Russland - Die Ukraine - Der Westen - Böttcher Winfried - E-Book

Russland - Die Ukraine - Der Westen E-Book

Böttcher Winfried

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Beschreibung

"Das Buchvon Winfried Böttcher kommt zur rechten Zeit. Die Qualität des Werks besteht darin, dass es dem Aachener Wissenschaftler gelingt, zu den tief liegenden Ursachen vorzustoßen, und diese in einen historischen Kontext zu setzen." (Stockpress.de) Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts! Willy Brandt 1913 - 1992

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einführung

Teil 1 Acht verlorene Jahre

18. März 2014 bis 20. Februar 2022

Historische Skizze

Zum Selbstverständnis Europas als Wertegemeinschaft

Russland als Zentralmacht des Ostens, auch westlich beeinflusst

Die Ungleichzeitigkeit von Politik und Kultur

Das Ukraine-Experiment

Das russische Gefühl der Bedrohung

Drei Szenarien

Vertrauensbildende Maßnahmen

Der Drei-Punkte Plan

Fazit

Epilog

Was tun?

Schlussfolgerungen

Teil 2 Der Krieg als Mittel der Politik

Der Überfall seit 24. Februar 2022

Beginn einer anderen Zeit

Vorbemerkungen

Wladimir Putin – Der irre Rationalist

Putin ist nicht Russland

Vom ewigen Krieg – Ein Zwischenruf

Teil 3 Die Wandlung des Wladimir Putin

Vorbemerkung

Vom »lupenreinen Demokraten« zum inhumanen Despoten

Der Lebenslauf

Die Rede vom 25. September 2001 im Deutschen Bundestag

Die Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz am 14. Februar 2007

Der NATO-Russland-Rat am 4. April 2008

Der letzte Versuch für eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur

Teil 4 Vom Umgang mit der Macht

Von der »Torheit der Regierenden«

Von der Konzentration der Macht

Vom Machterwerb und vom Machterhalt

Teil 5 Zu Putins Weltverständnis

Mystik als Politikerklärung

Eurasien als Gegenmodell zur Europäischen Union Kriegsfolgen

Teil 6 Nach 1945 – Die gescheiterte Nachkriegsordnung

Vorbemerkung

Bis zur Kuba-Krise

Bis zur Auflösung der Sowjetunion

Die Zeit des Verfalls der Sowjetunion

Putins Russland

Was tun?

Friede in der Ukraine ist möglich

Notwendige Voraussetzungen für ein Gelingen

Verhandlungen sind möglich

Teil 7 Die geo-politische Dimension des Krieges – Die Systemkonfrontation

Vorbemerkung

Fixpunkte des liberal-westlichen Modells

Der Investiturstreit

Die Magna Charta Libertatum

Der Westfälische Friede

Aufklärung und Revolution – Ein »Durchgangspunkt zueiner besseren Welt«

Der zerplatzte imperiale Traum Europas

Auf dem Wege zu einer multipolaren Welt

Was tun?

Teil 8 Anhänge in Auszügen

Schlussakte der KSZE vom 1. August 1975

Charta von Paris vom 21. November 1990

KSZE-Konferenz in Budapest vom 5./6. Dezember 1994

Nato-Russland-Grundakte vom 27. Mai 1997

Teil 9 Interviews

>Der Friede in Europa ist sehr zerbrechlich.< Interview mit Katherina de Mos >Trierischer Volksfreund< 14. Januar 2022

>Es ist brandgefährlich, Putin in die Enge zu treiben.< Interview mit Katherina de Mos >Trierischer Volksfreund< 28. März 2022

>Putin hat die Mütter und Großmütter unterschätzt.< Gibt es noch Hoffnung auf Frieden? Interview mit Katherina de Mos >Trierischer Volksfreund< 4. Oktober 2022

Personenregister

Verwendete Literatur

Vorwort

Der amerikanische Präsident Biden hat am 28. Februar 2022 verkündet, dass Amerika eine atomare Auseinandersetzung nicht zu befürchten hat.

Unser Altbundeskanzler Helmut Schmidt hatte durchgesetzt, dass in Deutschland atomar bestückte Pershing II Raketen installiert werden, wenn die Sowjetunion ihre Drohung wahr macht, ihrerseits SS 20 Raketen installieren zu wollen.

Putin hat die Atomstreitkräfte in eine höhere Bereitschaftsstufe versetzt.

Meine Befürchtung ist, dass Helmut Schmidt recht hat.

»Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.«

Ich habe mich daher entschlossen, mich an dem Buch »Russland – Die Ukraine – Der Westen« des hochgeschätzten Professors für Politische Wissenschaften, Herrn Dr. Winfried Böttcher, zu beteiligen.

Wir hoffen darauf, dass es in naher Zukunft erneute Verhandlungen mit Russland geben wird und dass sogar ein Wechsel von Personen stattfindet.

Ergänzen will ich zuvor das in der Anlage befindliche Personenregister.

Wenn es dort heißt, Katharina die Große (1729 bis 1796), so muss auch an ihren »ermordeten« Ehemann gedacht werden, der 1763 Zar in Russland gewesen ist und dem Preußen seinen Fortbestand zu verdanken hat.

Dieser Zar hat die Allianz Frankreich, Österreich, Russland verlassen, die zur Vernichtung und Aufteilung Preußens geführt hätte, wäre sie vom russischen Zar fortgesetzt worden.

Was die in dem Register aufgeführten Personen angeht, so möchte ich das Register um Michail Bulgakow (1891 bis 1940) erweitern und auf das im April dieses Jahres beginnende Musiktheater von York Höller hinweisen, das erstmalig vor 30 Jahren im Kölner Opernhaus am Offenbachplatz aufgeführt worden und jetzt wieder in Köln zu sehen ist. (Der Meister und Margarita)

Pilatus ist zutiefst von Jesus beeindruckt. Den Aufzeichnungen des Matthäus entnimmt Pilatus, dass die größte Schwäche des Menschen seine Feigheit ist.

In dem zu erwartenden oder zu erhoffenden Gespräch mit Russland müssen wir den Mut haben, auch die Fehler einzugestehen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben.

Damit ist das Verhalten von Putin weder entschuldigt noch erklärt. Wir müssen uns aber sehr wohl der Tatsache bewusst sein, dass auch der »Westen« Fehler gemacht hat. Die Vorstellungen Putins vom Westen entstammen nicht nur seiner Phantasie und werden auch von uns akzeptierte »Nachfolger« aufzeigen, dass auch wir nicht ganz unschuldig an dieser tragischen Entwicklung sind.

Entscheidend ist aber, dass es gegenwärtig allein um den Erhalt des Friedens geht, um die sofortige Beendigung des Monsters: Krieg.

Gerade wir, die Bundesrepublik Deutschland, können hier ganz Wesentliches leisten.

Unsere Verfassung sieht die kulturelle Autonomie der Länder vor. In der Ukraine ist die Muttersprache weiter Teile der Bevölkerung Russisch.

Auch ist die gegenwärtige Trennung der ukrainisch-orthodoxen und der russisch-orthodoxen Kirche größer als je zuvor. Tief in das Gedächtnis eines jeden Russen hat sich der Mord an den Demonstranten des Maidan eingeprägt und wir wissen bis heute nicht, wer die Mörder gewesen sind.

Dasselbe gilt für den Tod der in das Gewerkschaftshaus in Odessa geflüchteten Demonstranten; die Mörder haben Brandsätze in das Gewerkschaftshaus geschleudert und dort fanden 40 Menschen einen grauenvollen Tod.

Wichtig ist, dass der russischen Gegenseite klar gemacht wird, dass es sich hierbei um Verbrechen der Vergangenheit handelt, dass seitdem mehrere Wahlen stattgefunden haben und dass der sinkende Zuspruch für die Kandidaten, die stärker Russland zuneigen, auch darauf beruht, dass die Bewohner der Krim und Teilen der Ostukraine an den Wahlen nicht teilnehmen.

Es kommt hinzu, dass alte Denkmuster immer stärker dadurch abgelöst werden, dass es den Ukrainerinnen und Ukrainern und nicht nur ihnen darum geht, näher dem Euro-Raum zugehörig sein zu können.

Darin liegt die große Chance für alle, auch für uns.

Wir stehen in Konkurrenz mit China. In diesem Land vegetieren Millionen als bessere Arbeitssklaven dahin und entsprechend exportfähig ist China. (1970 war das Bruttosozialprodukt von NRW größer als das von China)

Wir haben die große Chance, die ich an dem folgenden Witz, der keiner ist, aufzeigen möchte, dass wir bei hohem sozialen Standard konkurrenzfähig bleiben können.

Danach gibt der deutsche Bauunternehmer den erhaltenen Auftrag an den Polen, der an den Tschechen, an den Rumänen, an den Bulgaren und zuletzt an den Ukrainer weiter und alle verdienen an diesem Auftrag. Ziel muss es sein, dass der Ukrainer den Auftrag an den Russen weitergibt.

Das Besondere dabei ist, dass sich dadurch der Wohlstand in unserem Land erhalten lässt, ohne dass dies auf Kosten der anderen Länder geschieht.

Ganz im Gegenteil steigt der Lebensstandard auch in diesen Ländern, weil – so schon Marx – für den Menschen entscheidend ist, dass er in etwa so leben kann, wie sein Nachbar auch.

In einem Land, in dem jeder nur Motorrad fährt, bedarf es keines Autos.

Hinzukommt, dass die Unternehmer dieser Länder höhere Löhne zahlen müssen, damit ihre Arbeitnehmer im Land bleiben.

Gegenwärtig arbeiten etwa 3 Millionen Ukrainer in Polen.

Was ich nicht will ist, dass an den Ostgrenzen den NATO-Truppen auch chinesische Soldaten gegenüberstehen.

Was ich nicht möchte ist, dass Russlands Naturschätze von China verbraucht werden.

Auch erhoffe ich mir, dass parallel zum wirtschaftlichen Prozess die Demokratie in diesen Ländern Fortschritte macht.

Ich gehöre zu den Personen, die der Auffassung sind, dass unsere Kultur und Zivilisation durch die beiden Weltkriege derart schwer beschädigt worden ist, dass auch heute noch unser geistiges Erbe vor allem durch die Menschen erschaffen worden ist, welche im 19. Jahrhundert und zuvor und am Anfang des 20. Jahrhunderts geboren worden sind.

Wir später Geborenen sind Erben dieser »vergangenen« Kultur. Auch insoweit teilen wir ein gemeinsames Schicksal mit Russland.

Winfried Böttcher hat uns dies ausführlich und eindringlich seinem Buch »Russland – Die Ukraine – Der Westen« dargelegt.

Jochen von Strempel, Aachen

Einführung

Das Buch untersucht die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, mit dem Schwerpunkt seit der Annexion der Krim 2014 mit Rückbezügen seit Ende des Zeiten Weltkrieges.

Es wurde geschrieben zu unterschiedlichen Zeiten.

Der Teil 1 >Acht verlorene Jahre — 18. März 2014 bis 20. Februar 2022< besteht aus Beiträgen, die auch teilweise in russisch erschienen, aus der Zeit seit der Annexion der Krim 2014 bis zu der verstörenden Rede des russischen Präsidenten an sein Volk am Abend des 21. Februar 2022.

Während dieser Zeit habe ich angenommen, dass trotz der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim Russland ein Interesse daran hat, nicht endgültig mit dem Westen zu brechen. Ich war der festen Überzeugung, dass mit Vernunft und gegenseitigem Respekt, Russland und der Westen an einem Interessenausgleich gleichermaßen interessiert seien.

Aus diesem Grunde konzentriert sich dieser Teil des Buches darauf, Verständnis von Russland, seine Beweggründe für dieses oder jenes Handeln, seine Sichtweise, auch der Besetzung der Krim, aufzuzeigen. Das heißt aber nicht, dass ich Verständnis für die Annexion der Krim, für die militärische Intervention im Donbass aufbringe.

Es geht mir zu diesem Zeitpunkt um eine Analyse der vorfindlichen politischen Lage und um den Versuch einen möglichen Ausweg aufzuzeigen. Damals machte es keinen Sinn, gegenseitige Schuldzuweisungen der beteiligten Akteure vorzunehmen. Fest steht, dass auf beiden Seiten, sowohl der des Westens als auch der Russlands erhebliche Fehler gemacht wurden, sonst stünden wir heute nicht da, wo wir stehen.

In diesem Teil zeige ich einige Szenarien auf und mache den Vorschlag , wie mit Hilfe der Gradualismus-Theorie die Ukraine-Krise hätte ohne Krieg gelöst werden können.

Die Teile 2 bis 5 beschäftigen sich mit dem brutalen Krieg und seinen Folgen. Was hat den irren Rationalisten im Kreml bewegt, mit einem Krieg im 21. Jahrhundert die alte Ordnung zu zerstören, große Teile der Welt gegen sich aufzubringen? Liegen die tieferen Ursachen seines Handelns in einem christlichen Faschismus begründet? Wer sind seine philosophischen Einflüsterer? Welche geopolitischen Folgen hat diese Auseinandersetzung einer Systemkonfrontation?

Die Teile 2 bis 5 wurden nach der verstörenden Rede Putins an sein Volk am Abend des 21. Februar 2022 geschrieben.

Der Teil 6 untersucht die Gründe, warum es nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht gelungen ist, eine stabile, friedliche Nachkriegsordnung, wenigstens für den euroatlantischen Raum zu begründen. Vielversprechende Ansätze waren durchaus vorhanden.

Zum Schluss von Teil 6 werden Konsequenzen des Krieges und Möglichkeiten eines Verhandlungsfriedens aufgezeigt. Spielt Russland nach dem Krieg noch eine Rolle in Europa oder wendet es ich ganz dem eurasischen Raum zu?

Aber auch nach dem Krieg ist und bleibt Russland Europas Nachbar.

Teil 7 geht davon aus, dass nach einer kurzen Phase einer unipolaren Welt zu Beginn in den 1990-er Jahren zu Beginn des 21.Jahrhunderts der Versuch, die Welt nach westlichem Muster zu ordnen, gescheitert ist.

Zur Zeit streiten sich sechs Großmächte um weltweiten Einfluss: die USA, Europa, China, Russland, Japan, Indien. Diese gehören fünf unterschiedlichen Kulturräumen an, mit unterschiedlichen Geschichtsverläufen, Traditionen, religiösen Zugehörigkeiten und Selbstverständnissen.

Vornehmlich liegen Vorstellungen von drei großen Ordnungsmodellen im Streit um die Vorherrschaft untereinander:

das westlich-liberal-demokratische,

das autokratische, repräsentiert, durch China mit Russland,

das auf dem Islam beruhende islamische.

Genauer gehen wir der Frage nach, was den Westen als Wertegemeinschaft ausmacht und wie er sich in dieser Auseinandersetzung positionieren sollte.

Kann es eine Koexistenz der Systeme geben?

Teil 8 zeigt einen Anhang in drei Auszügen wichtiger Ost-West-Konferenzen. Was wurde verpasst, um gemeinsam mit Russland ein euro-atlantisches Friedensmodell zu entwickeln?

Teil 9 dokumentiert drei der vier Interviews, die ich dem >Trierischen Volksfreund< zum Konflikt in der Ukraine gegeben habe.

Teil 1

Acht verlorene Jahre

18. März 2014 bis 20. Februar 2022

Historische Skizze

Zum Selbstverständnis Europas als Wertegemeinschaft

Der Berliner Historiker Heinrich August Winkler (2012/2015) hat in einem großartigen Werk der Geschichtsschreibung erstmals den Westen vollständig beschrieben, wie er entstanden ist und wo seine Wurzeln liegen. Ich kann hier nur in gebotener Kürze einige wenige seiner Gedanken aufgreifen. Es überfordert natürlich eine solch kurze Analyse, den »welthistorischen Bogen der Geschichte« des Westens zu umspannen.

Worum es mir hier geht, ist zu verdeutlichen, wofür der Westen auch noch heute steht, wie er sich als Wertegemeinschaft sieht und sein politisches Handeln an seinen Werten ausrichtet oder auch nicht. Wichtig ist es hierbei, zu verstehen, ob, wo und seit wann sich das Selbstverständnis des Westens vom Selbstverständnis des Ostens unterscheidet. Ist dieser Unterschied die Quelle für heutige Missverständnisse zwischen Russland auf der einen und dem Westen auf der anderen Seite?

Schon sehr früh, in der griechischen Etymologie, findet man das Gegensatzpaar Orient und Okzident. Der Orient ist dem Okzident überlegen. Erst mit Christus wird der Orient dem Okzident gleichwertig, durch die Erlösung. Dort finden wir auch eine Erklärung für den Namen Europa, obwohl es nach Homer (8. Jh. v. Chr.) keinem Sterblichen vergönnt ist, zu wissen, woher der Name stammt.

Jedoch ist heute weitgehend gesichert, dass Europa vom arabischen eReB abgeleitet ist, wobei die Konsonanten R und B soviel bedeuten wie >Das Land der untergehenden Sonne<, >der Abend<, >der Westen<. Im Keltischen kennen wir dafür das Wort wrap.

Der Westen oder das Abendland ist geprägt durch die lateinische Westkirche im Gegensatz zur griechisch-orthodoxen Ostkirche. Endgültig wurde diese Trennung vollzogen nach der Teilung des Römischen Reiches 395 nach Christus in einen west- und einen oströmischen Teil.

Der fundamentale Unterschied zwischen den beiden Teilen bestand darin, dass sich im Westen ein »dualistischer Geist« entwickeln konnte. Der Sozialhistoriker Otto Hinze (1861-1940) meint damit, die »Ausdifferenzierung von geistlicher und weltlicher Gewalt«, »von fürstlicher und ständischer Gewalt«. Im Ostteil des Römischen Reiches, damit in der Orthodoxie, blieb die geistliche Gewalt der weltlichen untergeordnet. (vgl. Winkler, 2015, 582)

»Ohne Dualismus kein Pluralismus, kein Individualismus, keine Zivilgesellschaft und auch nicht die spezifische, von Max Weber herausgearbeitete, alle Lebensbereiche erfassende okzidentale Rationalität.« (ibid., 583)

Woraus bestehen nun die von Max Weber (1864-1920) herausgearbeiteten Charakteristika für den Westen?

»Nur im Okzident gibt es >Wissenschaft< in dem Entwicklungsstadium, welches wir heute als >gültig< anerkennen.« ... Dieser »systematische Fachbetrieb der Wissenschaft« wurde erst möglich durch »das eingeschulte Fachmenschentum«, für die staatliche Ebene durch das »Fachbeamtentum«, fachgeschult – technisch, kaufmännisch, juristisch.

Die »schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens« ist der Kapitalismus mit seinem gierigen Streben nach Gewinn. Unmittelbar damit hängen zusammen: die »Organisation freier Arbeit«, die »Trennung von Haushalt und Betrieb«, die »rationale Buchführung«, die Entstehung »eines rationalen Sozialismus«. Nicht zu vergessen die »rational harmonische Musik«. (vgl. Weber, 1-16)

Will man den Unterschied ums Ganze zwischen dem Orient und dem Okzident auf den Punkt bringen, dann ist es nach Weber: die Rationalität.

Zweifelsfrei gehören diese Charakteristika konstitutiv zum Westen. Erstaunlich ist, dass die politischen Errungenschaften des Westens vollständig fehlen: die Rechtsstaatlichkeit, die Gewaltenteilung, die Menschen- und Bürgerrechte, die Volkssouveränität, die repräsentative Demokratie. Endgültig setzten sich diese Ideen und Ideale der »Klassiker des europäischen Denkens« (vgl. Böttcher, 2014) konkret in der amerikanischen Revolution von Virginia am 12. Juni 1776 und in der von ihr beeinflussten Französischen Revolution vom 26. August 1789 durch. Seit diesen beiden in damaliger Zeit epochalen Revolutionen ist der Westen diesen Idealen verpflichtet. Sie bilden die Grundlage der westlichen Wertegemeinschaft.

Aber der Westen ist nicht nur »ein Schatzhaus von Idealen«. (vgl. Sternberger, 228-238) Der Westen »ist auch Ausprägung des totalen Staates. Der Westen hat das Führerprinzip bis zur vollendeten Perversion entwickelt, die Freiheit des Individuums der totalen Kollektivität geopfert, unendliches Leid über die Völker dieser Erde durch Kolonialismus und Imperialismus gebracht, Menschen zu Objekten im Sklavenhandel gemacht und das Gastrecht zur Fremdenfeindlichkeit pervertiert.« (Böttcher, 2011, 101) Zum Beispiel die Flüchtlingspolitik der EU im Mittelmeer.

Auch das ist der Westen. Wir können, ja, wir dürfen dies nicht aus unsrem Bewusstsein ausgrenzen. Wir müssen es als dazugehörige – wenn auch hässliche Wesenszüge der Europäer annehmen.

Mit dem Krieg und Sieg Japans über Russland 1905, dem ersten Mal in der jüngeren Geschichte, dass eine asiatische eine europäische Macht besiegte, und nach dem Ende der »Urkatastrophe« des 1. Weltkrieges bröckelte das bis dahin dominierende Überlegenheitskonzept des Westens. Es begann die Entkolonialisierung, intellektuell und real. Der Mythos der Überlegenheit wurde zerstört. Mahatma Gandhi (1889-1948) sagte voraus, mit dem Sieg würden »die Völker des Ostens endlich aus ihrer Lethargie erwachen.« (Gandhi, zitiert nach Mishra, 16)

Fast 120 Jahre später ist der Westen nur noch einer von mehreren Global Players und zwar mit abnehmender Bedeutung. Jedoch behält das »normative Projekt« des Westens mit seinen »Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität, der repräsentativen Demokratie« seinen Wert. Es kann nur durch den Westen selbst zerstört werden, wenn er sich nicht daran hält. (Winkler, 2015, 17/610)

Russland als Zentralmacht des Ostens, auch westlich beeinflusst

Das West-Römische Reich ging 476 n. Chr. unter, das Ost-Römische erst 1453 mit der Einnahme Konstantinopels durch die Türken. Spätestens seit dem Untergang des West-Römischen Reiches haben sich auch ideologisch der Westen und der Osten unterschiedlich entwickelt. Auf einige wichtige Punkte der Entwicklung des Westens habe ich hingewiesen.

Wie bereits angedeutet, spielten die Kirchen eine besondere Rolle. Der Dualismus zwischen weltlicher und geistlicher Macht im West-Christentum ermöglichte die Emanzipation des Staates von der Kirche, in vielen Ländern heute eine strikte Trennung. Anders in der byzantinisch-orthodoxen Kirche. Sie hatte sich von Beginn an der weltlichen Macht untergeordnet, bis heute. Die freiwillige Unterordnung bedeutet allerdings nicht, dass die russisch-orthodoxe Kirche keinen Einfluss auf die Staatsgeschäfte gehabt hätte. Nur in der Zeit des Kommunismus nach der Oktoberrevolution 1917, als Lenin (1870-1924) die Trennung von Staat und Kirche verfügte, die Kirche ihren Status als juristische Person verlor, ihr das Recht auf Eigentum genommen wurde, spielte sie eine untergeordnete Rolle.

Im heutigen Russland wird im Religionsgesetz der Russischen Föderation von 1997 ausdrücklich deren »spezieller Beitrag zum Aufbau des russischen Staatswesens und zur Entwicklung des Geistes und der Kultur Russlands« gewürdigt. Seit der Präsidentschaft Putins hat sie an Bedeutung noch zugenommen. Der Patriarch und Putin instrumentalisieren sich gegenseitig. Die Kirche ist eine wesentliche Stütze für den Machterhalt Putins, insbesondere auf dem flachen Land. Putin hat sich mit der Rückgabe des Kirchenbesitzes revanchiert. Heute gilt die Kirche als einer der größten Grundbesitzer Russlands.

Putin und der Patriarch Kyrill hängen gemeinsam nebeneinander auf Bildern in Klöstern, Kirchen und öffentlichen Gebäuden. Nur im Zarenreich gab es ein so inniges Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Der PR-Chef der Kirche spricht von einer »Symphonie der Kirche, des Staates und der Gesellschaft.« Jeder, der diese Symphonie stört, bekommt es mit dem Staat zu tun. Die zaristische Triade Rechtgläubigkeit – Autokratie – Volkstümlichkeit erlebt eine Renaissance. Seit 2013 ist die »Beleidigung religiöser Gefühle« ein Straftatbestand. Wer Schwule und Lesben auf offener Straße mit einem Antiseptikum brillantgrün besprüht und kennzeichnet, bleibt dagegen straffrei.

Hier ist nicht der Ort, näher auf die russische Geschichte einzugehen.

Nur zwei bedeutende Epochen-Ereignisse will ich kurz erwähnen, weil sie unmittelbar mit dem vorgestellten Thema zusammenhängen:

Zum einen geht es um den altrussischen Staat der Kiewer Rus im 9./10. Jahrhundert, ein Zusammenschluss der ostslawischen Stammesverbände, der Poljanen, Drewljanen, Krivitschen, Woltynier und anderer.

Dieses Ereignis habe ich deshalb herausgegriffen, weil es nach meiner Auffassung im kollektiven Gedächtnis der Russen noch heute eine Rolle spielt. So halte ich es für einen grundlegenden Fehler des Westens, nämlich, bei seiner Annäherung an die Ukraine, sich ahistorisch verhalten zu haben. Der Westen hätte in seiner Beziehung zur Ukraine die Tatsache berücksichtigen müssen, dass die Ukraine für Russland kein Land wie jedes andere ist.

Zweitens ist der Aufstieg Russlands unter Peter dem Großen (1672-1725) in unserem Zusammenhang besonders hervorzuheben. Er modernisierte, vor mehr als 300 Jahren, Russland, indem er sein Land europafähig machen wollte.

Bis heute war und ist Russland aktiver Mitgestalter europäischer Politik. Bismarck (1815-1898) warnt in einem Erlass an den deutschen Botschafter in Wien vor einem Krieg mit Russland:

»Selbst der günstigste Ausgang des Krieges würde niemals die Zersetzung der Hauptmacht Russlands zur Folge haben, welche auf den Millionen eigentlicher Russen griechischer Confession beruht.« Für Bismarck war Russland »dieses unzerstörbare Reich russischer Nation, stark durch sein Klima, seine Wüsten und seine Bedürfnislosigkeit.« (Bismarck, 1922, Dok.1340)

Bismarck sah Russland als Verbündeten und auch als Kontrahenten, in jedem Falle respektierte er es.

Respekt ist ein gutes Stichwort.

Seit Peter dem Großen und in seiner Folge Katharina der Großen (1729-1796) ist das Schicksal Russlands eng mit Europa, und das Schicksal Europas ebenso eng mit dem Schicksal Russlands verbunden. Gegenseitig sind wir auf gute Nachbarschaft angewiesen, da weder Russland die Europäische Union noch umgekehrt die Europäische Union Russland dominieren kann. Wenn dem so ist, dann reicht es nicht aus, sich mit einem Modus Vivendi zufrieden zu geben, nein, vielmehr ist konstruktive Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil zu suchen. Noch besser wäre es, einen Gedanken von Marc Aurel (120-180), dem Philosophenkaiser Roms, einem Vertreter der Stoa, aufzugreifen und leicht abzuwandeln, dass sich Russland und die anderen europäischen Länder zueinander verhalten wie die Häuser einer Stadt.

Dazu bedarf es seitens der EU der Behandlung Russlands auf Augenhöhe. Von Seiten Russlands bedarf es der Anerkennung der mühsam erworbenen Gemeinschaftsmethode der EU, nämlich Konflikte durch Dialog und Konsens zu regeln oder gar zu lösen.

Die Ungleichzeitigkeit von Politik und Kultur

Russland hat mit der Annexion der Krim und der Intervention in der Süd-Ost-Ukraine westliche Werte und bestehende internationale Verträge, von Russland mitunterschrieben, verletzt. (KSZE-Schlussakte 1975; die Charta von Paris 1990; das Budapester Memorandum 1994; NATO-Russland Grundakte 1997, vgl. dazu die Anhänge 1 bis 4) Dies ist die politische Dimension der heutigen westlich-russischen Beziehungen. Politik verharrt wieder mehr oder weniger in einem Freund/Feind-Denken, in einer psychologischen Erstarrung.

Als einziger Hoffnungsschimmer bleibt uns die Kultur. Im Moment kann man eine Ungleichzeitigkeit von Politik und Kultur feststellen. Während die Politik auf das Niveau einer Fast-Sprachlosigkeit herabgesunken ist, bleibt die Kultur als Werte-Klammer zwischen Russland und dem Westen intakt. Nur die Kultur sichert noch ein Rest-Vertrauen, nur sie bietet uns Orientierung in einer trostlosen Zeit.

Wie und was wir heute geworden sind, verdanken wir einem mehr als 5000-jährigem Ringen der Völker um Frieden, das sich in Europa zu einer einzigartigen europäischen Kultur verdichtet hat. Große wie kleine Völker haben hierzu ihren Beitrag geleistet, auch Russland. Nur mit Russland ist die europäische Kulturgemeinschaft gesamteuropäisch.

Vier kulturelle Hinweise aus vielen, vielen mehr mögen als Beleg genügen, um die Bereicherung gesamteuropäischer Kultur durch Russland zu zeigen.

Spätestens mit Fjodor M.