Sanddornzauber - Lena Johannson - E-Book + Hörbuch

Sanddornzauber Hörbuch

Lena Johannson

0,0

Beschreibung

Auszeit mit Einsicht - In der Villa Sanddorn auf Rügen wartet mehr als nur Urlaub für die Seele Mit dem 4. Roman der Sanddorn-Reihe gelingt es Bestseller-Autorin Lena Johannson wieder wunderbar, den Zauber der Ostsee-Insel einzufangen, diesmal im Frühling. Mit 33 sucht Suse noch immer ihren Platz im Leben – kann ihr ein Coaching bei Franziska Marold weiterhelfen? Hoffnungsvoll und ein bisschen ängstlich zugleich bezieht Suse ihr Zimmer in der Villa Sanddorn auf Rügen. Franziska legt auch gleich den Finger in die richtige Wunde: den leidvollen Tod von Suses Mutter. Zum Glück sind die Frohnatur Gesa, der kleinwüchsige Florian und Franziska mit ihrer liebevollen Familie zur Stelle, wenn finstere Gedanken Suse zu überrumpeln drohen. Damit sie den Kopf frei bekommt, schickt Franziska Suse auf eine Bootstour mit dem Fischer Heinrich. Mit an Bord ist der geheimnisvolle Meeno: selbstbewusst, erfolgsverwöhnt und eigentlich so gar nicht Suses Typ. Trotzdem wird sie neugierig, als Meeno sich bei Heinrich nach einer Yacht erkundigt, die vor zwei Jahren vor Rügen gesunken sein soll. Und als er sie kurz darauf einlädt, mit ihm auszugehen, sagt sie zu. Schließlich will sie sich ja verändern. Mit dieser Entscheidung nimmt Suses Leben tatsächlich eine ganz neue Wendung … Auch im 4. Band der Sanddorn-Reihe begegnen wir Franziska Marold und ihrem Mann Niklas aus den ersten Sanddorn-Bänden, Suses Geschichte ist aber auch unabhängig lesbar. Lena Johannsons Wohlfühlromane über die zauberhafte Ostsee-Insel Rügen sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Sanddornsommer - Villa Sanddorn - Sanddorninsel - Sanddornzauber

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:10 Std. 20 min

Sprecher:Sandra Voss
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lena Johannson

Sanddornzauber

Ein Rügen-Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Mit 33 sucht Suse noch immer ihren Platz im Leben – kann ihr ein Coaching bei Franziska Marold weiterhelfen? Hoffnungsvoll und ein bisschen ängstlich zugleich bezieht Suse ihr Zimmer in der Villa Sanddorn auf Rügen. Tatsächlich legt Franziska gleich den Finger in die richtige Wunde: den leidvollen Tod von Suses Mutter. Damit sie den Kopf frei bekommt, geht Suse auf eine Bootstour mit Fischer Heinrich. Mit an Bord ist der geheimnisvolle Meeno – eine Begegnung mit ungeahnten Folgen …

Inhaltsübersicht

Widmung

Auf hoher See und vor Gericht

Nächtlicher Besucher bei Putgarten

Aufbruch zur Einsicht

Lampenfieber

Der Urlaub der seltsamen Männer

Versuch macht kluch

Schatzsuche

Ein Date?

Geister der Vergangenheit

Reden ist Silber

Hundstage

Forschungsreise in die Vergangenheit

Wo steckt Rudi?

Verraten und verkauft

Vom Verschwinden und vom Auftauchen

Noch mehr Licht im Dunkeln

Fallensteller und Beute

Kriegsrat Quattro Stagioni

In der Falle

Epilog

Nachwort

Für all die guten Geister, die nicht im Rampenlicht stehen, ohne die es uns allen aber so viel schlechter gehen würde. Exemplarisch für diese große Gruppe von Menschen widme ich das Buch den Abfallentsorgerinnen und -entsorgern und Lkw-Fahrerinnen und -Fahrern.

Auf hoher See und vor Gericht

Juli 2000

Müssen wir unbedingt auf der Nussschale übernachten? Die ist doch viel zu klein für zwei.«

»Überhaupt nicht. Die Tischplatte kurbeln wir runter, siehst du? Matratze drauf, fertig ist der zweite Schlafplatz.«

»Gefühlt direkt neben dem ersten«, maulte Meeno. Ihm war bereits klar, dass sein Widerstand zwecklos war.

»Wir wollen schließlich ein Vater-Sohn-Wochenende verbringen. Ohne Übernachtung ist es nur ein Vater-Sohn-Samstag.«

»Du willst«, knurrte Meeno.

»Was?«

»Ich meine ja nur, wir könnten genauso gut an Land pennen und zwei Tagestouren draus machen.«

»Das ist nicht dasselbe.« Herbert hatte richtig rosige Wangen vor Aufregung. Meeno musste grinsen. Typisch, sein alter Herr. »Es ist dein Geschenk zum Achtzehnten und zum Abi. Das soll schließlich etwas Besonderes sein, etwas, das du nie vergisst.«

»Werde ich bestimmt nicht.« Schon weil die anderen aus seiner Clique an diesem Wochenende eine richtig krasse Sause vorhatten. Drei-Muskel-Tour. Erst ein Stück mit der Draisine, dann über einen See rudern und zum Schluss auf einem dieser Konferenzfahrräder strampeln, auf denen mehrere Personen im Kreis saßen, einen Kasten Bier in der Mitte. Die würden echt Spaß haben. Ohne ihn.

»Nein, das wirst du nicht, dafür werde ich sorgen.« Herbert strahlte.

Meeno schnaufte. Er stand unentschlossen an der Mole von Schlüttsiel. Nur ein paar Schritte von hier entfernt starteten Urlauber zur Hallig Hooge. Konnte es etwas Öderes geben? Wahrscheinlich waren das die gleichen Typen, die auch glaubten, ihren Sprösslingen mit einem Segeltörn in einem Boot eine Freude zu machen. Mann, warum konnte sein Vater nicht verstehen, dass ein Achtzehnjähriger mehr Bock auf seine Kumpels und auf Mädchen hatte als auf seinen alten Herrn. Bestimmt kapierte er das sogar, nur wäre die Konsequenz für ihn eben eine Riesenenttäuschung. Er hatte sich doch alles so schön ausgedacht. Obwohl Meeno schwer genervt war, konnte er seinem Vater den Wunsch nicht abschlagen, einen auf heile Welt zu machen. So wenig er Herberts flehenden Blick auch leiden konnte, so sehr berührte er ihn doch. Das war die Krux: Meeno hasste die Schwäche seines Vaters und verabscheute sich gleichzeitig dafür, auch nicht hart bleiben zu können, nicht bei diesem Blick.

»Willst du da Wurzeln schlagen?« Herbert lachte ihn an. »Holen wir das Gepäck und vor allem den Proviant, und los geht’s!« Er klopfte Meeno auf die Schulter, der setzte sich in Zeitlupe in Bewegung. Ein komplett weltfremder Teil in ihm hoffte, dass in letzter Sekunde von irgendwoher Rettung nahte. Vielleicht sagte jemand, eine Seuche habe sich explosionsartig auf Sylt ausgebreitet. Oder der Hafenmeister verkündete eine katastrophale Wetterprognose, bei der man auf keinen Fall rausfahren dürfe. Natürlich geschah nichts dergleichen. Meeno blieb nichts anderes übrig, als sich seinem Schicksal zu beugen. Er holte seine Tasche aus dem Auto und half Herbert mit den Kisten. Unfassbar, was sein Vater alles mitschleppen wollte. Wenigstens würden sie reichlich zu essen und zu trinken an Bord haben, wie ein dickes Paket vom Schlachter, ein in Papier gewickeltes Meterbrot und diverse Flaschen verrieten. Sein Vater war bester Laune. Immerhin einer von ihnen.

 

Den Delphin, ein sieben Meter langes Segelboot, hatte Herbert selbst gebaut. Eigentlich war er nicht der geborene Handwerker und hatte, soweit sich Meeno erinnerte, auch nie ein Hobby gehabt, aber den Kahn hatte er wirklich gut hinbekommen.

»Nicht zu groß, damit ich es bequem allein unter Kontrolle behalten kann«, hatte er erklärt, als er Meeno vor Jahren den Rohbau in der Garage präsentiert hatte. Bis zu dem Moment hatte strenges Betretungsverbot gegolten. Selbst Herberts Mercedes war ausgesperrt worden, für ihn war einfach kein Platz mehr gewesen. »Den Plan hat mir ein Profi gezeichnet. Er hat sich dabei an klassischen Saloon Cruisern orientiert.«

Das war echt lange her. Herbert hatte Jahre gebraucht, bis er sein Werk hatte zu Wasser lassen können. Dafür hatte er aber auch jede Sperrholzplatte eigenhändig gebogen, jede Planke montiert, sogar die Pinne selbst gedrechselt und ewig geschmirgelt. Vom Bau der tragenden Struktur bis zur Lackierung war alles Eigenleistung, Hilfe hatte er nie gehabt und auch nicht gewollt. Man konnte seinem Vater einiges vorwerfen, aber das hat Meeno schon immer an ihm bewundert: dass er sich selbst ein Boot gebaut hat und allein damit unterwegs war, wann immer er konnte. Ein begnadeter Skipper war er nicht gerade, aber er kam zurecht.

»Ist ja richtig gemütlich, der Salon«, meinte Meeno, um etwas Nettes zu sagen. Gelogen war das nicht, wobei er alles ein bisschen zu gewollt maritim und zu altmodisch fand. Blau-weiß gestreifte Polster und Vorhänge, jede Menge dunkles Holz.

»Saloon«, korrigierte Herbert ihn. Meeno zog die Augenbrauen hoch. »Salon ist die französische Variante, die besonders vornehm sein will. Echte Seeleute haben einen Saloon. Das ist das Herz des Schiffes, da kommen alle zusammen.«

»Wird ’ne ziemlich übersichtliche Zusammenkunft mit uns beiden.« Meeno lachte.

»Ach was, einmalig wird das. Wirst sehen. Du brauchst auch nichts zu tun, wenn du nicht willst. Der Delphin ist komplett einhandtauglich.«

»Weiß ich doch, Papa. Ich hab aber nichts dagegen, mit anzupacken.« Was sollte er sonst tun, seinem Vater zusehen? Da würde er ja vor Langeweile umkommen.

»Ja, gut.« Herbert bekam das Lächeln nicht mehr aus dem Gesicht. Irgendwie niedlich.

Nachdem sie abgelegt und den Hafen von Schlüttsiel hinter sich gelassen hatten, schipperten sie ein Stück an der Küste hoch. Auf Höhe von Dagebüll hielten sie sich westlich und segelten dicht an Föhr vorbei. Viel zu sehen gab es nicht. Nur Deich mit Schafen und reichlich grüne Wiesen. Eine Fähre kreuzte ihren Weg.

»Der soll sich mal lieber nicht mit uns anlegen«, scherzte Herbert. Der verkniffene Zug um seinen Mund verriet seine Nervosität. Er hatte eben deutlich mehr Zeit mit dem Delphin in der Garage als auf See verbracht. Darum konnte er ihn besser reparieren als lenken. Von Routine an der Pinne konnte keine Rede sein, das war ihm allzu bewusst.

»Wenn ich etwas tun kann …« Meeno fühlte sich ein wenig überflüssig.

»Dann sage ich Bescheid«, kam es sofort zurück. Und dann etwas entspannter: »Mach’s dir bequem. Du hast in den letzten Monaten genug gepaukt. Dieses Wochenende kannst du dich so richtig verwöhnen lassen.« Er fuhr sich durch die Haare. Sie hatten beide keine Übung darin, Zeit miteinander zu verbringen. »Mach dir ruhig ein Bier auf, wenn du magst.« Herbert sah es nicht gern, wenn Meeno Alkohol trank. Aber er wollte wohl unbedingt alles richtig machen.

»Danke, ist noch ein bisschen früh.« Meeno grinste. »Dann packe ich mich in die Sonne. Und du meldest dich wirklich, wenn eine zweite Hand gebraucht wird, okay?«

»Versprochen!«

Meenos Gedanken wanderten wieder zu seinen Kumpels und vor allem zu den Ladys, die jetzt wahrscheinlich schon die Draisine hinter sich hatten. Er stellte sich vor, wie sie völlig verschwitzt und vermutlich auch schon beschwipst kicherten und flirteten. Er hatte keine spezielle Favoritin. Zwei, drei aus seiner Stufe waren ziemlich süß. Er hätte gern gecheckt, ob mit einer davon was ginge. Egal, nicht mehr lange, dann fing sein Studium an. Informatik war nicht gerade das Fach, in dem sich viele schicke Damen tummeln würden, an der Uni aber schon. Er streckte sich aus. Sein Vater hielt auf die Südspitze von Sylt zu. Der Strand war so weiß, dass Meeno kaum hinsehen konnte. Dazu kam noch das Glitzern der Wellen, das Sonnenlicht, das relektiert wurde. Er blinzelte.

»Guck mal, Papa, Seehunde!«, rief er. Ziemlich uncool, er war ja aufgeregt wie ein kleiner Junge.

»Tatsächlich. Das Glück hat man nicht oft.«

Eigentlich hatte Meeno die Augen zumachen und etwas dösen wollen, bloß hatte er Angst, etwas zu verpassen. Er kannte die Nordsee nur grau, an diesem Tag war sie dunkelblau, garniert mit weißen Schaumkronen, die um den Schiffsleib tanzten. Es rauschte und roch nach Salz, eine Möwe begleitete sie kreischend und hatte es bestimmt auf ihren Proviant abgesehen. Nix da, du komischer Vogel, den hatte Herbert nur für sie beide besorgt, gierige Flattermänner standen nicht auf der Gästeliste. Die Gischt legte sich wie ein leichter Sprühnebel auf seine Haut. Der Wind war gerade kräftig genug, um nicht vor Hitze einzugehen. Und natürlich, um voranzukommen. Der Delphin hob und senkte sich gleichmäßig. Plötzlich freute Meeno sich, dass sie auf dem Kahn schlafen würden und nicht an Land.

 

Sie waren an Sylts Westseite hochgefahren. Herbert hatte ihm die berühmte Sansibar gezeigt und die Plätze, wo sich die Nackedeis tummelten, wie er sich ausdrückte. Albern, FKK-Strände so zu nennen, als wäre Meeno noch ein Kleinkind.

Als sie Westerland passierten, sagte sein Vater: »Ich mag die Ostsee lieber. Rügen ist mein Lieblingsrevier. Schade, dass es von Flensburg aus so weit weg ist.«

»Hättest eben nach Stralsund ziehen müssen, statt nach Flensburg«, wandte Meeno lässig ein.

»Das sagt sich so leicht.« Plötzlich sah Herbert irgendwie verloren aus. »Nächstes Jahr werde ich fünfzig. Für den Arbeitsmarkt ist das steinalt. Ich kann froh sein, überhaupt noch eine gute Stelle gefunden zu haben.« Meeno wusste, dass es nicht gerade Herberts Traumjob war, und Flensburg war bestimmt nicht die Stadt, in die es ihn gezogen hätte, aber bisher hatte Meeno gedacht, die Bezahlung hätte ihn überzeugt. Jetzt hörte es sich eher so an, als hätte sein Vater Angst gehabt, kein besseres Angebot zu bekommen oder überhaupt ein anderes.

»Irgendwann werde ich trotzdem mal hinsegeln, durch die Förde, an Fehmarn vorbei, die Boddenlinie entlang und schließlich um Hiddensee rum nach Rügen«, kündigte er an und lächelte angestrengt.

»Ihr wart doch immer die großen Sylt-Fans«, wandte Meeno ein.

»Nicht wir, deine Mutter. Sie wollte nichts anderes.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann das bis heute nicht verstehen. Gerade Westerland ist schlimm, oder? Sieh es dir nur an!«

Die Betonklötze waren wirklich nicht gerade malerisch.

»Ist ja toll, du kannst Sylt nicht leiden, und trotzdem schleppst du mich her.«

»Ich schleppe dich doch nicht.« Da war wieder dieser unterwürfige Blick mit einem Hauch Vorwurf drin.

»Nee, so hab ich’s nicht gemeint.«

»Ich auch nicht«, sagte Herbert eifrig. »Nicht, dass du mich falsch verstehst, die Insel ist herrlich. Landschaftlich, meine ich.« Da war was dran. Kaum hatten sie Westerland hinter sich gelassen, dominierten der endlose weiße Strand und die Dünen. Hier und da guckte ein Strohdach hervor. »Es gibt tolle Ecken, und in Seglerhäfen geht es immer kameradschaftlich zu. Ich habe mich nur da nicht wohlgefühlt, wo deine Mutter sein wollte. Kampen zum Beispiel.« Mehr sagte er nicht dazu, das war auch nicht nötig.

Es war Meeno ein Rätsel, wie zwei Menschen, die derartig unterschiedlich waren, überhaupt hatten zusammenkommen können, geschweige denn heiraten. Seine Mutter war zur Prinzessin erzogen worden. Seine Oma hatte ihrer Tochter quasi mit der Muttermilch eingeimpft, sich nie mit der zweiten Wahl oder der kleineren Portion zufriedenzugeben. Immer die höchsten Ansprüche, war ihr Credo gewesen. Weil Oma selbst in Armut aufgewachsen war und so gut wusste, wie sich Entbehrungen anfühlten, hatte sie ihre Tochter nach Strich und Faden verwöhnt. Gut gemeint war eben nicht immer gut gemacht, ging Meeno durch den Kopf. Sein Vater war eher der bescheidene Typ, der immer anderen den Vortritt ließ. Auch seine Eltern hatten am eigenen Leib gespürt, was Not und Mangel bedeuteten, nur hatten sie gerade in puncto Erziehung andere Schlüsse daraus gezogen. Die Ehe von Meenos alten Herrschaften hatte keine zehn Jahre gehalten, und das war schon mehr, als die meisten ihnen wohl insgeheim zugetraut hatten. Meeno wusste, dass er der Kitt in der Beziehung seiner Eltern hatte werden sollen. Das war gründlich schiefgegangen. Er hatte noch von keinem Fall gehört, in dem das funktioniert hatte.

Beim Lister Ellenbogen knurrte Meenos Magen unüberhörbar.

»Ich hab tierisch Kohldampf. Kann ich mal gucken, was die Kombüse so hergibt?«

»Klar, mein Junge. Ist sowieso längst Zeit für eine Pause.« Sie ankerten, Herbert stapelte Oliven, Salami, Käse und Cracker auf den Tisch. Sogar einen kleinen Kuchen hatte er dabei. »Das ist die Vorspeise, heute Abend wird gegrillt«, versprach er.

 

Im kleinen Hafen von Munkmarsch, wo sie über Nacht bleiben würden, gab es zu Meenos Freude sanitäre Anlagen. Herbert verkniff sich sogar jeglichen Kommentar darüber, wie degeneriert eine Generation war, die schon mit einem Chemie-Klo ihre Probleme hatte. Am späten Nachmittag hatten sie ihren Liegeplatz eingenommen. Meeno hatte sich nicht länger zurückgehalten, sondern sich die erste Flasche Bier aufgemacht. Kein Pils, sondern Bockbier. Sogar daran hatte sein Vater gedacht. Noch einmal glitten Meenos Gedanken zu seinen Jungs, die wahrscheinlich längst die dritte oder vierte Hopfenkaltschale am Hals hatten, wie sein Kumpel Mirko gern sagte. Bestimmt mühten sie sich jetzt mit einem Lagerfeuer ab, das nicht brennen wollte. Keiner hatte Ahnung, wie man die Flammen am besten zum Lodern brachte. Im Gegensatz zu Herbert, dessen Kohlen schon vielversprechend glühten. Gerade legte er Nackensteaks auf den Grill, die in Folie gewickelten Kartoffeln lagen ganz am Rand. Die Mädels seiner Abi-Klasse würden vermutlich hoffen, dass einer die Gitarre auspackte. Für die Romantik. Meistens war das Meenos Job. Er spielte nicht besonders gut, aber es reichte, um die Ladys zu beeindrucken. Frauen flogen auf Männer, die Balladen klimpern und leise singen konnten. Trotzdem war es nicht ausgeschlossen, dass seine Kumpels den früher oder später fröstelnden Damen ihre Jacken um die Schultern legten, in denen die Kavaliere selbst noch zur Hälfte steckten. Körperwärme half noch immer am besten gegen die Kühle der Nacht. Und irgendwann knutschten die einen, schliefen die anderen, und wieder andere fuhren nach Hause, während der Mann mit der Gitarre irgendwie von allen vergessen wurde. Eigentlich echt gut, dass Herbert ausgerechnet dieses Wochenende ausgesucht hatte.

»Fehlen nur noch Servietten«, sagte Herbert. Meeno stellte fest, dass er mit dem Kopf ganz woanders gewesen war. Er hatte nicht mal mitbekommen, dass sein Vater nicht nur einen Blick auf das Fleisch gehabt, sondern auch noch den Tisch gedeckt hatte. Darauf standen jetzt Kartoffel- und Nudelsalat, Knoblauchtunke, verschiedene Soßen, ein Korb mit Brot. Es gab richtige Teller und echtes Besteck. Plastik kam für Herbert nicht infrage. »Die müssten in der Tasche da sein.« Herbert deutete auf einen Baumwollbeutel. »Gibst du sie mir, bitte?«

»Klar!« Meeno entging nicht sein erwartungsvoller Blick, als er ihm das Paket reichte. »Männer in der Küche – Bier kalt stellen ist auch irgendwie kochen« stand drauf. »Witzig«, sagte Meeno.

Das Essen war klasse, das zweite Bock zeigte seine Wirkung.

»Boah, das war gut.« Meeno legte die Hände auf seinen Bauch. »Mehr passt auf keinen Fall rein.«

»Ein Verdauer geht immer. Ein voller Magen schreit förmlich nach einem Aquavit.« Der klare norwegische Kümmelschnaps gehörte für seinen Vater unbedingt mit an Bord.

»Bin gespannt, ob er hilft.« Meeno grinste. War schon komisch, auf einmal nahm Herbert ihn anscheinend als Erwachsenen ernst. Nur weil er achtzehn geworden war? Oder weil er das Abi in der Tasche hatte? Vielleicht die Kombination aus beidem. Bis jetzt hatte es bei Hochprozentigem immer geheißen, das sei nichts für Kinder. Dass er als Siebzehnjähriger gegen die Bezeichnung protestiert hatte, war sinnlos gewesen.

»Bier kann ich noch akzeptieren, aber wenn es um richtigen Alkohol geht, bist du sehr wohl noch ein Kind.«

Herbert reichte ihm ein Gläschen, sie stießen an.

»Auf dein Wohl, mein Junge!«

»Prost!« Meeno stürzte den Klaren hinunter und schüttelte sich.

Sein Vater feixte. »Na hör mal, das ist ein Klassiker!«

»Gin Tonic ist auch ein Klassiker. Und der schmeckt wenigstens.«

»Ist aber nicht geeignet, wenn der Bauch sowieso schon voll ist.«

»Okay, der Punkt geht an dich.«

Herbert sah ihn an. Irgendetwas lag ihm auf der Zunge, aber er zögerte.

Dann sagte er: »Ich freue mich sehr, dass du dich für den Ausflug mit dem Delphin und mit mir entschieden hast. Obwohl deine Clique ausgerechnet an diesem Wochenende euren Abschluss feiert.«

»Das hast du dir gemerkt?«

»Selbstverständlich.« Aus dem Grill, der sicher auf dem Kai stand, stieg eine winzige Rauchfahne auf, die sich bald aufgelöst haben würde. Sie hatten es sich auf der Bank hinter der Tür zum Saloon bequem gemacht und lauschten dem Glucksen des Wassers und dem Lachen anderer Segler, die mit ihren Schiffen links und rechts von ihnen festgemacht hatten und ebenfalls den lauen Sommerabend genossen.

»Hoffentlich ist unter deinen Kumpels nicht auch eine kleine Freundin, also, ich meine, deine Freundin. Was ich sagen will: Du würdest bestimmt nicht deine Freundin enttäuschen, um mit deinem alten Vater segeln zu gehen, hoffe ich.«

Normalerweise war Meeno schwer genervt, wenn sein Vater oder seine Mutter auf das Thema Mädchen kamen. Jetzt hatte er irgendwie Lust, darüber zu sprechen.

»Was du eigentlich sagen oder besser fragen willst, ist, ob ich eine feste Freundin habe.« Er grinste über das ganze Gesicht. Herbert war so perplex, dass Meeno lachen musste. »Nee, habe ich nicht.«

»Du, das geht mich nichts an, und ich hätte auch nicht gefragt«, beeilte Herbert sich zu erklären. Nach einem kurzen Moment sagte er: »Verstehe ich eigentlich nicht. An mangelndem Interesse der Damen kann es nicht liegen, du bist immerhin ein kluger, gut aussehender Bursche.«

Meeno zuckte mit den Schultern. »Ist eher so, dass ich kein großes Interesse habe.« Sein Vater sah ein wenig erschrocken aus. »Keine Sorge, ich bin nicht schwul.«

»Wie? Ach so.« Jetzt lachte Herbert. »Daran hatte ich gar nicht gedacht«, schwindelte er. Der Sonnenuntergang legte ein violettes Tuch über Nordsee und Insel. Kitschig, aber auch ziemlich schön. Aus der Hafenkneipe und vom Bootshaus fielen Lichter aufs Wasser und tanzten wie Glühwürmchen auf und nieder. »Und wenn, wäre das doch auch egal«, fuhr sein Vater plötzlich fort. Meeno zog die Augenbrauen hoch. »Was denn? Ich kann’s mir nicht vorstellen, mit einem Mann … Also für mich kann ich mir das nicht vorstellen. Aber wenn jemand so fühlt, soll er auch so leben. Wie soll er denn sonst glücklich werden?«

Meeno nickte langsam. »Coole Einstellung, Papa.«

»Ach was, alle Eltern wollen, dass ihre Kinder glücklich sind. Jedenfalls ist das der Normalfall. Darum geht’s, das ist das Wichtigste.« Wieder schwiegen sie eine Weile, ehe er sagte: »Wenn man gern Enkelkinder hätte, ist das natürlich so eine Sache. Ich kann verstehen, wenn ein Vater oder eine Mutter dann enttäuscht über die Nachricht ist, dass Sohn oder Tochter das eigene Geschlecht bevorzugt. Was soll’s, damit muss man sich eben arrangieren. Es geht schließlich nicht immer darum, was man sich wünscht. Wie weit Egoismus uns bringt, sieht man immer wieder.«

Das klang ein bisschen düster. Um seinen Vater auf nettere Gedanken zu bringen, stieß Meeno seine Bierflasche gegen die von Herbert.

»Ich stehe auf Frauen«, sagte er ohne Schnörkel. »Einige in meiner Stufe waren auch echt süß, top Figuren, hübsche Gesichter und so. Ob ich mal heiraten oder überhaupt eine feste Beziehung haben will, weiß ich trotzdem noch nicht. Ist vielleicht mehr mein Ding, das Ganze etwas lockerer zu halten.«

»Deine Mutter und ich sind wohl kein gutes Beispiel für die Ehe, was?«

Meeno schüttelte den Kopf. »Nee, das habt ihr voll versemmelt.« Sie mussten beide lachen. »Das ist es aber nicht allein. Ich weiß einfach nicht, ob es eine Frau gibt, die mir alles bieten kann, was ich mir wünsche. Ja, ja, ich weiß, das Leben ist kein Wunschkonzert und so. Außerdem ist es egoistisch, bestimmte Erwartungen an ein Mädel zu haben.« Meeno setzte die Flasche an die Lippen, weil ihm gerade nicht die richtigen Worte einfielen, um auszudrücken, was er wirklich meinte.

»Was sind denn deine Erwartungen?«, wollte Herbert wissen.

»Gute Frage, so genau weiß ich das gar nicht. Ich kann dir aber sagen, was ich nicht will: so eine wie Mutter.« Herbert wollte Einspruch einlegen. Klar, er nahm sie in Schutz. Noch immer. »Ist nicht böse gemeint. Sie ist mir einfach nur zu sehr mit ihrem Aussehen beschäftigt. Mal ehrlich, Papa, für Sport ist sie zu faul und geht immer mehr in die Breite, dafür kleistert sie sich immer mehr Farbe ins Gesicht. Blöderweise habe ich das Gefühl, die Ladys in meinem Alter sind genauso unterwegs.«

»Die Ladys«, wiederholte Herbert und lächelte.

»Im Unterschied zu Mama achten die allerdings sehr auf ihr Gewicht. Ist ja nicht so, dass ich nichts für einen hübschen Anblick übrig hätte, aber das kann’s doch nicht gewesen sein.«

»Auf keinen Fall«, stimmte sein Vater ihm zu. »Die Verpackung ist das eine, der Inhalt aber viel wichtiger.«

»Genau das meine ich. Die Ladys in meiner Stufe waren nicht dumm oder so, bloß haben die sich vor allem für Mode oder irgendwelche Musiker und Filmstars interessiert. Darüber kann man mal ein Stündchen quatschen, und was kommt dann? Die meisten kreisen außerdem nur um sich selbst, füttern ihre Instagram-Accounts mit Bildchen. Ich im Bikini am Strand, ich beim Eisessen auf der Promenade«, säuselte er mit hoher Stimme. Herbert lachte leise. Meeno blickte in die Ferne. »Weißt du, was ich am schlimmsten finde?« Er erwartete keine Antwort. »Irgendwie sind die alle total ähnlich. Wir hatten keine auf der Schule, die aus der Art geschlagen war, die ihr eigenes Ding gemacht und sich nicht für die gängige Meinung interessiert hat.«

»Vielleicht ist das das Problem«, meinte Herbert ernst. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du nicht der Typ für etwas Festes bist.«

»Hast recht.« Meeno ließ einige Sekunden vergehen, ehe er ergänzte: »Ich schaff mir einen Hund an.« Sein Vater verschluckte sich fast. Meeno lachte. »Ja, ein Husky zum Beispiel. Mit dem kann ich joggen gehen, der hat seinen eigenen Kopf. Das wär auch was Festes. Kann doch sein, dass das eher mein Ding ist als Vater, Mutter, Kind und so.«

»Warte mal, bis die Richtige kommt, dann siehst du die Sache anders.«

Die Richtige. Meeno konnte mit der Idee nicht viel anfangen. Gleichzeitig wünschte sich etwas in ihm , sein Vater könnte recht haben.

 

»Du meine Güte, wir sitzen hier herum, als hätten wir nichts zu tun«, rief Herbert plötzlich. Meeno wollte protestierten, dass Aufräumen und Abwaschen noch warten konnten, da sagte er: »Du musst doch noch Geschenke auspacken.«

»Ich dachte, mein Geschenk ist der Segeltörn mit Vollverpflegung.« Er grinste.

»Ach was, das ist nur das i-Tüpfelchen. Der Rest ist drinnen versteckt.«

»Versteckt?«

»Ganz genau, der Delphin hat nämlich Geheimfächer«, erklärte Herbert stolz. »Los, komm!« Schon war er im Inneren des Kahns verschwunden. Meeno trottete hinter ihm her die Treppe hinab. Ihm war schön schummerig im Kopf.

»Kannst du mir die Geschenke nicht einfach geben?«, bettelte er. Schon die Sucherei zu Ostern hatte er nie leiden können. Er hob lustlos ein Sitzpolster an und schnaufte, weil natürlich nichts darunter war.

»Na gut, mein Sohn, ich verrate dir die drei Verstecke. Sonst kommen wir heute nicht mehr ins Bett.« Er zwinkerte vergnügt, wurde aber sofort wieder ernst. »Niemand kennt sie, verstehst du? Niemand. Außer dir!«

»Geheimfächer, echt, Papa?« Er schnitt eine Grimasse. »Da bin ich aber gespannt.« Meeno verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete belustigt, wie sein Vater mit sicherem Griff eine Planke anhob, unter der ein Päckchen zum Vorschein kam. Faszinierend. Nachdem das Holz wieder an Ort und Stelle war, verriet nichts mehr den Hohlraum darunter. Meeno wickelte Gutscheine für einen Kinobesuch für zwei Personen und für ein Restaurant in der Nähe der Uni aus.

»Cool, danke.«

»Wer weiß, vielleicht lernst du die Richtige in der Uni kennen.« Meeno verdrehte die Augen. »Oder du machst dir einfach mit einem Kumpel einen schönen Abend.«

»Hört sich schon besser an.« Er lächelte.

»Weiter geht’s.« Herbert öffnete ein Schubfach in der Pantry, in dem Dosen- und Flaschenöffner ihren Platz hatten. Der Boden hatte an einer Ecke eine kleine Furche. Dort griff er hinein und hob das dünne Brett samt Schubladeninhalt ein Stück an. Ein doppelter Boden!

»Gibt’s ja gar nicht!« Meeno schüttelte den Kopf. Allmählich beeindruckte ihn der Ideenreichtum seines alten Herrn.

»Bitte sehr!« Herbert reichte ihm einen kleinen Leinenbeutel, der aussah wie ein Miniatur-Seesack.

»Danke.« Meeno betastete den Stoff. Fühlte sich an wie ein Schlüssel. Er schüttelte den Inhalt auf seine ausgestreckte Hand. Ein Autoschlüssel. »Das ist … Mensch, Papa, das geht doch nicht.« So viel verdiente Herbert nun auch nicht, dass er sich das leisten konnte. Obendrein lag Meenos Mutter ihm noch immer auf der Tasche.

Herbert lachte. »Keine Sorge, wie du siehst, ist es kein Porsche. Es ist nicht mal ein Neuwagen, sondern ein alter Käfer. Aber top in Schuss. Wenn alles klappt, kannst du damit morgen von Schlüttsiel nach Hause fahren.«

»Im Ernst?«

Herbert nickte. »Ein Kollege von mir hat momentan noch den zweiten Schlüssel und bringt ihn morgen zum Hafen.«

Meeno wusste nicht, was er sagen sollte. Zur Uni würde er mit dem Rad fahren. Trotzdem war es natürlich spitze, mobil zu sein. Spontan fiel er seinem Vater um den Hals.

»Danke, Papa, das ist ganz großes Kino, ehrlich!«

»Freut mich. Ich hoffe, die Farbe spielt keine Rolle.«

»Quatsch, ist doch total egal.«

»Ja, oder? Und rosa fällt wenigstens auf.«

»Rosa?« Meeno starrte ihn an und sah das Blitzen in seinen Augen. »Du verarschst mich.«

»Nur ein bisschen.«

Meeno knuffte ihn sanft in den Bauch.

»Du solltest mich lieber noch nicht k.o. schlagen. Das Beste kommt bekanntlich zum Schluss«, sagte er lachend.

»Mann, Papa, du übertreibst es. Ein Auto ist doch wohl schon der Hammer. Was soll denn jetzt noch kommen?«

»Nein, ich meine doch, jetzt kommt das beste Versteck!«

»Noch ein Geschenk? Es ist jetzt schon viel zu viel«, beharrte Meeno.

»Du dachtest bestimmt, du bekommst nichts von deinem alten Herrn, was? Dein Geburtstag liegt immerhin schon einige Tage zurück.«

»Hast du doch gesagt, dass die Geschenke später kommen. Ist auch nicht so wichtig, ich bin ja kein kleines Kind mehr.«

»Das bist du wirklich nicht. Was hat deine Mutter dir eigentlich …?« Herbert brach erschrocken ab.

»Wie gesagt, ist nicht wichtig.« Meeno senkte schnell den Blick. Es ärgerte ihn, dass ihn die Tatsache verletzte, von seiner Mutter nichts bekommen zu haben.

»Sicher nicht, immerhin fängst du bald an zu studieren. Bei deinem Ehrgeiz machst du so schnell in einem großen Konzern Karriere, dass einem schwindelig wird. Dann kannst du dir ohnehin alles kaufen, was du haben willst. Nein«, korrigierte er sich hastig, »du gründest wahrscheinlich direkt eine eigene Firma und verdienst noch mehr.«

»Hätte nichts dagegen, mal sehen.«

»Auf jeden Fall wirst du es weit bringen, tüchtig, wie du bist.« Die gute Stimmung war kurzfristig getrübt. Seine Mutter brauchte nicht mal anwesend zu sein, um das zu schaffen. »Abitur mit 1,8, das muss dir erst mal einer nachmachen. Wir sind sehr stolz auf dich, deine Mutter und ich.« Meeno hob die Augenbrauen. Als ob die beiden noch Kontakt zueinander hätten. Von knappen Nachrichten, dass sie Geld brauchte, mal abgesehen. »Doch, doch«, sagte Herbert und wich seinem Blick aus, »anlässlich dieses besonderen Geburtstags und deines grandiosen Zeugnisses haben wir uns natürlich kurzgeschlossen. Die Geschenke sind von uns beiden. Du denkst doch nicht etwa, sie hätte keine Idee gehabt.«

»Ich bin schon ein großer Junge und weiß, wie sie ist. Du brauchst nicht für sie zu lügen, Papa.«

Herbert öffnete den Mund, presste dann aber die Lippen aufeinander.

»Wo ist denn jetzt dein supergeheimes Versteck?«

Sein Vater trat an das Regal neben einem der Fenster. Darin standen, von einem Holzrahmen gesichert, Bücher und Zeitschriften. Er drückte auf der linken Seite von vorne gegen das Brett. Ein leises Klicken, und der vielleicht drei Zentimeter starke Regalboden öffnete sich. Meeno hätte geschworen, dass es sich um massives Vollholz handelte, aber von wegen, die Literatur thronte auf einem Geheimfach. Darin lag passenderweise ein Buch.

»Ich hab’s nicht extra eingepackt«, sagte Herbert und reichte es ihm.

Meeno musste schlucken. Kinderjahre stand auf dem Deckel. Sein Vater hatte doch tatsächlich ein Fotobuch für ihn machen lassen.

»Tut mir leid, dass du nicht immer die schönste Kindheit hattest, mein Junge.«

»So ein Quatsch.«

»Nein, nein, ich weiß, wie sehr du unter unserem Streit gelitten hast.«

»Wenn ihr wenigstens gestritten hättet«, meinte Meeno finster. »Dazu hättest du dich gegen Mutters ständige Angriffe wehren müssen. Hast du aber nicht. Sie konnte dich beschimpfen und beleidigen, wie es ihr gepasst hat. Das war echt schwer zu ertragen.« Er schlug wahllos eine Seite auf.

»Ich dachte, sie würde irgendwann aufhören, wenn sie merkt, dass sie keinen Gegner hat.« Herbert holte tief Luft. »Vielleicht hätte sie mich sogar mehr respektiert, wenn ich ihr Paroli geboten hätte. Und Respekt braucht es schließlich in einer Partnerschaft. Respekt, Offenheit und Mut zur Wahrheit.« Meeno sah ihn fragend an. Herbert blickte schnell zu Boden. »Noch ein Bier?«, fragte er dann hastig.

»Unbedingt! Anders kann ich die Bilder nicht ertragen.« Meeno lachte. »Wie konntet ihr mich mit einem quietschgrünen Pulli herumlaufen lassen? Und diese Frisur. Die hatte ich schon total verdrängt.«

Herbert sah ihm über die Schulter. »Ich finde, du hast damit niedlich ausgesehen.«

»Sehr niedlich. Wie ein Mainzelmännchen.«

Sie saßen nebeneinander im Saloon und sahen sich Seite für Seite an. Aus all seinen Lebensjahren waren Fotos dabei, von deren Existenz Meeno schon gar nichts mehr wusste. Sie lachten viel und schwelgten in Erinnerungen, die auch schon ziemlich tief in Meenos Hirnwindungen verschüttet gewesen waren. Am Ende schlug er den Deckel zu und legte seinem Vater eine Hand aufs Bein.

»Danke, Papa, für alles.« Er musste schon wieder schlucken und zögerte. Aber manchmal musste man Dinge aussprechen, selbst wenn es einem schwerfiel. »Auch für die Kindheit. So übel war die nämlich gar nicht. Du hast echt immer einiges rausgerissen, was meine Mutter mal wieder verbockt hat. Bist ein richtig cooler Vater.« Er umarmte ihn.

»Danke!«, kam es heiser und zitterig zurück. »Absacker an Deck und dann in die Kojen?«, fragte Herbert, nachdem er sich von Meeno gelöst und eilig über die Augen gewischt hatte.

»Aye, aye, Käpten.«

Es hatte sich deutlich abgekühlt, die Luft war herrlich frisch. In den Nachbarbooten herrschte schon Ruhe, nur irgendwo am Ende der Reihe unterhielt sich noch jemand. Hier und da blinkte ein Stern oder ein Positionslicht, sonst war es dunkel. Sie tranken schweigend.

»Vielleicht schenke ich mir den Törn nach Rügen zu meinem Fünfzigsten«, sagte Herbert unvermittelt.

»Nimmst du mich mit?« Meeno bereute die Frage sofort wieder. Zwei Tage und eine Nacht gemeinsam auf dem Delphin war das eine, mehrere Wochen zusammen auf so engem Raum etwas völlig anderes.

»Wenn du Lust hast, kannst du mich begleiten, klar. Zumindest eine Etappe. Aber einen Teil würde ich auch allein schippern wollen.«

»Finde ich gut«, sagte Meeno aufrichtig.

Der Wind hatte zugenommen, er spielte auf den Leinen und Tauen, oder wie die Dinger auch hießen, wie auf Gitarrensaiten, Segel knallten dazu. Aus dem leisen Murmeln des Wassers war ein Klatschen der Wellen gegen die Bordwand geworden.

»Wenn ich jemals etwas verstecken müsste, etwas von Bedeutung, das nicht in falsche Hände geraten dürfte, würde ich es in eins meiner Geheimfächer packen«, verkündete Herbert mit fester Stimme. Schon wieder so ein Gedankensprung, der Meeno irritierte. »Du kennst die jetzt. Als Einziger außer mir. Du wüsstest Bescheid.« Sein Vater blickte ihn so eindringlich an, dass Meeno mulmig wurde.

»Was solltest du denn wohl verstecken müssen? Du bist schließlich kein Geheimagent oder so was. Oder warst du etwa bei der Stasi?«

Meeno kicherte und erwartete, dass sein Vater auch lachte oder wenigstens grinste. Tat er aber nicht. Trotz seines duseligen Hirns fühlte Meeno sich plötzlich nüchtern und unbehaglich. Die beiden sahen sich lange an.

»Nein, ich war nicht bei der Stasi«, antwortete er schließlich. Meeno nickte, er wusste nicht, was er noch sagen sollte. Als er schon dachte, das Thema sei erledigt, brummte sein Vater: »Die Leute denken immer nur an die Stasi, wenn es um Typen geht, die in der DDR Dreck am Stecken hatten. Dreck«, wiederholte er und lachte bitter. »Glaub mir, mein Junge, man konnte sich die Finger auch auf andere Weise schmutzig machen. Ohne böse Absicht, überhaupt ohne jede Absicht.«

»Du doch nicht. Du konntest doch nie einer Fliege etwas zuleide tun.«

»Ach Junge, eine Fliege ist auch tot, wenn man aus Versehen auf sie tritt.«

»Du hast aber hoffentlich niemanden aus Versehen umgebracht, oder?« Meeno wusste selbst nicht mehr, ob er das scherzhaft meinte. Er konnte sich nichts dergleichen vorstellen, aber was wusste er schon von seinem Vater, von dessen Zeit in der DDR?

»Auf hoher See und vor Gericht sind wir in Gottes Hand«, entgegnete Herbert geheimnisvoll. »Vor Gericht stehe ich nicht, wie du siehst.« Er lächelte traurig und starrte vor sich hin. »Wär vielleicht sogar ganz gut.«

Wahrscheinlich ging das Geschwafel aufs Konto des Aquavits, von dem sein alter Herr schon einige gehabt hatte, sagte Meeno sich. Manche Menschen neigten unter starkem Alkoholeinfluss zu übertriebener Selbstkritik.

»Aber Gott kann auch hier über mich richten, auf meinem Boot«, flüsterte Herbert heiser. In dem Moment rüttelte eine kräftige Böe am Schiff. Ziemlich unheimlich.

 

Der Wind blieb ihnen die ganze Nacht erhalten und frischte noch auf. Meeno bekam kaum ein Auge zu. Hätte er bloß weniger getrunken. Zusammen mit dem Geschaukel machte ihm das Drehen in seinem Schädel ganz schön zu schaffen. Hinzu kam, dass er durch und durch eine Landratte war. Für ihn fühlte es sich manches Mal so an, als würden sie umkippen und absaufen. Grausamer Gedanke, in der Koje vom Wasser überrascht zu werden und nicht mehr rauszukommen. Überall knackte und knirschte es. Einmal machte Meeno sogar Licht an, weil das Gurgeln sich anhörte, als würden sich schon Wellen im Inneren des Kahns ausbreiten. Sein Vater knurrte etwas, Meeno löschte die Lampe und legte sich wieder hin. Kaum hatte er sich die dünne Decke über die Schulter gezogen, hörte er Herbert schon wieder schnarchen. Er war um seinen Schlaf echt zu beneiden. Verdankte er ihn dem Aquavit oder der Tatsache, dass ihm die Geräusche an Bord vertraut waren?

Am nächsten Morgen war Meeno völlig gerädert. Das Erste, was er wahrnahm, war das Klappern von Geschirr, gleich danach das Pfeifen und Rauschen. Der Wind hatte nicht nachgelassen. Er stöhnte.

»Moin«, rief eine Männerstimme.

»Moin«, antwortete Herbert.

»War ’ne wilde Nacht, was?«

»Waren wir zu laut? Tut mir leid.«

Ein heiseres Lachen ging in Husten über.

»Ich spreche vom Wind.« Das war bestimmt der Hafenmeister oder der Vorsitzende des Segelvereins oder so. Meeno spitzte die Ohren. »Soll noch weiter auffrischen heute. Is nich gut, auch wegen der Gezeiten. Dauert noch ’n büschen bis zur Flut, bis ihr genug Wasser unterm Mors habt. Wenn das so weit is, kannst schon sechs Windstärken haben.«

»Sechs?« Sein Vater klang wirklich beunruhigt.

»Jo! Ich kann euch nur raten, noch einen Tag liegen zu bleiben und morgen weiterzusegeln. Dann isses wieder ruhiger.«

»Ja, gut, vielen Dank für den Tipp.«

Liegen bleiben klang eigentlich gut, trotzdem schwang Meeno die Beine aus der Koje, streifte sich ein Shirt über und ging an Deck.

»Guten Morgen! Gut geschlafen?«, begrüßte sein Vater ihn fröhlich.

»Geht so«, brummte er.

»Der Hafenmeister war gerade hier. Vielleicht sollten wir …«

»War nicht zu überhören«, fiel Meeno ihm ins Wort.

»Jetzt frühstücken wir erst mal und besprechen dabei die Lage. Was hältst du davon? Wie möchtest du dein Ei, gekocht, gerührt oder gespiegelt?«

Meeno musste lächeln. »Das ist ja ein Service wie im Fünfsternehotel«, sagte er. »Rührei wäre super.«

»Klar doch.«

Auf dem Weg zum Sanitärtrakt sah Meeno zum Himmel. Imposante Wolken jagten vorbei. Die sahen ziemlich bedrohlich aus. Bisher war die Tour viel besser, als er erwartet hatte. Trotzdem, nicht noch eine Nacht mit seinem schnarchenden Vater auf gefühlt einem Quadratmeter. So schnell gewöhnte er sich nicht an das Schwanken und Knacken. Und wenn er wieder keinen Schlaf bekam, ging er auf dem Zahnfleisch. Auf dem Rückweg fiel ihm auf, dass in der Reihe einige Liegeplätze leer waren.

»Ich schlage vor, wir erkunden heute die Insel und machen uns morgen auf den Heimweg«, begann Herbert betont munter, während er Ei auf Meenos Teller schaufelte. »Wenn du schon auf Sylt warst, willst du deinen Kumpels bestimmt auch erzählen können, dass du in der Sansibar einen Gin Tonic getrunken hast.«

»Lass stecken, Papa, mein Bedarf an Alkohol ist für diese Woche gedeckt. Hast du etwa keinen Brummschädel?«

»Einen kleinen vielleicht«, gab er zerknirscht zu. »Okay, man kann da auch prima Kaffee trinken. Strandwetter ist nicht gerade, aber wir können zum Morsum-Kliff marschieren. Ist gar nicht so weit von hier. Oder wenn du lieber shoppen willst …«

»Wir wollten doch heute zurück …« Weiter kam er nicht.

»Tja, leider müssen wir uns der Natur unterordnen.«

»Einige andere sind auch gefahren.« Meeno deutete zur Reihe der Nachbarboote, die einige Lücken aufwies.

»Die sind auch schon vor dem Morgengrauen losgesegelt, als wir noch gemütlich geschlafen haben. Jetzt ist Ebbe. Nachher, wenn die Flut zurückkommt, soll es richtig stürmisch werden.«

»Echt, Papa, ich hatte mich darauf eingestellt, am Sonntag zurück zu sein«, beharrte Meeno. Dem enttäuschten Blick nach zu urteilen, hatte sein alter Herr noch frei und sich schon voll darauf eingestellt, das Vater-Sohn-Abenteuer zu verlängern. Schöner Mist! »Und ich möchte doch auch mein neues Auto kennenlernen«, sagte er, damit Herbert nicht das Gefühl hatte, sein Sohn wollte nur weg von ihm. »Wär kein guter Start für unsere gemeinsame Zukunft, wenn es heute in Schlüttsiel ankäme, und ich tauche nicht auf.« Herberts Miene wurde noch weicher. »Ich bin doch schon so gespannt. Ich meine, wer hat einen rosa Käfer?«, setzte Meeno nach.

»Das verstehe ich doch.« Er seufzte. »Na gut, wir müssen sowieso noch warten. Dann sehen wir, wie sich das Wetter entwickelt, und ich spreche noch mal mit dem Hafenmeister.«

 

Es kam wie befürchtet, weshalb sich auch nichts an dem Rat änderte, die Abfahrt zu verschieben.

»Hohe Wellen sind hier zwar nie ein Problem«, hatte der Chef des kleinen Hafens zugegeben, »Sylt und seine Sandbänke funktionieren als natürliche Wellenbrecher. Trotzdem können einem die Böen ordentlich Ärger machen.«

Nicht zuletzt mit dem Argument der moderaten Wellen gelang es Meeno, seinen Vater zum Aufbruch zu überreden. Schon nach wenigen Minuten hatte Herbert Schweiß auf der Stirn, obwohl es aufgrund des biestigen Wetters alles andere als warm war.

»Hoffentlich geraten wir nicht zu nah an eine Untiefe«, sagte er finster und mit deutlich vorwurfsvollem Unterton. Davon hatte der Hafenchef nämlich auch gesprochen, was Meeno allerdings für nicht so bedeutend erklärt hatte. »Dann wird’s brenzlig. Du behältst das Lot im Blick«, kommandierte er. »Sag mir Bescheid, wenn es unter zwei Meter fällt.«

Meeno hatte keine Ahnung. Na gut, Meterangaben ablesen konnte jeder Torfkopp, das würde er wohl hinkriegen. Zu blöd, die dänische Küste war zum Greifen nah, von dort war das deutsche Festland auch nur einen Katzensprung entfernt. Bloß konnten sie nicht einfach nach Osten und dann nach Süden segeln. Dort war der Hindenburgdamm im Weg. Sie mussten Kurs nach Norden nehmen und einmal die gesamte Insel umrunden, wie sie es schon auf dem Hinweg getan hatten.

»Schnell sind wir auf jeden Fall«, scherzte Herbert zwischendurch und fügte leiser hinzu: »Fragt sich, wie lange ich das Boot so perfekt zum Wind halten kann.«

Meeno entspannte sich, als er merkte, dass sein Vater jeden Handgriff souverän ausführte. Der Delphin machte seinem Namen alle Ehre und schoss wie der gleichnamige Meeressäuger über das graue Wasser.

»Wieso leuchtet die Lampe am Funkgerät denn nicht?«, fragte Herbert plötzlich. Sofort war die Anspannung in seinem Körper zurück. »Ist der Stecker fest drin?«

Meeno überprüfte das. Er war drin. Wie gut, dass der Skipper Ingenieur war, ging ihm gerade durch den Kopf, als sein Vater zur Anlage trat. Seine Augen bewegten sich schnell, sein Atem ging etwas zu hastig, seine Hände zitterten. Er wischte sich über die feuchten Schläfen. Meeno wollte ihn fragen, welchen Fehler er vermutete, als Herbert die Rechte zur Faust ballte und neben dem Hauptschalter gegen das Metall schlug. Meeno ließ hörbar die Luft entweichen. Hatte man seinem alten Herrn das etwa in der DDR im Studium beigebracht?

»Mensch, Papa, das funktioniert doch nur im Film. Ich denke, du bist ein Fachmann, könntest du nicht …?« Ehe er seine Frage zu Ende gestellt hatte, flackerte es in dem roten Lämpchen, dann leuchtete es auf.

»Na also, geht doch.« Herbert kümmerte sich wieder um das Navigieren.

»Da ist ein Wackelkontakt drin«, rief Meeno aufgebracht.

»Offensichtlich.«

»Damit kannst du doch nicht lossegeln, schon gar nicht allein«, ereiferte er sich. »Gibt es für Boote keinen TÜV, oder was?«

»Erstens bin ich nicht allein, zweitens gibt vermutlich nur das Leuchtmittel den Geist auf. Das Funkgerät ist intakt. Das ist das Wichtigste.«

Hin und wieder ruckte es ordentlich, wenn der Wind plötzlich von der Seite ins Segel krachte, doch alles in allem hatte Herbert sein Schiff unter Kontrolle. Er sprach nur das Nötigste, weil er sich konzentrieren musste, aber er meisterte die heikle Situation. Als sie an Föhrs Ostseite hinuntersegelten und bald darauf Dagebüll und Schlüttsiel in Sicht kamen, waren beide erleichtert.

»Na, würdest du mich noch immer nach Rügen begleiten?«, wollte Herbert wissen, nachdem er den Kahn an der Mole festgemacht hatte.

»Logisch. Ich weiß ja jetzt, dass du ein richtiger Seebär bist. Sag rechtzeitig Bescheid, dann plane ich eine Etappe ein.«

Nächtlicher Besucher bei Putgarten

Rügen, bei Putgarten, April 2022

Er schlich um die noch fast kahlen Sanddornbüsche herum wie um seine Vergangenheit. Der war er auch immer aus dem Weg gegangen, um sich nicht zu verletzen. Aber damit war jetzt Schluss. Zeit, reinen Tisch zu machen. Verdammt, war es düster und kalt. Ihn fröstelte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Jedes Ästchen, das mit lautem Knacken unter seinen Schuhen brach, ließ ihn die Luft anhalten. Als ob ihn drinnen jemand hören könnte. Er trat näher an das Haus heran, eine Villa im Stil der Bäderarchitektur. Aufwendig saniert. Ein Juwel. Mit Coaching ließ sich anscheinend eine Menge Geld verdienen. Oder mit den Früchten der weitläufigen Plantage. Vielleicht auch mit beidem. Lange her, dass er ein regelmäßiges Einkommen gehabt hatte, von dem er anständig leben konnte. Große Sprünge waren nie drin gewesen, aber als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hatte man wenigstens nicht arbeitslos werden können. Nach der Wende sah die Sache schon anders aus. Vor allem für einen wie ihn.

Er blieb stehen, atmete schwer. War ein langer Fußmarsch gewesen bis hierher. Er war aus dem Alter für solche Wanderungen raus, obendrein in der Dunkelheit, wenn überall Stolperfallen lauerten. Ein bitteres Lächeln trat auf seine Lippen und löste sich gleich wieder auf. Stolpern, damit kannte er sich aus. Dieses eine Mal durfte er nicht vom Weg abkommen. Immer schön das Ziel im Blick behalten. Welches Ziel eigentlich? Schon wieder lief ein Schauer über seinen Körper, Gänsehaut. Er hauchte in die eisigen Hände. Er glaubte nicht an Schicksal. Aber Zufall war das auch nicht, das stand fest. Erst der Zeitungsausschnitt, zwei Tage später der Handlanger des Müllionärs, der ihm eine hübsche Stange Geld bot. Nee, kein Zufall, da wollte ihm jemand etwas sagen. Irgendeine höhere Macht, wenn es so was gab. Er würde das Beste draus machen, das Richtige tun. Dieses eine Mal. Kaum hatte er den Gedanken in seinem Hirn formuliert, erhellte ein Lichtstrahl das Unkraut vor seinen Füßen. Eine Erleuchtung. Ein Zeichen, dass er richtig verstanden hatte. Blödsinn, irgendjemand hatte einfach nur eine Lampe angeknipst. Er blickte zum Fenster. Eine Frau trug ein Kind auf dem Arm. Mit der anderen Hand öffnete sie den Kühlschrank, holte etwas heraus und schloss ihn wieder. Sein Magen knurrte. Er seufzte. Wäre schön, sich hier als Urlauber einzumieten. So hatte sich der Handlanger das vorgestellt. Bloß wollte er ihm keinen Vorschuss zahlen. Wie sollte er sich dann bitte schön ein Zimmer leisten? Konnte der Handlanger nicht wissen, dass es ihm so dreckig ging. Und eigentlich wollte er von dem auch kein Geld annehmen. Das kam vom Müllionär, und was von dem kam, war schmutzig. Es musste einen anderen Weg geben.

Sein Blick fiel auf die Pakete Gipskartonplatten, die C-Profile und die Stapel Mineralwolle. Ob er als Handwerker anheuern konnte? Für Kost und Logis. Wäre nicht das erste Mal. Die Chance, dass das klappte, war nicht besonders groß. Wenn das Baumaterial schon da war, hatte man auch bereits seine Leute oder machte sowieso alles selbst. Andererseits war doch jeder über eine helfende Hand mehr froh. Vor allem, wenn die einem gehörte, der die Dämmwolle davor gerettet hatte, nass und damit unbrauchbar zu werden. Er lächelte. Vielleicht gab’s die höhere Macht tatsächlich, und sie hatte ihm gerade seine Eintrittskarte in die hübsche Villa überreicht.

Eilig schlich er sich näher an das Haus heran. Er musste achtgeben und sich immer schön im Halbdunkel aufhalten, dann konnte die Frau in der Küche ihn nicht sehen. Kein Problem, die Dämmwolle lag weit genug vom Fenster entfernt. Er packte das erste Bündel, trug es ein Stück, legte es ab. Gleich das nächste Bündel. Sein Rücken meldete sich mit ziehendem Schmerz, seine Finger fühlten sich innerhalb weniger Minuten an, als wären sie geschwollen. Er kümmerte sich nicht darum, sondern biss die Zähne zusammen und machte einfach weiter. Musste der Wind jetzt auch noch zulegen? Seine Augen begannen zu tränen, er schlotterte. Hoffentlich wurde er nicht auch noch nass.

»Ist da jemand?«

Eine tiefe Männerstimme. Er hockte sich blitzschnell hinter den Stapel Gipskartonplatten, was seine Knie mit knirschendem Protest quittierten. Verdammt, er hatte niemanden kommen sehen und machte auch jetzt nur mit Mühe einen Schemen hinter dem Lichtstrahl einer Taschenlampe aus, wenn er vorsichtig um die Ecke lugte.

»Hallo?«

Er starrte in die Richtung, aus der die Stimme kam. Der andere hielt die Lampe so wie die Typen im Fernsehen neben seinem Kopf. Wie ein Speerwerfer. So konnte er erkennen, dass der Kerl dunkle Haut hatte. Darum die Art, wie er gesprochen hatte. Schon die verriet, dass er nicht von hier war. Nicht von Rügen, nicht einmal aus Deutschland. Er hatte das H verschluckt wie ein Franzose. Jetzt murmelte er etwas, drehte sich um und ging. Noch einmal Glück gehabt. Eine Weile blieb er zur Sicherheit noch in der Deckung, ehe er sich wieder aufrichtete. Inzwischen taten ihm sämtliche Knochen weh. Würde eine Tortur werden, wenn sein Plan aufging und sie ihm Arbeit gaben. Aber einen besseren Plan hatte er nicht. Er stapelte das letzte Bündel Dämmmaterial auf. In dem Moment ging drinnen das Licht aus. Er musste ein paar Sekunden warten, ehe er sich wieder an die Finsternis gewöhnt hatte. Dann schlug er den Kragen seiner Jacke hoch und machte sich aus dem Staub.

Aufbruch zur Einsicht

Berlin, Ende April 2022

Auszeit mit Einsicht. Suse würde in hundert Jahren nicht verstehen, was das sein sollte. Allein dieses Wort: Auszeit. Ausfall, Auswurf, Auszeit. Sehr verlockend. Und Einsicht … Man konnte Akteneinsicht nehmen, von Seeleneinsicht hatte sie noch nie etwas gehört. Weil es das nicht gab. Niemand konnte Einsicht in ihre Seele nehmen, schon gar nicht auf die Schnelle im Urlaub. Und das war auch gut so. Trotzdem stand sie hier am Berlin-Ostbahnhof, die kleine Tasche über der Schulter. Sie hatte nicht viel eingepackt. Auf Pumps oder Kleidchen stand sie sowieso nicht. Und dies hier war keine Party-Reise. Suse verzog unwillkürlich das Gesicht. Es war eine Psycho-Reise. Noch schlimmer. Oder auch nicht. Womöglich wurde sie verzaubert. Das hatte Britta gesagt.

»Du hast nichts zu verlieren. Entweder kommt es, wie du erwartest, und der ganze Kram bringt nichts. Dann hast du wenigstens mal richtig Ferien gemacht. Oder du wirst verzaubert. Von der Insel, vom Abstand, von dieser Frau Marold. Was man so liest, muss die wirklich zaubern können.«

Sie blickte hoch zur Anzeigetafel. Binz auf Rügen, Verspätung dreißig Minuten. War ja klar, dass es schon hakelig anfing. Von wegen zauberhaft! Sie ließ die Reisetasche auf den Boden gleiten und verschränkte die Arme. Egal, war eigentlich sogar gut, dass der Zug nicht pünktlich kam. So hatte sie noch eine Schonfrist. Johlen und lautes Rülpsen lenkten ihre Aufmerksamkeit auf drei Jungs, die den Bahnsteig entlangkamen. Sie grölten und lachten und schlugen sich gegenseitig auf den Rücken. Einer trug eine Jeans, die an beiden Knien aufgerissen war, dem anderen hing die Hose so weit herunter, dass die halbe Unterhose darunter hervorlugte. Der Dritte brauchte vermutlich einen Dosenöffner, um aus dem schwarzen Ding zu kommen, das seine Beine wie eine zweite Haut umschloss. Schnürsenkel offen, Jacken im Militärlook, die Haare seitlich abrasiert, nur oben auf dem Schädel trugen sie mit Gel glatt gestriegelte Tollen. Schreckliche Nazifrisuren, wie genormt. Jetzt bahnten sie sich mit ausgefahrenen Ellbogen ihren Weg durch die Wartenden und rempelten gnadenlos Leute an.

»Könnt ihr nicht aufpassen?«, beschwerte sich ein Mann.

»Willst was auf die Fresse, oder was?«, brüllte einer, die anderen beiden lachten dreckig. Die ganz harten Jungs. Aber wehe, einer von denen geriet mal allein in die Klemme, dann jammerten sie nach ihrer Mama. Suse behielt die drei im Blick. Sie gingen auf ein älteres Paar zu. Sollte sie eingreifen? Sonst kümmerte sich mal wieder kein Mensch. Die meisten bekamen erst gar nichts mit, weil sie auf ihre Handys starrten oder Kopfhörer auf den Ohren hatten oder beides. Kurz bevor die Jungs das Ehepaar erreichten, bog einer ab, die anderen hinterher. Der Erste steuerte auf einen Abfalleimer zu. Suse war überrascht, der würde die prallvolle Tüte Fast-Food-Müll doch nicht etwa …? Natürlich nicht. Er warf sie genau neben dem Eimer in die Ecke. Seine Kumpels schlugen sich prustend auf die Schenkel. Kehricht und Dreck, was sollte sie auch sonst zu sehen kriegen? Ihr ganzes Leben bestand daraus.

Als sie eine Stunde später in Abteil sieben durch Oranienburg rumpelte, konnte sie noch immer nicht fassen, dass sie sich zu dieser Fahrt nach Rügen entschieden hatte. Sich hatte überreden lassen, traf es besser. Sie blickte in die grüne Landschaft, die an ihr vorüberzog. Die Strecke überquerte einen Fluss. Das musste die Havel sein. Dann lag nicht weit von hier die berühmte Lungenheilstätte Grabowsee. Suses Eingeweide krampften sich zusammen. Sie war mal dort gewesen, zur Besichtigung. 2016 musste das gewesen sein. Ein heruntergekommener Ort, der sie irgendwie berührt hatte. War seltsam gewesen, vor den Gebäuden zu stehen, über das Gelände zu streifen, nachdem sie so viel darüber recherchiert hatte. Das war eine Marotte von ihr. Wenn ein Thema sie interessierte, musste sie alles darüber wissen. Na ja, so viel wie möglich eben. Wenn man sich für etwas so Charmantes wie Lungenkrankheiten interessierte, landete man zwangsläufig bei Grabowsee. Im 19