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Als der Journalist Thomas Franke zum ersten Mal nach Russland reiste, musste man eigentlich keine Angst mehr haben: Das Sowjetreich war zusammengebrochen, der russische Bär bleckte nicht länger die Zähne. Heute fürchten sich wieder viele Menschen vor - und ebenso: in - Putins Russland. Seit mehr als 20 Jahren bereist Franke Russland, von 2012 bis 2016 lebte er in Moskau: Zeit für zahllose Begegnungen und Gespräche zwischen der Hauptstadt und der Krim, zwischen Wolgograd und Sibirien. Mit scharfem Blick und präzisem Ton erzählt Franke von Alltag, Geschichte und Politik und erlebt als mitfühlender Chronist eine Entwicklung, die er nicht für möglich gehalten hatte: die Reaktivierung sowjetischer Reflexe, die Rückkehr der Angst in die russische Gesellschaft. Diese Angst, so Franke, hat das ganze Land infiziert: Die Staatsmacht unter Putin nutzt sie, um ihre Autorität zu stärken und die Moral der Opposition zu untergraben. Und zugleich schürt sie die Angst vor Macht- und Identitätsverlust, vor der weltpolitischen Marginalisierung: In der russischen Seele gärt eine explosive Mischung.
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Seitenzahl: 285
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Anfang 2017 saßen meine Frau und ich mit unseren Nachbarn in Moskau in der Küche und aßen zu Abend. Ich erzählte ihnen von diesem Buch. »Es heißt ›Russian Angst‹«, sagte ich, »darin geht es um die Rückkehr der Angst.« Mascha, Mitarbeiterin einer Umweltorganisation, nickte heftig. Und Kostja, Finanzmanager, sagte: »Ja, wir überlegen uns auch wieder, mit wem wir worüber reden und wo wir das tun.« Ob man das für übertrieben hält oder nicht, ist egal. Wichtig ist nur: Die Angst ist wieder da, wenn sie denn jemals wirklich weg war. Dabei deutete vor ein paar Jahren noch alles darauf hin, dass die russische Gesellschaft beginnen würde, sich gegenüber dem Staat zu emanzipieren. Der Mittelstand wurde immer größer und begann auf den Straßen Moskaus für seine Interessen zu demonstrieren. Als Journalist begleite ich die Entwicklung in Russland seit dem Ende der Sowjetunion, zuletzt lebten und arbeiteten meine Frau und ich bis Anfang 2017 fünf Jahre in Moskau. Die Geschichten, die wir erzählten, waren meist sehr spannend. Russland war selten einfach zu erklären.
Aber »Russian Angst« ist kein klassisches Korrespondentenbuch. Es erzählt von der Rückkehr der Angst in Russland und vor Russland. Es geht um mein inneres Unbehagen, das immer weiter wuchs, je aggressiver die Politik der russischen Regierung wurde. Ich sah, wie absurde Gesetze ihre Wirkung entfalten und Menschen einladen, andere anzugreifen – verbal wie körperlich. Und ich bekomme Angst, wenn junge Männer sich anmaßen, moralisch über anderen zu stehen, und daraus das Recht ableiten, diese zu unterdrücken. Wenn sie auf den Hinweis, dass sie sich in privaten Räumen befinden, breit lächeln und entgegnen: »In Moskau gibt es kein privates Gelände.« Was im Endeffekt heißt, niemand ist vor den selbst ernannten Sittenwächtern sicher. Angst macht es, wenn die Polizei dieser Amtsanmaßung keinen Riegel vorschiebt, sondern sie sogar unterstützt.
Es erschreckt mich, wenn Jugendliche Putins Geburtstag auf der Straße feiern und ihn als »großen Führer« bezeichnen. Es macht mir Angst, wenn in Kindersendungen Krieg verherrlicht wird. Es besorgt mich, wenn im Kindergarten Panzer statt Marienkäfer gemalt werden. Und ich bekomme eine Gänsehaut, wenn Putin sagt: »Wir sind ein Siegervolk! Das liegt in unseren Genen! Die Schlacht um Russland geht weiter! Der Sieg ist unser!«
In den vielen Jahren, die ich Russland nun schon bereise, erscheinen mir die letzten Jahre, als rüsten sich Teile der Bevölkerung für die Fortsetzung eines imaginären Krieges. Ein Krieg gegen westliche Werte, gegen freie und offene Gesellschaften. Und die landesweiten Fernsehsender beschallen die Bevölkerung mit einem Ausschnitt und einer Interpretation des Weltgeschehens, für die der Begriff »postfaktisch« grob verharmlosend ist. Eine freie Presse existiert fast nicht mehr.
Die Mächtigen in Russland vermitteln ihrer Bevölkerung, dass das Ende der Sowjetunion eine Niederlage Russlands war, nicht eine Chance, sich von der Unterdrückung der Sowjetunion zu befreien. Die »Heimholung« der Krim und der Krieg im Osten der Ukraine erscheinen daher vielen Russen als legitime Schritte, den Zustand, den sie als normal empfinden, wiederherzustellen. Es gibt fast kein Unrechtsbewusstsein. Und wer eines besitzt, traut sich kaum, es zu benennen. Die Regierung Russlands unter Putin hat in den letzten fünf Jahren immer deutlicher gemacht, dass sie an friedlicher Kooperation mit gleichberechtigten Nachbarn nicht interessiert ist. Sie hat offen das Scheitern liberaler Gesellschaften verkündet und führt einen »hybriden Krieg«. Putin spricht von Demokratie und schaltet Medien gleich, spricht von Partnerschaft und startet Propagandasender in anderen Ländern. Deren Botschaften sind erstaunlich erfolgreich. Rechte wie Linke und eine Menge Sozialdemokraten in Deutschland rechtfertigen das Handeln der russischen Regierung. In Frankreich finanziert die russische Regierung den rechtsextremen Front National, Antidemokraten wie der ungarische Präsident Viktor Orban zeigen offen Sympathie für Putins Kurs, der US-Geheimdienst erklärt, er habe Beweise, dass Russland die Präsidentschaftswahlen beeinflusst hat.
Auch in Russland hörte man um den Jahreswechsel 2016/2017 viele Menschen sagen, sie seien froh, dass das Jahr vorüber ist. Das hat mit der Veränderung der Weltlage zu tun, mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, mit den Erfolgen von Populisten in ganz Europa, mit sogenannten Fake-News, mit dem Erstarken von Propaganda. Die Situation war lange nicht mehr so unüberschaubar. Die Menschen in Westeuropa sind zu Recht verunsichert, machen sich Sorgen um ihre Sicherheit und Zukunft und sollten das meiner Ansicht nach auch.
Eine Kollegin in Moskau sprach unlängst aus, was uns eigentlich erschrecken sollte: 2016 sei doch gar nicht so schlecht gewesen, immerhin sei kein neuer Krieg in Europa ausgebrochen. Das mag sehr negativ klingen, die Möglichkeit dazu war aber mehr als einmal gegeben. Krieg ist das, was sich hierzulande viele nicht vorstellen können, was in Russland aber täglich gezeigt und verherrlicht wird. Darum geht es – auch in diesem Buch. Deshalb ist es so wichtig, bedrohliche Entwicklungen frühzeitig aufzuzeigen, den Verstand und das Gewissen zu benutzen, um so letztlich Krieg eventuell noch verhindern zu können.
Mein Unbehagen ist in den letzten fünf Jahren langsam gewachsen. Vieles, was passiert ist, schien irrational und bis dahin unvorstellbar. Erst war es nur ein Verdacht, ein dumpfes Bauchgefühl. Als die Äußerungen mächtiger russischer Politiker aber immer aggressiver wurden, als Medien anfingen, unter anderem offen gegen Demokraten in der Ukraine zu hetzen, als Russland jede Art der Kooperation mit den westlichen Mächten in Syrien verweigerte, als es fast zur Regel wurde, dass Politiker das eine sagen und etwas völlig anderes tun, da wurde das Bauchgefühl zur Gewissheit. Die derzeitige russische Regierung bekämpft nicht nur die Freiheit im eigenen Land, sie bedroht auch die Demokratien in Westeuropa. Die Erlebnisse, die mich zu diesem Schluss bringen, stehen auf den folgenden Seiten. Für die meisten, die, so wie ich, nach 1968 aufgewachsen sind, zumindest im ehemaligen Westdeutschland und in vielen anderen westeuropäischen Ländern, ist das Bedrohungsgefühl neu. In den liberalen Schulen in Westdeutschland ging es zwar mehrfach im Unterricht darum, Freiheit zu verteidigen. Es ging aber meist um das »Dritte Reich«, seltener um die Diktatur in der DDR oder der Sowjetunion. Es war einfach, sich auf der richtigen Seite zu sehen und sich mit den Dissidenten zu identifizieren. Als meine Schule irgendwann in Carl-von-Ossietzky-Gymnasium umbenannt wurde, wurde es mir Verpflichtung, mich für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte einzusetzen, wenn ich sie bedroht sehe.
Niemand weiß, was noch kommt und wo das Ganze endet. Ich suche Antworten und Orientierung, als Autor, Journalist und Chronist in einem immer antidemokratischeren Umfeld in Russland: Welche Aufgabe haben wir als Chronisten einer solchen Entwicklung in einem fremden Land? Und ist das überhaupt vergleichbar mit früheren Zeiten? Übertreibe ich? Klar ist, 70 Jahre Frieden in Europa sind eine lange Zeit, aber der Frieden ist bedroht wie lange nicht mehr. Ich hole Bücher hervor, die ich länger als 20 Jahre nicht angeschaut habe. Bücher über Journalismus, über das »Dritte Reich«, über die Sowjetunion und den KGB.
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Ich beobachte das Gegenteil. Das macht Angst.
Die Angst vor Russland sitzt tief in der deutschen Gesellschaft. Eigentlich ist es die vor der Sowjetunion, dem Land, aus dem die Väter nicht zurückgekehrt sind, die Brüder, die Freunde. Die Generationen, die den Krieg gefochten haben, wurden verheizt in der Kälte der Sowjetunion. Und wenn sie wiederkamen, und es kamen nicht viele zurück, waren sie gebrochen, kaputt oft, lange nicht mehr fähig zu lachen. Immer, wenn ich an diese Männer denke, erinnere ich mich an Onkel Kuno. Den Schwager meiner Großmutter. Ich habe ihn nur ein Mal gesehen. Er war bei uns zu Besuch, warum, weiß ich nicht. Er hat das Bein über die Armlehne des Sessels gehängt, das durfte ich nicht.
Es war die Zeit, als alte Männer auf dem Roten Platz standen und Raketen an ihnen vorbeifuhren, Raketen, die uns bedrohten, damals in Westdeutschland, in Hamburg. Raketen, gegen die hierzulande Pershing-II-Raketen stationiert wurden. Ich war dagegen, wollte unbedingt nach Bonn fahren zur großen Friedensdemonstration 1983 – und durfte nicht. Breschnew, Reagan, das SDI-Programm, die Verlegung des Krieges ins Weltall – klar machte uns das Angst. Aber es blieb unvorstellbar. Wird schon gut gehen. Wir sind ja für den Frieden. »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.« Lösungen konnten so einfach sein. Ich war auf einer linken Schule, das fand ich toll. »Mein Gott, der Russe steht ja schon vor Lauenburg«, sang unser Schulchor damals, »und er kommt bestimmt noch durch.« Immerhin stand er, der Russe. Gesungen haben sie es zur Melodie von »Joshua Fit the Battle of Jericho«. Den Text hatte ein Musiklehrer geschrieben. Der hatte strohig abstehende Haare, trug Jeans und Turnschuhe und ließ sich von den älteren Schülern duzen. Er kam mir damals unglaublich progressiv vor.
Wir wuchsen mit einer diffusen Angst vorm Russen auf, der damals die Sowjetunion war – real und abstrakt zugleich. Russland und die Sowjetunion waren damals für uns das Gleiche. Moskau war das Zentrum des Bösen hinter einem Vorhang, der eisern genannt wurde. Den kannte ich. Das waren der Grenzzaun bei Lübeck und die Mauer in Berlin. Von dort aus wurden Gesellschaften unterdrückt, Diktatoren gestützt, Reformer gestürzt, Dissidenten verhaftet, verfolgt und in Psychiatrien gebrochen. Mein Vater las den »Archipel Gulag« von Alexander Solschenizyn, und auch mein Klassenlehrer in der sechsten Klasse hat uns von dem Buch erzählt.
Onkel Kuno war in Russland, das war das Erste, was mir über ihn gesagt wurde. Meine Mutter war todunglücklich. Sie hatte Kohlrouladen gemacht. Kuno aß keine Kohlrouladen. Überhaupt keinen Kohl. Wegen Russland, wegen der Kriegsgefangenschaft. »Da gab es immer Kohl. Kapusta.« Vielleicht war Kapusta das erste Wort, das ich auf Russisch sagen konnte.
Kuno war Dorfschullehrer in Mulak gewesen, einem Ort bei Rastenburg in Ostpreußen. Unerreichbare verklärte Heimat. Kuno war der Mann von Tante Grete, der Schwester meiner Großmutter. Sechs Kinder hatten sie, Grete trug das Mutterkreuz, war aktive Nationalsozialistin. Glaubte an den Endsieg. Glaubte noch, als das Ende nah und klar war, dass es nicht siegreich wird. Sie blieb, als alle gingen. Wollte kämpfen. Mit der Waffe in der Hand »für Führer, Volk und Vaterland«. Ihre Kinder behielt sie bei sich, als die Rote Armee kam. Grete ward nie mehr gesehen, wurde vom Russen verschleppt, hieß es, ihre Kinder landeten in einem Waisenhaus, kamen später über das Rote Kreuz zur Familie nach Westdeutschland. Gretes Tod, wie auch die verlorene Heimat, waren Themen beim familiären Kaffeetrinken. Nach Russland ging man nicht, da war man froh, wenn man herausgekommen war.
Als meine Frau und ich nach Moskau zogen, war die Zeit, in der Menschen in Europa Angst vor Russland haben mussten, eigentlich vorbei. Die Sowjetunion war an der eigenen Großmachtlüge zugrunde gegangen. Männerfreundschaften, wie die zwischen Kohl und Jelzin sowie Putin und Schröder, festigten den Frieden. Es gibt den Nato-Russland-Rat, Russland ist 2011 noch Mitglied der G8, des Clubs der reichsten demokratischen Wirtschaftsnationen. Die deutsche Wirtschaft macht gute Geschäfte, und auch kulturell wird getauscht, was man austauschen kann: Schüler und Studenten, Bilder, Filme, Künstler und so weiter. Trotzdem, nach Moskau geht man immer noch nicht. Aus Sicherheitsgründen. Die Skepsis schwingt bei den Abschiedsfeiern mit, bei jedem Gespräch, das wir führen, gerade mit den Älteren. »Moskau ist schneller zu erreichen als Madrid«, beruhige ich. »Gut zwei Stunden Flug. Wir werden eine schöne Wohnung haben. Wir besorgen euch ein Visum, und dann kommt ihr gucken.« Wir verschenken kitschige Bücher über Moskau mit all dem Gold und den Türmchen und dem schönen Schnee. Das soll beruhigen. Wir sagen: »Schaut, die Sowjetunion ist seit 20 Jahren Geschichte. Die 90er Jahre mit ihren Mafiakriegen sind auch vorbei.« Doch die Nachrichten zeigen im Winter 2011/2012 all diese Menschen auf der Straße. Seit der gefälschten Parlamentswahl im Dezember demonstrieren immer wieder Zigtausende. Das beunruhigt Menschen, die an die Ruhe in der EU gewöhnt sind. »Das ist ein gutes Zeichen«, sage ich, »die Menschen sind auf der Straße und demonstrieren gegen Wahlfälschungen. Sie wollen Demokratie.« Man kann argumentieren, wie man möchte: Moskau ist im deutschen Bewusstsein mehr oder weniger unterschwellig negativ belegt. Russland ist vielen Deutschen noch immer fremd, zumindest viel fremder als Frankreich oder Großbritannien. Gleichzeitig ist Russland die verkitschte Kulisse von ARD-Reisedokumentationen.
»Russland ist nicht gefährlich, Russland ist für Journalisten spannend«, erzähle ich, seit ich 1992 das erste Mal dort gewesen bin. Die Menschen sind nett, nein, es gibt keine Probleme, wenn du Deutscher bist, eher so eine Verbundenheit. Die Leute trinken viel und gern auf die Aussöhnung, darauf, dass Menschen nicht mehr aufeinander schießen, dass sie das sowieso nicht wollen, die einfachen Leute. Nein, ich hatte nie Schwierigkeiten wegen meiner deutschen Herkunft, nicht mal mit Überlebenden des Holocaust. Viele Russen unterscheiden zwischen Deutschen und Faschisten.
Wir sind erwartungsfroh, nahezu euphorisch, als wir für den Umzug nach Moskau packen. Wir sind Reporter, die am Tiefpunkt des Landes angefangen haben, aus Russland zu berichten, die selbst nach Essen Schlange standen, die nach dem Ende der Sowjetunion Armut gesehen haben und mit den Menschen über ihre Angst vor der ungewissen Zukunft gesprochen haben, die durchs Land gereist sind und Reportagen über stillstehende Fabriken gemacht haben. Vor McDonald’s in Moskau standen lange Schlangen. McDonald’s und Coca-Cola in Moskau klang damals noch paradox. Pepsi gab es allerdings bereits in den letzten Jahren der Sowjetunion. Recherchen in Moskau waren in den 90er Jahren immer auch so geplant, dass man an Schnellrestaurants vorbeikam, in denen es berechenbares Essen gab und vor allem die Gelegenheit, die Hände zu waschen und auf die Toilette zu gehen, bei McDonald’s oder in großen Hotels.
Abflug an einem Montag im Januar 2012. Unsere Möbel befinden sich in einem Container irgendwo auf dem Weg zur weißrussischen Grenze. Dort werden sie etwa zehn Tage stehen, sagt die Spedition. Tauwetter, Moskau im Matsch. Gedrängel, Dreck, Stau. Ich habe schlechte Schuhe, stelle ich fest. Tauwetter war nie gut für Moskau, denke ich. Die Abflüsse funktionieren nicht, erfahre ich, und in der Sowjetzeit wurden Straßenbaustudenten aus dem ganzen Ostblock nach Moskau gebracht, um zu lernen, wie man es nicht macht. Bald nach unserer Ankunft schneit es mehrere Tage. Auf der breiten Einfallstraße, an der wir wohnen, patrouillieren die Räummaschinen zu sechst versetzt hintereinander mehrfach täglich. Lkws bringen die Schneemassen zu Schneeschmelzmaschinen. Grau-schwarze Schneeberge liegen neben den Straßen der Hauptstadt. Nach dem vielen Schnee wird es hell. Und kalt. Die Stadt ist weiß, der Himmel blau. Auf den Dächern Kolonnen von Arbeitern, die aus Angst vor Dachlawinen den Schnee hinunterschippen. Auch sie sind meist Gastarbeiter aus Zentralasien, Tadschiken, Usbeken, Kirgisen.
Das Land ist im Wahlkampf. Am 4. März sind Präsidentenwahlen. Wer weiß, vielleicht wandelt sich Putin in einer dritten Amtszeit ja doch noch zu einem Liberalen. Die Demonstranten glauben nicht daran. Die Menschen sind sauer, zu durchschaubar ist der Platztausch von Putin zu Medwedew 2008 und nun wieder zurück.
Es ist Samstag, der 4. Februar. Minus 25 Grad. Die Menge staut sich. Metalldetektoren am Eingang zur Demonstration. Jeder muss da durch. Die Strecke bis zum Bolotnaja-Platz, auf dem die Abschlusskundgebung geplant ist, ist mit Gittern abgesperrt. Ich gehe nicht in einen Demokessel, denke ich. Die Erfahrung bei Demonstrationsberichterstattung in Deutschland hat mich gelehrt, darauf zu achten, dass ich schnell wegkommen kann, sollte es Ausschreitungen geben. Die Absperrungen seien üblich, sagen russische Freunde, »und die Metalldetektoren sind gut, damit man keine Waffen mit hineinbringen kann«. Skeptisch gehe ich mit.
Ich freue mich über meine neuen Schuhe, die ich in Moskau gekauft habe. In dieser Mischung aus Wasser und Kälte müssen sie gefüttert, knöchelhoch und wasserdicht sein, nichts ist mieser als kalte Füße. Als Reporter steht man bei Demonstrationen stundenlang draußen, und das ist es, was wir in der ersten Zeit machen: Demo-Berichterstattung. »Putin ist ein Dieb«, skandieren angeblich 120.000 Menschen, und »Russland ohne Putin«. Die Demonstranten wärmen sich an der Vorstellung, bald in einem normalen Land zu leben, ohne die »Gauner und Diebe«, wie Alexej Nawalnyj, Antikorruptionsblogger und Oppositionsaktivist, die Beamten und die Politiker der Regierungspartei Einiges Russland von der Bühne herab nennt. Die Oppositionsbewegung ist weit gefächert, sie reicht von Monarchisten, Neonazis und Stalinisten bis hin zu überzeugten Basisdemokraten und Menschenrechtlern. Alles, was sie eint, ist der Wille, Putin und seine Machtclique loszuwerden. »Ihr habt großes Glück«, sagen Freunde, die sich in Russland auskennen, »ihr werdet unmittelbare Zeugen, wie Russland jetzt demokratisch wird.«
Die Korrespondenten, die schon länger da sind, sind begeistert. Ich habe Zweifel, traue mir aber noch nicht zu, die Bedeutung dieser Demonstrationen seriös einzuschätzen. 100.000 Menschen demonstrieren in einer Stadt, in der wahrscheinlich 15 Millionen Menschen leben – ist das eine große Demonstration, die die russische Regierung in ernsthafte Schwierigkeiten bringt? Russland ist sehr groß, und in der Provinz ist es viel ruhiger. Doch die enthusiastische Atmosphäre überlagert die Zweifel.
Manchmal scheint es, als dränge der Protest aus allen Löchern der Stadt gegen die Widerstände der Staatsgewalt. Wir leben an einer Einfallstraße, auf der jeden Tag viele Reiche und Mächtige ins Zentrum fahren. Tag und Nacht, stadteinwärts, stadtauswärts staut sich in Stoßzeiten der Verkehr. Ab und zu wird die große, breite Straße ruhig. Polizisten stehen am Straßenrand und winken die Autos, die noch fahren, an den Rand. Stille tritt ein – nur kurz, dann schwillt ein Rauschen an, die Luft vibriert, Sirenen heulen, Blaulichter blinken, und Polizeiautos fahren von links nach rechts und wieder nach links, pendeln die Fahrbahnen entlang, und eine lange schwarze Limousine mit russischem Wimpel und mit Putin oder Medwedew im Fond rast vorbei. Und aus den Nebenstraßen, in denen die Moskauer geduldig warten, quillt ein Hupen und ebbt erst ab, als die Macht vorbeigerauscht ist und den Protest nicht mehr hören kann. Denn dieses Hupen ist nicht Ungeduld, es ist ein Aufbegehren. Danach quellen die Autos erneut aus allen Ecken und Winkeln, um sich durch das Verkehrschaos der Stadt zu drängeln.
Der Januar bleibt kalt, der Februar wird kälter. Mehrfach sinkt die Temperatur unter 20 Grad. Die Gullys dampfen, die Leute drücken sich an Häuserwände, eilen von Einkaufszentrum zu Einkaufszentrum. Es ist so kalt, dass beim Schritt nach draußen die Nasenschleimhäute austrocknen. Der Temperaturunterschied zu den Wohnhäusern ist so stark, dass man sich gegen die Tür stemmen muss, um sie zu öffnen. Ich lerne Sergej kennen. Er hat ein Bündel weißer Bänder in der Hand und keine Handschuhe an. Seine Hände sind lila. Als ein älteres Ehepaar vorbeikommt, hält er ihnen zwei Bänder hin, sie schütteln den Kopf, zeigen auf ihre Jacken, dort prangen bereits weiße Schleifen. Sergej gehört zu einem harten Kern von etwa 100 Aktivisten. Seit Wochen treffen sie sich in einem Café, entwerfen Losungen für Handzettel, probieren Sprechchöre aus, diskutieren, wie sie reagieren wollen, wenn die Polizei Gewalt anwendet. In Küchen schneiden sie weiße Bänder zurecht und verteilen sie in der Stadt. Auch eine Freundin von uns macht mit. Die Schleifen finden reißenden Absatz.
Unsere Nachbarin trägt eine an der Handtasche. Im Gedränge der Metro, in der meist jeder vor sich hin starrt, lächeln Menschen mit weißen Schleifen einander wissend an. 10.000 Bänder haben die Aktivisten aus dem Café in die Provinz verschickt. Ihr Kreis ist überschaubar, wer dazukommt, wird integriert. Jeden Tag tragen immer mehr Menschen dieses Symbol der Freiheitsbewegung. An Daunenjacken, Pelzmänteln und Taschen geknotet, an den Antennen ihrer Autos werden sie bald so grau wie der Moskauer Schnee im Winter. Durch Moskau weht zu dieser Zeit ein Hauch von Revolution. »Bis vor Kurzem kannte ich niemanden, der aktiv ist«, sagt Sergej, »nun verteile ich weiße Schleifen, ist das nicht toll?«
Wir haben uns zur nächsten Demonstration verabredet. Sergej ist spät dran. Sein Gesicht ist gerötet, seine Finger wieder lila, er trägt wieder keine Handschuhe. An den Pelzmützen gefriert der Atem. Sergej will nach vorn an die Spitze des Zugs, dort geht der Block der Demokraten. Doch vor uns sind zu viele Menschen, er kommt nicht durch. Plötzlich ein Schrei durch die Menge. Olga! Die beiden umarmen sich. »Das erste weiße Band haben Olga und ich gemeinsam geschnitten.« Sergej strahlt, Olga auch: »Es ist kalt, aber ich denke, diese menschliche Wärme, diese Nähe wärmt uns alle«, sagt sie.
Sergej und Olga haben sich in einem »Awtosak« kennengelernt. Das sind die hohen weißen Gefangenentransporter mit dem blauen Streifen. Es war am 6. Dezember 2011 bei einer Demonstration gegen Wahlfälschungen. Sergej stand in der Menge. Plötzlich fingen Männer an zu schubsen. Vier von ihnen in Zivil griffen ihn und brachten ihn zu dem Awtosak. »Hast du dir diese bedrohlichen Gefangenentransporter mal genau angeschaut?« Sie hielten seine Hände fest und warfen ihn gegen die Stufen.
Er konnte sich nicht abstützen, fiel, ohne den Fall abfedern zu können.
Das war der Moment, in dem aus einem unpolitischen jungen Mann ein Aktivist wurde. Die Polizei, die Exekutive mit ihrer Gewalt gegen Demonstranten, hat den Widerstand gegen sie provoziert. Jetzt geht es für die Mächtigen darum, den Trotz in Angst zu ersticken.
»Im Awtosak traf ich die nettesten Menschen der Welt«, erzählt Sergej. »Da waren ein Schauspieler, ein Musiker, ein Geschäftsmann. Und Olga.« Sie redeten und sangen, verbrachten die Nacht zusammen im Arrest. Sie bekamen keine Erklärungen und kein Essen, durften weder trinken noch austreten. Sie wurden nicht geschlagen.
Olga ist zierlich, Rastazöpfchen, klarer Blick. Sie arbeitet für die tschechische Botschaft. Vor Kurzem hat sie sich ausgezogen, als Aktion gegen Putin. Erst in einem Fotostudio, später mit anderen im Schnee zwischen Birken. Das ZDF hat sie dabei gefilmt. Olga zieht sich gern aus, setzt ihre Brüste als Mittel des Protests ein. Gierig nehmen ihr die Leute Aufkleber aus der Hand: »Wremja Wyschlo« steht darauf: »Die Zeit ist abgelaufen«, dazu ein Bild von Putin in einer Uhr. Sie zeigt 12 Uhr. Ein anderer Aufkleber ist weiß, blau, rot, die russischen Farben, dazu viele Hände, die nach oben gereckt werden, und die Forderung: »Für ein Russland ohne Putin« oder »Faire Wahlen«. Putin ist auch auf einem weiteren Aufkleber zu sehen. Dazu der Satz: »Genug geklaut und gelogen«. »Ist es nicht erstaunlich«, Sergejs Stimme überschlägt sich ein wenig, »so viele Leute kommen trotz der Kälte. Ich treffe dauernd Bekannte und Freunde. Einige habe ich erst vor Kurzem auf Kundgebungen oder auf der Polizeiwache kennengelernt, andere kenne ich schon lange – Gott, was ist das für ein Glück!« Zehntausende strömen an Olga und Sergej vorbei zur wahrscheinlich größten Kundgebung in Russland seit dem Ende der Sowjetunion, lächeln, freuen sich, dass es immer mehr werden. Auch Olgas Tante verteilt Aufkleber. Angeblich sind an diesem Tag in 111 Städten Russlands die Menschen auf der Straße.
Noch vor einem Jahr wollte Olga auswandern. »Jetzt hoffe ich, dass wir das Land ohne Gewalt verändern können. Mein Land ist ein sehr schönes Land. Und ich liebe dieses Land und möchte hier leben.« Früher hat sie es gemacht wie viele in Moskau, in Russland. Sie hatte ihre Freunde, traf nur die. »Alle anderen lohnten nicht. Aber jetzt weiß ich, es gibt viel mehr Leute in Russland, die ich treffen möchte. Ich habe das Gefühl, inmitten wunderbarer Menschen zu leben.« Immer wieder ist da so ein seliges Lächeln. Ungewohnt in einer Stadt, in der sonst wenig auf den Straßen gelächelt und geflirtet wird. Die Demonstranten brüllen sich warm: »Russland soll frei sein!« und »Russland ohne Putin!«. Nach gut einer Stunde und vielen Rednern kommt Juri Schewtschuk auf die Bühne. Der Frontmann der Kultband DDT stimmt seinen alten Hit »Rodina« an.
»Ich fahre in die Heimat,
sollen sie ruhig mosern, sie sei hässlich,
uns aber gefällt sie,
sie ist zwar keine Schönheit,
sie vertraut einem Lump,
uns gegenüber ist sie tra-la-la-la …«
Gut situierte Moskauer in guten Mänteln und teuren Jacken hüpfen und grölen mit. Viele Geschäftsleute, die es satthaben, dass ihnen jederzeit jemand ihr Geschäft abpressen oder lahmlegen kann, sind unter den Demonstranten.
Der große Gegner der freundlichen Demokraten ist die Mentalität aus der Zeit der Sowjetunion: die Apathie, der Glaube an die Macht, die Angst und die Vorsicht. »Meine Urgroßmutter glaubt, wir seien alle von der US-Regierung bezahlt«, erzählt Olga. »Sie hat immer der aktuellen Macht geglaubt, egal, wer gerade regiert hat, ob Stalin, Jelzin oder nun Putin.« Das ist ein sehr großes Problem. Viele Menschen glauben zwar den Äußerungen der Machthaber nicht, aber den Oppositionellen eben auch nicht. Im Zweifel entscheiden sie sich für die Mächtigen, das ist sicherer. Erst wenige Wochen später wird klar, wie richtig Olgas Worte sind. Denn die Machthaber werden ihre Kritiker als »Vaterlandsverräter« verunglimpfen und sich selbst als »Patrioten« aufspielen. Dabei ist es gerade die Liebe zu Russland, die viele Demonstranten auf die Straße treibt.
Ein paar Tage später diskutieren wir bei einem Abendessen im Kollegenkreis über die Demonstrationen und die Chancen der Opposition, die erneute Wahl Putins zu verhindern. Die Runde der Journalisten ist klein. Alle reden über den Antikorruptionsblogger Alexej Nawalnyj. »Ein toller Typ!« – »Endlich mal einer, der gut aussieht.« – »Einer, der reden und der auftreten kann.« – »Sexy!« – »Wenn es einer kann, dann wahrscheinlich er.« Etwas unsicher werfe ich ein: »Aber Nawalnyj hat sich doch rassistisch gegen Kaukasier geäußert …« Vor Jahren hat er in einem Internetvideo Migranten mit Insekten verglichen. Der Spot ist immer noch online. Die Runde schaut mich verständnislos an. Nawalnyj ist keine Alternative, denke ich. Zumindest keine, die ich gut finden kann. Das geht vielen so. Die Opposition hat offensichtlich keine Führungsfiguren, niemanden, der die Massen mitreißen und das verkorkste politische System Russlands in den Griff kriegen kann.
Dann geht es um die Überwachung von Journalisten in Russland. Die Gastgeberin des Abendessens erzählt von ihren Schuhen, die im Flur stehen und die sie lange nicht getragen hat. Auf einem sei Vogelmist, sagt sie und zeigt uns den Schuh. Sie habe keine Ahnung, wie er auf einmal auf den Schuh gekommen sei. Mich erinnert das an Lehrfilme der Stasi, die ich in den 90er Jahren gesehen habe. Es ging darum, Spuren in Wohnungen zu hinterlassen, um die Überwachten zu verstören. Meist eine Zigarettenkippe. Jemand anderes erzählt belustigt von einem Wasserschaden. Als die Handwerker das Parkett öffneten, seien dort ganz viele Kabel zum Vorschein gekommen. »Das machen wir mal besser gleich wieder zu«, hätten die Handwerker gesagt. Zwei Jahre später hatten auch wir so ein komisches Erlebnis. In unserer Wohnung hängt eine schwarz-weiße Silhouette aus Pappe von Franz Kafka an der Wand. Eines Tages hatte Kafka plötzlich drei Löcher in der Stirn.
Vor unserer Abreise haben uns Freunde und Kollegen immer wieder gefragt, ob wir in Russland beobachtet und abgehört werden. Wir ignorieren es, können ohnehin nichts daran ändern. Immer wieder zitieren wir den alten Witz: »Die Tatsache, dass Sie langsam paranoid werden, heißt ja nicht, dass Sie niemand beobachtet.« Im Deutschlandradio-Büro ist es ganz offensichtlich. Es ist schwierig, Plätze zu finden, an denen man mit empfindlichen Mikrofonen störungsfrei ein Gespräch aufnehmen kann. Je näher man den Wänden kommt, desto stärker wird das Sirren. »Mikrobeton«, nennt meine Russischlehrerin diese Bauweise. Das Haus gehört dem Außenministerium. Die meisten Korrespondenten in Moskau leben in solchen Häusern, in abgeschirmten Arealen, haben dort auch ihre Büros. Die waren dort schon in der Sowjetunion untergebracht, in einer Zeit, als Auslandskorrespondenten Moskau nur mit Sondergenehmigung verlassen durften und auch sonst unter strenger Beobachtung des sowjetischen Außenministeriums standen. Und auch heute noch gibt es Schlagbäume und Wachleute. Manchmal notieren sie penibel die Passdaten der Besucher, manchmal ist es ihnen egal. Der Geheimdienst ist immer mit dabei, und wenn er nicht mit dabei ist, so denken zumindest alle, er sei dabei. Russland ist und bleibt das Mutterland der Paranoia. Und so geht eine 70-jährige Freundin von uns auch fest davon aus, dass alle Demonstranten bestellt oder gekauft sind, egal, auf welcher Seite sie mitlaufen.
Und teils stimmt das sogar. Das Machtsystem reagiert mit sowjetischen Methoden auf die Umbruchstimmung. Leute werden zu Loyalitätskundgebungen zusammengekarrt: Studenten, Lehrerinnen, Dozentinnen, andere Staatsangestellte. In den Metrostationen und auf den Straßen beobachte ich, wie Menschen Gruppen um sich scharen und Namenslisten abhaken. Ich höre, wie junge Leute sich austauschen, wie viel Geld sie für die Teilnahme bekommen. Es ist schwer, mit den Demonstranten zu sprechen. Sie drehen sich weg, verweisen auf den Leiter ihrer Gruppe, antworten formelhaft und kurz, sie seien für Putin, weil sie für Stabilität sind. Einmal treffen sie sich im Siegespark. Der Ort ist trefflich gewählt, er erinnert an den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, einem der wenigen Ereignisse, das große Teile der russischen Gesellschaft eint und an das Putin anknüpft. Das Motto der Kundgebung lautet: »Gegen Orange – für Stabilität«. »Orange« steht für gewaltfreie Demokratiebewegungen. Wenn die Menge nicht groß genug wird, machen die Behörden die Zahlen größer, als sie sind. Als nur 15.000 Putin-Anhänger kommen, spricht die Polizei von 120.000, und das Fernsehen verbreitet manipulierte Bilder. So bekommen außerhalb Moskaus nur wenige Menschen etwas von der Aufbruchstimmung der Opposition mit. Denn dort ist das Fernsehen für viele die einzige Nachrichtenquelle.
Eine kleine Gruppe Oppositioneller will das ändern. Sie machen sich auf den Weg nach Sibirien. Sie reisen, um ihren Aktivisten vor Ort Beistand zu leisten, Erfahrungen zu teilen, Solidarität zu bekunden, die Protestbewegung auszuweiten. Die Reisenden sind prominent. Tatjana Lasarjewa, Moderatorin einer beliebten Kindersendung und Schauspielerin, die auch singt; Sergej Parchomenko, einer der Moderatoren des Moskauer Radiosenders Echo Moskwy; Maxim Blant, ein weniger bekannter Wirtschaftsjournalist. Verstärkt durch eine Fotografin, einen Aktivisten der Wahlbeobachter-Organisation Graschdanin Nabljudatel, »Der Bürger als Beobachter«, und eine weitere Journalistin.
Die erste Station ist Tomsk in Sibirien, ungefähr auf der Hälfte zwischen Moskau und der Pazifikküste. Die Stadt hat etwa eine halbe Million Einwohner, ein bisschen Industrie, einen Fluss, alte Häuser aus Holz und roten Ziegeln. Das Treffen findet in einem Bierkeller statt. Lange Tische vor einer Bühne, Tresen, Barhocker. Rauch hängt in Schwaden in der Luft. Kellner bringen Bier und Fisch. Etwa 200 Leute sind gekommen. Es ist selten, dass Hauptstädter anreisen, die keine Politiker sind und dennoch politisch Stellung beziehen. An Oppositionspolitiker hingegen sind viele gewöhnt, und was die sagen, ist bekannt. An einem der Tische sitzt Anna, Journalistin bei der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti. Sie findet es gut, dass die Aktivisten aus Moskau da sind. »Tomsk wird sich verändern. Nun können wir wirklich an die Protestbewegung glauben. Das ist kein Märchen, sondern Realität.« Innenpolitisch ist RIA Nowosti damals noch eine halbwegs zuverlässige Quelle. »Wir haben auf sie gewartet, denn das, was sie sagen, ist sehr wichtig. Diese Leute mal zu treffen, ist besser, als sie nur im Fernsehen zu sehen.« Die Aktivisten aus Moskau erläutern, wie man sich über Facebook vernetzt, wie man Wahlbeobachter wird, was die dürfen und wie man Straßenaktionen plant. An einem langen Tisch sitzt ein Mann und trinkt Bier. Er heißt Andrej Malanow und will, dass die aus Moskau zuhören, wissen, was in Tomsk los ist. Die Menschen im Norden der Region seien bearbeitet worden, sagt er, »von Putin-Leuten. Deshalb hat Einiges Russland bei der Dumawahl so gut abgeschnitten. Hier in Tomsk haben bei den Parlamentswahlen viele die Opposition gewählt.« Die Regierungspartei hat zwar bei der Wahl 2011 im Gebiet Tomsk nur gut 37 Prozent bekommen, war aber mit Abstand die stärkste Partei.
Die Stimmung ist euphorisch. Die Reisegruppe macht Feierabend. In einem Restaurant am Fluss gibt es gefrorenes Muksun-Carpaccio mit Kapern, dazu Wodka. Muksun ist ein Weißlachs, der in sibirischen Flüssen lebt. Der Fluss heißt in Tomsk Tom und fließt im Sommer vor dem Restaurant. Jetzt im Winter fahren auf ihm Autos, und Menschen nutzen die Abkürzung ans andere Ufer. Oft heißt es, die Menschen in der Provinz wählten die Kreml-Partei aus Überzeugung und wollten gar keine Veränderungen. Die vielen Menschen in dem Keller, ihr Interesse, besonders an den Schilderungen der lokalen Aktivisten, sagen etwas anderes.
Am nächsten Morgen geht es früh weiter. 250 Kilometer sind es bis Nowosibirsk, der größten Stadt Sibiriens. Im Minibus ist es warm, draußen sehr kalt. Die Landschaft macht bescheiden: schwarz-weiße Birken vor weiten weißen Flächen. Lediglich braunes Gestrüpp, das aus dem Schnee herausragt, sorgt für farbliche Abwechslung. Die Aktivisten schlafen, ich schaue aus dem Fenster. Deportationslandschaft. Windschiefe Laternen, Begrenzungspfosten. Durch meinen Kopf geistern gebeugte und in Lumpen gehüllte Figuren aus Solschenizyn-Romanen und aus Texten Mandelstams. Arbeitslager so weit weg, dass jede Flucht unmöglich ist, die bei diesem Wetter tödlich endet. Die industrielle Stärke des Landes sei »dank des ehrlichen Enthusiasmus, der heldenhaften Arbeit« der Väter und Vorväter geschaffen worden, sagt Putin ein gutes Jahr später und verhöhnt damit die Opfer, die Kanäle und Eisenbahntrassen, Fabriken und Wohnhäuser bauen mussten, die Sklaven der Sowjetunion, die Denunzierten, willkürlich Verhafteten, unrechtmäßig Verurteilten, an unbewohnbare Orte Verbannten. Der Kleinbus stoppt. »Awtoturist« steht an der Raststätte. Alles dampft, die Autos, das flache Gebäude, die Menschen, die aus den Autos steigen. Die Nasenschleimhäute trocknen an der Luft, Kälte beißt sich in die Backen. Ein blauer Lada Niva – der Jeep der Sowjetunion, fährt immer und hilft überall abzuschleppen – zieht einen Pkw auf den Parkplatz. Es ist das perfekte Auto für die Gegend. Und auch der Fahrer, in dicke Tarnkleidung gehüllt, im Mundwinkel eine Zigarette, scheint perfekt zu sein, um hier zu leben. Die Landschaft wirkt schier endlos, still und gefährlich. Hier muss man leben wollen. Oder müssen. Dabei ist die Strecke zwischen Tomsk und Nowosibirsk recht dicht besiedelt. Das Gefühl der Weite und die Einsamkeit des Verlorenen werden trotzdem denkbar. Dank der Kombination aus Vorstellungskraft und Wissen.
Wiktoria fragt plötzlich: »Wie geht es dir als Deutscher mit deiner Schuld, wenn du durch diese Landschaft fährst?« Wiktoria ist die Fotografin. »Bitte?« – »Als Deutscher. Wie geht es dir, wenn du durch diese Landschaft fährst, mit deinem Schuldkomplex?« – »Ich habe keinen Schuldkomplex in dieser Landschaft«, sage ich. Es ist das erste Mal seit 1992, dass mir in Russland jemand eine solche Frage stellt. »Vom Schuldgefühl zum Verantwortungsbewusstsein ist ein langer Weg in meiner Generation«, erkläre ich ihr später. »Außerdem, wer sagt dir, dass ich nicht Jude bin oder meine Großeltern im Widerstand waren oder im Exil lebten?« Das Thema wird uns die nächsten Jahre begleiten. Je kritischer wir über Verbrechen berichten, je nachdrücklicher wir die Geschichtsklitterung der Propaganda thematisieren, desto heftiger werden die Reaktionen ausfallen, wir als Deutsche hätten eine Kollektivschuld und seien zu respektvoller Zurückhaltung verpflichtet. Aber das war Anfang 2012 in Sibirien noch nicht absehbar.