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Gibt es wirklich keine zweite Chance für den ersten Eindruck? „Sei doch froh, dass du den Typen nie mehr wiedersehen musst“, denkt Ines, die sich von ihrer Zufallsbekanntschaft Jérôme gedemütigt fühlt. Falsch gedacht! Natürlich sieht sie ihn wieder und gerät dabei mitten in das Leben einer echten Fürstenfamilie. Im Laufe eines Sommers muss sich Ines die Frage stellen, ob nicht nur sie falsch beurteilt wurde: Vielleicht hat sie ihr Gegenüber auch vorschnell in eine Schublade gesteckt. Wäre es denn so schlimm, wenn sie ihre Meinung über Jérôme ändern würde? Witzig, romantisch, turbulent – ein lockerer Liebesroman, nicht nur für diejenigen, die noch auf der Suche nach ihrem Prinzen sind. Leseprobe Die Tür fällt sofort wie von selbst ein Stück auf. Ich schiele durch den Spalt nach draußen auf den Gang. Da steht er. Breitbeinig. Im gestreiften Pyjama. Mit verschränkten Armen. Viel Weiß in den sonst so blauen Augen. Ungehalten und überheblich. Kurz: Jérôme! Wie im Zeitraffer dreht sich alles rückwärts und Stevens Worte hallen durch mein leeres Hirn. Ich reagiere nur noch. Langsam senke ich den Kopf und vollführe einen Knicks. „Eure … euer ...“ Moment, ich überlege noch. Ich muss so aufpassen, weil mir das Wort Arschloch nicht aus dem Sinn will. Außerdem irritieren mich sein Bartschatten und die verwüstete Frisur. Er sieht richtig verwegen und leider auch sexy aus. Mein Blick huscht wild umher, offensichtlich händeringend nach dem richtigen Ausdruck. Ich hole tief Luft, sehe dem Prinzen in die Augen und sage laut und deutlich: „Guten Abend, eure Durchloch.“ Meine Augen fallen zu und ich hoffe, dass er es nicht so gehört hat, wie ich meine Worte selbst verstanden habe. Es käme mir auch nicht ganz ungelegen, wenn er jetzt einfach so verschwinden würde. Seine Anwesenheit kann ich aber selbst mit geschlossenen Augen noch deutlich wahrnehmen. Ist mir so heiß oder spüre ich tatsächlich seine körperliche Nähe durch die Wärme, die er ausstrahlt? Es kommt mir echt so vor. Die Hitze scheint von vorne auf mich einzuprasseln, während ich den Raum hinter mir eher angenehm kühl wahrnehme. „Königliche Hoheit“, sagt er. „Nein, bitte, Sie müssen mich echt nicht so anreden.“ Also, jetzt übertreibt er es aber. Ich bin doch hier nur Gast. „Das war auch nicht die korrekte Anrede für Sie, sondern die meine. Von Durchloch habe ich noch nie etwas gehört. Wenn, dann nehmen Sie bitte Durchlaucht.“
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Seitenzahl: 296
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PEA JUNG (Jahrgang 1977) lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in der Nähe von München. Neben der Arbeit als Sozialpädagogin schreibt sie Liebesgeschichten mit Happy End, wobei der Erotikfaktor von Geschichte zu Geschichte variiert. Mit ihrem Debütroman DIE FALSCHE HOSTESS gelang der Überraschungserfolg – das Buch entwickelte sich in kurzer Zeit zum Bestseller. Seither begeisterte jedes ihrer Bücher die stetig wachsende Leserschaft. Mittlerweile ist sie eine erfolgreiche Self-Publisher-Autorin.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Es muss Freitag sein und es muss diese Bank sein. Fast jeden Freitagmittag nach der Arbeit gehe ich hier zu dem Kiosk am Rand des Stadtparks und kaufe mir die neueste Ausgabe der Fürstengeschichten. Dann setze ich mich auf die eine besondere Parkbank, die dafür infrage kommt, füttere illegalerweise die Tauben und lese mein Heftchen.
Natürlich bin ich nicht der typische Heftromanleser.
Wer ist das schon?
Und wer gibt es zu?
Niemand liest doch diese billige Trivialliteratur, diesen Schund. Merkwürdig bleibt, dass die Verkaufszahlen eine andere Sprache sprechen, denn wäre bei mangelndem Umsatz nicht bereits der gesamte Markt in sich zusammengefallen?
Nein! Über Fragen dieser Art werde ich mir bei dieser frühsommerlichen Hitzewelle nicht den Kopf zerbrechen. Auf gar keinen Fall. Lieber beschließe ich, ein bisschen Schund zu lesen, und greife nach der neuen Ausgabe der Fürstenromanreihe.
Hätte ich heute Morgen geahnt, wie warm es heute werden würde, dann wäre ich sicherlich nicht auf die dämliche Idee gekommen, meine heißgeliebte olivgrüne Cordhose anzuziehen. Wie die Hose hatte ich wohl bei dieser Entscheidung eindeutig einen Schlag weg. Der Stoff klebt an meinen Beinen und reibt unangenehm.
Wenn mir und meiner Hose heute schon kein glückliches Ende bevorsteht, dann kann ich mir bei meinem Heftchen sicher sein: Es wird ein Happy End geben. A und B werden sich verlieben, es wird Hindernisse geben und vielleicht muss C in Form eines Gegenspielers oder einer ungünstigen Konstellation ausgeräumt werden und dann wird es zu einem wunderbaren, allumfassenden D, also dem Happy End kommen. So. Genau.
Zurück zu meiner Parkbank. Es ist die Bank, die am nächsten des Parkhotels steht, dessen imposanter Bau direkt über der Straße hinter der Bank zu erahnen ist. Mein freier Blick wird lediglich durch eine kleine Anzahl von Bäumen eingeschränkt.
Puh! Es ist heiß. Ich fahre mir mit dem Handrücken über meine feuchte Stirn. Mein wöchentliches Ritual wird wegen der ungeahnten Wetterentwicklung infrage gestellt. Während ich noch überlege, ob ich noch etwas zu trinken am Kiosk kaufen soll, schiele ich zu der Bank hinüber.
Mist! Warum muss sich ausgerechnet jetzt der alte Mann auf die Bank setzen? Ihm scheint auch zu heiß zu sein in seinem Anzug. Warum setzt sich der nicht irgendwo in den Schatten?
»Magst du noch was, Ines?«, höre ich den Kioskbesitzer fragen, während ich feststelle, dass der alte Mann in dunklem Anzug ganz und gar nicht gut aussieht. Es dauert eine ganze Zeit, bis er sich gesetzt hat, und sein verzerrtes Gesicht dabei lässt mich nur vermuten, dass er Schmerzen ertragen muss. Schließlich lässt er sein Gewicht auf die Bank sacken und lehnt sich so vorsichtig an, als hätte er rohe Eier auf den Rücken geschnallt. Das Gesicht des alten Herrn wirkt auf mich genauso weiß wie sein Haar. Stark schnaufend löst er die Krawatte ein Stück und öffnet den oberen Knopf seines Hemdes.
Wenn er schon auf »meiner« Bank sitzt, dann kann ich ihm auch ein Wasser mitbringen, denke ich mir. Das verbuche ich dann auf dem Jeden-Tag-eine-gute-Tat-Konto.
»Zwei Wasser«, antworte ich, ohne den Blick von dem Mann zu nehmen, der jetzt doch irgendwie rot aussieht. Rasch bezahle ich die Getränke, verstaue das Heftchen in meiner übergroßen Patchwork-Umhängetasche und schlendere auf den Mann zu.
Als ich mich ihm nähere, blickt er mich automatisch an und ich halte ihm gleich eine der Wasserflaschen entgegen. »Wollen Sie etwas trinken?«
Er macht eine abwehrende Handbewegung und ich bleibe sofort stehen. Verwundert registriere ich, dass seine Gesichtszüge weich werden, während mir meine wohl eher entglitten sind. Natürlich habe ich schon des Öfteren Probleme wegen meines Äußeren gehabt, besonders mit der älteren Generation, aber mit so einer Abfuhr habe ich nicht gerechnet.
Jetzt lächelt der Mann mich aber sehr erfreut an. »Ich meinte nicht Sie. Entschuldigen Sie vielmals.«
Sein stark ausgeprägter französischer Akzent irritiert mich weniger. Vielmehr drehe ich mich um und versuche herauszufinden, wem die abwehrende Geste gegolten haben könnte. Ein Jogger rennt vorbei, eine Frau versucht ihr schreiendes Kind unter Kontrolle zu bringen und zwei Männer in dunklen Anzügen unterhalten sich.
Komisch. Ist ja auch egal. Ich reiche dem Mann das Wasser und öffne sofort meine Flasche.
Er tut es mir gleich und wir löschen unseren Durst.
»Ganz schön heiß heute«, sagt er schließlich und klingt dabei so kraftlos, dass ich mir Sorgen um den Mann mache.
Ich nicke und sehe mich im Park um. »Da drüben wäre eine Bank im Schatten frei«, stelle ich fest und deute mit der Flasche in die Richtung. Dabei schwappt ein kleiner Teil der Flüssigkeit auf den Boden.
Der alte Mann lächelt kurz und sucht dann meinen Blickkontakt. »Diese Bank ist genau die richtige.« Mein Blick auf die freie Sitzfläche neben ihm scheint ihm nicht zu entgehen. »Setzen Sie sich ruhig.« Er tätschelt die Holzleiste der Bank, um seine Worte zu unterstreichen. Seine Bewegungen sind sparsam und wohlüberlegt.
»Danke.« Ich freue mich, dass ich mir keinen anderen Platz suchen muss.
»Ich werde Sie nicht lange stören. Mein Sohn müsste jeden Moment kommen.«
»Sie stören doch nicht.«
»Haben Sie sich nicht etwas zum Lesen gekauft?«
»Ja, stimmt.«
Der alte Mann ist ein guter Beobachter. Da fällt mir ein, dass ich noch etwas sehr Nützliches in meiner Tasche habe, und ich fange an, darin herumzuwühlen. Noch während ich das tue, höre ich den alten Mann neben mir laut sagen: »Schon gut. Sie sucht nur etwas.«
Verwirrt sehe ich zu meinem Sitznachbarn und bemerke, dass er schon wieder seine Hand abwehrend von sich streckt. Diesmal kann ich auch sehen, wen er zurückpfeift: Es sind die beiden Anzugträger, die so aussehen, als wollten sie mich am liebsten packen und zu Boden reißen. Ich erstarre mitten in der Bewegung, bis der Mann neben mir kurz seine Hand auf meinen Arm legt. »Keine Sorge. Die Herren arbeiten für mich und sind manchmal etwas übereifrig.«
Mir entkommt ein überraschtes Keuchen und ich ziehe das Gesuchte schnell aus meiner Handtasche.
»Ein Regenschirm?«, fragt der alte Mann neben mir. Dabei zieht sich eine seiner Augenbrauen ungläubig in die Höhe.
»Genau.« Ich kichere und spanne das rosafarbene Modell mit den weißen Punkten darauf kurzerhand auf. Damit ich dem Herrn neben mir etwas Schatten spenden kann, rutsche ich noch näher zu ihm. Er macht sich klein, damit er mit mir unter den Schirm passt, wobei seine Bewegungen wieder langsam und vorsichtig ausfallen.
Unser Sichtfeld auf den Park vor uns hat sich um einiges verkleinert, aber es freut mich sehr, dass der Mann glücklich grinst. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er nicht oft etwas zum Lachen hat.
»Wie heißen Sie?«, fragt er mich schließlich.
Bevor ich antworte, rieche ich sehr intensiv den duftenden Stoff seines Anzugs, der sich in der Sonne so erhitzt zu haben scheint, dass sämtliche Duftstoffe nun den Weg in meine Nase finden. Es riecht nach einem schweren Parfüm und leicht nach altem Mann, aber das macht mir nichts aus.
»Ines«, sage ich schließlich, »und Sie?«
»Pierre. Sagen Sie, Ines, schreibt man Ihren Namen mit Apostroph?«
»Nein, ganz normal.«
»Nun, im Französischen wäre er ganz normal mit Apostroph!« Er lacht mich an und ich grinse zurück.
Selten begegne ich älteren Menschen, die so vorurteilsfrei auf mich reagieren. Und damit meine ich nicht nur meinen mondförmigen Nasenstecker, sondern vor allem meine Frisur, die er jetzt näher in Augenschein nimmt. Aber er lächelt mich weiterhin freundlich an.
Dann sitzen wir eine Weile schweigend beieinander und starren in den Park, während hinter uns der Straßenverkehr vorbeirauscht. Keine Frage, es gäbe wirklich idyllischere Bänke in diesem Park, schattigere Bänke. Als hätte der alte Mann meine Gedanken gelesen, fragt er: »Warum muss es für Sie diese Bank sein?«
Die Antwort ist für mich sehr einfach. »Früher, als ich noch klein war, hat mein Opa am Freitagmittag sehr oft auf mich aufgepasst, wenn meine Mama arbeiten musste. Nach der Schule bin ich dann immer direkt hierher, habe mich auf diese Bank gesetzt und gewartet, bis mein Opa kam.«
Weil Pierre mich interessiert ansieht, erkläre ich weiter: »Er hat hier in dem Hotel gearbeitet … hinter uns.« Ich mache eine Kopfbewegung hinter mich in den Schirm und Pierre versteht: »Ach, im Parkhotel? Da wohne ich gerade.«
»Ehrlich? So ein Zufall.« Ein Zufall, über den ich mich sehr freue.
»Und dann?«, fragt Pierre weiter und ich wundere mich, dass er sich so für mich interessiert. Aber vielleicht genießt er auch einfach das Gespräch. So wie ich.
»Dann hat sich mein Opa hier zu mir gesetzt und wir haben die Tauben gefüttert. Anschließend sind wir dann nach Hause zur Oma gefahren.«
»Und Ihre Mutter?«
»Als Alleinerziehende hat sie immer sehr viel gearbeitet. Jetzt hat sie einen neuen Mann und eine neue Familie. Wir sehen sie kaum. Meine Großeltern sind meine Familie. Und dann gibt es noch meine Schwester Marie.« Ich weiß auch nicht, warum ich in Anwesenheit dieses Mannes mein Herz auf der Zunge trage. Vielleicht, weil er so etwas unglaublich Vertrauenswürdiges an sich hat.
»Ihr Großvater ist gestorben, hab ich recht?«
»Ja.« Ich nicke und schlucke schwer.
Es ist schon ein paar Jahre her. Noch viel länger ist es her, dass ich hier auf ihn gewartet habe, aber es tut gut, hier zu sitzen und so zu tun, als könnte er jeden Moment auftauchen. Er würde mir mit seiner großen Hand über den Kopf fahren und dann die beiden Tüten auspacken – die eine Tüte mit den Süßigkeiten für mich und die andere Tüte mit den Brotkrumen für die Tauben.
Zu meiner Überraschung zieht Pierre aus seiner Jackentasche eine verbeulte Serviette. Es kostet ihn viel Mühe, aber schließlich schafft er es, langsam den Stoff zu entfalten. Ein kleines Stück Baguette kommt zum Vorschein.
»Das Füttern der Tauben ist inzwischen verboten«, sage ich.
»Ich weiß«, raunt Pierre mit verschwörerischer Geste, »deshalb habe ich auch nur ein kleines Stück dabei.«
Keine Ahnung, warum mir so ein Kleinmädchenkichern entfährt.
»Wahrscheinlich hätte ich mich nicht getraut, meinen kriminellen Plan umzusetzen, wenn Sie mir nicht begegnet wären, Ines.«
Er sagt das so nett. Mein Name klingt aus seinem Mund so aristokratisch, irgendwie besonders. Lange kann ich darüber allerdings nicht nachdenken, weil er den Kopf noch ein Stück näher zu mir streckt und flüstert: »Meine Frau, eine Deutsche wie Sie übrigens, saß hier oft mit mir auf dieser Bank. Immer, wenn wir hier waren, haben wir uns auf diese Bank gesetzt und die Tauben gefüttert.«
»Ihre Frau …« Ich unterbreche, weil er nickt und ich die Trauer über sein Gesicht huschen sehen kann.
»Sie ist schon lange tot.«
Weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, schweige ich. Netterweise erkennt Pierre mein Unbehagen und beginnt unauffällig ein paar Brotkrümel auf den Boden fallen zu lassen. Damit locken wir momentan einen kleinen Spatz an, der sich sofort über die dargebotenen Leckereien hermacht.
»War Ihr Großvater der Manager des Hotels?«
»Nein.« Ich lache auf. »Er war der Wagenmeister.«
Jetzt lacht Pierre. »Dass eine so junge Frau wie Sie dieses Wort noch kennt … Ja, ich glaube, ich erinnere mich an Ihren Großvater …« Mit verkniffenen Augen scheint Pierre zu überlegen, während er weiter den Spatz füttert, der mit kleinen Sprüngen um Pierres Füße tanzt.
Dann hält er inne und streckt einen Zeigefinger in die Höhe. »Herzog … Anton Herzog.«
»Sie haben ihn gekannt?« Meine Verblüffung ist mir deutlich anzuhören.
»Er war immer der Erste, der mich bei meiner Anreise begrüßt hat, und der Letzte, der mich bei meiner Abreise verabschiedet hat. Ein sehr angenehmer Mensch. Es tut mir sehr leid, dass er nicht mehr lebt.«
»Danke … das mit Ihrer Frau tut mir auch sehr leid. Ich kann mir nur vorstellen, wie es Ihnen damit geht. Meine Oma hat den Tod meines Großvaters bis heute nie verkraftet.«
Was rede ich da von meiner Oma? Ich sitze hier und will ein Happy End. Schweigend sitzen wir immer noch nahe beieinander unter dem Regenschirm und füttern die letzten Reste des Baguettes an die Spatzen, die sich hier inzwischen zahlreich versammelt haben.
»Papa?« Weil das Wort so laut gesprochen wurde, bemerke ich sofort den Anzugträger, der sich in unser Sichtfeld gestellt hat. Zuerst sehe ich nur die glänzenden Schuhe, die unter der edlen Anzughose hervorkommen. Langsam hebe ich den Regenschirm an und immer mehr von der Person erscheint in meinem Blickfeld. Weil der Mann genau vor der Sonne steht, blinzele ich verkniffen zu ihm auf.
»Da bist du ja«, sagt Pierre neben mir und schüttelt die Serviette mit den letzten Krümeln aus. Fasziniert starre ich immer noch den großen Mann an, der vor uns steht. Mich sieht er weniger begeistert an. Mit einer Hand schirme ich die Sonne ab und kann nun mehr von dem Mann erkennen: Erstaunlich braun gebrannt für diese Jahreszeit ist er, und glatt rasiert. Ich kann sehen, dass er meinem Blick ausweicht und mit seinen Zähnen aufeinanderbeißt. Um Pierre zu helfen, nehme ich schnell den Regenschirm weg und klappe ihn zusammen.
Erstaunlich schnell steht Pierre auf und klopft sich ein paar Brotkrumen vom Anzug. »Das ist mein Sohn, der sich wie immer sehr viel Zeit gelassen hat.«
»Oh!«, sage ich, weil mir nichts anderes einfällt.
Sein Sohn ist bestimmt genauso nett wie er, denke ich mir und stehe auf, um ihm meine Hand zu reichen. »Hallo, ich bin Ines. Ich habe Ihren Vater zufällig kennengelernt.«
»Schön«, erklärt er leise und würdigt mich keines Blickes, geschweige denn, dass er gedenkt, meine Hand zu drücken. So einer wie er hat wohl keinen zweiten Blick für eine wie mich übrig. Oder hält er sich einfach für was Besseres?
So, wie er aussieht, ist er bestimmt eingebildet wie noch mal was. Die himmelblauen Augen mit den tief sitzenden Augenbrauen alleine dürften ihm schon jede Menge Aufmerksamkeit der Damenwelt einbringen. Aber da ist noch mehr: Seine schlanke Figur hat eine gewisse Dynamik in ihren Bewegungen, die ich sehr ansprechend finde. Ganz zu schweigen von dem markanten Kinn, das sich perfekt mit den ausgeprägten Wangenmuskeln verbindet. Puh! Von seinen vollen Lippen möchte ich lieber gar nicht sprechen.
Langsam und deutlich gekränkt ziehe ich meine Hand zurück und sehe mich um. Eine ganz unangenehme Situation ist das jetzt für mich.
Pierre scheint das Verhalten seines Sohnes nicht bemerkt zu haben. Er ist immer noch damit beschäftigt, alle Krümel aus dem Anzug zu klopfen. Weil ich ein paar Brösel an seinem Arm sehe, die er übersehen wird, streife ich sie ihm vom Ärmel.
»Danke sehr«, bemerkt er mit einem Lächeln, aber sein Stammhalter, dessen Namen ich nicht einmal kenne, geht zwischen uns und schiebt mich förmlich von dem alten Mann weg. »Wir müssen jetzt los.«
Wenn ich es mir recht überlege, dann sieht der Mann irgendwie deprimiert aus. Total emotionslos und ärgerlich zugleich. Der hat bestimmt dauernd miese Laune und weiß schon nicht mehr, wohin damit.
»Jérôme, ich möchte mich noch gebührend von der jungen Dame verabschieden«, fordert sein Vater und ich überhöre den geflüsterten Kommentar seines Sohnes: »Von welcher Dame?«
Okay, das mit dem emotionslos nehme ich zurück. Ohne dass ich es will, verletzt mich diese Art. So direkt-indirekt bin ich noch nie übersehen und beleidigt worden. Am liebsten würde ich einfach gehen. Genau! Das werde ich jetzt auch tun. Ich werde lächeln und gehen.
Während ich nach meiner Wasserflasche greife, um sie in meine Handtasche zu stopfen, höre ich, wie Pierre seinen Stammhalter zum Wagen schickt, und leider höre ich noch viel mehr aus dem Mund des Sohnes, obwohl sich die beiden schon ein Stück von mir entfernt haben: »Was ist nur in dich gefahren, dich mit so einer dahergelaufenen Drogensüchtigen zu unterhalten! Hast du ihre Haare gesehen? Und das Piercing?«
Die Antwort des Vaters ist so leise gebrummelt, dass ich nichts mehr verstehe, aber ich schiele kurz zu den beiden Männern hinüber. Pierre schiebt seinen ekelhaft gutaussehenden Abkömmling in Richtung der Straße, wo ich ein Fahrzeug stehen sehe. Dort warten auch die restlichen geschniegelten Herren und ich sehe, wie dieser Jérôme auf die Männer einredet und in meine Richtung deutet. Oh weh! Ruckartig schließe ich den Reißverschluss an meiner Tasche, da steht Pierre schon bei mir. Von seiner Gebrechlichkeit kann ich kaum mehr etwas wahrnehmen. Ob er sich in Gegenwart seines Sohnes besonders bemüht?
»Es tut mir sehr leid, wie er sich Ihnen gegenüber benommen hat. Wir sind unter Zeitdruck und ich alter Trottel sitze hier und vertrödele die Zeit mit ein paar Spatzen. Vielleicht kann das als Entschuldigung gelten.«
»Kein Problem, alles in Ordnung«, lüge ich mit einem verkrampften Lächeln und schlucke danach schwer. Das flaue Gefühl in meiner Magengegend lässt mich spüren, dass ich hier versuche, eine Kränkung wegzulügen. Ich spüre aber auch eine gute Portion Ärger darüber, dass Pierre die Schuld für das Verhalten seines Sohnes auf sich nimmt.
»Es ist nicht in Ordnung. Das sind die Momente, in denen ich mir noch mehr wünsche, dass meine Frau hier wäre. Sie hätte ihm die Löffel langgezogen. Verstehen Sie mich nicht falsch, er ist ein guter Junge; aber wenn ich ihn mir so ansehe, dann frage ich mich manchmal, was ich verkehrt gemacht habe.«
Mein Blick fällt automatisch auf den schlanken Mann mit dem schwarzen Haar, für den die Bezeichnung »Junge« absolut ungeeignet ist. Obwohl ich mir wegen seiner dynamischen Bewegungen durchaus vorstellen könnte, dass er manchmal das Kind im Manne rauslässt, ist er ganz klar ein Mann.
Mit verschränkten Armen steht er bei dem Wagen und erwartet ungeduldig die Ankunft seines Vaters. Als er meinen Blick bemerkt, zieht er sich seine Sonnenbrille aus der Tasche und sieht weg, als er sie sich aufsetzt.
»Sie haben bestimmt nichts verkehrt gemacht«, raune ich und starre den Sohn immer noch an, während ich mich frage, was ich dagegen wohl verkehrt gemacht habe. Der dicke Kloß in meinem Hals will einfach nicht verschwinden.
»Wissen Sie was? Kommen Sie doch heute Abend mit Ihrer Oma zum Essen zu mir ins Hotel.«
Es dauert einen Moment, bis ich die gehörten Worte in mein Bewusstsein gelassen habe. Das hat er jetzt nicht wirklich gesagt? Meine dankende Ablehnung will ich gerade formulieren, aber er erstickt sie im Keim.
»Keine Widerworte. Viel zu selten nehme ich mir die Zeit, eine nette Zufallsbekanntschaft zu pflegen. Außerdem interessiert mich die Geschichte zu Ihren Haaren und ich befürchte, dafür fehlt mir jetzt die Zeit.«
»Meine Dreads interessieren Sie?«
Er nickt. »Sagen wir um 19 Uhr?«
Würde er mich nicht so entspannt anlächeln, dann hätte ich bestimmt nicht so schnell genickt. Ich habe genickt? Ich muss von allen vernünftigen Gedanken verlassen worden sein.
Naja. Ehrlich gesagt stimme ich nur zu, damit er endlich zu seinem Sohn geht, der mich nun unter seiner silberverspiegelten Pilotenbrille ausgiebig zu mustern scheint. Die Mimik, die ich außerhalb der Brille erkenne, würde ich als besonders angepisstes Pokerface deuten. Wer hat dem denn in die Suppe gespuckt?
»Sehr schön. Dann sehen wir uns.«
Mit diesen Worten geht Pierre zu seinem wartenden Familienmitglied, das sofort ins Auto einsteigt.
An dem Schritt des alten Mannes kann ich sehen, dass er auch nicht mehr sonderlich gut zu Fuß ist. Bevor er zu seinem Sohn in den Wagen steigt, berührt er einen der Anzugträger am Arm und flüstert ihm etwas ins Ohr. Weil der dann zu mir sieht, beschließe ich, mich jetzt endgültig vom Acker zu machen. Zumindest sollte ich mich in den Schatten verziehen. Die Sonne hat mir wohl einige Gehirnzellen verkocht.
Damit meine ich, dass ich zwar single bin, aber noch nie das Bedürfnis hatte, mit älteren Männern im Park anzubandeln. Bis jetzt jedenfalls.
Jetzt wird der geordnete Rückzug vorbereitet. Ich wende mich um und mache mich auf den Weg zu einer Bank im Schatten.
Aber ich komme gar nicht bei der Bank an, als ich eine Hand spüre, die sich von hinten auf meine Schulter legt. »Dürfte ich bitte Ihren Ausweis sehen?«
Verwundert drehe ich mich um und bin mehr als nur überrascht, dass der Anzugträger in Begleitung zweier Polizisten hier steht.
»Ja … natürlich«, stammle ich und gehe die letzten Meter bis zu der Bank im Schatten.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Der Kloß, der irgendwie nicht verschwinden will, pulsiert derart kräftig mit, dass mir davon übel wird. Es regt mich auf, dass ich ständig stark schlucken muss.
Verschreckt wühle ich in meiner Tasche herum und bin wirklich froh, dass ich meinen Ausweis so schnell zur Hand habe.
»Ines Herzog …«, liest der geschniegelte Typ vor und ich werde das Gefühl nicht los, dass er das nicht einfach nur so wiederholt hat, sondern dass er das irgendjemandem weitergegeben hat. Da fallen mir auch die technischen Errungenschaften auf, die er im Ohr stecken hat.
Wen hab ich da eben eigentlich kennengelernt? Den französischen Außenminister? Oder befinden sich hier die Men in Black auf geheimer Erkundungsmission? Also ehrlich. So außerirdisch sehe ich auch nicht aus. In den Augen von Pierres Abkömmling vielleicht unterirdisch, aber das alleine kann mich ja noch nicht verdächtig machen.
»Bleiben Sie bitte einen Moment hier«, sagt einer der Polizisten, und zusammen mit dem anderen Mann und meinem Ausweis verschwindet er in Richtung Hotel. Der Anzugträger liest auf dem Weg alle Daten vor, die mein Ausweis hergibt. Toll!
Der andere Polizist bleibt bei mir und wartet. Weil er nichts sagt, sage ich auch nichts.
Außerdem möchte ich mir gar keine Gedanken darum machen, was hier los ist. Ich wollte bei dieser unbändigen Hitze doch nur einem alten Mann eine Flasche Wasser spendieren.
Dieser Gedanke verfolgt mich noch auf dem ganzen Weg bis in meine Wohnung, den ich sofort antrete, als ich endlich meinen Ausweis zurückbekomme.
Meine Wohnung ist eigentlich unsere Wohnung. Ich teile sie mit meiner Schwester Marie und meinem Kumpel Florian. Marie arbeitet seit Kurzem in einer Rechtsanwaltskanzlei und lässt sich dort meiner Meinung nach nur ausnutzen. Sie arbeitet von morgens bis abends und ihre Stimmung erreicht nicht einmal mehr ein annehmbares Niveau. Eigentlich ist das nicht verwunderlich, weil sie dauererschöpft ist.
Flo verdient seinen Lebensunterhalt von zu Hause aus, als Produkttester. Während Flo äußerlich eher mir ähnelt, ist meine Schwester meist extrem schick gekleidet. Sie ist es auch, die mit strengen Regeln dafür sorgt, dass unsere Wohngemeinschaft nicht völlig verwahrlost. Obwohl sie mich manchmal mit ihrer bevormundenden Art aufregt, muss ich ihr eines lassen: Es funktioniert. Flo leistet genauso seinen Beitrag zur Sauberkeit und Ordnung wie ich.
Ohne die seriöse Ausstrahlung von Marie hätten wir die Wohnung bestimmt niemals bekommen. Herr Willmann, ein Rentner, wohnt selbst im Erdgeschoss des Hauses und hat uns die Wohnung im ersten Stock vermietet. Er hat auch ein Hobby: Am liebsten verwickelt er uns in Gespräche, wenn wir nach Hause kommen. Inzwischen habe ich aber schon gelernt, wann ich ihn in seinem Redeschwall unterbrechen kann. Dann ist Flucht nach oben angesagt. Er ist eben einsam und freut sich über ein bisschen Ansprache.
Als unser Vermieter seinen Kopf in den Gang streckt, eile ich gleich nach oben: »Entschuldigung, aber ich muss dringend auf die Toilette.« Flucht gelungen, und das ohne ein Wort von Herrn Willmann. Strike!
Touchdown, denke ich mir, als ich endlich in meinem Zimmer angekommen bin.
Obwohl wir alle unsere Handys haben, teilen wir uns auch einen Festnetzanschluss, für den sich allerdings kaum jemand zuständig fühlt. So auch an diesem Abend, als das Gerät penetrant klingelt.
»Flo!«, brülle ich aus meinem Zimmer, weil sein Raum dem Apparat am nächsten liegt. Mein Heftroman hat mich für sich reserviert und ich habe nicht vor, jetzt zu unterbrechen. Schließlich scheint sich gerade das heiß ersehnte Happy End anzubahnen.
»Ja«, nörgelt Flo in den Apparat und ich lehne mich zufrieden in meinen Lesesessel zurück, weil ich bemerke, dass das Ja bereits dem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung gegolten hat.
»Jo, die ist da. Warte mal … Ines!«
Nein. Ein Anruf für mich?
»Ohh.« Ich stöhne genervt auf und rappele mich vom Sessel hoch.
Flo hält mir den Hörer demonstrativ entgegen. Sein Blick spricht Bände: Es ist klar, dass er mir vorwirft, warum ich nicht gleich ans Telefon gegangen bin.
»Ein gewisser Pierre«, brummt er mir zu, bevor er mich mit dem Hörer in der Hand stehen lässt.
Verdattert halte ich den Apparat an mein Ohr. Es ist ein Wunder, dass mir mein eigener Name noch einfällt. »Ines Herzog?«
»Guten Abend, Ines, ich wollte mich nur noch einmal vergewissern, ob Sie meiner Einladung auch tatsächlich Folge leisten.«
Ach du Schreck! Um ehrlich zu sein, ich hatte nicht vor, diese Einladung wahrzunehmen. Ich fühle mich schrecklich ertappt, so als hätte der alte Mann mich vollkommen durchschaut. Hastig schiele ich auf die Uhr, die neben mir an der Wand hängt. Es ist bereits nach sechs Uhr und meine Oma hat keine Ahnung, dass ich zusammen mit ihr zum Abendessen eingeladen bin.
Als wäre das Pierres Stichwort gewesen, fragt er: »Ihre Großmutter hat hoffentlich Zeit? Ich habe ein Taxi bestellt. Sie werden in ca. 20 Minuten abgeholt. Wohnt Ihre Großmutter in der Nähe?«
»Nun … ja … sie wohnt nur zehn Minuten mit dem Auto von mir …«
Na toll. Meine Adresse hat er wohl direkt von meinem Ausweis.
»Sehr gut. Ich freue mich. Bis gleich.« Schon hat er aufgelegt.
»Aben wir einen französischen Verehrer, Chérie? Der örte sisch aber alt an.«
Immer noch den Hörer in der Hand, blicke ich hinter mich und sehe Flo lässig an seinen Türrahmen gelehnt. Seine enge Stretchhose betont seine schlanke Figur. Seine zotteligen, blondierten Haare hat er meist unter einer selbstgehäkelten Wollmütze versteckt und nur die Haarspitzen lugen darunter hervor.
Er sieht so absolut locker und lässig aus. Sein Lächeln finde ich immer wieder sehr sympathisch und es lenkt meine Aufmerksamkeit auf seine vollen Lippen mit dem Piercing.
»Heute habe ich beim Spaziergang einen älteren Herrn kennengelernt. Er hat Oma und mich zum Abendessen eingeladen.«
»Ist der in Ordnung? Also, ich muss sagen, er hat sich ganz locker angehört, aber nicht, dass das so ein alter Lustmolch ist.«
»Ja, er ist völlig in Ordnung. Und er ist nett. Wir haben ein paar Gemeinsamkeiten, wie es scheint.« Ich lächle, weil ich mich darüber freue, dass Flo anscheinend in die Rolle des wachsamen großen Bruders geschlüpft ist.
»Und? Gehst du mit Leni hin?«
»Ach, Omi! Der hab ich noch gar nichts davon erzählt. Eigentlich dachte ich, das war nur so eine dahergesagte Einladung. Aber eben hat er angerufen und gesagt, ein Taxi würde mich abholen.«
»Was hast du getan? Mit deinen langen Wimpern geklimpert?«
Jetzt muss ich über ihn lachen. Wir wissen beide genau, dass meine Wimpern nicht das sind, was an mir zuerst auffällt.
»Ich habe ihm eine Flasche Wasser spendiert. Er saß in der prallen Sonne auf Opas Bank.«
»Was? Er hat also die Frechheit besessen, deine Privatbank zu besetzen? Und er hat es überlebt?«
Flo kennt die Geschichte von meinem Opa und mir und der Parkbank, die wir wöchentlich besucht haben. Deshalb brauche ich nur zu nicken.
»Willst du nicht endlich den Hörer auflegen und dich fertig machen?«
Oh! Ich halte tatsächlich immer noch den Hörer in der Hand, was ich schnell ändere. Flo will schon zurück in sein Zimmer gehen, aber ich gehe ihm nach. Er drängt sich nie auf, aber er ist so etwas wie mein Vertrauter geworden in all den Jahren unserer Freundschaft.
»Er … hat einen Sohn.«
Sofort bleibt Flo stehen und wendet sich mir wieder zu. »Ach!«
»Ja …« Warum nur kann ich Flo nicht in die Augen sehen? »Der scheint ein Arschloch zu sein.«
»Das hast du aber verdammt schnell herausgefunden. Was hat er gemacht? Eine Schere gezückt, als er deine Frisur gesehen hat?«
Er hat ja keine Ahnung, wie nahe er der Realität damit kommt.
»Nee, das hat er nicht wirklich getan, oder?«, hakt er nach, weil er meine Miene richtig deutet. Hilflos zucke ich mit den Schultern. »Nein, aber er hat mich einfach ignoriert.«
Jetzt lacht Flo auf. »Ja, niemand ignoriert eine Ines Herzog.«
»Hör auf. So war das nicht. Ich habe mich ihm vorgestellt – natürlich besonders höflich – und er hat mich ignoriert und mich beleidigt.«
Also erzähle ich Flo alles, was mir widerfahren ist.
Danach zuckt er mit den Schultern: »Hat es dich jemals gejuckt, wenn sich jemand so aufführt? Vergiss den Typen.«
Flo meint es gut mit mir und ich kann mich auch nicht erinnern, wann mich jemals eine Bemerkung so gekränkt hat. Okay, ich war schon des Öfteren angefressen, wenn ich mir dumme Kommentare wegen meiner Haare anhören musste, aber so verletzt hat mich noch niemand. Es ging hier auch deutlich über meine Frisur hinaus: Heute hatte ich das Gefühl, dass ich überhaupt nichts wert bin. Zumindest nicht in den Augen dieses Mannes.
»Der Typ hat mich als Mensch verachtet. Dabei ist er nichts weiter als ein eingebildeter Schönling im glänzenden Designeranzug. Sogar Gel hatte der in seinen gelockten Haaren. Wahrscheinlich schläft der jede Nacht mit Lockenwicklern.«
»Hey, hey, hey. Du schießt ganz schön scharf zurück. Stell dich nicht auf eine Stufe mit dem Kerl. Geh zu dem Essen mit seinem Alten und vergiss den Zombie.«
»Was mach ich, wenn der auch da ist?«
»Bestimmt nicht. Wenn sein Vater gemerkt hat, wie sehr sich sein Sohn danebenbenommen hat – und das hast du mir ja erzählt –, dann wird er ihn nicht zu einem netten Gespräch über deine Haare einladen.«
»Hm«, sage ich und überlege.
Nein, wahrscheinlich würde er auch nicht daran teilnehmen, selbst wenn sein Vater ihn dazu einladen würde. Oder doch?
»Ach, ich weiß nicht«, zweifele ich laut.
»Mach dich lieber fertig. Dein Taxi kommt bald. Zieh was Hübsches an. So was wie ein Kleid.«
»Ha! Du meinst das eine Kleid, das ich besitze? Das ist ein Strandkleid.«
»Macht doch nichts. Es ist ein hübsches Kleid. Glaub mir, ältere Männer freuen sich, wenn sie eine junge Frau in einem schönen Kleid sehen. Also, immer vorausgesetzt, dass er wirklich so seriös ist, wie du sagst.«
Also gut. Dann ziehe ich eben dieses Kleid an.
»Braves Mädchen«, raunt Flo mir nach, als ich in mein Zimmer gehe, obwohl meine Antwort nur gedacht war.
Eben dieses Kleid ist leider knallig gelb, mit einigen türkisfarbenen Batikanteilen darin. Passend zu meinen hellblonden Rastahaaren, die dann noch pinke und lilafarbene Anteile von älteren Färbeversuchen aufweisen. Prima! Damit bin ich bunter als so mancher Papagei. Aber ich war schon immer farbenfroh.
Gerade als ich fertig bin, werde ich von dem angekündigten Taxi abgeholt. Für die Omi habe ich jetzt keine Zeit mehr gehabt. Ich werde auf gut Glück bei ihr vorbeifahren müssen, um zu sehen, ob sie sich für ein spontanes Abendessen erweichen lässt.
Im Treppenhaus treffe ich meine Schwester Marie, die kraftlos die Stufen zu unserer Wohnung nimmt. »Du gehst aus?«
»Ja, erzähl ich dir ein anderes Mal.«
»Gut. Viel Spaß.« Sie klingt so ausgepowert.
Die Arme. Die dunklen Ringe unter ihren Augen und die nicht mehr perfekt sitzende Frisur lassen mich nur erahnen, dass sie wieder mal den ganzen Tag geschuftet hat. Eigentlich ist es kein Wunder, dass sie immer öfter miese Laune hat.
»Du solltest mal Urlaub machen«, sage ich.
Sie winkt ab. »Sag das meinem Chef.«
Das Taxi hupt erneut und ich mache mich auf den Weg zu Omi.
Auf jeden Fall freut sie sich sehr, mich zu sehen, als sie mir die Tür ihres kleinen Reihenhäuschens öffnet. Ihr Nachbar freut sich weniger: Wie immer lugt er missmutig hinter seinem Küchenvorhang hervor. Endlich hat er wieder etwas, worüber er sich aufregen kann. Ein Taxi in seiner Straße – das geht ja wohl mal gar nicht!
»Ines, so eine Überraschung. Komm herein.«
»Nein, komm du heraus. Wir sind zum Abendessen eingeladen.«
»Hab ich einen Termin vergessen?«
»Nein, es ist alles ziemlich kurzfristig. Kannst du dich fertig machen? Ich erklär dir alles im Taxi.«
»Taxi? Das klingt ja alles sehr aufregend.«
Die Aufregung bringt ein Leuchten in Omas Augen und Leben in ihre Handlungen. Eilig macht sie sich ausgehfein. Es dauert natürlich trotzdem alles seine Zeit. Sie trägt meist diese Haushaltskittel mit den unmöglichen Musterungen, wenn sie zu Hause ist. Aber da sie ansonsten keinen Unterschied zwischen zu Hause und Ausgehen macht, muss sie sich tatsächlich nur ein anderes Kleid anziehen, dann ist sie fertig. Es wundert mich schon etwas, dass sie nicht genauer nachgefragt hat, was los ist. Es ist ja nicht so, dass ich jeden Freitagabend bei ihr vor der Tür stehe und sie zu einem Essen entführe.
Kaum, dass sie bei mir im Taxi sitzt, fragt sie schon: »Also, welches Abenteuer haben wir zwei Hübschen heute vor? Gehts in die Disco?«
Lachend verneine ich und erkläre ihr knapp, dass ich einen freundlichen älteren Herrn kennengelernt habe. »Der wohnt in Opas Hotel und hat Opa auch gekannt. Er wollte unbedingt, dass ich zum Essen komme und dich mitbringe.«
»Das heißt, wir fahren ins Parkhotel?«
»Ja«, gebe ich zu und es ist mir nicht entgangen, dass Omi leicht panisch klingt.
Ich beobachte, wie sie kräftig schluckt und aus dem Fenster sieht. »Okay, Ines. Ich sage jetzt bestimmt nicht Nein, aber ist dir klar, dass ich dort nicht mehr war … seit …«
»Oh, das wusste ich nicht. Weißt du, ich gehe fast jeden Freitag zu der Bank, auf der ich immer die Tauben mit Opa gefüttert habe.«
Sie nickt und betrachtet ihre Hände, die sie ruhig in ihren Schoß gebettet hat. Sie trägt noch immer ihren Ehering. Dann schnauft sie erneut tief durch, sieht mich an und lächelt. »Vielleicht ist es an der Zeit, dieses Gebäude nicht länger zu meiden. Wer weiß, vielleicht ist es Schicksal, dass ich heute mit dir dorthin muss.«
»Bestimmt«, sage ich und lächle sie an. Ihre Worte verdrängen mein schlechtes Gewissen nicht ganz.
Es ist ja auch so, dass weder Omi noch ich ständig Gast in solchen Hotels sind. Ich kann verstehen, dass Omi sicherlich auch deswegen beunruhigt ist.
Aber für einen Rückzieher ist es zu spät – wir sind schon da. Der Taxifahrer will kein Geld. Er gibt an, bereits für die Fahrt entlohnt worden zu sein, und verabschiedet uns höflich.
Oma und ich betreten das Hotel, nachdem wir von dem Wagenmeister begrüßt worden sind. Mit Mantel und Zylinder sieht er genauso aus wie mein Opa immer, und ich kann es meiner Oma ansehen, dass dies ein schwerer Gang für sie ist. Das hatte ich natürlich nicht bedacht, als ich dieser Einladung zugestimmt habe. Für meine Oma ist dieses Hotel ein emotional behafteter Ort. Für mich eigentlich auch, aber auf einer anderen Ebene als für Oma. Bei mir überwiegen die glücklichen Erinnerungen und überdecken die Trauer. Für Oma scheint der Schmerz über den Verlust im Vordergrund zu stehen.
»Gehts?«, frage ich sie deshalb und hake mich bei ihr unter.
Sie riecht nach diesem schrecklichen Parfüm, das ich so hasse, das aber für mich für immer mit meiner Oma verbunden sein wird.
Spontan drücke ich ihr einen kleinen Kuss auf die mit Altersflecken übersäte Backe, die sich immer so erstaunlich weich und zart anfühlt.
Als wir die noble Suite des Hotels betreten, wird mir bewusst, warum ich mich noch wesentlich hübscher hätte machen sollen. Ein Hotelmitarbeiter hat uns geöffnet und mir wird schlagartig klar: Wir sind nicht die einzigen Gäste von Pierre.