentlich sei das eine halbe Urlaubsreise, bemerkte er gleichmütig. »Leider ohne dich«, fügte er hinzu und wandte sich dem Kühlschrank zu.

»Es könnte doch sein, dass ihn jemand ermordet hat«, hakte sie nach.

»Mord ist derzeit nicht ausgeschlossen. Das müsste der Truppe aber erst mal nachgewiesen werden. Die waren unter sich, zu viert. Es gibt keine Zeugen. Am Ende dann zu dritt, und wenn die drei zusammenhalten, dann wird’s schwierig. So, und nun Schluss mit dem Spekulieren. Zur Feier des Tages war ich einkaufen«, beendete er mit fester Stimme das Thema und öffnete schwungvoll die Kühlschranktür. »Guck mal, ein echter Fall von Hochgenuss aus dem Delikatladen in der Rathausstraße.«

»Ich sehe nur Pappschachteln.«

»Warte ab, wir werden heute ein kaltes Büfett genießen wie auf dem Frauentagsempfang im Staatsratsgebäude«, griente Karl und holte seine Delikatessen aus dem Kühlschrank.

»Schöne Sachen hast du da erworben, muss einiges gekostet haben«, bemerkte Karola, die wie eine Restauratorin behutsam die Verpackungen entfernte.

»Na ja, auf den Hackbratenfix für zwei fünfundsechzig habe ich verzichtet. Auf die Büchsen Mandarinen oder Ananas zu vier achtzig ebenso. Wollen ja keine Sylvesterbowle anrichten. Das Ganze hat so ungefähr dreißig Mark gekostet.«

Karola straffte sich bei dem Gedanken, dass vor ihnen eine halbe Monatsmiete zum Verzehr bereitlag.

»Das wollen wir aber nicht alles heute essen?«, fragte sie vorsichtig und entfernte das Butterbrotpapier vom Roastbeef.

»Nein, jeden Tag ein winziges Häppchen, wie vom Westpaket, dann sind wir Pfingsten durch«, lästerte Karl.

Als wäre ihm plötzlich etwa eingefallen, wandte er sich ab und ging zu den Bücherregalen im Wohnzimmer. Sie nahmen fast die gesamte Längsseite des Raumes ein und beherbergten neben Belletristik und Karolas Kunstbänden eine ansehnliche Plattensammlung, fast ausschließlich klassischer Musik. Karl kniete sich vorsichtig vor eine Buchreihe und versuchte mit schrägem Kopf die Titel zu überfliegen. Er hatte das Wörterbuch der russischen Sprache seit Jahrzehnten nicht mehr in den Händen gehalten und konnte sich beim besten Willen nicht an den Buchdeckel erinnern. Fachbücher stehen in den unteren Fächern, sagte er sich, während er nachdenklich das halbe Dutzend von Weinführern, Weinkatalogen und Küchenratgebern musterte. Leicht schnaufend robbte er auf Knien an ihrer Bibliothek entlang. Er sah noch einige Lexika, weitere Bildbände, kunsthistorische Lehrbücher und ein Dutzend dünner Reclamausgaben, deren Titel er nicht entziffern konnte. Ihm begann der Kopf zu dröhnen, und die Knie schmerzten.

»Dann eben nicht«, murmelte er und richtete sich vorsichtig auf.

»Hast du einen Wein gekauft?«, hörte er in seinem Rücken Karola rufen.

»Nein«, ächzte Karl, der sich den Rücken hielt und die Schultern leicht nach hinten bog. Vielleicht sollte ich mal zur Gymnastik gehen oder zu unserer Sportgruppe, ging ihm durch den Kopf. Deren Pflichtprogramm schwänzte er regelmäßig.

»Was ich dich fragen wollte: Kennst du einen Wein ›Liebfrauenmilch‹ aus Westdeutschland?«, rief er in die Küche.

»Gehört habe ich mal davon. Moment mal, schau ich gleich nach«, sagte Karola. Sie kam ins Wohnzimmer und stellte einen Karteikasten auf den Couchtisch.

»Aha, unser Weinarchiv. Zumindest informationstechnisch sind wir bald auf Weltniveau«, bemerkte ihr Mann trocken und ließ sich aufatmend in den Sessel gleiten.

»Also, hier unter ›L‹ findest du die Marke: Lieblicher Weißwein aus den Sorten Riesling, Müller-Thurgau, Silvaner und Bacchus. Ursprünglich auf den Hängen rings um die spätgotische Stiftskirche in Worms angebaut. Einer der ältesten deutschen Weine. Qualität nicht unumstritten. Warum fragst du?«

»Weil die den im Delikatladen anbieten. Die Verkäuferin hatte aber keinen Schimmer, die hat ihn mir als Rotkäppchen angeboten.«

Karl Bircher lehnte sich im Sessel zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und versuchte sich die Datscha bei Moskau vorzustellen. Die Handakte lag neben ihm. Es war sibirisch kalt, als die Studenten dort feierten. Der Tote lag unter dem Schnee. Man fand ihn, weil es zu tauen begann, und die Gerichtsmedizin hat ihn frisch wie aus der Kühltruhe serviert bekommen. Vielleicht haben die sich geprügelt. Wie lange kann man bei Minusgraden im Wald liegen, ohne dass Spuren einer physischen Gewaltanwendung verschwinden?

Irgendetwas hatte Birchers Interesse am Tod im russischen Winterwald angestachelt. Etwa doch ein Mord? Unter Beteiligung von drei handverlesenen Studenten der berühmtesten und größten Universität der Sowjetunion? Einer ist von uns. Ein Mädchen darunter, vielleicht ist Liebe im Spiel, wie so oft, im Gespann mit Eifersucht. Hochintelligente Leute, die jetzt ein Geheimnis mit sich schleppen, das sie zum Schweigen zwingt? Bircher spürte ein leichtes Kribbeln in der Brust.

»Hallo Karl, nicht einschlafen. Das russische Abendessen ist angerichtet«, rief Karola.

Er stand auf und sah hinüber.

»Und der Wein? Den muss ich doch noch holen«, sagte Karl.

»Komm schon, wir bereiten deine Dienstreise vor«, erwiderte Karola und hakte sich bei ihrem Mann unter, der zufrieden griente.

»Oh, wo hast du die denn her?«, rief Karl aufgeregt, als er neben dem festlich gedeckten Tisch stand. Er musste sich unwillkürlich an die Wange fassen, als traue er seinen Augen nicht. Karola hatte in der Mitte des Tisches zwei kleine Wimpel platziert, die Staatsflaggen der Sowjetunion und der DDR. Daneben stand eine Flasche, unter deren Eisschicht die Umrisse des Etiketts wie Eisblumen schimmerten. Ringsherum hatte Karola auf den blau-weißen Tellern der Kahla-Manufaktur die Salate und Braten angerichtet. Sogar das Meissener Porzellan, zwei winzige Schälchen aus der Erbschaft von Karolas Eltern, hatte sie hervorgeholt. In jedem befand sich ein wenig roter Kaviar, eine letzte eiserne Reserve. Das Licht der Deckenleuchte spiegelte sich in den kristallenen Wasser- und Schnapsgläsern und erzeugte ein sanftes Schimmern, als würden sich schräg einfallende Sonnenstrahlen im Wasser brechen.

»Donnerwetter, ist das etwa Wodka?«, wunderte sich Karl.

Sie besaßen ein selbstgefertigtes Weinregal. Wodka gehörte nicht zum Sortiment.

»Ja, der liegt seit einer Ewigkeit im Tiefkühlfach.«

»So, also heute keinen Wein«, stellte Karl mit leichtem Bedauern fest.

»Ja, so kannst du dich auf deinen Einsatz in Moskau vorbereiten«, lächelte ihm Karola zu und schwenkte die Flasche in der Hand.

»Und woher kommt die Beflaggung, aus deiner Reservatenkammer im Museum?«

»Ehrlich gesagt, die Wimpel sind mal übrig geblieben, als wir Gäste von der Tretjakow-Galerie empfingen«, klärte sie ihren Mann auf und goss die Schnapsgläser bis zum Rand voll.

Beide hoben ihr Glas und schauten sich tief in die Augen.

»Sa sdorowje!«, rief Karola.

»Sa druschbu!«, rief Karl.

1* Übersetzung der russischen Begriffe und Erklärung der Abkürzungen siehe Glossar am Ende

2

Moskau

Rainer Krohn lag in seinem winzigen Zimmer auf dem Bett und starrte zur Zimmerdecke. Langsam kehrten die Erinnerungen an den Abend zurück, als er Boris zum letzten Mal gesehen hatte. Wie in einem Theaterstück sah er vor sich die Bühne, auf der das Geschehen einsetzte, nachdem die Darsteller aus der Kulisse getreten waren und das Drama seinen Lauf nahm. Nur an das Ende vermochte er sich nicht zu erinnern.

Am Morgen nach dem Besäufnis hatte er im Wohnzimmer gestanden und mit leeren Augen in den Schnee gestarrt, der sich vor dem Fenster auftürmte. Um ihn herum waren die Spuren der vergangenen Nacht zu sehen gewesen: ein flüchtig abgeräumter Tisch mit halbleeren Gläsern und Tellern voller Essensresten. Ein Kantinengeruch hatte im Raum gehangen. Wolodja war in das kleine Wohnzimmer geschlurft und hatte sich neben Rainer gestellt.

»Hallo, ausgeschlafen? Mann, hast du auch so ’ne Birne, geht’s mir beschissen«, murmelte Rainer.

»Ne, mir geht’s gut, wir haben doch nur Wodka getrunken, nichts weiter.«

»Schon, dafür aber drei Flaschen, da steht die vierte«, sagte Rainer und deutete mit dem Kinn zum Fenster.

Schweigend blickten sie in den Garten. Vor ihnen breitete sich eine glänzende Winterlandschaft aus. Als würden sie in Scheinwerferlicht blicken, kniffen sie im grellen Widerschein der Eiskristalle die Augen zusammen. Nur die unversehrt gebliebene einsame Wodkaflasche unterbrach die spiegelglatte Oberfläche. Ihr grüner Verschluss ragte wie ein Signallämpchen aus dem Schnee. Der Blick über den Garten wurde am Ende des Grundstücks durch eine kleine Holztür gestört, die in den Wald führte. Bis zu den hohen Bäumen hinter der Grundstückseinfassung breitete sich bleich wie ein Leichentuch die Schneedecke aus. Es regte sich kein Lüftchen. Undurchdringlich und abweisend wie eine Mauer ragten die Buchen, Birken, Lärchen, Fichten und Eichen auf. Erstarrt im unbarmherzigen Frost, glitzerten die Bäume wie unter einer Lamettaschicht. Nichts erinnerte daran, dass sie einige Stunden zuvor da draußen gestanden und debattiert hatten. Der Schnee hatte alle Spuren zugedeckt.

Eine kleine Terrasse trennte den Garten vom Haus. Es lag einsam am Rande eines schmalen Feldweges. Er endete mit ihrer Datscha, dahinter breitete sich der Wald aus. Bis zur nächsten Behausung waren es etwa fünfzehn Minuten Fußweg. Zu dieser Zeit war es in der kleinen Siedlung menschenleer.

»Was war gestern eigentlich los?«, fragte Rainer plötzlich.

»Was meinst du, was soll gewesen sein? Wir haben getrunken und danach gesungen. Du warst ziemlich voll und hast deutsche Volkslieder geschmettert, die keiner verstand. Irgendwas wie ›Am Brunnen vor dem Tor, da steht eine alte Linde‹.«

»Das meine ich nicht. Ich kann mich dunkel daran erinnern, dass du, Ull­rich und Boris Streit hattet, oder habe ich das geträumt?«

»Also, weiß nicht, was du geträumt hast.« Wolodja zuckte mit den Schultern. »Es stimmt, dass wir kurz draußen waren, weil Boris rauchte. Wolltest uns unbedingt einen Kopfstand im Schnee vorführen. Das haben wir verhindern können und haben dich wieder ins Haus bugsiert, sonst würdest du jetzt vielleicht wie die Schnapsflasche in die Höhe ragen«, scherzte Wolodja und schlug seinem Freund auf die Schulter.

Rainer sann über das Geschehen nach. Boris galt unter ihnen als der Zurückhaltende und Umgängliche. Er trank von allen am behutsamsten, meinte, ein Laster wäre ihm genug. Er rauchte nämlich wie ein Schlot, eigentlich ständig und überall. So musste Boris regelmäßig in die nachtschwarze sibirische Kälte treten, durch die Fenster sah Rainer sein Feuerzeug aufblitzen und für einen Moment das bärtige Gesicht erhellen, wenn er gierig inhalierte und die Zigarette eine gefühlte Ewigkeit vor seinem Mund glühte. Kurz darauf verschwand er wie ein erlöschender Meteorit aus seinem Blickwinkel, einen Schwall weißen Dampfes zurücklassend. Im Glimmen einer Zigarette entdeckte er die Umrisse seiner Freunde, die irgendwelche Mätzchen im Garten aufführten.

Rainer konnte die Bildfetzen in seinem Gedächtnis keiner Handlung zuordnen, sie keinem zeitlichen Ablauf unterwerfen. Wie bei einer Vorführung, während der man immer mal wieder einnickt und urplötzlich den Abspann vorbeiziehen sieht. Vergeblich versuchte er aus einzelnen Szenen, an die er sich erinnerte, das Geschehen zu rekonstruieren.

»Ihr habt euch gestritten?«, fragte er schließlich und versuchte Wolodjas Blick aufzufangen.

Der drehte sich weg und ging langsam zu seiner Schlafzimmertür. Auf halben Weg drehte er sich um, als wollte er prüfen, ob Rainer ihm noch etwas sagen sollte. Der runzelte die Stirn und schaute ihn ärgerlich an.

»Was soll das, ich bin doch nicht blöd, los, sag endlich, was da war, oder soll ich Lena und Ull­rich ausquetschen!«, brauste Rainer auf.

Wolodja verharrte für einen Moment und hob abwehrend die Arme: »Reg dich nicht auf. Es gab wirklich keinen Streit, wir diskutierten, vielleicht zu heftig. Mensch, wir hatten alle einen in der Krone«, sagte Wolodja in einem Ton, als wäre es jetzt genug der Aufklärung.

»Diskutieren, worüber?«

»Mann, über alles Mögliche. Dann ging’s auch noch um den Handel an der Uni und wie sich das ausweitet, was da alles am Brett angeboten wird. Und Ull­rich glaubte, dass wir das Geschäft nicht den Polen überlassen sollten. Da wurde es etwas hitzig, weil Boris den Nowak verteidigte. Mehr kriege ich auch nicht zusammen.«

Rainer nickte automatisch. Er wusste, dass Ull­rich gelegentlich Textilien aus Berlin in den »Handel brachte«, wie er ihr Geschäft umschrieb. Ull­rich selbst trat nicht in Erscheinung, gewöhnlich erledigten das Wolodja oder ein anderer einheimischer Studienkamerad. Rainer hatte sich nie dafür interessiert. Geld war ihm gleichgültig. Da sein DDR-Stipendium sehr viel höher als das seiner sowjetischen Kommilitonen ausfiel, teilte er es mit seinem Freund und Zimmernachbarn Wolodja, solange es reichte. Danach hielt man sich irgendwie über die Runden, immer hatte jemand etwas zum Borgen, so dass sich über die Zeit so etwas wie ein Gleichgewicht zwischen Nehmern und Gebern einstellte. Jeder war einmal in einer der beiden Positionen.

Der interne Warenhandel war einfach geregelt. Gleich im Haupthaus, zwischen den Aufzügen ins Internat und somit unübersehbar, hingen an einem Holzbrett diverse Zettel mit den unterschiedlichsten Angeboten. Studenten suchten einen neuen Zimmernachbarn, andere boten Unterrichtsstunden an, benötigten eine Mitfahrgelegenheit oder suchten Teilnehmer für eine Reise, wieder andere warben für abenteuerlich anmutende Exkursionen, aber beherrschend war der Textil- und Gebrauchtwarenhandel. Besonders beliebt waren Erzeugnisse aus der DDR und aus Ungarn. Aber auch die polnischen Kommilitonen waren aktiv, besonders Jakob Nowak, den Rainer flüchtig kannte.

»Was gibt’s Neues aus dem russischen Winter, hat Väterchen Frost ’ne Pause eingelegt? War ja ein toller Schneesturm heute Nacht«, dröhnte Ull­richs Referentenstimme in die Stube.

Er stand wie aus dem Hut gezaubert neben Rainer und legte einen Arm um ihn, als wollte er den Freund an sich ziehen. Rainer wand sich heraus und ging einen Schritt näher zum Fenster.

»Hast du Boris gesehen?«

»Ne, pennt der nicht bei dir im Zimmer?«

»Nein, hätte ich ja wohl bemerkt«, sagte Rainer unwirsch. Er warf einen fragenden Blick auf das Sofa. »Warum liegt hier Bettwäsche?«

Wolodja und Ull­rich warfen sich einen Blick zu, als würden sie nach einer Erklärung suchen. Wolodja räusperte sich verlegen und blickte unsicher Ull­rich an. Der griff sich vorsichtig an seine Brille, als würde er gleich zu einer Rede ansetzen. Aber er schwieg und setzte sich auf das Sofa.

»Ja, er wird doch nicht etwa heute Nacht abgehauen sein?«, fragte Ull­rich trocken, Rainers Frage übergehend.

»Spinnst du, es hat geschneit, und wer geht denn mitten in der Nacht bei minus dreißig Grad im Dunklen durch den Wald zum Bahnhof, um dort auf der Bank zu erfrieren? Los, lasst uns das Haus durchsuchen«, forderte Rainer sie auf.

»Der hatte auch was getrunken, wie wir alle, da baut man auch mal Scheiße«, erwiderte Ull­rich mürrisch, »und was sollen wir absuchen? Neben unseren Zimmern gibt es noch das Bad und die Küche. Bei mir schläft Lena, im Bad ist niemand, und in der Küche, weiß ich nicht, geh doch mal nachschauen, Wolodja«, bat ihn Ull­rich.

Der drehte sich achselzuckend um und ging rasch in die Küche.

»Hier ist niemand«, brüllte er gleich darauf, »aber aufräumen müssen wir, es sieht aus wie nach einen Erdbeben.«

»Boris war wie immer der nüchternste von uns. Der geht nicht mal einfach nachts spazieren. Ist eigentlich die Haustür verschlossen?«, fragte Rainer in die Runde.

»Gute Frage«, sagte Ull­rich und ging in den Flur.

»Der Schlüssel steckt von innen, und die Tür ist abgeschlossen!«, rief er ins Zimmer. »Dann kann er nur hinten rausgegangen sein, über die Terrasse. Von dort über den Zaun auf den Weg ins Dorf, oder einfach geradeaus durch die Pforte in den Wald«, fasste Ull­rich die Lage zusammen.

»Na, dann frag doch mal Lena, die müsste sich erinnern können, als nüchterne Zeugin«, fordert Rainer Ull­rich auf.

Der zögerte etwas, als hätte er den Vorschlag überhört. Rainer schaute ihn fragend an und schlurfte dann langsam in die Küche. Auf der kleinen Anrichte türmten sich Teller mit Resten von eingelegten Pilzen, Tomaten, und Gurken, dazwischen abge­nagte Schaschlikspieße, halbvolle Suppenteller, zwei angefangene Torten, Brot und diverse Schnapsgläser. Als seine Augen über die Hinterlassenschaften des letzten Abends glitten, überkam ihn ein leichtes Würgen. Nicht so schnell wieder, schwor er sich. Wäre noch schlimmer, wenn ich geraucht hätte. Ein Glück, dass damit Schluss ist, tröstete er sich und suchte nach einem sauberen Glas. Schließlich griff er sich ein Weinglas, drehte den Hahn auf und hielt es unter das fließende Wasser. Regungslos wie eine Statue blickte er in die Spüle. Das Rauschen des Wasserstrahls und das Dröhnen in seinem Schädel gingen ineinander über und erzeugten in ihm ein Gefühl, als würde er sich unter einem reißendem Wasserfall im Kreis drehen. Er zuckte hilflos die Achseln und drehte den Hahn zu. Die vergangene Nacht erschien ihm wie ein faszinierender Traum, aus dem er langsam in die Wirklichkeit zurückkehrte. Das Tosen in seinem Kopf ebbte ab und allmählich machte er sich Sorgen um Boris. Er drehte sich abrupt um und ging zurück ins Wohnzimmer. Wolodja und Ull­rich lümmelten auf dem schmalen Sofa und schienen ihren Freund Boris vergessen zu haben.

»Wolltet ihr nicht Lena fragen?«, herrschte Rainer sie an.

»Ach so, ja, ich gehe mal nachschauen«, brummte Ull­rich und quälte sich langsam aus dem Polster.

Wolodja nickte wie selbstverständlich und warf Rainer einen forschenden Blick zu. Beide sahen Ull­rich hinterher, der in dem schmalen Korridor verschwunden war. Nach einer Weile hörten sie die Stimmen von Ull­rich und Lena. Gleich darauf wurde es still, und Lena tauchte im Türrahmen auf, hinter ihr stand reg­los lächelnd Ull­rich. Sie blickte verschlafen in die Runde und hielt mit verschränkten Armen Ull­richs Mantel zusammen, der ihr bis zu den Füßen reichte. Ihre strohblonden Haare kringelten sich leicht über den Ohren, der Pony verdeckte die Stirn und ihr kleiner Mund war leicht gespitzt, als ärgerte sie die unerwünschte Ruhestörung. Sie war hübsch, nicht von umwerfender Schönheit, dazu fehlte es ihr an Glanz, an hervorstechenden Merkmalen wie mandelförmigen Augen, hohen Wangenknochen oder betörenden Lippen; sie glänzte durch ihre ebenmäßigen Gesichtszüge, die von innerer Ruhe und Gelassenheit zeugten und ihrer Erscheinung eine verhaltene, schlichte Anmut verliehen. Lässig und leicht schmollend am Türpfosten gelehnt, eingehüllt in dem groben Wintermantel, richtete sie ihren sanften Blick träge auf die Jungen. Selbst jetzt, leicht verärgert, erinnerte sie an ein glückliches ukrainisches Dorfmädchen, das dem Bilderrahmen eines Landschaftsmalers entstiegen sein könnte.

Rainer betrachtete sie aufmerksam, seine Augen glitten an den kargen Umrissen ihres schlanken Körpers entlang. Er fühlte eine leichte Erregung aufsteigen und hätte beinahe die Augen geschlossen, weil er eine andere Frau vor sich zu sehen glaubte. Er fing den regungslosen Blick Ull­richs auf, und für eine Sekunde verstand er nicht, was Lena an seinem Freund anzog. Neben ihr wirkte Ull­rich wie ein steifer Bankangestellter. Wolodja hatte einmal beiläufig bemerkt, dass man sich nicht täuschen lassen sollte, denn hinter Lenas engelhafter Fassade würde sich ein kühler Verstand verbergen. Das unterscheide sie eben von anderen Schönheiten, hatte Ull­rich gekontert.

Rainer musterte Lena, die inzwischen ihre gewohnte Freundlichkeit zurückgewonnen hatte. Ihr Blick schien zu sagen, hier bin ich, was machen wir jetzt? Sie drehte sich träge zu Ull­rich und fragte gähnend:

»Gibt es Frühstück?«

»Noch nicht, sind auch gerade erst aufgestanden«, murmelte Ull­rich, »wir vermissen Boris. Er ist nirgendwo zu finden.«

»Wie, nicht im Haus? Ist er heute früh weg, bevor wir aufgestanden sind?«, fragte Lena.

Alle schwiegen für einen Moment. Lena hatte sich an den Tisch gesetzt und ihre Beine übereinandergeschlagen. Unter Ull­richs Mantel baumelte am großen Zeh ein flacher eleganter Halbschuh. Das Material sah nach weichem Leder aus, von sanftem Blau, sehr schick. Rainer schielte auf ihre Beine und ihm fiel auf einmal ein, woran ihn der Schuh erinnerte. Einen ähnlichen hatte seine Freundin Gabi in Berlin gekauft. Er konnte sich genau erinnern, denn es war der Preis, der sich ihm eingeprägt hatte, um die einhundert Mark. Das war für ihre Verhältnisse eine Menge Geld. Gabi hatte lächelnd abgewinkt und mit einem zugekniffenen Auge geflüstert: Blau ist doch deine Lieblingsfarbe.

»Die gleichen Schuhe hat meine Freundin Gabi«, sagte Rainer unvermittelt.

»Die hatte ich schon gestern Abend an. Bei Janos erstanden. Sind ganz neu. Gibt es die auch in Berlin?«, fragte Lena zerstreut.

»Ja, und sie waren nicht ganz billig. Was hast du bezahlt?«, führte Rainer zerstreut das Thema fort, obwohl es ihn nicht interessierte.

Er bemerkte, dass Ull­rich unwirsch die Augenbrauen hochzog und Wolodja einen fragenden Blick zuwarf. Der lag auf der Couch, unter sich das zerknüllte Laken.

»Um die fünfzig Rubel. Waren am Brett ausgehängt«, sagte sie gleichmütig im Ton einer Tochter wohlhabender Eltern. Ihr Vater war Direktor eines großen Werks in Leningrad.

Klar, dachte Rainer. Die kann sich das leisten. Aber von Janos Kovacs? Dem verträumten Ungarn? Dass der mit DDR-Waren handelt, war ihm neu.

»Da hast du ja mehr als den DDR-Preis hingeblättert. Das sind fast zweihundert Mark. Für dieses Geld hätten wir sie dir mitbringen können, und noch paar Sandalen«, wunderte sich Rainer, der irgendwie Gabi in der Nähe fühlte.

»Na ja«, sagte sie schelmisch, »geschenkt hättest du sie mir wohl auch nicht, oder?«

Rainer sah sie für einen Augenblick verlegen an, als hätte sie ihn unverhofft zum Tanz aufgefordert. Er runzelte die Stirn.

»Meinst du wirklich den Janos, das Mathegenie?«, fragte er streng. »Der hat dir die Damenschuhe verkauft?«

»Ja doch.«

Er starrte verwundert auf Lena, als wäre sie eine Ballerina und stünde in goldenen Spitzenschuhen vor ihm. Janos war in seinen Augen der Inbegriff des zerstreuten Akademikers, der dem Anschein nach ständig mit der Lösung einer Gleichung oder Schachaufgabe beschäftigt war. Dass er sich mit solch weltlichen Dingen wie dem Verscherbeln von Klamotten befasste, erschien ihm so unglaublich wie Lena im Trainingsanzug. Ull­richs Miene hatte sich zusehends verdüstert und plötzlich fuhr er Rainer an.

»Wollen wir hier über Damenschuhe quatschen oder Boris’ Verschwinden aufklären?«

»Als ich gegen elf ins Bett ging, war er jedenfalls noch hier«, warf Lena ungewohnt trotzig ein, als wollte sie auch etwas zur Aufklärung beitragen.

»Los, lasst uns rausgehen, wir müssen ihn suchen!«, rief Wolodja, der zur Tür eilte, als wollte er sich ohne Mantel und Mütze in den Frost stürzen.

»Halt, nun warte mal ab, schau erst mal raus, siehst du irgendwo eine Spur, einen Fußabdruck oder Ähnliches? Ich sehe nur Schnee, soweit das Auge reicht«, sagte Ull­rich.

Lena nickte ihm unmerklich zu, leise murmelnd: »Da hat er recht, es schneite ab Mitternacht wie in Sibirien.«

Rainer runzelte die Stirn, denn er glaubte sich vage daran zu erinnern, dass sie zwar den einsetzenden dichten Schneefall wie eine Bühnendarbietung bejubelten, aber doch ohne Lena? Die war vor meinem Filmriss in ihr Zimmer verschwunden, und das war weit vor Mitternacht, wie konnte sie den Schneesturm beobachtet haben? Rainer verwarf den aufkommenden Zweifel und schlurfte zum Fenster. Der Schnee lag wie von einem Brett glattgezogen meterhoch. Sein Blick wanderte zum Wald. Unter den Wipfeln der dicht aneinanderstehenden Lärchen und Fichten würde man vielleicht irgendwelche Spuren von Boris entdecken können. Wolodjas Bariton unterbrach Rainers Gedankengänge.

»Los jetzt, lasst uns endlich rausgehen, anstatt Theorien zu entwickeln. Ull­rich kann den Feldweg inspizieren, Rainer und ich gehen hinten raus zum Wald.«

»Und ich?«, fragte Lena vorsichtig.

»Du bleibst als Zeugin, sollte uns der Schnee verschlucken«, verkündete Ull­rich mit traurigem Blick.

Lena atmete erleichtert auf.

»Ich mache inzwischen das Frühstück. Bleibt bitte nicht lange weg«, sagte sie und verschwand leichtfüßig im Bad.

Rainer wandte sich an Ull­rich und musterte ihn erstaunt: »Sag mal, hast du überhaupt keine Angst, dass Boris etwas zugestoßen sein könnte? Mensch, der ist weg, überleg doch mal, bei den Temperaturen und am Arsch der Welt!«

»Na, lass man gut sein. Anziehen und raus!«, rief er und rannte in sein Zimmer.

Boris blieb verschwunden. Ull­rich war den halben Weg zum Bahnhof gelaufen, bevor er ratlos umkehrte. Wie Segel ragten die Dächer der Wochenendhäuschen aus dem Schnee. Ihm begegnete keine Menschenseele. Auf dem Rückweg entdeckte er Schuh­spuren und hoffte, nicht allein in der leblosen Landschaft zu sein. Doch nach einer Weile begriff er, dass es seine eigenen waren. Er sah schließlich ein, dass es abwegig war, weiterzusuchen.

Auch Wolodja und Rainer hatten nach einer halben Stunde des Herumirrens im Winterwald eingesehen, dass ihre Mission aussichtslos war. Sie versanken bis zu den Knien im Schnee. Voller Grauen stellte sich Rainer vor, über seinen verlorenen Freund zu stampfen.

Als sich alle wieder einfanden, verbreitete sich eine Atmosphäre von Angst und Zweifel im Haus. Wie vor einer schweren Operation mit ungewissem Ausgang saßen die Freunde geduckt am Wohnzimmertisch.

Lena war ungewöhnlich ernst und schweigsam. Als müsste sie sich ein Bild vom Ort der Ereignisse machen, wanderte ihr Blick zwischen Veranda und Waldsaum. Ihre Augen glitten hinunter zur Gartenpforte, schweiften zurück zur Terrasse und ruhten schließlich im Wohnzimmer. Sie seufzte niedergeschlagen.

»Nichts wie weg von hier«, murmelte sie leise.

Der Spaziergang im eisigen Frost hatte Rainers kreisendes Gehirn kurzzeitig zum Stillstand gebracht. Er war sich inzwischen sicher, dass es Streit gegeben haben musste. Warum und wie lange, davon hatte er keinen blassen Schimmer. Ull­rich und Wolodja betonten, dass der Abend friedlich verlaufen sei. Lena wiederholte, dass es lustig gewesen sei, jedenfalls bis Mitternacht. Rainers Gedächtnis entzog ihm jedoch die Erinnerungen, als sollten sie ihn nicht erschrecken.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Ull­rich fordernd in die Runde.

Es herrschte eine Stimmung wie nach einem Gelage unter flüchtigen Bekannten, wenn der Rausch verflogen ist und jeder eigentlich nur weg will, aber keiner die Kraft oder den Mut aufbringt, sich davonzustehlen. Wolodja hatte sich wieder auf dem Sofa eingerollt. Von seiner sonst überbrodelnden Energie war nichts zu spüren, sie war aus ihm entwichen wie die Luft aus einem beschädigten Reifen. Der stets bestens aufgelegte Wolodja, stattlich wie ein Husar und fröhlich wie ein Troubadour, ließ den Kopf hängen und presste die vollen Lippen wie bei einer schweren Prüfung zusammen. Sein ovales Gesicht, beherrscht durch die lodernden Augen, schien zu schrumpfen.

Wolodja hob langsam den Kopf, als wollte er etwas sagen, und seufzte kurz. Doch er schwieg weiter. Rainer ging auf ihn zu und schaute seinen Freund prüfend an, als wollte er sich vergewissern, dass es tatsächlich er sei. Wolodja blinzelte vorsichtig hinauf und lächelte entschuldigend. Neben ihm sah Rainer wie ein schüchterner Junge aus. Zwar auch hochgewachsen und gutaussehend, war er doch von ruhigerem Naturell und weniger draufgängerisch als Wolodja. Rainer konnte durchaus auch explodieren und langte dann auch zu, aber seine Reizschwelle lag deutlich höher. Seine braunen gewellten Haare und dunklen Augen ließen ihn auf den ersten Blick wie einen Bruder Wolodjas erscheinen, und nicht wie den Studenten Rainer Krohn aus Berlin. Beide studierten an der chemischen Fakultät.

Lena sind die Schuhe, die ihm vorkamen, als gehörten sie in Wirklichkeit Gabi, nicht zufällig vor die Füße gefallen. Vielleicht hat Ull­rich sogar selbst verhandelt, um Lena einen Wunsch zu erfüllen, sinnierte Rainer. Ich werde Janos fragen, von wem er die Schuhe hat, beschloss er. Vielleicht haben die sich gestern Nacht deshalb gestritten, wegen dieser Schiebereien, blitzte ein Gedanke in ihm auf. Er gab sich einen Ruck.

»Wir müssen zurück und nachschauen, ob Boris zu Hause ist«, rief er.

»Ja, was hängen wir hier noch herum? Vielleicht sitzt er in seinem Zimmer und raucht gemütlich«, sagte Ull­rich.

»Versteh ich nicht. Wie sollte er dorthin gekommen sein? Auf Skiern? Auf einem Eskimoschlitten? Ein Taxistand hier in der Wildnis wäre mir auch neu«, kommentierte Wolodja mürrisch die Lage. Seine dunklen Augen tasteten sich über die Gesichter seiner Freunde. Als er Lenas empörtem Blick begegnete, senkte er den Kopf. »Na ja, ihr habt ja recht. Entweder ist er wie durch ein Wunder heute Nacht heimgekehrt, oder nicht. Hier werden wir es nicht erfahren, bleibt nur der Marsch zurück«, lenkte Wolodja ein.

Lena stand wortlos auf und ging zum Packen ins Schlafzimmer. Ull­rich nickte kurz und folgte ihr, um gleich darauf zurückzukommen.

»Erst mal frühstücken wir etwas und danach brechen wir auf«, verkündete er den Fahrplan.

Am späten Nachmittag erreichten Lena, Wolodja, Ull­rich und Rainer die Leninberge und stiegen aus dem 111er Bus. Sie überquerten die Straße und liefen zur Treppe des Südportals, das von beiden Seiten durch schmiedeeiserne Lampen, auf denen riesige schneeweiße Glaskugeln thronten, eingefasst war. Sie erreichten die Höhe der quadratischen Eingangssäulen, hinter denen man ein Opernhaus vermuten könnte. Die Lampen strahlten ihr sanftes Licht in den anbrechenden Abend und erzeugten eine festliche Atmosphäre. Es fehlten nur die Gäste in Abendgarderobe und Klänge eines Orchesters, um sich wie vor dem Eingang einer großen Bühne zu fühlen. Stattdessen eilten wie vor einem großstädtischen Bahnhof Schwärme von Studenten durch das Barock anmutende Portal.

Automatisch reckte Rainer den Kopf in Höhe, als würde ihm aus einem der zigtausend Fenster Boris mit schelmischem Lächeln zuwinken. Boris, einer von über fünfundzwanzigtausend Studenten an der Lomonossow-Universität, die hier untergebracht waren. Viele von ihnen waren jetzt in den Winterferien, zurück blieben die ausländischen Studenten und jene aus fernen Sowjetrepubliken. Als Student aus der DDR durfte Rainer bis zu zweimal im Jahr in die Heimat fahren, andere Delegationen erlaubten nur eine Heimreise.

Rainer stand unschlüssig auf der Treppe und musterte die Säulen, auf denen das mächtige Eingangsportal ruhte. Auf seinem Dach zeugte mittig ein stählernes Fahnentrapez von dem Vermächtnis der Erbauer an ihre Kinder, der Heimat zu dienen, als wäre das Studium eine einzige Kampfdemonstration. Unzählige Male hatte er den Eingang passiert, noch nie war er sich angesichts der emporragenden sechsunddreißig Stockwerke so winzig vorgekommen. Den Haupttrakt flankierten zwei Seitenflügel mit jeweils achtzehn Etagen, an die sich zwei weitere Gebäudeeinheiten aus jeweils zwölf Etagen anschlossen. Die Front der Universität nahm fast vierhundertfünfzig Meter ein.

Rainers Blick schweifte weiter den Haupttrakt hinauf, dorthin, wo er sich zu einem Turm verengte, über dem eine achtzig Meter hohe Spitze aus Stahl ragte, die den Sowjetstern mit Eichenlaub trug. Der Eindruck, sich vor einem für die Ewigkeit bestimmten Bauwerk zu befinden, wurde durch ein stählernes Staatswappen und acht vergoldete Kandelaber, die den Turm schmückten, verstärkt. Rainer schwindelte etwas, als er abrupt den Kopf senkte, weil er Wolodjas Stimme hörte, der auf dem letzten Treppenabsatz auf ihn wartete.

»Was ist los, suchst du Boris im Himmel?«

»Red keinen Blödsinn«, murmelte Rainer und winkte abweisend mit der Hand.

Ull­rich und Lena waren nicht zu sehen, wahrscheinlich hatten sie den Eingang passiert. Rainer eilte hinauf, wobei er in der Manteltasche nach seinem Studentenausweis kramte. Der war nicht da. Ihn überkam ein leichtes Gefühl der Panik. Er stellte seine Reisetasche ab, knöpfte den Mantel auf und zog aufatmend den Ausweis aus der Hosentasche. Ohne Ausweis würde ihn die Wache nicht durchlassen, er müsste in die Verwaltung gehen, und die kannte kein Erbarmen. Im schlimmsten Fall wäre mit einer Meldung an die Leitung der deutschen Studentendelegation zu rechnen, vielleicht sogar an die Studentenabteilung der Botschaft. Dort würden ihn unangenehme Fragen erwarten, wo er denn gewesen sei, unter welchen Umständen er dieses wichtige Dokument habe verlieren können. Es käme ein ernstes Problem auf ihn zu: Die Datscha von Wolodjas Eltern befand sich nämlich knapp außerhalb des hundert Kilometer umfassenden Radius des Sperrgürtels um Moskau, den man als Ausländer ohne behördliche Genehmigung nicht überqueren durfte. Rainer, den nach knapp fünf Jahren Studium wenig von seinen sowjetischen Freunden unterschied, hatte sich nicht darum geschert, obwohl er bereits einmal erwischt worden war.

Wolodja und Rainer stießen die Tür auf, hielten der wie eine Mumie auf ihrem Stuhl hockenden Wächterin den Ausweis vor das Gesicht und betraten die weiträumige Eingangshalle. Wüsste man nicht, dass es sich um eine Universität handelte, hätte man sich in einem kaiserlichen Palast vermuten können; unter den ausladenden kreisrunden Kronleuchtern glänzten die mit hellem Marmor ausgekleideten Wände und die mit Ornamenten verzierten Böden, majestätische quadratische Marmorsäulen unterbrachen die Hallen, die Bauherren hatten vor einem Vierteljahrhundert die Kunst der Inkrustation des untergegangenen römischen Reiches für sich wiederentdeckt. Die Lomonossow-Universität war eher ein museales Bauwerk als eine Bildungsstätte.

Wolodja und Ull­rich mussten das Gebäude durchqueren, um zum fürstlichen Haupteingang zu gelangen. Auf ihrem Weg zweigten mehrmals schmale Korridore von den Gängen ab und elegante Treppenaufgänge führten zu den oberen Etagen.

Beim Fahrstuhl ihres Aufganges am Nordportal angekommen, begann Rainer die Annoncen zu studieren. Sie waren mit Reißzwecken oder einem Klebestreifen wild neben- und übereinander an dem Holzbrett befestigt. Sein Blick schweifte über das Angebot und suchte nach Textilien. Pullover, Anzüge, Hosen, Kleider, Blusen und Schuhe, alles war zu haben. Er versuchte, Damenschuhe aus der DDR zu finden. Als er bereits aufgeben wollte, entdeckte er eine Notiz: »Gebe moderne Damenschuhe ab. Nachfragen Zimmer W-1650.«

Rainer und Wolodja teilten sich die 1742, eine Etage darüber. Boris hatte sein Zimmer auf demselben Korridor. In der 1650 muss Janos wohnen, stellte er stirnrunzelnd fest. Er kannte ihn von ihren gemeinsamen Matheübungen.

»Ich steige in der sechzehnten aus, komme gleich nach«, sagte Rainer betont gleichgültig.

»Was denn, wollten wir nicht erst nach Boris sehen?«, fragte Wolodja überrascht.

»Ja, klar, komme gleich nach«, erwiderte Rainer ausweichend.

Die Kabine war wie gewöhnlich voll, die Studenten standen dichtgedrängt, und Wolodja schluckte eine Bemerkung hinunter. Der Aufzug flog wie ein Flugkörper geräuschlos nach oben und hielt kurz darauf. Rainer nickte seinem Freund zu und verschwand im Korridor.

Die Diensthabende saß hinter einem wuchtigen Pult, den Fahrstuhl seitlich im Blick, ihr buntes Kopftuch leuchtete im schummrigen Licht. Um sie anzusprechen, mussten sich die Studenten wie vor einer Hotelrezeption aufstellen und ihren Wunsch vortragen. Für gewöhnlich signalisierte sie ihre Entscheidung, ohne aufzublicken, mit einer raschen Kopfbewegung. Rainer schien es dann, als würden sich die Blümchen auf ihrem Kopftuch im Wind bewegen. Im Pult befand sich ihre »Telefonanlage«. Drei Reihen von kleinen Knöpfen verbanden sie mit Hunderten von Zimmern ihrer Etage. Erklang ein schrilles Läuten im Block, so hieß es, nach vorn zu rennen. Sie wartete nicht lange. Nachts war das Pult selten besetzt. Dann wurden mehrere Etagen gleichzeitig von einer Person betreut. Zusätzlich war eine Studentenpatrouille unterwegs. Dieses »Kontrollkommando« war befugt, in den Unterkünften nach nicht genehmigten Besuchern zu fahnden. Es war eine gefürchtete Truppe, die da nachts umherschlich und unangemeldet im Zimmer stehen konnte. Dann galt es, die Freundin rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Wurde man ertappt, erging eine Meldung an die Leitung. Bei der nächstbesten Verteilung der begehrten Einzelzimmer würde man leer ausgehen.

Rainer lief den schnurgeraden Korridor entlang, unter seinen Füßen vibrierte ganz leicht das Fichtenholzparkett. Aus dem Augenwinkel nahm er die Zimmernummern wahr. Die über den Türen angebrachten Lampen warfen ein schwaches Licht in den Gang, der sich wie eine Tunnelröhre vor ihm erstreckte. Er ging jetzt langsamer und sah erblickte die 1650.

Rainer klopfte an Janos’ Zimmertür. Es blieb still, er wartete einen Moment und drückte die Klinke hinunter. Janos saß am Tisch, den Kopf in beide Hände gestützt, schien er ein bedeutsames Rätsel zu lösen. Er nahm keine Notiz von Rainer.

»Hallo, Janos, denkst du oder schlummerst du?«, begrüßte ihn Rainer.

Janos hob langsam den Kopf und sah in seine Richtung, als stünde ein Gespenst im Raum. Einen Moment später schüttelte er unwillig den Kopf.

»Was ist denn, brauchst du was? Ich habe gerade keine Zeit«, versuchte er den Besuch abzukürzen.

»Entschuldige, ich gehe ja gleich, rechnest du?«

»Ne, ich denke. Und sobald ich den Lösungsweg vor mir sehe, fange ich an zu rechnen«, sagte er.

»Schon gut, Großmeister. Habe nur eine praktische Frage: Hast du zufällig Lena Balaewa ein Paar blaue Schuhe verkauft?«

»Wie bitte, blau?!« Es klang, als würde er in seinem geordneten Kopf verzweifelt nach etwas Blauem suchen. »Spinnst du, blaue Schuhe? Ich habe keine Frauenschuhe, und schon gar keine bunten. Hau jetzt ab und lass mich rechnen.«

»Sei doch nicht gleich sauer. Lena sagt, sie hätte die Schuhe von dir. Meine Freundin in Berlin hat die gleichen, ist doch merkwürdig.«

Janos blinzelte ihn an und zog die Mundwinkel auseinander, als hätte er sich verhört. Dann nickte er plötzlich und grinste vergnügt.

»Ach so, du denkst, Lena hätte deiner Freundin in Berlin die Schuhe geklaut und nach Moskau verschleppt. Spaßvogel. Ne, Jakob, mein Nachbar und Handelskaufmann unserer Einrichtung, bat mich, ihr einen Karton zu geben. Hatte keine Ahnung, dass sich darin die Schuhe deiner Freundin befinden. So, und jetzt verpfeif dich, Alter.«

Er beugte sich wieder über seine Zahlenreihen, während Rainer unschlüssig im Türrahmen stand. Janos schien ihn bereits vergessen zu haben. Warum sollte ich nicht bei Jakob Nowak anklopfen, sagte sich Rainer. Er kannte Jakob kaum, war ihm nur einige Male über den Weg gelaufen, als er Janos Kovacs besucht hatte.

Rainer lauschte kurz an Jakobs Tür. Es war nichts zu hören, kein Licht fiel durch die Milchglasscheibe. Rainer klopfte an. Im selben Moment hörte er eine kräftige Stimme:

»Wer ist denn da? Komm rein!«

»Ich bin’s, Rainer, ein Freund von Janos.«

Die Tür öffnete sich, Jakob stand vor ihm. Rainer wich einen Schritt zurück, ihm war, als hätte Jakob unmittelbar hinter der verdunkelten Milchglasscheibe gewartet. Donnerwetter, dachte er sich, ist der über den Fußboden geschwebt? Jakob war etwa so groß wie er, aber stämmiger, mit einem kleinen Bauch, der ihn aber nicht dick erschienen ließ, sondern eher die Wucht unterstrich, die von seinem Körper ausging. Seine schmalen wasserblauen Augen musterten Rainer, sie hatten die Kälte einer Gletscherspalte. Plötzlich lächelte er, als würde er sich an etwas erinnern, wobei sein stechender Blick augenblicklich in ein wärmeres Himmelblau wechselte, wie in einem Diaprojektor, wenn das nächste Bild auftaucht. Er hielt ihm seine Pranke entgegen, Rainer schlug ein und, wie von einem Sog erfasst, wurde er ins Zimmer gezogen.

»Na klar, du bist doch der Kumpel von Wolodja und Boris. Du wohnst mit Wolodja zusammen. Was gibt’s denn?«, begrüßte er ihn.

Rainer fühlte seine Hand wie in einem Schraubstock eingeklemmt.

»Ja, also, ich war gerade bei Janos, wegen Lena, du kennst sie vielleicht, ist eine Freundin von uns. Sie hat heute ihre neuen Schuhe vorgeführt, die sehen aus wie die meiner Freundin in Berlin. Lena sagt, dass sie umgerechnet ungefähr zweihundert Mark bezahlt hat. Stimmt das?«

Kaum hatte Rainer die ersten Worte gesprochen, ließ Jakob seine Hand wie eine heiße Kartoffel fallen. Irgendetwas schien ihm plötzlich nicht zu gefallen. Sein Blick verdüsterte sich, und die Augen schimmerten wieder wie Gletscherwasser.

»Quatsch«, sagte er unwirsch. »Von welchen Schuhen sprichst du eigentlich?« Es klang, als würde er einen Schuhsalon betreiben.

»Flache, blau, die fallen auf, schon wegen der Farbe.«

»Ja, Lena war deshalb hier. Sie hatte die Schuhe im Aushang gesehen.«

»Und was kosten die bei dir?«, fragte Rainer betont gleichgültig.

»Ist doch egal, oder willst du welche kaufen?«

»Ne, natürlich nicht. Aber ist komisch, dass ich bei Lena die blauen Schuhe meiner Freundin sehe«, murmelte Rainer. »Hätte sie in Berlin billiger kaufen können.«

Jakob lächelte nachsichtig wie ein geduldiger Verkäufer. Anscheinend wertete er den Besuch inzwischen als geschäftsbelebend. Er musterte Rainer, als würde er einen neuen Kunden am Haken haben.

Rainer blickte ihn prüfend an. Übergangslos fragte er: »Kennst du Boris? Du weißt, wen ich meine, der neben uns auf der siebzehnten wohnt.«

»Ja, flüchtig. Ich habe ihn schon ’ne ganze Weile nicht mehr gesehen, geht’s ihm gut?«, antwortete er leicht irritiert. Er sah Rainer an, als wäre nun alles gesagt, und öffnete die Tür.

»Ja, ich denke schon«, murmelte Rainer.

»Na, dann mach’s mal gut«, sagte Nowak, ohne ihm die Hand zu reichen.

Rainer kräuselte die Stirn, verließ dann aber mit einem Kopfnicken das Zimmer.

In ihrem Zimmer wartete Wolodja auf ihn. Er lag auf dem einzigen Bett und starrte an die Zimmerdecke. Da für zwei Betten kein Platz war, musste einer von ihnen auf der Liege schlafen, die tagsüber zusammengeklappt unter das Bett geschoben wurde. Jedes Zimmer verfügte über einen Schreibtisch, der neben dem Fenster in der Ecke stand, und – als besonderen Blickfang – einen Sekretär. Der befand sich gegenüber vom Bett, besaß unterschiedlich große Schubfächer und eine herunterklappbare Schreibauflage. Das Möbelstück hätte man eher in einer Stadtvilla vermutet, es gehörte jedoch zum Standardinventar jedes Studentenzimmers. Die Wand neben der Eingangstür war mit einem Einbauschrank verkleidet. Alles war in einem dunklen Braunton gehalten und erweckte den Eindruck eines gediegenen Wohnzimmers.

»Also, was ist? Hast du Boris gefunden?«, fragte Rainer ungeduldig.

Wolodja blickte ihn ruhig an und erhob sich gemächlich.

»Nein, in seinem Zimmer ist er nicht, es ist abgeschlossen, und der Nachbar hat ihn auch nicht gesehen. Ich bin die Korridore hoch- und runtergehechelt, ohne Ergebnis. Allerdings haben wir Ferien, da fällt es nicht auf, wenn jemand fehlt.«

»Wo ist Ull­rich?«

»Der ist noch zur Fakultät gelaufen. Boris’ Chef könnte ja da sein und etwas wissen.«

Boris diplomierte am Lehrstuhl für Organische Chemie, der sich auf der fünften Etage der Fakultät befand. Dort war fast immer jemand, der eine Destille beobachtete, ein altersschwaches Messgerät reparierte oder eine Versuchsserie vorbereitete. Vielleicht hat ihn die nächtliche Auseinandersetzung von der Datscha ins Labor getrieben, grübelte Rainer. Sie alle standen unter hohem Druck, mussten bis Juni die Diplomarbeit vorlegen, die über ihre weiteren Bewerbungen entschied.

»Vielleicht ist er zu seinen Eltern gefahren?«, fiel Rainer eine weitere Variante ein.

»Hm, soweit ich weiß, kommt man nicht so einfach nach Ufa. Liegt im Ural, über tausend Kilometer von hier entfernt.«

»Wo könnte er nur sein?«, murmelte Rainer.

Wolodja legte seine Hand auf die seines Freundes und runzelte die Stirn.

»Keine Ahnung, lass uns in Ruhe nachdenken und hören, was Ull­rich sagt. Der wird sicher gleich hier sein«, antwortete Wolodja in einem fast väterlichen Ton.

Sie gaben ein merkwürdiges Paar ab, wie sie da Hand in Hand am Fenster standen, als würden sie einen Eid ablegen. In diesem Augenblick betrat jemand den Block.

»Hallo, da bin ich!«, brüllte Ull­rich.

Rainer und Wolodja lösten sich voneinander und schauten ihn fragend an.

»Na, habt ihr gerade die Nationalhymne gesungen, was ist los?«, krähte er.

»Ulli, schrei nicht rum. Was gibt’s Neues?«, fragte Rainer genervt.

»Nichts Neues. Er war nicht im Labor. Der kann nur nach Hause gefahren sein.«