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Sein Geheimnis kann alles zerstören ...
Vor einem Jahr hatte Casey Tresscott einen Unfall, der sie noch immer belastet. Doch sie hat genug davon, dass seitdem alle versuchen, sie zu schützen und in Watte zu packen. Mit der Hilfe von Fenn Bishop, dem Golden Boy der Sandover Prep, will sie ihr Leben zurückerobern. Obwohl sie seinen Ruf als Playboy kennt, fühlt sie sich bei ihm sicher und verliebt sich trotz aller Warnungen bei jedem Treffen ein bisschen mehr in ihn. Was sie nicht ahnt: Fenn spielte eine entscheidende Rolle in der schicksalhaften Nacht, die ihr Leben für immer veränderte ...
»Fesselnd, sexy und unglaublich unterhaltsam!« WHAT‘S BETTER THAN BOOKS
Band 2 der SANDOVER PREP-Reihe von Bestseller-Autorin Elle Kennedy
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Zeit:12 Std. 47 min
Sprecher:Marie-Sophie Leonhardt; Yannick Forstenhäusler; Dan David; Lennart Hillmann; Emilia Schwarzfeld; Stefan KrombachTitel
Zu diesem Buch
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Epilog
Die Autorin
Die Romane von Elle Kennedy bei LYX
Impressum
ELLE KENNEDY
Sandover Prep
DER EINZELGÄNGER
Roman
Ins Deutsche übertragen von Silvia Gleißner
Vor einem Jahr hatte Casey Tresscott einen Unfall, der sie noch immer belastet. Sie kann sich nicht mehr an die Ereignisse erinnern, weiß bloß, dass sie ihr Auto in einen See gefahren hat und dem Tod nur knapp entkommen ist. Obwohl sie bis heute unter Albträumen leidet und alles daransetzt, ihre Erinnerungen zurückzubekommen, hat sie genug davon, dass seitdem alle versuchen, sie zu schützen und in Watte zu packen. Nur Fenn Bishop, der Golden Boy der Sandover Prep, der seit dem Vorfall ihre Nähe sucht, behandelt sie ganz normal und weckt Gefühle in ihr, die sie noch nie gespürt hat. Obwohl sie seinen Ruf als Playboy kennt, fühlt sie sich bei ihm sicher und verliebt sich trotz aller Warnungen bei jedem Treffen ein bisschen mehr in ihn. Was sie allerdings nicht ahnt: Fenn spielte eine entscheidende Rolle in der schicksalhaften Nacht, die ihr Leben für immer veränderte. Und gerade als sie Fenn ihre Gefühle gestehen will, kommt sein dunkles Geheimnis ans Licht …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält neben sexuellen Inhalten und derber Wortwahl auch Elemente, die potenziell triggern können.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis,
Euer LYX-Verlag
Fenn: Wie läuft dein Tag, Süße?
Mein Gesicht fühlt sich an, als würde es sich in zwei Hälften spalten, so breit ist mein aufgedrehtes Grinsen. Es ist schon fast abstoßend, was eine einzige kleine Nachricht von Fenn Bishop mit meiner Herzfrequenz anstellt. In der Französischstunde summte mein Handy, ein halbes Dutzend Nachrichten kurz hintereinander, aber ich konnte nicht nachsehen, sonst wäre es konfisziert worden. Also saß ich da und wartete sehnsüchtig darauf, dass es endlich läutete. Und jetzt stehe ich zwischen zwei Stunden an meinem Spind und lese die Nachrichten, die mich daran erinnern, dass dieser Ort hier nicht das echte Leben ist. Hier auf der St. Vincent’s kennt mich niemand. All die Gerüchte und das Gewisper, das ständig um mich herum aufkommt, wann immer ich durch den Flur gehe – das alles ist nicht wichtig. Ich kenne die Wahrheit. Und Fenn auch.
Das ist alles, was zählt.
Das aufgedrehte Gefühl wird stärker, als ich seine übrigen Nachrichten durchsehe. Das macht er jeden Tag, seit wir Freunde geworden sind. Schreibt mir guten Morgen. Erkundigt sich, wie es mir geht. Schickt mir bescheuerte Memes, weil er weiß, dass ich schon eine ganze Weile nicht mehr gelächelt habe.
Es fühlt sich immer noch so surreal an. Fenn war so lange ein Fremder für mich, nur ein weiterer Typ aus dem Abschlussjahrgang, mit dem meine Schwester gelegentlich etwas unternahm. Und dann stürzte mein Autounfall meine ganze Welt ins Chaos, und da war er, mit einem unbekümmerten Grinsen und einer starken Schulter, an die ich mich anlehnen konnte. Er freundete sich mit mir an, nur weil er sah, dass ich jemanden brauchte, und beschloss, dass er dieser Jemand sei.
Und aus keinem bestimmten Grund habe ich es zugelassen.
Auf dem Weg zu meinem Medienkurs tippe ich rasch eine Antwort.
Ich: Ach, du weißt schon. Der übliche Blödsinn.
Fenn: Willst du die letzte Stunde schwänzen? Ich komme und hole dich ab.
Ich: Sloane würde dich umbringen.
Das mit Fenn und mir ist nicht wirklich offiziell. Zumindest nicht, soweit es meine Familie betrifft. Mein Dad und meine Schwester dulden ja kaum eine Freundschaft – ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie wohl reagieren würden, falls sie herausfinden, dass Fenn und ich uns offiziell daten. Ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, wer von beiden dann mehr durchdrehen würde. Als Sloane Fenn das letzte Mal in meiner Nähe erwischte, hat sie ihm im Grunde genommen gedroht, dass sie einen Killer auf ihn ansetzen würde, wenn er mich anfasst. Und Dad, na ja, der hätte schon längst einen Burggraben um unser Haus gezogen, wenn er das nicht mit dem Verwaltungsrat klären müsste. Ich bin mir nicht sicher, ob er das wirklich zu Ende gedacht hat, als er die Direktorenstelle an einer reinen Jungenschule irgendwo in der Pampa angetreten und seine beiden Teenagertöchter mitgebracht hat. Da war es praktisch vorprogrammiert, dass Sloane und ich uns in einige von Dads Missratenen verliebten.
Fenn: Das ist es wert.
Ich: Das sagst du jetzt.
Fenn: Quatsch. Ich würde Sloanes Zorn in jedem Fall riskieren. Du bist einfach so niedlich.
Mein Herz macht einen freudigen Satz. Er ist viel zu gut darin. Aber vielleicht lasse ich mich auch zu leicht beeindrucken. Fenn wirft mir nur ein winziges Kompliment zu, und ich werde butterweich. Es ist ekelhaft. In letzter Zeit ist er der beste Teil meines Tages.
Ich: Treffen nach der Schule?
Fenn: Kann es kaum erwarten. Übliche Stelle?
Ich: Jap. Ich schreibe, wenn ich nach Hause komme.
Ich lächle immer noch, als ich ins Klassenzimmer komme und mich auf meinen Platz in der vorletzten Reihe setze. Nicht einmal Schwester Patricias strenger Blick kann mir die Laune verderben. Obwohl sie es natürlich missbilligt, wenn jemand lächelt. An dieser bescheuerten Schule wird alles missbilligt. St. Vincent’s wird von einer Gruppe superstrenger, furchteinflößender Nonnen geleitet, die die Mädchen eher als Mündel denn als Schülerinnen betrachten. Jeder Morgen beginnt mit fünfzehn Minuten Gottesdienst. In jedem Unterrichtsfach sind die Sitzplätze zugewiesen. Meine Mathematiklehrerin, Schwester Mary Alice, klopft beim Gehen sogar mit einem Holzlineal an ihr Bein, immer bereit, einem aufs Handgelenk zu schlagen, wenn man seine Gleichungen nicht schnell genug löst.
Ich hasse es hier.
»Hey, Casey.« Ainsley rempelt gegen meinen Tisch, als sie herankommt. »Denkst du auch daran, deine Pillen zu schlucken? Ich vermute, du machst es in der Mittagspause, sodass du sie mit dem Essen nehmen kannst?«
Und schon sinkt meine Laune.
Ich beiße die Zähne zusammen und tue so, als würde ich nicht bemerken, wie spöttisch sie grinst, weil sie mal wieder die Gelegenheit hat, eine volle Stunde auf mir rumzuhacken. Ich stelle sie mir als eins dieser Mädchen vor, die ihren Puppen Arme und Beine ausgerissen und die Haare abgeschnitten haben, als sie noch klein waren. Solche, die Steine nach Eichhörnchen geworfen haben, um sie schreien zu hören.
Und ich Glückspilz bin ihr neues Lieblingsspielzeug.
Wenn wir mit einer scheinbar unüberwindlichen Herausforderung konfrontiert werden, neigen wir angeblich dazu, uns entweder zu steigern, um unser Potenzial auszuschöpfen, oder uns zurückzuziehen, um dem Problem aus dem Weg zu gehen. Was mich angeht, bin ich da noch unentschlossen. Weder Kampf noch Flucht, sondern grinsen und aushalten. Augen schließen und Zähne zusammenbeißen. Aber wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich, dass ich nie der Kämpfertyp war. Bevor ich von der Ballard Academy auf die St. Vincent’s wechselte, wäre ich wahrscheinlich der Fluchttyp gewesen, also nehme ich an, dass mein gegenwärtiger Zustand ein Fortschritt ist.
Ainsley setzt sich auf ihren Platz hinter mir und tippt mir dann auf die Schulter.
»Was?«, zische ich und drehe mich um.
Sie starrt mich ausdruckslos an. »Was denn? Ich habe nichts gemacht.«
»Meine Damen«, ruft Schwester Patricia tadelnd von vorn, wo sie das Video für heute einlegt. Es ist schon Oktober, und ich glaube, sie hat uns seit Schulbeginn noch rein gar nichts beigebracht. Alles, was wir tun, ist Musicals anzusehen, und so langsam vermute ich, dass die aus ihrer Privatsammlung stammen.
»Du bildest dir etwas ein«, erklärt Ainsley. »Du solltest besser die Dosis erhöhen.«
Neben Ainsley fängt ihre beste Freundin Bree zu kichern an. »Oh ja, absolut.« Die Brünette kaut geräuschvoll auf ihrem Kaugummi herum und muss dann husten, als sie fast daran erstickt. Eigentlich urteile ich nicht über Menschen mit niedrigem IQ, aber Bree Atwood ist auf eine Art dumm, die einem aufrichtig leidtut.
Ein paar Minuten später beginnt der Unterricht. Und mit Unterricht meine ich, dass wir im Dunkeln sitzen und uns eine West-End-Produktion von Les Misérables in einer schlechten Übertragung von VHS auf DVD ansehen, während Schwester Patricia an ihrem Pult sitzt und jede Zeile lautlos mitspricht.
»Schwester Patricia?«, ruft Ainsley nach vorn.
»Was ist denn?« Gereizt blickt die Nonne in unsere Richtung.
»Sollten wir nicht das Licht anlassen?«
Schwester Patrica seufzt, ein Auge auf den Fernseher gerichtet. »Ruhe, Ms Fisck.«
»Ich finde nur, dass es keine gute Idee ist, wenn wir im Dunkeln mit einer instabilen Schülerin festsitzen.«
Ich unterdrücke ein müdes Seufzen. Nur Tage nach meinem Wechsel zur St. Vincent’s hatte Ainsley die ganze Schule dazu gebracht zu glauben, ich wäre eine Verrückte. Nur einen schlechten Tag entfernt von einer Zwangsjacke.
Nicht dass mir das nicht auch schon durch den Kopf gegangen wäre. Ich erinnere mich nicht daran, was in der Nacht des Unfalls passiert ist, also könnte in einer Art Quantensinn vermutlich alles passiert sein. Im Grunde bin ich Schrödingers Katze in einer Giftschachtel. Aber was ist plausibler? Dass ich das Ziel eines Phantomfahrers war oder dass ich mich beim Abschlussball zugedröhnt habe, weil ich Aufmerksamkeit wollte, und das Auto in den See gefahren habe? Man kann nicht ewig behaupten, es sei der einarmige Mann gewesen – irgendwann ist man gezwungen, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass man sich alles nur einbildet. Vielleicht bin ich ja verrückt. Vielleicht hatte ich ja tatsächlich einen Zusammenbruch an dem Abend und kann mich nur nicht mehr daran erinnern.
Schwester Patricias Reaktion ist ein verärgertes Stirnrunzeln, aber ihre Konzentration gilt weiter dem Film. Sogar die Nonnen kennen die Gerüchte, und ich bin mir sicher, dass mehr als nur ein paar sie glauben. Ich bin fast schon überrascht, dass ich noch nicht beim Verlassen der Toilette gepackt und zu einem spontanen Exorzismus in die Kapelle geschleift wurde.
»Ich will ja nicht gemein sein«, meint Ainsley vorgetäuscht unschuldig. »Aber Dunkelheit und laute Geräusche können doch ein Trigger sein. Richtig, Casey?«
Ich ignoriere sie weiter, starre auf den Boden und konzentriere mich intensiv auf die schwarzen Streifspuren von Schuhsohlen und das Punktmuster auf den Fliesen. Ainsley piesackt mich heute schon seit der ersten Stunde. In Geschichte war es eine Bemerkung über meine Schnürsenkel. Ob es eine gute Idee sei, wenn jemand in meinem Zustand mit so etwas herumläuft. In Physik schlug sie unserer Lehrerin vor, dass ich meine Aufgaben vielleicht mit Kreide erledigen sollte, nur für den Fall, dass ich einen Stift zu einer Waffe umfunktioniere.
»Wie läuft das eigentlich ab?«, fährt sie fort. »Hörst du zum Beispiel Stimmen? Reden sie gerade mit dir?«
Im Dunkeln sehe ich einige grinsen. Höre vereinzeltes leises Kichern. Mädchen können bösartig sein. Rein theoretisch wusste ich das ja immer, aber wenn man erst mal zum Ziel wird, ist es schwer, sich nicht desillusionieren zu lassen. Nicht von seinen Kameradinnen enttäuscht zu sein. Vielleicht macht mich das zu einer Anomalie in dieser Welt, aber ich habe immer versucht, andere so zu behandeln, wie ich behandelt werden möchte.
Schwester Patricia bringt die Klasse zum Schweigen, wendet den Blick aber nicht vom Bildschirm ab. Ihr Mund bewegt sich weiter lautlos mit.
»Ich habe mal ein Biopic auf Netflix gesehen«, bemerkt Bree, die nutzlose Handlangerin. Die könnte nicht mal dann eine eigene Persönlichkeit finden, wenn sie darüber stolpern würde. »Da ging es um eine Frau, die Stimmen aus ihrer Mikrowelle hörte.«
»Oh, die kenne ich«, meint Ainsley. »Sie hat mit ihrem Auto einen Citybus gerammt, weil sie glaubte, er wäre eine Überwachungseinheit der Regierung, die sie verfolgt.«
Ich bin verrückt, das ist der Kern des Ganzen. Wahnhaft, gefährlich und total labil.
Ich wünschte, es wäre so. Denn wenn ich das alles wäre, hätte ich vielleicht den Mumm, mich gegen diese Zicken zu wehren. Unter den gegebenen Umständen tue ich bisher das einzig Vernünftige: Ich ignoriere sie. Jeden Tag wappne ich mich gegen die abfälligen Bemerkungen und die ständigen Gerüchte. Zu Anfang meinte Sloane, es würde nicht länger als ein paar Tage dauern. Ainsley sei nur eine Mobberin und würde sich früh genug damit langweilen und dann aufhören. Aber ihre Faszination ist nicht verschwunden, und meine Entschlossenheit löst sich immer mehr auf. Mit jedem gnadenlosen Angriff werde ich gehemmter. Tue mir selbst immer mehr leid. Schmolle in dem Elend, die Hauptattraktion an einer neuen Schule zu werden, an der mir nur die schlimmsten Teile meines Rufes vorauseilen.
»Casey. Hey, das habe ich ganz vergessen.« Ganz ehrlich, Ainsleys Beharrlichkeit kann man fast schon bewundern. Dass ihr das Ganze immer noch nicht langweilig geworden ist, ist bemerkenswert. »Ich gebe nächste Woche eine Party.«
Sie ist nicht besonders schlau, aber was ihr an wesentlichen Dingen fehlt, macht sie durch reine Bosheit wieder wett. Ainsley hegt keinen schon lange schwelenden Groll gegen mich. Ich habe ihr nicht in der dritten Klasse den Freund ausgespannt. Wir haben keine gemeinsame Vergangenheit. Sie ist schlicht ein verdorbener Mensch und genießt es, ein Miststück zu sein.
Ihr Tonfall wird zuckersüß. »Du kannst auch kommen, wenn du versprichst, nicht im Pool zu parken.«
Ich konzentriere mich auf die Musiknummer auf dem Bildschirm und tue so, als würde ich das Gekicher nicht hören. Pfeif auf diese Mädchen. Ich brauche ihre Anerkennung nicht. Ich brauche ihre Freundschaft nicht. Selbst wenn sie mich im September alle mit offenen Armen auf der St. Vincent’s willkommen geheißen und versucht hätten, Freundschaft mit mir zu schließen – ich würde ihnen trotzdem nicht trauen. Auf der Ballard Academy hatte ich einen großen Freundeskreis, und man sieht ja, wie das ausgegangen ist. Nach dem Unfall hat mich jeder Einzelne von denen verraten. Mir ins Gesicht gelächelt und hinter meinem Rücken gelacht. Sie haben Gerüchte über die schlimmste Nacht meines Lebens verbreitet und mich zur Zielscheibe des Spottes gemacht.
Ich musste auf die harte Tour lernen, dass Loyalität auf der Highschool etwas Seltenes ist. Deshalb bin ich nicht daran interessiert, mich mit irgendeinem der Mädchen hier anzufreunden. Nicht nachdem sie mir ihren wahren Charakter gleich am ersten Tag gezeigt haben. Momentan gibt es nur zwei Menschen, denen ich vertraue.
Meine Schwester.
Und der einzige Typ, der mir stets ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern vermag.
Also starre ich weiter stur geradeaus und zähle innerlich die Minuten, bis ich Fenn sehen kann.
Nach der Schule ziehe ich meine Laufschuhe an und pfeife Bo und Penny, die es kaum erwarten können, dass ich die Haustür öffne, bevor sie die Einfahrt hinunterstürmen, der Sonne entgegen, die tief über den Bäumen steht. Für zwei Golden Retriever haben sie die Energie von Rennpferden und die Geduld von Kleinkindern auf Koffein. Den größten Teil des Weges rennen sie, zum Waldweg zwischen den Wohnheimen und meinem Zuhause am Rand des Campus von Sandover, wo Fenn schon auf mich wartet.
Ich habe es immer noch nicht satt zu sehen, wie er tief in Gedanken versunken aussieht, bevor er den Kopf hebt und seine blauen Augen aufleuchten. Das verlegene Grinsen, das er unterdrückt, während er die Arme um meine Schultern legt und mich auf die Stirn küsst.
»Hi«, sagt er. Nie mehr. Aber der Tonfall ist das, was es zu unserer eigenen Geheimsprache macht. Alles, was wir zu sagen haben, in einem einzigen winzigen Wort.
»Hi.«
Ich verschränke die Arme hinter seinem Rücken und bleibe eine Weile so. Denn selbst an den Tagen, an denen ich mich an meine Rüstung erinnere, ist die Schule ermüdend.
»Alles okay?«, fragt Fenn an meinem Haar.
Er ist fast einen Kopf größer als ich und lässt zu, dass ich mich an seine Brust schmiege. Seinen Blazer hat er wohl im Wohnheim gelassen, denn er trägt nur sein Sandover-Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Er riecht so gut. Die knausern mit den Internatsgebühren hier nicht an dem guten Weichspüler.
»Hm-hm«, antworte ich. »Du gibst gute Umarmungen.«
Ich spüre sein Lachen über meine Wange wehen. »Ah ja?«
»Mm-hmm.«
»Okay. Dann tob dich aus.«
Ich drücke ihn ein letztes Mal, bevor ich ihn loslasse, die Augen vor der Sonne abschirme und Bo und Penny sehe, die irgendein Geschöpf einen Baum hochjagen.
»Leute«, rufe ich tadelnd, und sie rennen schnell von dem Baum weg.
»Wie lange kannst du bleiben?« Fenn knöpft rasch sein Hemd auf und legt es auf das Gras, damit ich mich darauf setzen kann.
Ich kann nicht anders, als loszuprusten.
»Was denn? Das nennt man Manieren, Casey.«
»Jede Ausrede ist recht, um dich auszuziehen.« Nicht dass ich es hassen würde. Durch das Fußballtraining hat er echt irre Bauchmuskeln. Für die er sich nicht schämt.
»Augen nach oben, Süße.« Er zwinkert mir zu und streckt sich neben mir aus.
Wenn der Typ, den du magst, dir sagt, dass er dich auch mag, passiert etwas Seltsames. Alles wird hyperreal. Lebhaft. Diese Grübchen, die ich vorher nie groß beachtet habe? Nehmen jetzt einen übermäßig großen Teil meiner Gedanken ein. Ich kann nicht aufhören, auf seine Lippen zu starren, die untere voller als die obere. Oder zu bemerken, dass er beim Rasieren seiner dunkelblonden Bartstoppeln anscheinend immer diese eine winzige Stelle an der Ecke des Kinns übersieht.
Es ist schier unmöglich, den Blick nicht wieder über seinen nackten Oberkörper wandern zu lassen. Beim Anblick seiner wohlgeformten Muskeln und der sonnengebräunten Haut juckt es mich, ihn zu berühren. Ich schlucke mit trockener Kehle und zwinge mich, ihn nicht anzuglotzen. Sloane bezeichnet Fenn immer spöttisch als den Golden Boy, und es ist schwer, dieser Feststellung zu widersprechen, auch wenn sie es geringschätzig meint. Mit seinem blonden Haar, der goldenen Haut und seiner großen, muskulösen Statur ist er die personifizierte Sexyness.
Ich kann immer noch nicht glauben, dass er tatsächlich mir gehört.
»Ich kann nicht lange bleiben«, erzähle ich ihm. »Hausaufgaben. Und Dad macht Abendessen. Also …«
»Also sollte ich meine Zeit besser nicht verschwenden.«
Mit einem unartigen Grinsen greift er nach meiner Hand und zieht mich rittlings auf seinen Schoß. Mein Quieken daraufhin ist eine Mischung aus Überraschung und Entzücken. Und dann wird mein Puls schneller, als Fenn mich um die Taille fasst, um mich im Arm zu halten, und seine warmen Lippen auf meine drückt.
Zuerst beginnt es ganz unschuldig. Ein liebevoller Kuss. Das sanfte Streicheln seiner Lippen. Meine Finger finden den Weg über seine nackten Schultern abwärts, wandern über seine festen Bauchmuskeln, und ich spüre, wie seine Muskeln sich unter meiner Berührung zusammenziehen. Meine Zunge sucht nach seiner, während er die Hände in mein Haar schiebt und sanft meine Wange umfasst.
Ich weiß, dass er mich will. Ich höre es in seinem leisen Stöhnen, tief in seiner Brust. Ich fühle es, als er über meine Haut unten am Rücken streicht. Ich setze mich auf, kämme mit den Fingern durch sein Haar und vertiefe schwer atmend den Kuss.
Fenn ist immer der Erste, der den Kuss löst.
»Du machst mich fertig«, flüstert er mit halb geschlossenen Augen.
»Ich weiß ja nicht, wen du beeindrucken willst, wenn du uns immer auf der ersten Base stecken bleiben lässt.«
»Stecken bleiben? Verdammt.« Er lässt ein entrüstetes Grinsen aufblitzen. »Bei dir ernte ich keine Lorbeeren für gutes Benehmen.«
»Nicht wirklich, nein.«
»Oh, komm schon, Case. Lass mich einfach der gute Junge sein.« Jetzt schenkt er mir einen liebenswerten Schmollmund. »Mehr will ich gar nicht. Wir müssen nichts überstürzen.«
»Ich wette, das sagst du zu allen Mädchen.«
»Tu das nicht«, sagt er, streicht mir einige Haarsträhnen hinters Ohr und lässt seine Fingerspitzen sanft an meinem Hals nach unten wandern. »Ich bin hier bei dir. Das ist alles, was mir jetzt wichtig ist.«
Er ist liebenswert, macht einen aber auch ein wenig wütend. Fenns Heldentaten sind berüchtigt in Sandover-Kreisen. Es ist nicht so, dass ich nicht wüsste, wie er zuvor herumgekommen ist, und so zu tun, als wäre es anders, ist sinnlos. Und es ist frustrierend, denn von uns beiden ist er der Erfahrenere, aber trotzdem stemmt er die Füße in den Boden, wenn ich versuche, ihn zur nächsten Base zu locken.
»Ich weiß, und ich versuche ja auch, nichts zu überstürzen …« Ich gleite von Fenns Schoß und drücke Bos Kopf sanft an mich, als er sich unter meinen Arm an mich drängt. »Aber so langsam kriege ich deinetwegen Komplexe.«
Er runzelt die Stirn. »Wieso?«
»Jedes Mal, wenn du aufhörst, frage ich mich, ob es daran liegt, dass ich …« Ich merke, wie meine Wangen heiß werden. »Ich weiß nicht … dass ich schlecht darin bin oder so. Ich meine, meine diesbezügliche Vita ist nicht sehr umfangreich.«
Schon vor dem Unfall war mein Dad ein Tyrann mit null Toleranz für Dates. Und Sloane hat jeden Typen von Ballard und Sandover davor zurückschrecken lassen, auch nur in meine Nähe zu kommen.
»Deine Vita?« Fenn klingt völlig verblüfft.
»Ja. Da war Corey Spaulding, der mich im ersten Jahr zu Lisa Leskos Geburtstagsparty eingeladen und am Ende mit ihrer Cousine im Gästehaus herumgemacht hat. Im zweiten Jahr habe ich mit Coreys bestem Freund geknutscht, Brad, aber das war vor allem, um Corey für seinen Verrat auf der Party von Lisa Lesko eins auszuwischen. Und dann war da im vergangenen Jahr A. J. Koppel. Aber ich denke, der hat mich nur geküsst, um Lisa Lesko eins auszuwischen, weil sie ihn betrogen hat.« Ich verstumme nachdenklich. »Oh mein Gott. Gerade ist mir klar geworden, dass Lisa Lesko der gemeinsame Nenner in meiner ganzen Kusshistorie ist. Was meinst du, hat das wohl zu bedeuten?«
Fenn starrt mich einen Moment lang an und bricht dann in Gelächter aus. »Was zum Teufel passiert hier gerade? Worauf willst du hinaus?«
»Du würdest es mir sagen, wenn ich keine gute Küsserin bin, ja?«
Er blinzelt, immer noch glucksend. »Ernsthaft?«
»Ernsthaft.«
Als Fenn klar wird, dass ich nicht lache, bringt er seine Gesichtsmuskeln wieder unter Kontrolle. »Machst du Witze? Du bist eine gute Küsserin. Außerordentlich gut, um ehrlich zu sein. Verdammt phänomenal.« Er seufzt. »Denk bitte nicht, dass mein Zögern bedeuten würde, dass mit dir etwas nicht stimmt. Es ist nur so, dass ich versuche, das Richtige zu tun. Ausnahmsweise mal.«
Das macht er häufig, und es macht mich ein wenig traurig seinetwegen. Ja, er hatte mehr One-Night-Stands als ein Motel am Highway, aber er ist kein schlechter Kerl. Irgendwann hat er sich in den Kopf gesetzt, dass er unwürdig wäre.
»Okay.«
»Das meine ich ernst.« Er nimmt meine Hand, um die Innenseite meines Handgelenks zu küssen. Was meine Eingeweide quasi zu Glibber schmelzen lässt und in mir den Wunsch weckt, auf der Stelle über ihn herzufallen. Ich weiß ja nicht, wo Jungs so etwas beigebracht kriegen, aber er hat dabei echt aufgepasst. »Es gibt absolut nichts, das ich an dir ändern würde.«
Innerlich platze ich fast, aber ich nicke nur und suche mir einen Stock, den ich für Penny werfen kann. Ich weiß nicht, ob ich mich je an ihn gewöhnen werde.
»Hast du wirklich erst drei Typen geküsst?« Das scheint ihn zu faszinieren. »Warst du nicht Cheerleaderin auf der Ballard?«
Ich kichere. »Muss man als Cheerleaderin denn eine Fantastilliarde Jungs küssen?«
»Na ja, nein, aber …« Er sieht mich finster an. »Na gut. Ich verbreite gerade Klischees.«
Ich muss über sein grummelndes Geständnis grinsen. »Ja, ich war Cheerleaderin«, bestätige ich. »Und ja, ich habe nur drei Jungs geküsst.«
Ich war vieles auf der Ballard Academy. Cheerleaderin. Vorsitzende des Jahrbuchkomitees, was eine riesengroße Ehre für jemanden im dritten Schuljahr ist. Ich hatte eine beste Freundin – Gillian Coates, mit der ich seit dem Frühling nicht mehr gesprochen habe.
Ich war beliebt auf der Ballard. Anders beliebt als meine Schwester, die alle Jungs begehrten und alle Mädchen fürchteten. Sloane zog mich immer damit auf, dass ich eins dieser nervigen Mädchen wäre, die jeder Junge will und kein Mädchen hassen kann, weil ich viel zu authentisch bin. Was immer das heißen soll. Ich war nie etwas anderes als ich selbst. Doch angesichts dessen, dass ich nur drei Jungs für mich interessieren konnte, hat mir Sloane in Sachen »jeder Junge will mich« vermutlich zu viel zugetraut.
Aber in einem Punkt hatte sie recht – fast alle auf der Ballard mochten mich. Bis die Gerüchteküche mich zu einer Irren machte und ich ganz plötzlich die Ausgestoßene war. Und ich weiß genau, dass Gillian und mein ehemaliger Freundeskreis immer noch über mich tuscheln. Manchmal sehe ich es in den sozialen Medien. Die dümmlichen Kommentare über mich in den Posts. Es ist beschämend.
»Ich will ja nicht das Thema wechseln«, meint Fenn da, »aber ist dir auch aufgefallen, dass Sloane sich merkwürdig benimmt? Denn langsam mache ich mir Sorgen um RJ.«
Ich denke darüber nach. Auf der Heimfahrt nach der Schule war sie definitiv alles andere als gesprächig. Aber ich habe mich nicht näher damit befasst, weil das bedeutete, dass ich der täglichen Abschlussbesprechung des Schultages entgehen konnte, in der sie stets bis ins Kleinste nachbohrt, wer alles wieder gemein zu mir war. Wem sie in den Hintern treten muss. Welche Reifen sie aufschlitzen muss. Meine große Schwester ist meine ultimative Beschützerin, selbst dann, wenn ich gar nicht beschützt werden muss. Ganz ehrlich, wenn ich glauben würde, dass es etwas bringt, würde ich sie brennende Hundehaufen in jeden Spind auf dem Campus werfen lassen. Aber so einschüchternd Sloane ist, bisher hat noch niemand eine Maschine erfunden, die das Highschoolklatschgetriebe aufhalten kann.
Aber im Allgemeinen weiß ich nicht, ob ich ihr Verhalten nicht eher als liebeskrank statt als merkwürdig bezeichnen würde. Seit sie wieder mit RJ zusammen ist, ist sie irgendwie besessen, eingehüllt von einem undurchdringlichen Liebesnebel. Ich freue mich ja für sie, aber irgendwie ist es gruselig. Früher schreckte Sloane immer vor der bloßen Vorstellung von Romantik zurück. Und jetzt verbreitet sie Liebe an alle, als würde sie Door-to-Door-Network-Marketing betreiben.
»Sie war diese Woche ziemlich abgelenkt«, antworte ich. »Sie schreibt die ganze Zeit Nachrichten an RJ. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, die zwei schmieden Pläne, zusammen durchzubrennen.«
Fenn zuckt mit den Schultern. »In dem Fall hätte ich unser Zimmer für mich allein, also …«
»Ich würde ja sagen, dass es für eine neue Beziehung normal ist, aber in letzter Zeit ist nichts normal an Sloane, also was weiß ich schon. Die zwei leben in ihrer eigenen Blase, schätze ich.«
»Tja, na ja, schön für sie, aber RJ muss das überwinden.«
Irgendwie liebenswert, dass Fenn so konsterniert ist. Er hat sich erst vor Kurzem mit seinem Stiefbruder versöhnt, und ich habe immer mehr das Gefühl, dass er ein wenig eifersüchtig ist. Hungrig nach Aufmerksamkeit vielleicht.
»Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll«, fährt er fort. »Jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, ist es, als würde er überlegen, wie er mir beibringen kann, dass meine Großmutter gestorben ist oder so.«
Uff. »Okay, das ist ein wenig seltsam. Vielleicht sieht sein Gesicht nun mal so aus?«
RJ ist ein netter Typ, aber er hat auf jeden Fall starke antisoziale Tendenzen. Wie zum Beispiel einen ständig leicht verächtlichen Gesichtsausdruck. Für einen extrovertierten Typen wie Fenn muss das regelrecht außerirdisch sein.
»Vor ein paar Tagen zum Beispiel kam ich nach dem Training in unser Zimmer und sah ihn telefonieren. Mit Sloane, nehme ich an. Aber er sieht mich an wie das Kaninchen die Schlange und wendet dann den Blick ab. Es ist bescheuert, aber ich schwöre dir, genau denselben Blick habe ich immer gesehen, wenn jemand darüber sprach, dass meine Mom krank war. Damals, als alle Angst hatten, mir zu sagen, wie schlimm es tatsächlich war.«
»Tut mir leid.« Ich nehme Fenns Hand, verschränke seine Finger mit meinen und halte sie in meinem Schoß.
Ich weiß, wie es ist, seine Mutter zu verlieren, auch wenn meine nicht an einer langwierigen Krankheit gestorben ist. Sie starb plötzlich und ohne jede Vorwarnung. Ein irrer Tod durch Ertrinken, den niemand kommen sah. Und ich war erst fünf Jahre alt, jung genug, um mich an nicht viel aus diesen Tagen zu erinnern. Nur an kurze Momente. Flüchtige Bilder des Begräbnisses, all die Leute, die danach noch tagelang ständig bei uns zu Hause waren, während meine Schwester und ich mit dem Begriff des Todes und dem beängstigenden Gedanken, dass Mommy nie wieder heimkommen würde, zurechtzukommen versuchten.
»An dem Punkt hatte mein Dad sich schon ausgeklinkt«, sagt Fenn abwesend und malt mit seinem Daumen Kreise auf meine Haut. »Offensichtlich war er jede Sekunde an ihrer Seite, aber ich war unsichtbar für ihn. Er wusste, dass sie nicht mehr lange da sein würde, also hat er total dichtgemacht.«
Schweigen senkt sich zwischen uns. Ich fühle die Traurigkeit, die von ihm ausgeht, und wünschte, ich könnte sie lindern. Ich denke an meinen eigenen Verlust, an dieses riesige Loch in meinem Leben nach Moms Tod. Ich erinnere mich kaum an sie, was es noch schlimmer macht. Ich habe nicht einmal einen geheimen Vorrat an warmen, wundervollen Erinnerungen, an die ich mich halten könnte, wenn ich merken würde, dass sie mir fehlt.
Doch einen Bewältigungsmechanismus habe ich tatsächlich, was irgendwie beschämend ist, aber ich beiße mir auf die Lippe und beschließe, es auszusprechen, denn ich hasse es, Fenn leiden zu sehen.
»Manchmal rede ich mit ihr«, gestehe ich scheu. »Mit meiner Mom.«
»Echt?«
»Es ist dumm, ich weiß.«
»Nein, gar nicht.«
Ich zucke mit den Schultern, denn so albern es ist, ich könnte nicht aufhören, selbst wenn ich es versuchte. »Wenn mir alles zu viel wird oder ich Angst bekomme, oder selbst wenn ich mich über etwas wirklich freue. Dann stelle ich mir vor, dass sie mich hören kann, dass sie irgendwo im Zimmer ist, und dann rede ich einfach mit ihr.«
»Und was erzählst du ihr?«
»Alles Mögliche. Alles. Als mir zum Beispiel plötzlich klar wurde, dass ich Tierärztin werden will, habe ich es zuerst meiner Mom erzählt, bevor ich etwas zu Dad oder Sloane gesagt habe.« Ein bittersüßes Lächeln umspielt meine Lippen. »Ich weiß, dass ich mir das wahrscheinlich nur eingebildet habe, aber ich schwöre, an dem Tag konnte ich ihre Präsenz spüren. Dass sie stolz auf mich war, weil ich meinen Weg gefunden habe.«
Fenn legt den Arm um meine Schulter und zieht mich an sich. »Ich wünschte, ich könnte das. Ich habe meine Mom schon lange nicht mehr gefühlt. Es war leer, als sie weg war. Das war alles.«
Meine Kehle schnürt sich zu, und mein Herz zieht sich zusammen, als es seinen Schmerz erkennt. Ich lege den Kopf an seine nackte Schulter, und einmal mehr wünschte ich, ich könnte ihm mehr bieten als Plattitüden und dumme Tipps, um seinen Schmerz zu lindern. Der Verlust seiner Mutter quält Fenn immer noch so sehr. Das Gefühl ist stets da. In den Augenblicken, in denen er denkt, dass keiner hinsieht. Wenn er ohne Worte weiß, wie ich mich fühle, wenn ich an meine eigene Mutter denke. Und irgendwie scheint er sich selbst zu hassen, auch wenn er denkt, ich würde es nicht merken.
Wenigstens lässt er zu, dass ich ihn sehe. Ich bin eine der Wenigen, die das tun, und dafür bin ich dankbar. Es braucht Mut, um ein wenig verletzbar zu sein.
»Hi«, sagt er, und es schüttelt mich ein klein wenig.
»Hi.« Ich fühle das Lächeln in seiner Stimme. Und tatsächlich, als ich den Kopf hebe, hat er ein scherzhaftes Grinsen auf den Lippen.
»Was hältst du davon, wenn ich dich auf ein echtes Date ausführe?«, fragt er leise.
Mein Herz macht einen Satz. »Und wie sieht ein echtes Date aus?«
»Wie stehst du zu einem Picknick? Wir könnten Samstagnachmittag mit den Hunden spazieren gehen und uns eine hübsche Stelle zum Picknicken suchen.«
Es ist schwer, sich vorzustellen, wie Fenn Bishop mit einem Picknickkorb durch den Wald schleicht, aber ich würde echt Geld dafür bezahlen, um zu sehen, was er sich so ausdenkt.
»Klingt perfekt.«
In letzter Zeit ist mein Stiefbruder in einer ständigen Trance gefangen. Früher konnte man ihn nicht dazu bewegen, den Blick von seinem Computerbildschirm loszureißen, aber wenigstens hat er im Gespräch gelegentlich eine Antwort gebrummelt. Jetzt kriege ich nicht einmal mehr ein Grunzen aus ihm heraus, als wir uns am Morgen fertig für den Unterricht machen. Seit der Sekunde, in der er aufgewacht ist, hängt er am Handy.
»Kumpel.« Ich werfe einen Tennisball durchs Zimmer, der an seinem Kopf vorbeifliegt und an die Wand prallt.
RJ wirbelt auf seinem Stuhl am Schreibtisch herum. »Scheiße, Mann. Was ist?«
»Hast du irgendwas gehört, das ich in den letzten zehn Minuten gesagt habe?«
»Nein? Keine Ahnung. Himmel. Was willst du von mir, noch vor acht Uhr früh?«
»Ich verstehe ja, dass du im Moment unterm Pantoffel stehst, aber wie wäre es damit, hin und wieder ein bisschen Zeit für deine Freunde zu erübrigen?«
Verdammt. Das klang jetzt anhänglich. War es anhänglich? Ich weiß nicht, wie man das mit dieser ganzen Brudersache so macht. Ich war mein Leben lang ein Einzelkind. Und jetzt habe ich diesen Stiefbruder, der sich als cooler herausgestellt hat, als ich dachte.
Als wir uns fünf Sekunden vor der Hochzeit unserer Eltern begegneten, in unseren Smokings dastanden und uns taxierten, hatte ich ehrlich nicht damit gerechnet, dass ich den Typen mögen würde. Himmel, ich habe ein paar Wochen gebraucht, bis ich mir überhaupt seinen Namen merken konnte. Aber dann hat mein Dad RJ in Sandover untergebracht, wir wurden als Zimmergenossen zusammengesteckt, und jetzt … na ja, ich schätze, wir haben eine Beziehung zueinander aufgebaut. Klingt total kitschig, aber es stimmt. Kann ja sein, dass wir völlig verschiedene Backgrounds haben und in puncto soziale Kontakte polare Gegensätze sind, aber irgendwie funktioniert diese neue verwandtschaftliche Beziehung.
Oder zumindest hat sie das, bevor er sich in Sloane Tresscott verliebt hat. Von allen Mädchen, denen er hätte nachjagen können, sucht er sich ausgerechnet die Tochter des Direktors aus. Die Eisprinzessin. Die, die mir die Eier abreißen würde, wenn sie wüsste, dass ich diese Woche jeden Tag meine Zunge im Mund ihrer kleinen Schwester hatte.
»Wolltest du was Bestimmtes, oder hast du es nur nötig?« Endlich legt RJ sein Handy weg und schwingt sich vom Stuhl, um sich anzuziehen. Wie es aussieht, werden wir lediglich Zeit haben, uns ein schnelles Gebäckstück im Speisesaal zu schnappen, bevor es zur ersten Stunde läutet.
»Du musst mir dieses Wochenende einen Gefallen tun. Ich mache am Samstag ein Picknick mit Casey.«
Er wirft mir einen Blick über die Schulter zu, und ich glaube, ich sehe eine kurze Grimasse, bevor er sich wieder zu seinem Schrank dreht.
»Was hat das mit mir zu tun?«
»Halte Sloane beschäftigt für mich.« Ich setze mich auf die Couch in der Mitte unseres geräumigen Wohnheimzimmers und ziehe meine Schuhe an. »Ich weiß, sie gehört in der Sache nicht gerade zum Team Fenn, und ich will nicht, dass jedes Date mit Casey zu einem Duell wird.«
»Dann passiert es also wirklich?« RJ runzelt die Stirn, während er seine Tasche über die Schulter wirft. Seine Krawatte hängt ihm offen um den Hals, als wäre es ein Statement gegen das Establishment. Aber in Wahrheit ist er seit zwei Monaten auf Sandover und kann sich an den meisten Tagen das Ding immer noch nicht ohne meine Hilfe binden. »Du und Casey?«
Die Frage erwischt mich kalt. Und seine Haltung wird irgendwie seltsam, voller mysteriöser Botschaften, die mich verunsichern. »Ja, und …?«
»Welche Absichten hast du dabei?«, fragt er.
»Absichten?«
Was zur Hölle? Zugegeben, wir sind nicht gut darin, uns gegenseitig das Herz auszuschütten, aber ich dachte, RJ versteht, was ich für Casey empfinde. Sie ist nicht irgendeine Eroberung für mich. Dieses Mädchen ist etwas Besonderes.
»Hat Sloane dich dazu angestiftet?«, frage ich misstrauisch.
»Ich frage nur«, meint er mit einem Schulterzucken, das ein bisschen betonter ist, als seine Worte ahnen lassen.
Er hat mit seinem Misstrauen ja nicht ganz unrecht. Nicht einmal ein bisschen. Unter der Oberfläche dessen, was er über mich weiß, lauert ein riesiger Eisberg von Schuldgefühlen im Dunkeln. Denn ich bin ein Mistkerl, weil ich sie will, und ein noch größerer Mistkerl, weil ich das alles wider besseres Wissen zulasse. Mit jedem Tag, jedem Kuss, bin ich ein Stück näher dran, sie zu verderben.
RJ steht zwischen mir und der Tür, ein ziemlich klares Zeichen für sein aufrichtiges Interesse. Ich wollte seine Aufmerksamkeit, und jetzt komme ich hier nicht eher raus, bis ich ihn zufriedengestellt habe.
»Ich würde ihr nie wehtun«, sage ich ihm. Meine Stimme klingt schroff. Ich will, dass es stimmt. Und das ist die beste Form von Ehrlichkeit, die ich ihm bieten kann.
RJ mustert mich abschätzend. Es ist deutlich, dass er noch etwas sagen will, aber da summt mein Handy in der Tasche. Ich atme aus und bin überrascht, dass ich so erleichtert bin, vom Haken zu sein. Dann sehe ich die Nummer meines Dads auf dem Display und fluche vor mich hin.
»Es ist mein Dad«, brumme ich, stelle das Handy auf Lautsprecher und melde mich mit einem kurzen: »Ja?«
Ich hätte den Anruf auf die Mailbox gehen lassen, wenn ich nicht einigermaßen dankbar für die Rettung wäre. Dieses Blickduell mit RJ wurde langsam intensiv. Ich kann mir nicht vorstellen, woher sein Interesse kommt, abgesehen davon, dass Sloane wesentlich verärgerter über unsere Beziehung ist, als ich angenommen hatte. Ein Teil von mir fragt sich, ob sie vielleicht eine Aktion gestartet hat, um RJ gegen mich zu wenden, solange Casey und ich zusammen sind. Ich weiß, dass sie gute Absichten hat – sie will ihre kleine Schwester schützen –, aber wenn sie will, ist Sloane gnadenlos.
»Guten Morgen«, antwortet mein Dad mit einer erbärmlich fröhlichen Stimme, von der ich annehme, dass er sie nur wegen RJs Mutter am anderen Ende der Leitung bemüht. »Habe ich euch vor dem Frühstück erwischt?«
»Ja, was willst du?«
In letzter Zeit ist er häufiger am Telefon als in den letzten Jahren meines Lebens zusammen. Alles Teil seiner plötzlichen Charakterwandlung hin zu einer Art Vorzeige-Dad-Imitation, die verstörend und beleidigend zugleich ist. Seit ihm Michelle über den Weg gelaufen ist, ist es, als hätte er seine väterlichen Wurzeln entdeckt und würde versuchen, ein Jahrzehnt freundlicher Vernachlässigung wiedergutzumachen. Oder er will zumindest RJ und seine Mom glauben lassen, dass er versucht, ein besserer Vater zu sein.
Ich kaufe ihm das nicht ab. Menschen ändern sich nicht über Nacht. Verdammt, ich denke nicht, dass sich Menschen überhaupt ändern. Sie werden nur besser darin, ihr Fehlverhalten zu verbergen. Also nein, ich glaube nicht, dass mein Dad plötzlich aufgehört hat, ein egoistischer Idiot zu sein, und sich jetzt um so lästige Angelegenheiten wie »Familie« kümmert.
Wo war Mr Family Man, als Mom gestorben ist? Nirgendwo in meiner Nähe, so viel ist sicher. Vor ihrem Tod standen er und ich uns nahe. Wir lachten zusammen, gingen zusammen segeln. Manchmal brachte ich ihn sogar dazu, Videospiele mit mir zu spielen. Wir hatten Spaß.
Dann war sie weg, und Dad hat mir total die kalte Schulter gezeigt. Er hat sich in Arbeit vergraben und mich zu einem Anhängsel degradiert. Und wenn er sich mal tatsächlich an meine Existenz erinnerte, fühlte er sich schuldig, überschüttete mich mit Geld und verschwand dann wieder.
Und irgendwann gefiel es mir, alleingelassen zu werden. Ich meine, welcher Teenager hätte nicht gern freien Lauf ohne jede Konsequenz? Egal, was ich anstellte, in welchen irren Scheiß ich auch geriet, Dad zuckte nicht einmal mit der Wimper. Im Sommer vor dem zweiten Jahr auf der Highschool – als ich noch auf der Ballard war, so wie etwa fünfundsiebzig Prozent der Außenseiter, die jetzt auf die Sandover gehen – gab ich eine Party in unserem Haus in Greenwich, die damit endete, dass das ganze Haus verwüstet war und die Cops nach ein paar Dutzend Beschwerden wegen Lärmbelästigung auftauchten – und Dad war es völlig egal. Er heuerte schlicht einen Reinigungsservice an und ging dann in sein Arbeitszimmer, um ein Geschäft abzuwickeln, das er mit einem Techkonzern in Japan verhandelte. Als ich von der Ballard flog und dann von dieser versnobten Schweizer Privatschule? Nicht einmal ein Blinzeln von ihm. Er schrieb einfach nur einen neuen Scheck und verfrachtete mich nach Sandover.
Also, was immer das hier ist, dieser ungewollte Olivenzweig, mit dem er mir ständig vor der Nase herumwedelt – ich bin nicht interessiert. Ich habe mein Interesse vor Jahren verloren.
»Ich hatte gehofft, wir könnten noch einmal über die Weihnachtsferien sprechen«, erzählt Dad. »Dass wir alle zusammen einen kleinen Familienurlaub machen.«
»Äh, ja. Ich glaube, für diesen Trip nach Disney World ist es ein bisschen zu spät, Dad.«
»Michelle hat vorgeschlagen, dass wir irgendwo in die Berge fahren könnten. Vielleicht Skifahren?«
»Was interessiert mich das? Tu, was immer du willst. Ich habe andere Pläne.«
»Denk darüber nach«, drängt er mich und entscheidet offenbar, meine offene Unhöflichkeit als eine Art psychologische Kriegsführung abzutun. »In der Zwischenzeit wollten Michelle und ich irgendwann bald zu Besuch kommen. Wir könnten mit euch Jungs schick abendessen gehen. Wie klingt das?«
»Vergiss es.«
Ich beende den Anruf ohne die geringste Spur von Reue. Nicht einmal das Aufflackern von Missbilligung in RJs dunklen Augen löst irgendein Gefühl von Reue in mir aus. Ich verstehe ja, dass wir jetzt Stiefbrüder sind und dass das auch ihn betrifft, aber RJ sollte sich da besser raushalten. Er kann unmöglich achtzehn Jahre Vergangenheit würdigen, wo er David doch erst seit ein paar Monaten kennt. Die wir größtenteils in diesem Wohnheim verbracht haben.
»Das war scheiße«, meint mein Stiefbruder. »Du könntest dir ein bisschen Mühe geben.«
»Könnte ich, aber ich will nicht. Vertrau mir, ich falle nicht auf sein Getue herein. Er hat es nicht verdient, dass du dich für ihn einsetzt. Und diese Gespräche gehen viel schneller, wenn ich nicht so tue, als würde ich daran teilnehmen.«
»Vielleicht ist es ja gar kein Getue«, bemerkt RJ.
Ich verdrehe die Augen. Aus irgendeinem widerlichen Grund macht er mir schon die ganze Woche lang Stress, dass ich offen für eine Versöhnung sein sollte. Aber er kennt meinen Dad nicht und weiß nicht, wie es war, eines Morgens aufzuwachen und zu erkennen, dass mein Vater beschlossen hatte, meine Existenz nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen. RJs Dad hatte wenigstens so viel Anstand, im Knast zu landen.
»Ich habe dir gesagt, dieser ganze Netter-Typ-Blödsinn ist genau das – Blödsinn. Dass er dich und deine Mom mit Geschenken und Urlaubsvorschlägen überhäuft. Dass er versucht, dein Kumpel zu sein. Das ist alles nur Schwindel. Er versucht nur, deine Mutter zu beeindrucken. Damit er gut dasteht, sodass sie nicht die Hälfte seines Geldes mitnimmt, wenn sie sich schließlich scheiden lassen.«
Zögern steht in RJs Zügen.
»Was ist?«, will ich wissen.
»Ich weiß nicht …« Er spielt an der Spitze seiner Krawatte herum.
»Was?«, wiederhole ich.
»Ein Teil von mir denkt, dass diese Ehe vielleicht tatsächlich funktioniert«, gesteht er schließlich.
Mir fällt die Kinnlade runter. »Alter.«
»Ich weiß.«
»Seit wann?«
Er zuckt mit den Schultern. »Sie wirken glücklich.«
»Sie sind frisch verheiratet. Natürlich sind sie im Moment glücklich. Wahrscheinlich hat er sie heute Morgen auf dem Küchentresen vernascht.«
RJ wird blass. »Igitt. Das ist meine Mom. Wie auch immer, ich sage ja nicht, dass es hält. Nur dass ich nicht total geschockt wäre, wenn es so kommt.«
Ich schüttle vorwurfsvoll den Kopf. »Was ist nur aus deinem Zynismus geworden? Den mochte ich am liebsten an dir. Dafür gebe ich Sloane die verdammte Schuld.«
»Ich habe nichts dagegen, meine Mutter glücklich zu sehen«, grummelt er, als wir uns auf den Weg machen. »Also verklag mich doch.«
Aber als wir an der Tür sind, bleibt er stehen und sieht mich an. Wieder zögert er.
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Wolltest du sonst noch was sagen?«
Ein Herzschlag vergeht, doch dann wendet er den Blick ab und geht hinaus. »Nichts«, sagt er, ohne zurückzublicken. »Vergiss es.«
Sloane ist stinkwütend. Ich dachte, ich hätte sie schon sauer gesehen, aber das hier ist etwas ganz anderes. Diese unheimliche Form von Totenstille, die das Inferno der Wut in ihr verdeckt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie noch atmet.
»Was denkst du gerade?«, frage ich, bekomme aber keine Antwort.
Vor einer Stunde hat sie mich gebeten, zu unserer Stelle am überwachsenen Waldweg zu kommen, zu der alten Bank, die zwischen den Büschen steht. Ich kam direkt vom Schwimmtraining her, nachdem ich Lawson dazu gebracht hatte, mich beim Trainer zu decken und ihm eine Ausrede aufzutischen, wieso ich früher wegmusste. Sie hat mir keinen Hinweis gegeben, was es mit dem unerwarteten SOS auf sich hat, aber ich kann wohl getrost annehmen, dass es mit der Entscheidung zu tun hat, die seit inzwischen einer Woche wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen hängt.
Und dadurch, dass Fenn idiotischerweise Casey datet, hat er uns in Zugzwang gebracht.
Uns war klar, dass wir ihn mit seiner Rolle bei Caseys Unfall konfrontieren müssen, aber Sloane war hin- und hergerissen, ob sie zuvor mit ihrer Schwester reden soll. Ihre Begründung ist die, dass Casey es verdient, Bescheid zu wissen, und dass Fenn keinen Vorsprung kriegen sollte, um sich zurechtzulegen, was er sagen soll. Aber ich vermute, dass sie Angst vor den Auswirkungen hat, die es haben könnte, wenn ihre Schwester davon erfährt. Sie hat Angst, dass Casey wieder in Depression verfällt und es diesmal vielleicht nicht mehr schafft, sich aus der Dunkelheit zu befreien.
Und ich glaube, sie macht sich Sorgen, dass Caseys Gefühle für Fenn ihr Urteilsvermögen hinsichtlich weiterer Schritte beeinträchtigen werden. Ich weiß, dass Sloane das Band den Cops übergeben will. Aber der Gedanke bereitet mir echt Übelkeit. Ich kann meinen Stiefbruder nicht verpetzen.
Aber ich kann mich auch nicht gegen meine Freundin stellen.
Ich hasse es, zwischen zwei Stühlen zu sitzen.
»Kannst du mir wenigstens einen Hinweis geben?«, dränge ich sie.
Über uns huscht ein Vogel oder so durch das Blätterdach, und meine Freundin zuckt zusammen und taucht blinzelnd aus ihrer Trance auf.
»Sie hätte sterben können«, beharrt Sloane, als wäre sie mitten in einer intensiven Diskussion in ihrem Kopf, in die ich nicht eingeweiht bin. »Fenn hat sie mit einer Kopfverletzung dort allein gelassen. Casey hätte verbluten können.« Sie zuckt vor dem überwältigenden Bild zurück, das der Gedanke in ihr heraufbeschwört, und fängt an, unruhig hin und her zu tigern. »Er hätte sie umbringen können, RJ.«
»Okay, vielleicht«, sage ich sachte. Ihr jetzt zu widersprechen würde bedeuten, mein Leben zu riskieren, und ich versuche hier, heute Abend nicht zu sterben. »Aber sie wäre auch ertrunken, wenn Fenn nicht da gewesen wäre, um sie aus dem untergehenden Auto zu retten.«
Sie dreht sich scharf zu mir um. »Dann stellst du dich also auf seine Seite.«
»Nein. Ich biete dir eine Perspektive, um den Kontext zu berücksichtigen.«
»Pfeif auf deinen Kontext.«
»Sloane.« Ich atme hörbar aus. »Wir wissen immer noch nicht, wer der andere in dem Video war. Die erste Person, die wir an der Kamera haben vorbeilaufen sehen. Wir haben keine Ahnung, wer das war und ob diese Person das Auto gefahren hat. Und da uns diese Information fehlt, ist es zu einfach, der einen Person, die wir identifizieren können, die Schuld zu geben.«
Sloane schnaubt und wirft die Hände hoch. »Ich muss nicht fair sein. Meine kleine Schwester ist fast gestorben, und Fenn hat monatelang deswegen gelogen! Das ist fragwürdig, RJ. Es ist fragwürdig!«
Da hat sie nicht unrecht. Es sieht nicht gut aus für meinen Stiefbruder. Und es ist echt Pech, dass nur Fenn dumm genug war, sein Gesicht vor der Überwachungskamera des Bootshauses zu zeigen. Wenn wir nur wüssten, wer überhaupt mit Casey dorthin gefahren ist, dann wäre Fenns Entscheidung abzuhauen, nachdem er sie gerettet hatte, lediglich eine kleinere Fußnote in der ganzen üblen Sache. Etwas für den Epilog des gelösten Falles. Doch stattdessen wirken seine Handlungen in jener Nacht und seitdem eher verdächtig als heroisch.
»Ich denke, du musst herausfinden, wo deine Loyalitäten liegen.« Sie geht auf mich zu, und ihre dunkelgrauen Augen brennen wie heiße Asche. Entrüstet bohrt sie mir einen Finger in die Brust, was mich echt sauer machen würde, wenn sie jemand anderes wäre.
»Du weißt, dass ich das nicht machen kann.«
Ich nehme ihre Hand, doch sie zieht sie abrupt weg. Angesichts der Umstände bin ich momentan unendlich nachsichtig mit ihr. Aber ich akzeptiere kein Ultimatum.
»Sloane, ich liebe dich, aber ich entscheide mich auf keinen Fall zwischen meiner Freundin und meinem Stiefbruder. Was er getan hat, war beschissen, ja. Aber tut mir leid, ich denke nicht, dass wir den Typen kreuzigen sollten, bevor wir die ganze Geschichte kennen.« Ich zucke mit den Schultern. »Im Augenblick denke ich, du solltest es Casey erzählen und sie entscheiden lassen, was zu tun ist.«
»Nein«, widerspricht sie und ist offensichtlich unzufrieden damit, dass ich ihre Rachefantasien nicht unterstützen will. Sie zieht herausfordernd eine Augenbraue hoch. »Ich sage es einfach meinem Dad, und dann können wir zu den Cops gehen. Die können es herausfinden.«
Meine Schultern spannen sich an. Sie benutzt diese Idee, als würde sie mir ein Messer an die Kehle halten, und langsam lässt meine Geduld nach. Ich will ebenso sehr wie sie vorankommen, aber Fenn ans Messer zu liefern, weil wir den wahren Schuldigen nicht kennen, ist kein Ergebnis, das ich unterstützen möchte.
»Ich will dir nicht im Weg stehen.« Ich setze mich auf die Bank und flehe sie an, ihre Waffen zu senken. »Wenn du glaubst, dass du das tun musst, dann ist das dein gutes Recht. Aber wenn du diesen Weg einschlägst, musst du verstehen, dass du damit Fenns ganzes Leben sprengst, ihm vielleicht sogar die Freiheit nimmst, ohne alle Details zu kennen. Wenn du noch nicht so weit bist, Casey einzuweihen, dann lass mich wenigstens mit Fenn reden, bevor du etwas anderes tust. Lass mich ihn dazu bringen, die Wahrheit zu gestehen. Seine Sichtweise der Dinge zu erklären.«
Ihre Lippen spannen sich an. »Du weißt, dass er dich nur anlügen wird.«
»Nein, das weiß ich nicht. Ich denke, er wird mir die Wahrheit sagen.«
Sloane begegnet einen Moment lang meinem Blick. Lange genug, dass der Wunsch in ihr, mir eine zu verpassen, verschwindet. Vorerst.
Widerwillig setzt sie sich neben mich. »Lass mich den Film noch mal sehen«, befiehlt sie.
Auf meinem Handy sehen wir uns noch einmal das Überwachungsvideo vom Bootshaus am Abend des Abschlussballs an. Aber egal, wie sehr wir heranzoomen oder es langsamer abspielen, Sloane kann keinen Hinweis ausmachen, wen wir da fliehen sehen, kurz nachdem das Auto über den Bildschirm und in den See gerast ist. Und sie beobachtet Fenn. Wie er aus dem Bild rennt, um Casey aus dem Auto zu ziehen, und dann zurückkehrt und sie sachte auf dem Boden ablegt. Wie er Sloane mit dem Handy ihrer Schwester schreibt, was beweist, dass diese verdammten Dinger tatsächlich wasserdicht sind.
»Wenn er die Nachricht nicht geschrieben hätte, wären wir nie darauf gekommen, sie dort zu suchen«, murmelt sie.
Der See ist ein gutes Stück entfernt von der Sporthalle der Ballard Academy, wo Casey vom Tanzen verschwand. Definitiv keine Strecke, die man in der Nacht zu Fuß geht, es sei denn, man kennt den Weg. So wie Sloane es beschrieben hat, war das Bootshaus ein Ort, wo die Leute hingingen, um zu trinken, zu rauchen, zu knutschen oder sonst alles Mögliche zu machen, das verboten war. Aka der letzte Ort, an dem irgendwer nach einem Mädchen wie Casey suchen würde.
»Wir hätten sie vielleicht über Stunden nicht gefunden«, sagt Sloane und hält mein Handy immer noch mit den Händen umklammert. Aber ich spüre ihre eisige Wut tauen.
»Schau, ich kann mir nicht vorstellen, was Fenn geritten hat, sie da zurückzulassen«, sage ich rau, »oder wieso er die ganze Zeit über nichts gesagt hat. Aber ich denke, es ist offensichtlich, dass er versucht hat, das Richtige zu tun, als er ins Wasser gelaufen ist.«
Darüber denkt Sloane eine Weile nach und runzelt die Stirn. Sie ist nicht der Typ Mensch, der verzeiht. Meine Freundin ist jemand, der seinen Groll in der Tasche mit sich herumträgt und hegt und pflegt. Ich bin mir nicht sicher, ob sie weiß, wer sie ohne wäre. Und ich verstehe es. Dass sie einen Weg fand, mir jeden Fehler, den ich auf dem Weg zu einer Beziehung mit ihr gemacht habe, zu verzeihen, war eine enorme Charakterentwicklung.
Ich muss nur erreichen, dass diese Entwicklung noch etwas weitergeht.
»Ich hasse dich«, meint sie und schnaubt.
»Ich weiß.«
Ich lege die Hand auf ihren Oberschenkel und drücke sanft, denn ich kann spüren, dass ihre Entschlossenheit schwächer wird, und wenn ich sie daran erinnere, warum sie bei mir bleibt, wird sie mich weniger büßen lassen.
»Also gut.« Sie seufzt gereizt. »Ja, wenn er nicht da gewesen wäre, wäre sie in dem Auto gestorben.«
Damit gewährt sie nur ein klein wenig Gnade für einen Typen, den sie immer noch gern mit bloßen Händen zerstückeln würde. Aber es reicht aus.
»Danke, dass du das anerkennst.«
»In Ordnung. Rede du zuerst mit ihm. Versuche, seine Version der Dinge zu erfahren.« Sloane steht auf. Für den Moment ist sie mit mir fertig. Niemand will »töte wen auch immer noch nicht« weniger gern hören als Sloane Tresscott. Sie ist durch und durch eine Kämpferin. »Aber wenn er nicht auspackt …«
Ich nicke grimmig. »Ich weiß.«
Damit gibt sie ihm eine Chance, und zwar eine einzige. Und um seinetwillen sollte Fenn diese Rettungsleine besser packen, bevor sie zu seinem Galgenstrick wird.
»Mr Swinney?«, fragt Casey, und ihr bleibt der Mund offen stehen. »Der Typ, der aussieht wie ein alter mottenzerfressener Wollmantel, der hinten im Schrank vom Bügel gefallen ist?«
Eine passende Beschreibung, und ich ersticke fast vor Lachen, während wir uns am Samstagnachmittag eine hübsche schattige Stelle suchen, wo wir unsere Picknickdecke hinlegen können.
»Es ist die perfekte Tarnung«, antworte ich. »Wer würde schon Verdacht schöpfen, richtig?«
Der Campus der Sandover Prep ist trügerisch groß und erstreckt sich jenseits der Hauptgebäude über Hunderte Morgen. Vieles davon ist unberührtes Waldgebiet, das die meisten von uns kaum erforscht haben. Heute sind wir von einem der Wege abgebogen und haben inmitten der Nadelbäume eine Höhlung gefunden. Der Herbst ist da, und überall sonst auf dem Campus verfärben sich die Blätter in verschiedenste Rot- und Orangetöne und machen den Boden knirschend und braun. Hier dagegen sieht man noch eine Menge Grün.
Wir setzen uns, und ich fange an, einige mitgebrachte Snacks herauszuholen. Ungefähr eine halbe Stunde entfernt habe ich einen kleinen Feinkostladen gefunden, den ich dafür bezahlt habe, etwas zusammenzustellen und heute Morgen zum Wohnheim zu liefern. Und das Beste ist, ich konnte sie auch noch dazu bringen, zwei rohe Markknochen vom Metzgerladen in Calden mitzuliefern, der kleinen Stadt, die dem Campus von Sandover am nächsten liegt.
Ich verschwende keine Zeit und werfe die Knochen Caseys zwei sabbernden Golden Retrievern hin, die sich jeder einen Knochen schnappen und davonsausen, um sich ein stilles Plätzchen zum Fressen zu suchen. Gut. Das wird sie eine Weile lang beschäftigt halten.
»Also, ihr seid ihm gefolgt?«, fragt Casey lachend.
»Ja. Und dorthin zu kommen war nicht einfach. Was ja Sinn ergibt, weißt du. RJ und ich haben die Nacht damit verbracht, im Stockdunkeln durch den Wald zu laufen. Haben uns Schnitte eingefangen und sind alle paar Schritte über Steine gestolpert.«
»Ich hätte voll Angst gehabt«, meint sie nervös. »Ihr hättet ja auch seine Mörderhöhle oder so finden können.«
»Der Gedanke kam mir auch.«
Ich tue mich wirklich schwer damit, mich auf das Gespräch zu konzentrieren, und bin mir nicht sicher, ob die Worte in der richtigen Reihenfolge herauskommen. Casey sieht wunderschön aus vor dem Hintergrund des Sonnenlichts, das zwischen die Bäume fällt. Ihr erdbeerblondes Haar, das sich im Wind bewegt, lenkt mich ab, ebenso die Art, wie sie sich die Finger leckt, nachdem sie in eine Orangenscheibe gebissen hat. Die einfachsten Dinge an ihr verdrehen mir den Kopf. Ich würde es ja für eine Krankheit halten, wenn ich nicht lieber Zeit mit ihr verbringen würde, als irgendetwas anderes zu tun.
»Der richtige Spaß war, als wir die Beine in die Hand nahmen und abhauten, weil wir dachten, dass wir jeden Moment von einem Haufen schwer bewaffneter Drogenhändler erwischt werden, die uns die Finger abschneiden und an unsere Eltern schicken.«
»Und das alles nur, damit RJ Sloane weiter treffen konnte.« Casey lächelt in sich hinein. »Er ist schon etwas Besonderes.«
Ich hole eine Flasche Prosecco aus meinem Rucksack und dazu zwei Gläser, die ich aus dem Speisesaal geklaut habe. Aus irgendeinem dummen Grund fällt mir das Einschenken schwer, weil meine Finger so zittern.
»Geht es dir gut?« Sie mustert mich mit amüsierter Besorgnis. »Irgendwie zitterst du ziemlich.«
»Du machst mich ein bisschen nervös«, gestehe ich.
Casey legt den Kopf schief. »Das kann ich kaum glauben.«
»Stimmt aber.«
In letzter Zeit achte ich darauf, sie nicht anzulügen. Nicht mehr, als ich es schon getan habe, und nicht mehr als nötig. Ich probiere diesen neuen Weg absoluter unbequemer Ehrlichkeit aus. Irgendwie. Es ist kompliziert. Keine Ahnung. Ich schätze, es fühlt sich so an, als würde ich versuchen, sie für all die anderen Möglichkeiten, wie ich es bei ihr vermasseln kann, zu entschädigen.
»Das ist albern.«
Ich gebe ihr das Glas, nachdem ich es irgendwie geschafft habe, nicht alles über die Decke zu verschütten. »Vertrau mir, du bist ziemlich außerhalb meiner Liga.«
»Und du bist niedlich, wenn du Blödsinn redest.«
Sie lacht meine Bemerkung weg in dem Versuch, charmant zu sein. Aus irgendeinem Grund hat sie sich in den Kopf gesetzt, dass ich ein guter Fang wäre. Ich weiß nicht, wie sie darauf gekommen ist. Manchmal wünschte ich, ich könnte ihr all die scheußlichen Geheimnisse erzählen, die sie in die Flucht schlagen würden.
»Hier, probier das mal.« Casey steckt mir einen Käsewürfel in den Mund und beobachtet mich, um zu sehen, wie ich reagiere.
Ich kaue langsam. »Oh, der schmeckt irgendwie komisch.«
»Ja, oder? Wie Rotwein.«
»Woher weißt du das?«
Sie kichert. »Was denn, denkst du, du wärst der Erste, der mir Alkohol anbietet?«
Ich habe keine Ahnung, warum es mir so gefällt, wenn sie über mich lacht.
Ich war noch nie zufriedener als jetzt und hier mit ihr zusammen. Casey hat eine Art, alles andere um uns herum auszublenden, und ich fühle mich leichter. Frei. Glücklich. Aber das ist nie von langer Dauer, denn zwischen diesen reinen Momenten ergießt sich ein Strom aus Kummer in meinem Kopf und erinnert mich daran, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Bis ich sie enttäusche. Bis ich ein so toxischer Einfluss auf sie werde, dass ich das Gute in ihr, das sie so besonders macht, verderbe.
Casey leidet nicht an der bösartigen Gleichgültigkeit und Verdrossenheit, denen sich der Rest von uns ergeben hat. Sie ist keins dieser abgestumpften reichen Trustfonds-Babys, deren Seele kalt und leer ist. Sie ist hoffnungsvoll und gut. Freundlich und großzügig. Irgendwie hat sie es geschafft, all das, was uns ausgetrieben wird, zu bewahren, und das durch schreckliche Qualen hindurch, die andere verständlicherweise übel beschädigt hätten.
Sie ist gewissermaßen meine Heldin.
Und wenn ich nicht ein so egoistischer Bastard wäre, würde ich sie in Ruhe lassen, bevor ich sie zerbreche.
»Was hast du heute Abend vor?«, fragt sie und holt einen Minidonut mit Puderzucker aus einer kleinen Schachtel. »Dich in Schwierigkeiten bringen?«
»Heute Abend finden die Kämpfe statt.« Ich verdrehe die Augen. »RJ will, dass ich mit ihm hingehe, da er sich eigentlich dort blicken lassen muss, nachdem er Duke entthront hat.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass RJ das alles jetzt führt. Der neue Duke ist.«
»Dann sind wir schon zwei.«
Mein Stiefbruder wollte nie die Verantwortung oder die Macht, der Boss von Sandover zu sein. Als er Duke die Führung streitig machte, kämpfte er um seine eigene Unabhängigkeit von einem korrupten System. Mit anderen Worten, er wollte seine eigenen kriminellen Machenschaften betreiben, ohne einen Anteil an Duke-Scheißkerl-Jessup abzudrücken. Doch ihm war nicht klar, dass die Maschine weiterläuft, egal wer auf dem Fahrersitz hockt. Ob es einem gefällt oder nicht.
Casey lehnt sich zurück auf die Ellbogen und sieht mich neugierig an. »Hast du je mitgemacht?«
»Gekämpft? Klar. Ein paarmal.«
Ich kann ihre Reaktion nicht deuten, aber ich rechne damit, dass sie enttäuscht ist. Es ist eins der Dinge, die dem Goldstück den Glanz nehmen. Dabei mitzumachen, dass sich die Jungs von Sandover traditionell jeden Samstagabend gegenseitig verprügeln, ist wahrscheinlich nicht der attraktivste Charakterzug an einem potenziellen festen Freund.
»War das zum Zeitvertreib, oder …?«
»Du meinst, ob ich es zum Spaß gemacht habe? Nein.«
Eine Menge Typen machen es nur so zum Spaß. Manche wollen damit etwas beweisen. Andere machen mit, weil es ihnen gefällt. Aber nicht ich.
»Vielleicht ist es ein Charakterfehler, aber beide Male, die ich mitgemacht habe, ging es darum, etwas zu klären. Eine Rechnung zu begleichen oder so. Ärger aus der Welt zu schaffen.«