S Spur der Angst - Lisa Jackson - E-Book + Hörbuch

S Spur der Angst Hörbuch

Lisa Jackson

4,7

Beschreibung

In einem einsam gelegenen Internat geschieht ein Doppelmord. Bei seinen Ermittlungen trifft Detective Cooper Trent auf seine Ex-Geliebte Jules. Die attraktive Lehrerin ist in größter Sorge, denn auch ihre jüngere Schwester gehört zu den Internatsschülern. Als ein Blizzard die Schule komplett von der Außenwelt abschneidet, beginnt eine atemlose Jagd nach dem Killer, die Jules`Leben dramatisch verändern wird …

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Zeit:7 Std. 17 min

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Lisa Jackson

S.Spur der Angst

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungKapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigKapitel siebenundzwanzigKapitel achtundzwanzigKapitel neunundzwanzigKapitel dreißigKapitel einunddreißigKapitel zweiunddreißigKapitel dreiunddreißigKapitel vierunddreißigKapitel fünfunddreißigKapitel sechsunddreißigKapitel siebenunddreißigKapitel achtunddreißigKapitel neununddreißigKapitel vierzigKapitel einundvierzigKapitel zweiundvierzigKapitel dreiundvierzigKapitel vierundvierzigKapitel fünfundvierzigEpilogAnmerkung der AutorinDankLisa Jackson bei Knaur
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Für Hannah,

die immer in meinem Herzen ist.

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Kapitel eins

Hilfe … O Gott, so hilf mir doch jemand …« Die Stimme klang verzweifelt, flehend, wenngleich kaum hörbar, da im Hintergrund ein bekannter Song ertönte. Was man dagegen hören konnte, war das stetige Tropfen irgendeiner Flüssigkeit – wie dicke Regentropfen, die auf den Fußboden platschten.

Platsch. Platsch. Platsch.

Barfuß, nur mit einem Nachthemd bekleidet, tappte Jules Farentino zum Arbeitszimmer. Die Tür stand einen Spaltbreit offen. Ihr Herz pochte so laut, dass es in ihren Ohren dröhnte. Durch die Gardinen vor der Fensterglastür drang ein schwaches, zuckendes, bläuliches Licht.

»Beeil dich … es bleibt nicht mehr viel Zeit …«

Sie wollte laut rufen, doch sie blieb stumm. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, dass irgendetwas Finsteres, Böses vorgefallen war, ließ sie lautlos durch den eisigen Flur schleichen.

Vorsichtig stieß sie die Tür zum Arbeitszimmer ganz auf und spähte hinein. Die L-förmige Couch und der dazu passende Sessel wurden vom unheimlich flimmernden Licht des Fernsehers beleuchtet, der Ton war abgestellt.

Michael Jacksons »Billie Jean« klang aus den Lautsprechern der Stereoanlage, übertönt von dem anderen Geräusch: Platsch. Platsch. Platsch.

Unnatürlich laut.

Wie grollender Donner in ihrem schmerzenden Kopf.

Eine warme Flüssigkeit tropfte auf ihre nackten Zehenspitzen, und sie senkte ruckartig den Blick. Ihre Augen weiteten sich, als sie Blut von der langen Klinge des Messers tropfen sah, das sie in der Hand hielt. Die roten Tropfen wurden mehr und bildeten vor ihren Füßen eine Pfütze.

Was hatte das zu bedeuten?

Nein!

Jules Farentino versuchte zu schreien, doch erneut drang kein Laut aus ihrer Kehle. Sie schaute zur geöffneten Fenstertür hinüber und sah ihren Vater auf dem Fußboden in der Nähe des Couchtischs liegen.

»Hilf mir, Jules«, stieß er hervor. Seine Lippen bewegten sich kaum. Er sah zu ihr hoch – der Blick starr, eine klaffende Wunde auf der Stirn, ein roter, größer werdender Fleck vorn auf seinem zerknitterten weißen Hemd.

Blut sprudelte aus Rip Delaneys Mundwinkel, als er mit erstickter Stimme flüsterte: »Warum?«

Gelähmt vor Entsetzen, die Hand klebrig vom Blut, fing sie an zu schreien –

»Es ist sieben Uhr fünfundvierzig. Die Außentemperatur beträgt momentan kühle drei Grad, nur knapp über dem Gefrierpunkt, doch gegen Nachmittag erwarten wir Temperaturen von bis zu zehn Grad. Heute wird es nasskalt, am Vormittag ist mit schwerem Sturm zu rechnen. Und nun der Verkehrsbericht …«

Jules fuhr mit einem Ruck im Bett auf.

Ihr Herz raste, ihr Kopf schmerzte, die Stimme des Radiosprechers irritierte sie. Sie stellte den Wecker aus und erschauderte. In ihrem Schlafzimmer war es eiskalt, das Fenster stand einen Spaltbreit offen, Wind fegte herein, Regen prasselte aufs Dach wie ein nicht enden wollender Trommelwirbel.

»Verflixt«, flüsterte sie und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, während die Überbleibsel ihres immer wiederkehrenden Traums in eine dunkle, entlegene Ecke ihres Gedächtnisses glitten. Sie blickte auf die Uhr und stöhnte, als ihr bewusst wurde, dass sie vergessen hatte, den Wecker neu zu stellen.

Rasch stieg sie aus dem Bett und schreckte ihren Kater auf, der zusammengerollt auf dem zweiten Kissen geschlafen hatte. Diablo hob seinen grauen Kopf, streckte sich und öffnete den Mund zu einem Gähnen, wobei er seine nadelspitzen Zähne entblößte. Jules nahm ihren Bademantel vom Fußende des Betts und schlüpfte hinein. Zeit zum Duschen blieb keine, Zeit zum Joggen schon gar nicht.

Stattdessen spritzte sie sich etwas Wasser ins Gesicht, warf sich zwei extrastarke Kopfschmerztabletten in den Mund und spülte sie mit Leitungswasser hinunter. Als sie im Badezimmer fertig war, zog sie Jeans und ein XL-Sweatshirt an und setzte eine alte Kappe der Trail Blazers auf. Basketball hatte ihr schon immer gefallen. Anschließend machte sie sich auf die Suche nach den Schlüsseln, wozu sie ihre Handtasche durchwühlte und die Taschen der Jacke, die sie am Tag zuvor getragen hatte.

Ihr Handy in der Ladestation neben dem Bett klingelte.

Als sie es aufklappte, blickte ihr Shays Gesicht von dem kleinen LED-Display entgegen.

»Wo bist du?«, fragte ihre Schwester.

»Bin unterwegs.«

»Das ist zu spät! Wir sind fast da!«

»Jetzt schon?« Jules angelte nach ihren Turnschuhen und blickte erneut auf die Uhr. »Ich dachte, ihr würdet gegen neun aufbrechen.«

»Der Pilot hat angerufen. Es soll ein Sturm aufziehen oder so ähnlich. Keine Ahnung. Auf jeden Fall muss er früher losfliegen.«

»O nein! Sag ihm, er soll warten.«

»Das geht nicht. Kapierst du’s nicht? Sie meint es ernst, Jules«, sagte Shay, deren Stimme nun weit weniger tough klang. »Edie will mich loswerden.«

Nun, das war wohl etwas zu dramatisch formuliert, dachte Jules, aber so war Shay nun einmal.

Jules schlüpfte in die Schuhe, schnürte die Bänder und richtete sich wieder auf. »Dann sag eben ihr, sie soll noch warten.«

»Das sagst besser du ihr«, erwiderte Shay, und eine Sekunde später hörte Jules die Stimme ihrer Mutter, die sagte: »Hör mal, Julia, es gibt keinen Grund, darüber zu debattieren; ich habe keinerlei Einfluss darauf. Ich habe Shaylee erklärt, dass sie aufbrechen muss, sobald der Pilot eine Möglichkeit sieht, sie sicher zur Schule zu fliegen, und er sagt, er muss früher los, weil ein Sturm aufzieht.«

»Nein, Mom, warte. Du kannst sie doch nicht einfach –«

»Doch, das kann ich sehr wohl. Sie ist noch minderjährig. Ich bin ihre Erziehungsberechtigte. Außerdem geschieht das Ganze auf richterliche Anordnung. Dieses Gespräch hatten wir doch schon einmal, ich habe keine Lust, immer wieder darauf herumzureiten.«

»Aber –«

»Entweder sie fliegt, oder sie wandert ins Jugendgefängnis. Das ist ihre letzte Chance, Julia! Der Richter hat sie vor die Wahl gestellt, und sie, clever, wie sie ist, hat sich für die Schule entschieden, genau wie sie sich zuvor entschieden hatte, sich mit diesem Kriminellen zusammenzutun und in ein Verbrechen verwickeln zu lassen. Ihr Freund hatte nicht so viel Glück: Er hat keinen reichen Vater, der ihm einen Anwalt besorgt hat. Dawg wird für lange Zeit hinter Gitter wandern, deine Schwester kann sich glücklich schätzen!«

»Warte!«

Die Verbindung wurde abgebrochen. Besorgt stand Jules inmitten ihres unaufgeräumten Schlafzimmers und konnte es nicht fassen, dass ihre Mutter Shaylee tatsächlich zu einer weit entfernten Schule für problematische Jugendliche verfrachten ließ, einer Schule, die irgendwo am Ende der Welt mitten im Nichts zu liegen schien. Sie stürmte aus dem Wohnkomplex, in dem ihre Eigentumswohnung lag, und winkte Mrs. Dixon, ihrer Nachbarin, zu, die eben die nasse Zeitung hereinholte.

Dann sprang sie in ihren alten Volvo und machte sich auf den Weg zu der Adresse am Lake Washington, die sie zuvor von Edie bekommen hatte. Dort sollte Shaylee von dem Wasserflugzeug abgeholt werden, das sie zur Blue Rock Academy im südlichen Oregon bringen würde.

Jules drückte das Gaspedal durch.

Doch der Freeway glich einem Parkplatz, vor ihr erstreckte sich eine endlos scheinende Reihe roter Rücklichter, und der aktuelle Verkehrsbericht, der aus dem Autoradio dröhnte, konnte Jules’ Laune nicht gerade heben. Offenbar steckte jeder, der im Staate Washington ein Auto besaß, auf der Interstate 5 im Nieselregen fest. Die Scheibenwischer flappten träge hin und her. Erschöpft blickte Jules auf den Stau in die nördliche Richtung. Sie kämpfte gegen aufziehende Kopfschmerzen an, trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad und wünschte sich, sie wüsste eine schnellere Strecke zum See.

Als sie noch an der Bateman Highschool in Portland, Oregon, beschäftigt gewesen war, hatte sie sich ständig durch die Rushhour kämpfen müssen, doch seit sie ihre Stelle als Lehrerin im letzten Juni verloren hatte, waren ihr die Stoßzeiten erspart geblieben. Momentan arbeitete sie als Kellnerin im 101, einem Nobelrestaurant im Hafenviertel, und zwar abends, wenn nur wenig Verkehr herrschte – einer der wenigen Pluspunkte an diesem Job.

Nun kam Musik im Radio, doch auch das beruhigte ihre Nerven nur wenig, und mit jedem Wusch-wusch der Scheibenwischer verstärkte sich ihre Sorge. Sie würde zu spät kommen. Shay würde abfliegen, ohne dass sie sich von ihr verabschiedet hätte, und es gab nichts, was sie daran hätte ändern können – nicht mal Edie konnte das. Ein Richter hatte angeordnet, dass Shay in eine Art »Besserungsanstalt« geschickt wurde, um sich zu rehabilitieren.

Jules stellte einen Sender mit Achtziger-Jahre-Musik ein, gepfeffert mit Schnellfeuer-Updates von Brenda, der Verkehrsreporterin, die die kritischen Stellen auf den Freeways so schnell herunterratterte, dass man kaum etwas mitbekam.

Es hätte ohnehin nichts genutzt.

An diesem unglückseligen Märzmorgen schien auf sämtlichen Strecken das Chaos zu herrschen.

»Macht schon, macht schon«, murmelte Jules mit einem Blick auf die Uhr am Armaturenbrett ihres zwanzig Jahre alten Volvo-Coupés. Acht Uhr siebzehn. Höhepunkt der Rushhour. Um halb neun musste sie an der Anlegestelle sein, an der neben Booten auch das Wasserflugzeug festmachte, sonst wäre es zu spät. Sie setzte den Blinker und bog auf die Spur, die Richtung Evergreen Point Bridge führte. Die Brücke überspannte den Lake Washington.

Der Fahrer eines Sattelschleppers erlaubte ihr widerwillig, sich einzuordnen. Sie lächelte ihn dankbar an und winkte, während sie nach ganz rechts hinüberzog und den Wagen nach Osten lenkte. Beinahe wäre sie von einem Typen in einem schwarzen Toyota touchiert worden, der in sein Handy plapperte.

»Idiot!« Sie trat auf die Bremse und glitt in eine freie Lücke, gerade als die ersten Töne von Michael Jacksons »Billie Jean« ertönten. »O Gott.« Rasch stellte sie einen anderen Sender ein, doch »Billie Jean« hallte in ihrem Kopf nach.

Vor ihrem inneren Auge sah sie ihren Vater in einer Blutlache liegen und mit erlöschendem Blick zu ihr aufschauen, während immer wieder dieses eine Lied spielte.

Fast wäre Jules in den Pick-up vor ihr gekracht.

»Himmelherrgott!« Beruhige dich, sonst bringst du dich noch um! Adrenalin pulste durch ihre Adern. Zitternd atmete sie dreimal tief durch, dann suchte sie mit einer Hand in ihrer Tasche nach Schmerztabletten. Die, die sie zu Hause genommen hatte, halfen offenbar nicht.

Ihre Hand stieß auf das Döschen, das sie mit dem Daumen öffnete. Pillen flogen durch die Luft, aber das kümmerte sie nicht; sie nahm zwei und spülte sie mit dem Rest der Cola light runter, die noch vom Tag zuvor im Getränkehalter steckte.

Schaudernd schluckte sie die abgestandene, koffeinhaltige Brühe, während Michael Jackson in ihrem Kopf weiter seinen Song zum Besten gab.

»Du bist schon eine Irre«, teilte sie ihrem Konterfei im Rückspiegel mit. »Kein Wunder, dass du arbeitslos bist.« Natürlich, sie hatte die Stelle als Kellnerin, aber mit ihrer Karriere als Lehrerin war es vorbei. Dafür hatten ihr immer wiederkehrender Alptraum und ihre wahnsinnigen Kopfschmerzen gesorgt.

Im Rückspiegel blickten ihr unter dem Schirm der Baseballkappe zwei graue, leicht rebellische Augen entgegen – derselbe verborgene Hang zur Meuterei, der bei ihrer Schwester so stark ausgeprägt war.

Zumindest war Shaylee keine Heuchlerin, was Jules von sich selbst nicht gerade behaupten konnte.

In der Ferne heulte eine Sirene, dann tauchte ein Rettungswagen auf, der sich in entgegengesetzter Richtung durch die verstopften Fahrspuren schlängelte.

Jules’ Schädel pochte.

Obwohl es ein bewölkter Tag war, machte ihr das Licht zu schaffen.

Sie setzte die Sonnenbrille auf, die sie unter der Sonnenblende verwahrte.

»Nun fahr schon, fahr schon«, murmelte sie dem zischenden Laster vor ihr zu.

Nach weiteren zwanzig Minuten und einer zweiten Beinahekollision erreichte sie endlich die Ausfahrt und fuhr erleichtert die kurvenreiche Straße am Ufer des Sees entlang, dann bog sie scharf nach rechts und passierte ein offenes, schmiedeeisernes Tor zu einem Privatanwesen. Mit seiner langen, gepflasterten Auffahrt wirkte das riesige, dreigeschossige Backsteingebäude, das hinter den Fichten und Tannen zum Vorschein kam, eher wie ein Schloss denn wie ein normales Wohnhaus.

Sie parkte in der Nähe der Eingangstür, neben dem Lexus-Geländewagen ihrer Mutter. Dann eilte sie, ohne den Volvo abzuschließen, gebückt durch den mittlerweile prasselnden Regen zur Veranda und drückte unter dem schützenden Vordach auf die Klingel.

Binnen Sekunden öffnete eine geschäftig wirkende, spindeldürre Frau einen Flügel der massiven Doppeltür.

»Kann ich Ihnen helfen?« Die Frau trug eine schwarze Baumwollhose und einen seidig glänzenden Pullover, der ihre Wespentaille betonte. Ihr aschblondes Haar war perfekt geschnitten und toupiert, was ihren Kopf größer wirken ließ und ihr Alter vertuschte. Ihre straffe Haut, dezent geschminkt, hatte sie zweifelsohne einem Lifting zu verdanken. Sie sah Jules an, als hätte diese sie bei etwas äußerst Wichtigem unterbrochen.

Jules stellte fest, dass sie in ihrem nachlässigen Outfit und mit der Sonnenbrille vermutlich eher aussah wie ein Bankräuber als wie ein besorgtes Familienmitglied. Aber wen interessierte das schon?

»Ich möchte zu Edie Stillman. Sie ist mit ihrer Tochter hier, die mit dem Wasserflugzeug nach –«

»Ich glaube, sie sind am Anleger«, unterbrach die Frau sie mit einem einstudierten, aalglatten Lächeln, das ihre Missbilligung nicht verbarg. Sie bat weder um einen Ausweis, noch erkundigte sie sich danach, was Jules bei Shaylees Abflug zu suchen hatte. Desinteressiert wedelte sie mit der Hand in Richtung eines Plattenwegs, der um das Haus herumführte. »Es könnte sein, dass Sie zu spät kommen. Das Flugzeug wird jeden Moment starten.«

Über das Trommeln des Regens hinweg hörte Jules das Geräusch eines Motors, der stotternd zum Leben erwachte. Verflucht! Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und stürmte in die Richtung, in die die Frau gedeutet hatte.

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Kapitel zwei

Lassen Sie die Hunde nicht raus!«, rief die dünne Frau Jules warnend hinterher, die über die unebenen, vom Regen glitschigen Steinplatten rannte, wider alle Vernunft hoffend, das Unaufhaltsame zu verhindern. Sie bog um die Ecke der majestätischen Villa und zog die Kapuze ihres Pullovers über den Kopf, obwohl ihr der kalte Regen bereits den Nacken hinunterrann. Rhododendronsträucher zitterten im Wind.

Egal. Sie wollte Shay noch einmal sehen, und wäre es auch nur für eine Minute.

Vor einem großen, ebenfalls schmiedeeisernen Tor blieb sie resigniert stehen, doch dann entdeckte sie, dass der Schlüssel im Schloss steckte, sperrte auf und hörte im Weiterlaufen, wie das Tor mit einem lauten Scheppern hinter ihr zufiel. Sie sprang eine Reihe von Stufen hinunter.

Die Hunde – zwei schwarze Riesenpudel – rasten auf das Tor zu. Sie warf ihnen kaum einen zweiten Blick zu, als sie Richtung Anleger und Bootshaus eilte, wo Edie unter einem Schirm stand, an dem heftig der Wind zerrte. Hinter ihr glitt ein Wasserflugzeug über die stahlgraue, gekräuselte Oberfläche, dann stieg es in den grauen Himmel von Seattle auf.

»Na großartig!« Jules’ Mut sank. Sie war zu spät. Verdammt noch mal! »Du hast sie wirklich in den Flieger gesetzt?«

»Das hatte ich dir doch gesagt. Himmelherrgott, Julia, sie erfüllt lediglich die Auflagen des Richters!« Edie Stillman, bekleidet mit einem blauen Jogginganzug aus Seide, drehte sich zu ihrer älteren Tochter um. Ihr Gesichtsausdruck sagte alles, als sie Jules’ Klamotten musterte. »Hast du nichts Anständiges anzuziehen?«, fragte sie peinlich berührt. »Du siehst aus wie ein Verbrecher.«

Regen trommelte auf die Kapuze von Jules’ Sweatshirt und tropfte vom Schild ihrer Baseballkappe. »Genau das hatte ich beabsichtigt.«

»Man kann ja nicht mal sehen, dass du eine Frau bist!«

»Das hat doch hiermit nichts zu tun!« Jules blickte durch ihre Sonnenbrille in den verhangenen Himmel und sah das Wasserflugzeug in den Wolken verschwinden. »Ach, Mom, ich habe doch gesagt, ich würde sie bei mir aufnehmen!«

»Und Shay hat gesagt … lass mich überlegen, wie ihre liebenswürdige Bemerkung formuliert war …« Edie legte einen Finger an den Mundwinkel und tat so, als dächte sie nach. Dicke Tropfen prasselten auf die Holzbohlen des Anlegers und sprenkelten die Wasseroberfläche. »Oh, jetzt fällt es mir wieder ein. Sie sagte: ›Ich würde mich lieber zu Tode kotzen, als mit Jules zusammenzuwohnen!‹ Was für eine nette Art, ›Nein, danke!‹ zu sagen.«

»Schon gut, schon gut. Ich weiß, dass sie nicht unbedingt begeistert von dem Vorschlag war, aber der Ort, an den du sie schickst, ist wirklich nicht besser als ein Gefängnis!«, erwiderte Jules gereizt.

»Ein ziemlich angenehmes ›Gefängnis‹, mehr wie ein Ferienlager oder ein Ort der Besinnung. Hast du dir die Broschüren angesehen?«

»Natürlich, ich bin sogar auf die Homepage gegangen. Trotzdem: Es gibt dort Wachpersonal und Zäune und –«

»Dann wird sie vielleicht lernen, ihre Freiheit zu schätzen«, fiel Edie ihr ungerührt ins Wort.

»Zu welchem Preis?«, fragte Jules, deren Sweatshirt inzwischen völlig durchnässt war. Hätte sie bloß ihre Jacke übergezogen! Das Motorengeräusch des Wasserflugzeugs war mittlerweile im Nichts verhallt. Sie dachte an die Artikel, die sie im Internet aufgerufen hatte, als sie von Edies Plan erfuhr, Shaylee auf die Blue Rock Academy zu verfrachten. »Ich habe recherchiert und bin darauf gestoßen, dass es Ärger gegeben hat. Im letzten Jahr ist die Schule in die Schlagzeilen geraten – im negativen Sinne. Vergangenen Herbst ist ein Mädchen spurlos verschwunden, eine Lehrkraft hat sich mit einem Schüler eingelassen und –«

»Was Lehrer und Schüler betrifft – das passiert überall, was natürlich nicht heißt, dass ich es billige. Zumindest hat man ihn erwischt – ich habe mich nämlich auch informiert.«

»Sie«, korrigierte Jules. »Es war eine Lehrerin.«

»Das scheint heutzutage wohl an der Tagesordnung zu sein«, stellte Edie mit gerunzelter Stirn fest. »Nun, was dieses verschwundene Mädchen angeht, diese Lauren Conrad –«

»Sie heißt Conway.«

»Wie auch immer. Sie ist einfach abgehauen.« Feine Linien bildeten sich in Edies sorgfältig aufgetragenem Make-up. Obgleich sie schon in den Fünfzigern war, gab sie sich alle Mühe, mindestens fünfzehn Jahre jünger auszusehen. Doch angesichts der Anspannung, die auf ihr lastete, weil sie ihr missratenes Kind fortschicken musste, versagten Kosmetika und die halbjährlichen Botox-Injektionen heute ihren Dienst.

»Niemand hat eine Ahnung, was mit Lauren Conway passiert ist, Mom«, wandte Jules ein. »Das weiß ich, denn ich habe die Sache verfolgt, seit du mir mitgeteilt hast, dass du Shay in dieses Institut schickst. Von Lauren fehlt immer noch jede Spur.«

»Vielleicht ist sie schon öfter ausgerissen und untergetaucht! Wirklich, Jules, diese Schule ist auf straffällig gewordene Jugendliche spezialisiert!«

»Und deshalb ist es nicht weiter schlimm, wenn eine Schülerin verschwindet? Selbst wenn sie tatsächlich ausgerissen ist, ist die Blue Rock Academy verantwortlich für ihre Sicherheit. Darum geht es doch bei einer solchen Institution: gefährdete Jugendliche zu schützen!«

»Gib’s auf.« Edie kniff die Lippen zusammen. »Ich kann zwar nicht die Schulphilosophie zitieren, aber vertrau mir: Das ist das Beste für Shaylee und mich. Du weißt, dass ich alles versucht habe, doch nichts hat funktioniert. Ich habe sie zu Beratungsstellen geschleppt, wenn sie deprimiert war, habe sie beim Taekwondo und sogar beim Kickboxen angemeldet, damit sie ihre Aggressionen abbauen kann. Ich habe ihr Kunst-, Tanz- und Gesangsstunden bezahlt, um ihre Kreativität zu fördern. Und Perlenstickerei, erinnerst du dich? Das muss man sich mal vorstellen – Perlenstickerei! Und was war der Lohn dafür? Hm?« Edie kochte vor Zorn. »Ich werde dir sagen, was der Lohn dafür war: Sie hat Drogen genommen. Sie ist wegen Diebstahl und Vandalismus festgenommen worden, ganz zu schweigen davon, dass sie von drei Schulen geflogen ist!«

Um ihre Worte zu unterstreichen, hielt Edie drei zitternde, beringte Finger in die Höhe und wedelte damit vor Jules’ Gesicht herum. »Drei!«, schimpfte sie. »Das ist alles, was sie zustande bringt, und das bei einem IQ, der sich irgendwo in der Stratosphäre bewegt, und mit sämtlichen Privilegien, die man sich nur vorstellen kann! Hängt sich an einen Kriminellen namens Dawg!«

»Sie ist ein junges Mädchen. Vielleicht braucht sie einfach besondere Aufmerksamkeit.«

»Oh, verschone mich. Ich habe sie mit Aufmerksamkeit überschüttet. So viel hast du nie bekommen!«

Jules war sich da nicht so sicher.

»Das hat mit Mutterliebe nichts mehr zu tun, und auch Vaterliebe hin oder her, erspar mir dieses pseudopsychologische Gebabbel, Jules. Das zieht bei mir nicht!«

»Jetzt beruhige dich erst mal.«

»Nein! Hast du ihr neuestes Tattoo gesehen? Das Kreuz auf ihrem Unterarm? Was hat sie sich dabei gedacht?« Edie warf die Arme in die Luft und hätte beinahe ihren Regenschirm fallen gelassen. »Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft Shay mit einer Tätowierung, einem Piercing oder einer gestohlenen CD nach Hause gekommen ist. Und ihre Ausdrucksweise … unterstes Gossenniveau!«

»Wen kümmern schon ein paar Tattoos oder Nasenringe? Sie hat niemandem etwas getan!«

»Tattoos fallen unter Selbstverstümmelung und weisen auf tiefgehende Probleme hin. Sie hat also sehr wohl jemandem etwas getan, und zwar sich selbst!«

»Der Ansicht bin ich nicht.«

Edies Augen loderten. »Warum hat sie dann solche Schwierigkeiten mit dem Gesetz? Ich fasse es einfach nicht!«

»Hast du mal erwogen, ihr einen neuen Psychologen zu suchen oder es mit einem Psychiater zu probieren?«

»Sie war bei einem halben Dutzend.«

»Gib ihr eine Chance.« Es machte Jules zu schaffen, dass ihre Mutter Shay gegenüber so hart war. »Immerhin war sie an jenem Tag zu Hause, erinnerst du dich? Sie war im Haus, als Dad umgebracht wurde!«

Edies Gesicht versteinerte. »Du warst auch da.«

»Und du weißt, wie sehr mich das mitgenommen hat. Shay war erst zehn, Mom!« Mittlerweile stand Jules kurz davor, zu hyperventilieren. »Zehn! Ein Kind!«

»Ich weiß«, entgegnete Edie ruhig, und ein Teil ihrer Selbstgerechtigkeit verschwand. »Das war eine schlimme Zeit für uns alle«, räumte sie ein und richtete ihren Regenschirm, den eine heftige Windböe nach hinten gerissen hatte.

Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte Edie aufrichtig traurig, und Jules fragte sich, ob Rip Delaney die große Liebe ihrer Mutter gewesen war. Doch sie schob den Gedanken rasch beiseite, denn sie wusste es besser: Das war bloß eine ihrer albernen Wunschvorstellungen, der Traum einer Tochter, die stets gedacht hatte, ihre Eltern gehörten für immer und ewig zusammen, die begeistert gewesen war, als die beiden nach mehrjähriger Trennung wieder zueinandergefunden hatten, nur um zu erleben, wie sich ihr Traum in Luft auflöste. Rip und Edie hätten nie wieder zusammenkommen dürfen; die sprunghaften Launen und die Auseinandersetzungen, die sich während der Jahre ihrer Trennung gelegt hatten, fingen von vorn an, sobald die räumliche Distanz aufgehoben war. Nur Wochen, nachdem sie ihr Ehegelübde erneuert hatten, behauptete Edie in einem rasenden Eifersuchtsanfall, Rip würde sich mit einer anderen Frau treffen, und es stellte sich heraus, dass sie recht hatte. Rip Delaney war einfach nicht für die Ehe geschaffen, konnte nicht treu sein, obwohl Jules so sehr gehofft hatte, er würde sich ändern.

»Ich hätte ihn nie erneut heiraten dürfen«, hatte Edie nicht lange nach ihrer zweiten Hochzeit eingeräumt. »Die Katze lässt das Mausen nicht, das habe ich jetzt begriffen.«

Das Bild von ihrer Mutter, mit roten, vom Weinen geschwollenen Augen, hatte Jules schon lange vor dem Tod ihres Vaters verfolgt. Wenn der Apfel tatsächlich nicht weit vom Stamm fiele, waren Shay und sie wohl dazu verdammt, ein sehr einsames Leben zu führen.

Edie riss den Blick vom See los und seufzte theatralisch. »Sie fortzuschicken soll keine Strafe sein. Es ist lediglich der letzte Strohhalm. Sie braucht Hilfe, Jules, Hilfe, die sie von dir oder mir oder einem Therapeuten nicht annimmt. Vielleicht können sie ihr dort helfen. Bei Gott, das hoffe ich. Ist das nicht zumindest den Versuch wert?« Sie schaute hinauf in den Himmel, über den der Wind dunkle Wolken trieb. »Nun, es ist sowieso zu spät, wir können es nicht mehr ändern. Jetzt untersteht sie der Obhut anderer. Beten wir, dass es funktioniert!« Energisch machte sich Edie daran, die Stufen zum Plattenweg hinaufzusteigen, eine schlanke Frau, unbeugsam in ihren Überzeugungen.

»Warte eine Sekunde. Warum hat man Shay hier abgeholt, in dieser Prachtvilla? Kommt dir das nicht ein bisschen seltsam vor?« Jules folgte ihrer Mutter die Stufen hinauf.

»Eigentlich nicht, nein.«

»Nein? Edie?« Jules konnte es nicht fassen. »Du findest es nicht merkwürdig, dass du sie nicht selbst in diese Schule bringen darfst … oder dass sie keinen ganz normalen Linienflug zum nächsten Flughafen nehmen konnte, zum Beispiel zu dem in Medford?«

Edie ließ sich nicht aus dem Tritt bringen. »So wird das nun einmal gehandhabt. Dieses Haus gehört der Schule.«

»Du machst Witze!«

»Nein, ganz sicher nicht. Es wird vom Direktor genutzt, von Reverend Lynch.«

»Ach?« Jules war sprachlos. »Ein Prediger wohnt hier?«

»Zumindest zeitweilig, soweit ich weiß. Wenn er nicht in der Schule ist.«

Jules betrachtete das ausgedehnte, sanft abschüssige Anwesen mit den ordentlich gemähten Rasenflächen, den geschnittenen Sträuchern und den gepflegten, zum Teil mit Platten belegten oder gepflasterten Gartenwegen, die sich zu dem breiten Betonanleger mit dem langen Holzsteg und dem ziegelgemauerten Bootshaus hinabwanden. Die Villa war von den angrenzenden Grundstücken durch eine hohe Mauer abgeschirmt, hoch aufragende Fichten, langnadelige Kiefern und weißstämmige, um diese Jahreszeit kahle Birken bildeten den Hauptbaumbestand. Die einzigen anderen Häuser, die von hier aus zu sehen waren, lagen in weiter Ferne auf der gegenüberliegenden Seite des Sees.

Auf Jules wirkte das Anwesen des Reverends in der Tat spektakulär. Nicht unbedingt ein Arme-Leute-Quartier.

»Dann gilt dieser ›Ich verzichte auf jegliche Art von irdischem Besitz‹-Grundsatz wohl nicht für ihn.«

»Nun, vielleicht gehört die Villa der Schule, und er wohnt hier lediglich; das kann ich nicht mit Sicherheit sagen.«

Jules stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich nehme mal an, die Blue Rock Academy ist nicht gerade billig.«

Edie schürzte die Lippen. »Qualität hat ihren Preis, Jules, das solltest du wissen. Im Falle deiner Schwester ist Geld kein Thema. Ich habe mit Max gesprochen. Er hat seine Unterstützung zugesagt.«

Max Stillman war Shaylees Vater – besser gesagt: Erzeuger – und Erbe des »Stillmanschen Bauholzvermögens«, wie Jules sich anhören musste, seit ihre Mutter ihn vor fast neunzehn Jahren kennengelernt hatte. Theoretisch wäre Shaylee die Nächste in der Erbfolge, doch Max hatte seiner Tochter nie nahegestanden, und das wenige Interesse, das er für Shaylee aufgebracht hatte, war gänzlich erloschen, seit seine zweite und sehr viel jüngere Frau Hester seinen Sohn Max junior zur Welt gebracht hatte. Max war vor gut vier Jahren geboren, kurz nachdem Shaylee »schwierig« geworden war – eine Bezeichnung, die sich schon bald zu »ein Problemfall« ausgewachsen hatte.

Jules rückte ihre Basketballkappe zurecht. »Es kommt mir einfach nicht richtig vor … Shay irgendwo ans Ende der Welt abzuschieben.«

»Ich tue lediglich das, was der Richter angeordnet hat«, wiederholte Edie mit fester Stimme und nahm die letzten Stufen vor dem Plattenweg, der zurück zum Haus führte. Einer der schwarzen Riesenpudel raste die breite Veranda auf der Rückseite des Hauses entlang, während sein Kumpel eifrig eine tropfnasse Azalee beschnupperte.

»Nur für den Fall, dass du es vergessen haben solltest: Shay hat keine Wahl – die Blue Rock Academy oder das Jugendgefängnis, und das auch nur, weil sie noch minderjährig ist. Sie wird im Juni achtzehn, dann gibt es keinen Freifahrtschein mehr.« Edie erschauderte. »Ich habe getan, was der Richter verlangt hat: die Schule ausgewählt, den Papierkram erledigt, Shay dorthin verfrachtet. Ich habe sogar mit deiner Cousine Analise gesprochen: Sie war ebenfalls dort, wegen Drogenproblemen, wie du dich vielleicht erinnerst. Ein Junkie. Hat ihr Leben umgekrempelt und besucht nun eine Schwesternschule. Also mach mir wegen dieser Sache bitte kein schlechtes Gewissen, Julia. Die Schule ist in Ordnung.«

»Was ist mit Lauren Conway?«

»Es tut mir leid, dass sie vermisst wird, aber für mich klingt das eher nach einem Fall für die Polizei.« Edie warf ihr einen finsteren Blick zu. »Du solltest nach vorn blicken, Julia. Es wird Zeit, dass du dein eigenes Leben in die Hände nimmst und betest, dass deine Schwester die Gelegenheit zu einem Neuanfang tatsächlich nutzt.«

Edie berührte Jules’ nassen Ärmel, der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde weicher. »Du musst nicht die Verantwortung für die ganze Welt auf deine Schultern nehmen. Du bist nicht einmal siebenundzwanzig – du solltest dein Leben genießen! Stattdessen benimmst du dich wie eine Vierzigjährige: machst dir Sorgen um Shaylee, obwohl das zu nichts führt.«

Eine Windböe zerrte an Edies Haar. »Ich weiß, dass das mit Rips Tod zusammenhängt, Liebes, und ich wünschte bei Gott, du wärst in jener Nacht nicht daheim gewesen …« Ihre Stimme verklang, aber nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Ich wünschte, niemand von uns wäre da gewesen. Ach, verdammt.« Sie blinzelte, mühsam gegen die Tränen ankämpfend. Dann drehte sie sich rasch um und eilte den Plattenweg entlang Richtung Tor, während Jules, verblüfft über diesen Anflug von Verständnis, allein im Regen zurückblieb.

»Wow«, flüsterte sie und räusperte sich.

Plötzlich fragte sie sich, wo die Hunde geblieben waren. Sie hatte sie nicht ins Haus schlüpfen sehen, doch sie waren verschwunden.

Jules folgte ihrer Mutter durch das Seitentor und schlug den Weg zur Vorderseite der Villa ein, wo Edie schon in ihrer Handtasche nach den Autoschlüsseln wühlte. Als sie sie gefunden hatte, blickte sie auf und musterte Jules kurz. Die mütterliche Sorge war aus ihrem Gesicht verschwunden. »Ich dachte, du hättest heute früh ein Einstellungsgespräch.«

Jules merkte, wie sie sich verspannte. Es war schwer, mit den schwankenden Launen ihrer Mutter mitzuhalten. »Ich habe es abgesagt, da mir das hier wichtiger erschien.«

»Das war dumm.« Mit gerunzelter Stirn stieg Edie in ihren Wagen. »Du kannst es dir nicht leisten, eine solche Gelegenheit einfach verstreichen zu lassen. Es gibt um diese Jahreszeit nicht viele Stellenangebote für Lehrpersonal, Julia.« Edie sprach, als hätte sie Erfahrung auf diesem Gebiet, dabei hatte sie in ihrem Leben kaum einen Tag gearbeitet.

»Ich denke, sie stellen ohnehin nur jemanden von einer anderen Schule ein«, erklärte Jules, was nicht ganz der Wahrheit entsprach. »Eine Freundin von mir arbeitet als Sekretärin dort, und sie sagte, sie hätten jemanden gefunden, der sich versetzen lassen würde.«

»Mein Gott, Julia, dann arbeite eben als Springerin! Es sei denn, du willst Kellnerin bleiben. Und warum kann deine ›Freundin‹ nicht ein gutes Wort für dich einlegen?« Edie malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, um zu zeigen, dass sie Jules der Lüge verdächtigte.

Sie hatte recht.

»Ich verstehe dich nicht, Julia. Du hast eine gute Ausbildung, du hattest einen großartigen Ehemann –«

»Der mich betrogen hat. So großartig war er nicht, Mom. Lass uns jetzt nicht von Sebastian anfangen. Es gibt Dringenderes.«

Edie schlug die Autotür zu und ließ den Motor an, dann fuhr sie das Fenster herunter, um das Gespräch fortzusetzen. »Ich weiß, dass du dir Sorgen um Shay machst, Julia. Das tue ich auch. Aber es ist Zeit, dass jeder von uns die Verantwortung für sein Handeln übernimmt. Nicht nur Shay, das Gleiche gilt für dich.« Damit setzte sie den wuchtigen Lexus SUV zurück, stellte die Automatik auf D und dröhnte davon.

Nass bis auf die Haut glitt Jules hinter das Steuer ihres Volvos und zog sich die Kapuze vom Kopf. Der alte Wagen sprang gleich beim ersten Versuch an. Wie ihre Mutter rollte Jules die Zufahrt der riesigen Villa hinunter Richtung Straße. Als sie in den Rückspiegel schaute, sah sie die spindeldürre Frau mit dem gezwungenen Lächeln durch die Scheibe neben der massiven Eingangstür blicken.

Ein Schauder rieselte Jules’ Rückgrat hinab, ihre Zähne klapperten.

Das war ein höllischer Tag.

Und es war nicht einmal Mittag.

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Kapitel drei

Cooper Trent überquerte zügig den Campus, den Kopf gegen den scharfen Wind gebeugt, der noch mehr Schnee anzukündigen schien. Der Boden war noch weiß vom letzten Blizzard, eine eisige Decke lag auf dem trockenen Gras und klammerte sich hartnäckig an die Zweige und Äste der umstehenden Bäume.

Trent blieben nur fünfzehn Minuten zwischen den Unterrichtsstunden, und er war zu seinem Boss beordert worden: Reverend Tobias Lynch – Hochwürden höchstpersönlich. Er glaubte zu wissen, warum: Es ging das Gerücht, die Blue Rock Academy habe einen neuen Schüler aufgenommen, und Trent vermutete, dass er oder sie auf dem Weg hierher war. Genaueres wusste er nicht – wusste niemand.

So funktionierte das hier: Nach außen hin präsentierte sich die Schule sympathisch, freundlich und weltoffen, doch hinter geschlossenen Türen regierte Lynch die Blue Rock Academy mit eiserner Hand. Natürlich war in allen Gruppen stets die Rede von persönlicher Freiheit, offenen Diskussionen und aktiver Problemlösung, doch in Wahrheit fanden hier mehr inoffizielle Versammlungen und geheime Besprechungen statt, als man sich vorstellen konnte.

Infolgedessen brodelte unablässig die Gerüchteküche, und Trent, der soeben das Verwaltungsgebäude erreicht hatte, mutmaßte, dass er als Gruppenleiter den neuen Schüler in Empfang nehmen sollte.

Auch gut, dachte er. Er unterstützte das Kollegium noch nicht lange und hätte gern mehr Verantwortung übernommen, doch dazu musste er sich das Vertrauen von Lehrern und Schülern erst noch verdienen. Auf keinen Fall durfte er riskieren, dass jemand die wahren Beweggründe für seine Bewerbung bei der Blue Rock Academy herausfand. Obwohl er sämtliche erforderlichen Qualifikationen für die Position eines Sportlehrers mitbrachte, arbeitete er in Wirklichkeit undercover – als Privatdetektiv, der nach Anhaltspunkten für das Verschwinden von Lauren Conway suchte. Die vom Büro des Sheriffs angestellten Ermittlungen hatten laut Cheryl und Ted Conway, den Eltern des vermissten Mädchens, zu keinem Ergebnis geführt.

Er eilte die beiden breiten Stufen zum Verwaltungsgebäude hinauf und schwang die Glastür zur Rezeption auf. Warme Luft und der Geruch nach Reinigungsmittel schlugen ihm entgegen.

Er winkte Charla King, als er an ihrem Schreibtisch vorbeikam, und wurde mit einem ihrer frostigen Blicke belohnt. Meine Güte, war die verklemmt! Charla war für das Sekretariat und die Buchhaltung des Instituts verantwortlich, und sie nahm ihren Job sehr ernst. Immer. Mitte fünfzig, mit kurz geschnittenen Haaren, randloser Brille und einem verkniffenen, wenngleich schlaffen Kinn, schien sie sich von Gott persönlich dazu berufen zu fühlen, die Bücher penibel bis auf den letzten Cent zu führen und dafür zu sorgen, dass die Blue Rock Academy immer in den schwarzen Zahlen blieb. Erbsenzählerin.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Computer und den Zahlenreihen auf dem Bildschirm zu, während Trent zwischen den gläsernen Zellen hindurchmarschierte, in denen weitere Mitarbeiter emsig die ihnen zugewiesenen Aufgaben erledigten.

Seine Stiefel hinterließen nasse Spuren von geschmolzenem Schnee auf der kurzen Treppe hinauf zu Lynchs Geschäftsbüro, dem Ort, an dem sich der Reverend mit weltlichen Dingen befasste. Für schulische Belange verfügte er über ein kleineres, gemütlicheres Büro innerhalb des Kirchenkomplexes. Jener von Regalen voller Bücher gesäumte Raum war Gesprächen über den Glauben, persönliche Probleme oder spirituelle Fragen vorbehalten. Dr. Lynch benutzte ihn auch, wenn er über theologische Dinge nachdenken wollte.

Hieß es zumindest.

Trent klopfte an die halb geöffnete Tür, dann betrat er den mit Kiefernholzpaneelen ausgekleideten Raum. Tobias Lynch saß an seinem überdimensionierten Schreibtisch.

»Trent!«, rief er mit einem breiten Lächeln und deutete auf einen der Besucherstühle. »Nehmen Sie Platz.«

Als Trent auf den Schreibtisch zutrat, bemerkte er Adele Burdette, die so zerstreut wirkte wie immer. Die Oberstudienrätin, die gleichzeitig als Vertrauenslehrerin die weiblichen Schüler betreute, stand am Fenster, eine Hüfte gegen die Fensterbank gelehnt, und blickte hinaus auf die aufgewühlte Wasseroberfläche des Lake Superstition. Sie war Mitte vierzig, durchtrainiert und kräftig, eine sauertöpfische Frau, die keine Mühe an Make-up verschwendete. Ihr lockiges rotes Haar, durchzogen von ersten silbernen Strähnen, war zu einem straffen Pferdeschwanz frisiert.

»Wir haben bloß ein paar Minuten«, sagte Lynch, »aber ich dachte, ich bringe Sie schnell auf den neuesten Stand, unseren Neuzugang betreffend.«

Lynch kauerte mit hochgezogenen Schultern hinter seinem Schreibtisch wie ein moderner Abraham Lincoln; hinter seiner getönten Brille verbargen sich Augen, die dunkel waren wie Obsidian, Augen, so vermutete Trent, denen nicht viel entging. »Ich weiß, es ist sehr kurzfristig, aber manchmal ist das hier eben so.« Seine Lippen, umrahmt von einem Schnurr- und Kinnbart, verzogen sich zu einem kurzen Lächeln. Hier in Blue Rock erfüllte Lynch viele Rollen: Die des religiösen Oberhaupts genau wie die des Religionslehrers, er war Oberstudiendirektor und Vertrauenslehrer für die Jungen und gleichzeitig Dekan der Fakultät. »Ich habe die Papiere heute Morgen per Fax bekommen. Unser Neuzugang heißt Shaylee Stillman, genannt ›Shay‹.«

Trents Muskeln verspannten sich. Nein, das konnte nicht sein. Nicht Jules’ Schwester. Er musste sich verhört haben.

»Sie ist mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und ihre Mutter befürchtet, dass es nach ihrem achtzehnten Geburtstag eher noch schlimmer werden wird.«

Burdette nickte. »Die Mutter hat recht; ich habe die Unterlagen gelesen.«

»Woher kommt sie?« Trent zwang sich, sich gespielt lässig zurückzulehnen. Wenn die neue Schülerin tatsächlich Shay Stillman war, würde das seine Aufgabe hier kompliziert machen. Äußerst kompliziert.

»Aus Seattle«, antwortete Burdette.

Verdammt!

»Aus Ihrer Gegend«, fügte Lynch hinzu.

»Ich komme aus Spokane.«

»Oh. Richtig.« Lynch fuhr sich mit einem Finger über den spärlichen Bart und überflog das oberste Blatt des vor ihm liegenden Papierstapels.

Burdette blickte wieder aus dem Fenster.

Sehr viele Gedanken schienen sie sich nicht gerade um die neue Schülerin zu machen, dachte Trent.

»Wie dem auch sei«, fuhr Lynch nach einer kleinen Weile fort, »ich habe sie Ihrem Trupp zugeteilt.« Er schob die gefaxten Unterlagen in Trents Richtung. »Hier drin steht alles, was Sie über sie wissen müssen. Gehen Sie bitte den Fragebogen durch.«

»Klassischer Fall«, murmelte Burdette.

»Wann wird sie hier erwartet?«

»Innerhalb der nächsten Stunde.«

»So bald schon?« Trent versuchte, sich seine Unruhe nicht anmerken zu lassen.

»Sie ist bereits unterwegs. Der Pilot hat vorhin gemeldet, sie seien nördlich von Eugene.«

Trent setzte ein ungerührtes Gesicht auf, doch innerlich kämpfte er gegen die aufsteigende Panik an. Wenn sie die Shay Stillman war, die er kannte – und es klang ganz so, als wäre sie es –, dann war sie Jules’ Halbschwester und ein absoluter Satansbraten. Das Alter stimmte, der Hang zu kriminellem Verhalten ebenfalls, und sie kam aus der Gegend um Seattle. Das würde Unannehmlichkeiten für Trent bedeuten. Große Unannehmlichkeiten.

»Und Sie sind sich sicher, dass sie in meinem Trupp am besten aufgehoben ist?«

»Warum nicht?«, fragte Lynch mit gerunzelter Stirn. Trotz seines Geschwafels über offene Diskussionen und Respekt gegenüber anderer Leute Meinung war er so nachgiebig wie eine Eiche. Dem Reverend gefiel es gar nicht, wenn man sich ihm entgegenstellte. Obgleich Trent noch nicht lange am Institut war, hatte er das begriffen. Lynch selbst sah sich als liebenswürdigen, umsichtigen und gerechten Schulleiter, der Schüler und Personal mit fester, doch wohlüberlegter Hand führte, dabei war er in Wahrheit davon überzeugt, nur er allein könne die »richtigen« Entscheidungen treffen. Sein Wort war Gesetz.

Dennoch musste sich Trent gegen diese Entscheidung auflehnen; er durfte Jules’ Schwester nicht so nahe kommen, das war viel zu gefährlich. Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Mitunter bedarf ein schwieriges Mädchen einer starken weiblichen Führungsperson, die eher nachempfinden kann, was es durchmacht.«

»Nein.« Lynch winkte ab. »Die bestimmt nicht – frauendominiert, verwirrt, was Vaterfiguren anbelangt.« Er lächelte. »Das ist perfekt für Sie.«

»Rhondas Trupp ist voll, genau wie meiner«, erklärte Burdette, »außerdem haben wir noch nie geschlechtsspezifische Zuteilungen vorgenommen. Das ist doch keine große Sache. Solange wir keine weitere Lehrkraft finden, die eine eigene Gruppe übernimmt, müssen wir alle unseren Beitrag leisten – mehr als das, um genau zu sein. Wenn es ein Problem gibt, kann sich das betroffene Mädchen selbstverständlich an jeden Einzelnen von uns wenden, und es gibt ja auch noch die Beratungsgespräche für die Schülerinnen.« Ohne sich vom Fenster abzuwenden, warf sie Trent einen Blick über die Schulter zu, die Augenbrauen leicht gefurcht. »Oder haben Sie ein Problem damit, das Mädchen in Ihren Trupp aufzunehmen?«

O ja, und zwar ein gewaltiges. »Ganz und gar nicht«, log er und hoffte, überzeugend zu klingen. »Ich habe lediglich laut nachgedacht und mich gefragt, was wohl das Beste für sie wäre.«

»Gut.« Der Reverend wirkte erleichtert. »Die Bedürfnisse unserer Schüler stehen bei uns stets an erster Stelle. Da in Ihrem Trupp noch ein Platz frei ist, kommt sie zu Ihnen.« Er nickte, wie um seine eigenen Worte zu bekräftigen und sich im Stillen zu gratulieren, wieder einmal gute Arbeit geleistet zu haben. »Könnte interessant werden.«

Mehr als interessant. Trent fiel auf, dass die argwöhnischen Runzeln auf Burdettes Stirn nicht ganz verschwunden waren. Die Schule stand unter Druck – mehr, als irgendwer zugeben würde. Dass eine Lehrkraft fehlte, war nur eins von vielen Problemen.

Lynch zwang sich zu einem Lächeln und stand auf, womit er Trent und Burdette bedeutete, dass die Besprechung vorbei war.

Trent konnte es kaum erwarten, endlich Lynchs Büro zu verlassen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, musste sich überlegen, wie er Shay begegnen sollte. Würde sie sich an seinen Namen erinnern? Sie hatten sich nie persönlich kennengelernt, aber es war durchaus möglich, dass Jules von ihm gesprochen hatte.

Und zwar bestimmt nicht gerade freundlich. Ihre Trennung war alles andere als einvernehmlich verlaufen.

Großartig.

Einfach verdammt großartig.

Die Anwesenheit von Shaylee Stillman würde seine Ermittlungen verkomplizieren, und das konnte er gar nicht gebrauchen. Er verließ das Verwaltungsgebäude und eilte im Laufschritt zur Sporthalle und in sein Büro, das sich hinter den Umkleiden befand. Dort angekommen, warf er Shaylees Akte auf den Schreibtisch und schlug sie auf. Von einem Foto starrte ihm Jules’ kleine Schwester entgegen. Er nahm an, dass es sich um eine ungestellte Aufnahme handelte: Die Augen des Mädchens funkelten vor Rebellion, Zorn und Argwohn.

Nach einem raschen Blick auf die Uhr blätterte er die Unterlagen durch, wohl wissend, dass Shaylee Stillman seine Deckung auffliegen lassen und alles ruinieren könnte.

 

Jules saß am Schreibtisch vor ihrem Computer, hörte mit halbem Ohr Radio und klickte sich durch die Informationen, die sie im Internet über die Blue Rock Academy fand. Seit Edie verkündet hatte, sie werde Shaylee nach Oregon bringen lassen, war Jules wie besessen von dem Verlangen, alles über die Schule in Erfahrung zu bringen.

Im Radio lief jetzt Werbung. Eine Frau, die am Ende ihrer Geduld zu sein schien, verkündete mit ernster Stimme: »Ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte, war mit meiner Weisheit am Ende. Meine Tochter geriet mit dem Gesetz in Konflikt, nahm Drogen, hatte den falschen Umgang und hörte nicht mehr auf mich. Ihr Verhalten fing an, meine Ehe und unser Familienleben zu beeinträchtigen. Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte, bis ich von der Blue Rock Academy erfuhr, einer innovativen Schule, die weiß, wie man mit problematischen Jugendlichen umgeht.«

Jules unterbrach ihre Onlinerecherche und hörte aufmerksam zu. Die Stimme der Mutter wurde kräftiger. »Also habe ich meine Tochter bei der Blue Rock Academy angemeldet. Zehn Monate später kehrte sie mit einer völlig neuen Einstellung und hervorragenden Noten nach Hause zurück. Jetzt ist sie eine ausgezeichnete Schülerin, die bald das College besuchen wird.« Stolz schwang in der Stimme der Frau mit. »Dank des fürsorglichen, klugen Lehrpersonals der Blue Rock Academy habe ich meine Tochter zurückbekommen.«

»Und ich habe meine Familie zurückbekommen«, schaltete sich eine jüngere, helle Stimme ein. »Danke, Mom, danke, Dad. Ich liebe euch!«

Ach?

So ein Schwachsinn.

Ungläubig starrte Jules auf den Bildschirm, während eine ernst klingende, tiefe Stimme die Hörer über das Institut, die entsprechende Website und die Telefonnummer informierte. »Wenn Ihr Kind in Schwierigkeiten steckt, rufen Sie die Blue Rock Academy an. Ein Anruf, der Ihre Ehe und das Leben Ihres Kindes retten könnte!«

Musik ertönte. »Oh, verschone mich«, murmelte Jules und rollte ihren Schreibtischstuhl zurück. Diese Werbung war reine Augenwischerei. Sie dachte an Shay, die vermutlich gerade auf dem Campus von Blue Rock landete, irgendwo inmitten der Wildnis des südlichen Oregon.

Was bereitete ihr daran bloß solches Kopfzerbrechen? Warum konnte sie nicht einfach akzeptieren, dass die Schule – wie beworben – ein rettender Hafen für gefährdete Jugendliche war?

Jules wandte sich wieder ihrer Tastatur zu und klickte auf einen Link, der zur Website der Schule führte. Auf der Homepage erschienen Fotos von Zedernholz- und Steinbauten, am Ufer eines malerisch unberührten Sees gelegen, des Lake Superstition. Lächelnde Teenager paddelten in Kanus über das saphirblaue Wasser. Eine große Kirche, deren spitz zulaufende Fenster bis hinauf ans steile Dach reichten, ragte aus der Landschaft empor. Ein riesiges Kreuz war hinter den Scheiben zu erkennen. Schneebedeckte Berge, deren Gipfel im Sonnenlicht funkelten, umgaben den Campus.

Eine Fotomontage zeigte Gruppen lachender Teenager bei verschiedenen Aktivitäten: bei einem Ausritt durch die unberührte Natur, auf Flößen beim Wildwasser-Rafting, beim Aufstellen von Zelten neben flackernden Lagerfeuern oder beim gemeinschaftlichen Singen zur Gitarre unter dem freien Sternenhimmel. Auf den Winteraufnahmen waren Schüler mit Schneeschuhen zu sehen, andere beim Skilanglauf.

Blue Rock schien ein echtes Paradies zu sein.

Natürlich gab es auch Fotos von ernst dreinblickenden Lehrern, die sich über die Schultern ihrer Schüler beugten, während diese vor ihren Computern saßen. Andere Bilder zeigten Jugendliche, die eifrig Reagenzgläser betrachteten oder in Mikroskope spähten. Wieder andere saßen auf dem Teppich vor einem gewaltigen steinernen Kamin, aufgeschlagene Bücher im Schoß. Lauter gut aussehende, adrette Kids voller Kameradschaftsgeist. Auf mehreren Aufnahmen waren Bibeln zu sehen, aber keine einzige Tätowierung, kein Piercing, kein bunter Irokese.

Schüler, Lehrer und sonstige Mitarbeiter erinnerten verdächtig an Models – was sie vermutlich auch waren –, eine politisch korrekte Mischung aus Nordamerikanern, Asiaten, Latinos und Afroamerikanern, sowohl bei den Schülern als auch beim Personal.

Die Gebäude waren neu und sauber, die Anlagen gepflegt, der Campus umgeben von unberührten Wäldern. Die Fotos hätten eher in einen Urlaubsprospekt gepasst als zu einer Schule, und Jules erwartete fast, Bambi und seinen Freund Klopfer aus dem Unterholz spähen zu sehen.

Sie klickte den Fragebogen an, den die Interessenten vor der Beantragung der Anmeldeformulare auszufüllen hatten, und überflog die Fragen.

»Ja«, antwortete sie laut und dachte an ihre Schwester, Shay war zornig.

Ja, sie zerrüttete die Familie.

Und ja, sie hatte ein Familienmitglied bedroht, und zwar öfter, als Jules zählen konnte.

Ja, Shay war mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und ja, sie hatte sowohl Bekanntschaft mit Drogen als auch mit Alkohol gemacht. Das hatte sie selbst zugegeben.

Hatte sie mit Selbstmord gedroht?

Nur um Edie auf die Palme zu bringen.

Alles in allem gab es dreißig Fragen, manche allgemeiner, manche spezieller, die sie, auf Shay bezogen, mit einem eindeutigen Ja beantworten musste.

Vielleicht sollte sie nicht so voreingenommen sein. Vielleicht war Blue Rock eine ernstzunehmende Lösung. Vielleicht würden die dortigen Berater – Erziehungsberater, Suchtberater, Vertrauenslehrer – zu Shay durchdringen.

»Ich hoffe es«, sagte Jules zu ihrem Kater Diablo, der ins Zimmer getrottet kam und auf ihren Schoß sprang. »Aber ich glaube es einfach nicht.«

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Kapitel vier

Trent sah das Wasserflugzeug näher kommen, dann landete es mit laut dröhnendem Motor. Es hüpfte über das aufgewühlte Wasser des Lake Superstition und glitt anschließend hinüber zum Anleger. Stahlgraue Wolken spiegelten sich in den kabbeligen Wellen. Kirk Spurrier, der Pilot, stellte den Motor ab und kletterte aus der Kabine. Mit Hilfe eines eifrigen Schülers, der von Reverend Lynch herbeizitiert worden war, befestigte Spurrier das Flugzeug an den dafür vorgesehenen Halterungen am Ende des Stegs. Als der Flieger gesichert war, beugte sich Spurrier vor und half der neuen Schülerin der Blue Rock Academy aus der Kabine.

Die Muskeln in Trents Nacken spannten sich an.

Es war tatsächlich Shaylee Stillman, Jules’ jüngere Halbschwester.

Pech.

Trent hoffte inständig, Shay würde ihn nicht erkennen. Täte sie es doch, würde er sich darauf verlassen müssen, dass sie den Mund hielt, bis er die Chance bekam, mit ihr allein zu sprechen.

Die Welt war doch verdammt klein, dachte er, während er zusammen mit sieben seiner Kollegen am Ufer wartete. Sie boten ein beeindruckendes Bild in ihren einheitlichen Windjacken mit dem Logo der Blue Rock Academy: Reverend Lynch vorneweg, Dr. Burdette einen Schritt hinter ihm. Dahinter stand, die Arme verschränkt, die Augen zusammengekniffen gegen den Wind, Dr. Tyeesha Williams, ebenfalls Vertrauenslehrerin, mit einem Doktortitel in Psychologie, dann folgte Rhonda Hammersley, Studienrätin, die leise mit Wade Taggert, Psychologielehrer, und Jacob McAllister, Beauftragter für kirchliche Jugendarbeit, sprach. Und ganz am Ende der Reihe wartete Jordan Ayres, Schulschwester und medizinische Autorität von Blue Rock, darauf, den Neuzugang zu begrüßen.

Shaylee Stillman ließ sie nicht warten.

Mit versteinertem Gesicht kletterte sie aus dem Flugzeug. Sie war kleiner und dünner als Jules, trug ein graues Sweatshirt und enge Jeans. Ihre Haare, zu einem stumpfen Schwarz gefärbt, waren ungekämmt und zottelig und fielen ihr über die großen, dick mit schwarzem Kajal umrandeten Augen, mit denen sie an eine Eule erinnerte. Am Handgelenk trug sie eine Vielzahl geflochtener Freundschaftsbänder und an den Füßen trotz der eisigen Temperaturen Flip-Flops. Der schwarze Nagellack auf ihren Zehen passte zu der abblätternden Farbe auf ihren Fingernägeln.

Trent konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihr rebellischer »Mir ist alles scheißegal«-Look sie einige Mühe kostete.

Shaylee warf sich ihren Rucksack über die Schulter und betrachtete die Gruppe von Autoritätspersonen, die sie in Empfang nahmen, und ihr ohnehin blasses Gesicht wurde noch bleicher. Sie presste die Lippen zu einem farblosen Strich zusammen, und es war offensichtlich, dass sie lieber an jedem anderen Ort der Welt gewesen wäre als hier.

Trent konnte ihr das nicht zum Vorwurf machen. Auch ihm verkrampfte sich der Magen, als Lynch einen Schritt nach vorn trat, um Shaylee zu begrüßen. Das war der Augenblick der Wahrheit.

»Willkommen an der Blue Rock Academy, Shaylee«, sagte der Reverend mit ausgestreckter Hand.

Sie starrte gleichgültig auf seine Finger und erwiderte nichts.

Lynch ließ sich nicht eine Sekunde aus der Fassung bringen. »Das hier ist Mr. Trent. Er ist für die Schüler deiner Gruppe zuständig. ›Trupp‹ sagen wir hier dazu.«

»Trupp?«, wiederholte sie. Ihre Eulenaugen wurden noch runder. »Wie in einer Kampftruppe? Kriege ich hier etwa militärischen Drill?«

Trent ignorierte ihren Sarkasmus. »Hi, Shaylee.« Für eine Sekunde meinte er zu bemerken, wie sich ihre Augen verengten, aber vielleicht war er auch nur paranoid.

Lynch deutete auf die Frau an seiner Seite. »Das ist Dr. Burdette, die für die weiblichen Schüler zuständige Oberstudienrätin. Sie ist deine Vertrauenslehrerin und wird dir mit Rat und Tat zur Seite stehen.«

»Willkommen in Blue Rock«, sagte Burdette, und Shaylee verdrehte die Augen.

Während Spurrier einen kleinen Koffer aus dem Wasserflugzeug holte, stellte Lynch seiner neuen Schülerin Wade Taggert und Jordan Ayres vor. Obgleich schon Taggert ein großer, durchtrainierter Mann mit einem stets leicht besorgten Gesichtsausdruck war, kam Schwester Jordan wie eine wahre Naturgewalt daher. Mit ihren knapp eins fünfundachtzig sah sie aus, als wäre sie dem deutschen Zehnkampf-Olympiateam entsprungen. Sie hatte kurzes blondes Haar, verblüffend blaue Augen und einen muskulösen Körperbau. Die Schulschwester sprühte geradezu vor Entschlossenheit.

Lynch scheuchte alle in Richtung der Ansammlung von Gebäuden entlang des Seeufers. »Gehen wir rein, damit wir die Formalitäten erledigen und dir dein Zimmer zeigen können. Du willst dich doch sicher erst mal ein wenig eingewöhnen.«

»Ich soll mich hier eingewöhnen?«, wiederholte Shay spöttisch. »Sie machen wohl Witze! Ich werde mich bestimmt nicht ›eingewöhnen‹.«

Keiner widersprach. Sie hatten mit ihrer Reaktion gerechnet. Das hatten sie schon hunderte Male gehört.

Shaylee beäugte die aus Zedernholz, Stein und viel Glas bestehenden Gebäude, die Urlaubsstimmung verströmten und so gar nicht nach einer geschlossenen Besserungsanstalt aussahen. Trent folgte ihrem Blick und entdeckte ein paar Schüler, die durch die Fenster spähten, in der Hoffnung, ihre neue Mitschülerin zu Gesicht zu bekommen.

»Du bist im Mädchenwohnheim untergebracht«, erklärte Burdette. »Doch bevor du dich in dein Zimmer zurückziehen darfst, musst du dich auf der Krankenstation einem Gesundheitscheck unterziehen und entgiften.«

»Entgiften?«, wiederholte Shay. Ihre coole Fassade bekam Risse. »Warum? Glauben Sie etwa, ich bin auf Drogen? Um Himmels willen, ich nehme keine Drogen! Absolut nicht! Es sei denn, das Koffein in einem Red-Bull-Energydrink fällt darunter. Was hat Edie Ihnen erzählt?« Sie machte eine unwillige Handbewegung. »Was? Dass ich crackabhängig bin? Oder süchtig nach Meth?«

McAllister trat einen Schritt vor und lächelte das verängstigte Mädchen an. »Du wirst es überleben«, sagte er.

»Ach ja? Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich habe einen Draht zu dem Mann da oben«, scherzte der Geistliche. »Er hat es mir gesagt.«

Shay verdrehte erneut die Augen. Dr. Williams und Schwester Jordan schlugen den Weg hinter dem Verwaltungsgebäude ein, der zur Krankenstation führte.

»Hier entlang«, sagte Burdette ruhig. Sie deutete auf Williams und Ayres in ihren identischen Windjacken und ließ Shaylee keine Wahl.

Jules’ kleine Schwester warf einen furchtsamen Blick über die Schulter und sah McAllister hinterher, der bereits den Campus in die andere Richtung überquerte.

Ihr Blick blieb an Trent hängen. Zu Zorn und Furcht in ihren Augen gesellte sich noch etwas anderes: ein Fragezeichen. Ihre Stirn kräuselte sich, als sie ihn mit zusammengekniffenen Augen musterte.

Trent nahm an, dass sie sich nicht sicher war, ob sie ihn kannte oder nicht.

 

»Dann würdest du deine Erfahrung also als positiv beschreiben?«, fragte Jules, die auf der Sofakante in dem kleinen, alten Haus ihrer Cousine Analise im Westen von Seattle saß.

»Selbstverständlich.« Analise wischte ihrer Tochter das Gesicht mit einem warmen Lappen ab. »Ja, es war großartig.«

Chloe, vierundzwanzig Monate alt, hockte in ihrem Hochstuhl, schüttelte energisch den Kopf und protestierte: »Nein! Nein, Mommy!«

»Blue Rock hat bei mir in der Tat zu einer Kehrtwende geführt«, sagte Analise, dann, an ihre Tochter gewandt: »Schon gut, schon gut, du bist ja jetzt sauber.«

»Runter!«, befahl Chloe.

»Alles klar.« Analise hob die Kleine aus ihrem Hochstuhl. Mit einem misstrauischen Blick in Jules’ Richtung wackelte diese auf die stämmige Bulldogge, den Familienhund, zu. Eine Sekunde später schoss der Hund davon, alles andere als scharf darauf, in die Fänge einer quirligen Zweijährigen zu geraten.

»Ich habe einfach ein schlechtes Gefühl, was die Blue Rock Academy anbelangt«, gab Jules zu.

»Warum?«

»Diese Verschwiegenheit, ganz zu schweigen von der Abgeschiedenheit! Sie ist dort ja völlig isoliert, ich kann sie nicht einmal telefonisch erreichen!«

»Das ist so, damit sich die Schüler auf sich selbst konzentrieren können. Sie darf dich etwa einmal pro Woche anrufen – das kommt ganz darauf an –, sobald die Eingewöhnungsphase überstanden ist.«

»Und wie lange dauert die?«

»Nun, das ist bei jedem Schüler unterschiedlich, doch ungefähr nach einer Woche wird sie sich bei dir melden, und dann wirst du ja hören, dass deine Sorgen unbegründet sind. He, magst du eine Tasse Kaffee oder Tee? Ich glaube, ich habe sogar noch eine Dose Dr.-Pepper-Cola light im Kühlschrank!«

»Nein, danke, ich brauche nichts«, sagte Jules, doch sie folgte ihrer Cousine in die kleine Küche, wo eine Glaskanne auf der Warmhalteplatte der Kaffeemaschine stand. Es war ein grauer Tag. Trübes Licht fiel durch die kahlen Zweige eines Fliederbaums, die gerade erste Knospen trieben. Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, die Märzkälte kroch durch das Glas, das irgendwann in den späten 1940ern eingesetzt worden war.

»Warum flippst du so aus wegen Shaylee?« Analise schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, dann hielt sie einladend die Kanne hoch. »Bist du sicher, dass du nichts möchtest?«

»Nein, wirklich nicht.« Jules schüttelte den Kopf. »Es kommt mir einfach falsch vor.«

»Wieso?«, fragte Analise, hob jedoch sofort die Hand, um jeden Erklärungsversuch zu ersticken. »Hör mal, Jules«, sagte sie stattdessen, »entgegen sämtlichen Versprechungen ist Blue Rock alles andere als perfekt, aber ich war ein Wrack, als mein Dad mich dorthin verfrachtet hat. Ich war ganz versessen auf Gras und Jungs und sammelte erste Erfahrungen mit Meth und Ecstasy. Meine Noten waren im Keller. Und dann stand ich plötzlich da, in Blue Rock, allein, ohne meine Freunde. Am Anfang war es die Hölle, da will ich dir nichts vormachen. Es gibt eine Hackordnung dort, genau wie an jeder anderen Schule, und ich musste mich ohne jede Hilfe durchschlagen, aber ich … ich habe es geschafft.« Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Chloe den Hund hinter der Couch in die Enge getrieben hatte.

»Hundi!«, krähte sie glücklich. Ihre Wangen waren gerötet, und wenn sie lachte, zeigte sie ein paar winzige weiße Zähnchen. »Bent-ley!«

»Komm mal her und gönn Bentley eine Pause.« Analise stellte ihre Tasse ab, hob ihre Tochter hoch und stemmte sie in die Luft, bis Chloe laut gluckste. Der Hund schoss hinter der Couch hervor und verschwand in seinem Körbchen, von wo aus er die Kleine besorgt im Blick behielt.

»Eigentlich sind sie beste Freunde. Bentley vergöttert Chloe, aber er ist schon elf und nicht mehr so agil wie früher.« Analise setzte sich in den Schaukelstuhl, ihre Tochter auf dem Schoß. Ihr Kaffee blieb unberührt auf dem Couchtisch stehen. Sie nahm sich eine Decke und schlug ein Buch mit Bibelgeschichten auf. Während sie die Seiten umblätterte, unterhielt sie sich weiter mit Jules. Überraschenderweise machte Chloe keinerlei Anstalten, sich ihrem Griff zu entwinden.

»Du hast dort zu Gott gefunden, stimmt’s? In Blue Rock?«

»Es war der Wendepunkt, ja.«

»Ist das freiwillig? Der religiöse Teil, meine ich.«

»Nein, Religion ist Pflicht. Und damit meine ich nicht nur Gott als höchste Macht, sondern den wahren christlichen Glauben.«

»Nun, ›wahr‹, wenn man denn Christ ist.«

»Du kannst ruhig Anstoß daran nehmen, Jules, doch für viele Jugendliche, mich eingeschlossen, ist es sehr wichtig, zu Gott und seinem Wort zu finden. Das hilft uns, von unseren Süchten loszukommen, hilft uns, unser Leben in die Hand zu nehmen.«

Da war etwas dran, musste Jules zugeben. Analise wirkte glücklich, schien mit sich ins Reine gekommen zu sein.

»Im Grunde ersetzt man so doch nur eine Sucht durch eine andere. Religion statt Drogen.«

»Das ist die Sicht der Zyniker.« Zum ersten Mal wirkte Analise ein wenig nervös. Aufgewühlt. »Ich weiß nicht, warum du so strikt gegen diese Schule bist, Jules. Sie hat mir geholfen, und sie könnte die Antwort auf Shays Probleme sein. Gott wird ihr helfen, so wie er mir geholfen hat. Vielleicht wäre ich längst tot, hätten meine Eltern mich nicht nach Blue Rock geschickt. Außerdem wäre ich niemals Eli begegnet.«

»Baby Jesus!«, krähte Chloe und tippte mit ihrem Fingerchen auf die Seite.

»Da hast du recht, das ist Jesus«, bestätigte Analise.

»Weißt du etwas über Lauren Conway?«

»Wer ist das?«

»Das Mädchen, das vor ein paar Monaten von dort verschwunden ist. Ich habe im Internet recherchiert und sämtliche Zeitungen durchforstet, soweit ich weiß, ist sie nie gefunden worden.«

Wieder kräuselte sich Analises glatte Stirn. »Davon weiß ich nichts. Zu meiner Zeit hat einmal ein Junge versucht abzuhauen, aber einer der CBs hat ihn zur Umkehr überredet.«

»CBs?«

»Collaboratoren – so nennen wir die Schüler, die sich durch gute Führung gewisse Privilegien erworben haben und in Blue Rock ein Collegeprogramm absolvieren. Sie haben ähnliche Aufgaben wie Studenten, die nach ihrem ersten akademischen Abschluss an der Uni bleiben und den Professoren die Arbeit erleichtern. Jeder ›Trupp‹ – das ist die Gruppe, der du bei deiner Einschreibung zugeteilt wirst – wird von einer Lehrkraft geleitet, und diese Lehrkraft wird von mindestens einem CB unterstützt. Der Collaborator ist also nicht nur eine Art Hilfskraft, sondern das Bindeglied, ein Vermittler zwischen Lehrer und den Mitgliedern seines Trupps – eine Brücke zwischen den Generationen sozusagen. Mit den CBs kann man reden, denn es sind Leute, die wissen, was man durchgemacht hat. Außerdem stehen sie einem vom Alter her sehr viel näher, so dass es leichter ist, ihnen zu vertrauen.«

»Und sie leiten alles an die Lehrer weiter.«

»Nein … nicht unbedingt. Eli war mein CB, und sieh nur – am Ende habe ich ihn geheiratet.« Sie lächelte stolz.

Jules teilte ihre Begeisterung nicht. Ihrer Meinung nach war Eli Blackwood ein scheinheiliger Besserwisser, der seine Frau gehörig unterbutterte. Er hatte etwas Verschlagenes an sich, etwas, das sie störte. Analise schien ihn zu vergöttern, wenngleich er sie ziemlich schikanierte. Doch das Thema würde sie jetzt nicht ansprechen. Stattdessen fragte sie: »Ist es nicht verpönt, sich mit seinem CB einzulassen?«

»O ja, das ist es. Wir waren auch nicht zusammen, nun, zumindest nicht offiziell, bis ich nach Hause zurückkehrte und er das Semester beendet hatte.«

»Und dann?«

Zum ersten Mal während ihres Gesprächs blickte Analise zur Seite. Sie wirkte beklommen. »Es ist nicht gut gelaufen«, gab sie zu. »Eli zählte zu den besonderen CBs, da wurde eigentlich erwartet, dass er das College in Blue Rock beendet.«

»Besondere CBs?«

Analise zuckte die Achseln. »Die vielversprechendsten Schüler nehmen an einem Eliteprogramm teil. Die Schule hat zusammen mit einer Universität in Südoregon einen speziellen Lehrplan erarbeitet. Eli erfüllte sämtliche Voraussetzungen, doch er entschied sich dafür, seinen Abschluss hier in Seattle zu machen.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Das war keine sehr gute Idee.« Abwesend zwirbelte sie Chloes goldene Löckchen.

»Welche Auswirkungen hatte der Collegewechsel für ihn?«, erkundigte sich Jules.

»Keine. Wir heirateten, sobald ich die Schwesternschule abgeschlossen hatte, dann holten wir Bentley aus dem Tierheim, kauften dieses Haus und bekamen Chloe.«

»Und du kannst wirklich nichts Negatives über Blue Rock sagen?«

»Nichts«, antwortete sie schnell. Fast zu schnell. »Könnte es sein, dass du gegen Windmühlen kämpfst, Jules?«, fragte sie dann. »Ich weiß, dass Shaylee und du euch sehr nahegestanden habt, als sie klein war, aber ihr habt euch beide verändert, und Shay ist womöglich wirklich nicht mehr das liebe, unschuldige Mädchen, das sie früher einmal war.«

»Ich halte sie weder für unschuldig noch für naiv«, räumte Jules ein. »Schon lange nicht mehr. Trotzdem finde ich es hart, junge Menschen an einen so abgelegenen Ort zu schicken.«

»Ich weiß – du und Shay gegen den Rest der Welt.«

»Manchmal habe ich tatsächlich so empfunden.«

»Ach, komm schon, Jules. Wir zwei sind auch noch nicht alt, für uns war es ebenfalls oft hart.«

Chloe wand sich auf Analises Schoß. »Oh, da wird jemand müde«, sagte sie, und obwohl die Kleine alles andere als schläfrig wirkte, verstand Jules den Wink.