Sängerherzen - Edda McColgan - E-Book

Sängerherzen E-Book

Edda McColgan

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Beschreibung

Fionas merkwürdiger Fund nachmittags im Wald ist zwar beunruhigend, aber längst nicht so schockierend wie ihre Entdeckung abends nach der Chorprobe: ein Chormitglied wurde ermordet und bei einem soll es nicht bleiben. Kommissar Carlo Baumann sucht mit der Tierärztin Fiona Donelly nach Spuren im Pfälzer Wald. Im Laufe der Ermittlungen verschlägt es ihn sogar bis an die Ostsee, aber findet keinen rechten Zugang zu den Verbrechen. Zu Fiona dafür umso mehr. Doch um die Mordfälle zu lösen braucht es noch ganz andere Frauen.

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Sängerherzen

SÄNGERHERZENBuchbeschreibungImpressumWidmung11.11.2233.144.14.24.355.166.177.1891010.1111212.113DANKESCHÖNLESEPROBELeseprobeImpressum

SÄNGERHERZEN

Eine kriminelle Chorgeschichte.

Von Edda McColgan

Buchbeschreibung

Fionas merkwürdiger Fund nachmittags im Wald ist zwar beunruhigend, aber längst nicht so schockierend wie ihre Entdeckung abends nach der Chorprobe: ein Chormitglied wurde ermordet, und bei einem soll es nicht bleiben.

Kommissar Carlo Baumann sucht mit der Tierärztin Fiona Donelly nach Spuren im Pfälzer Wald. Im Laufe der Ermittlungen verschlägt es ihn sogar bis an die Ostsee, aber er findet keinen rechten Zugang zu den Verbrechen, zu Fiona dafür umso mehr. Doch um die Mordfälle zu lösen, braucht es noch ganz andere Frauen.

Über die Autorin:

Mutter, Sängerin und Tierärztin, wohnt mitten im Pfälzer Wald und liebt das Dorfleben, das Schreiben, das Singen, die Sauna und Spontanreisen mit dem Campingbus.

Impressum

mad manor press

Waldstr. 22

67316 Carlsberg

www.mad-manor.de

1. Auflage, 2020

© 11.11.2020 Edda McColgan – alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-949226-01-4

COVERFOTOS:

Bettina Schulz

Instagram: bettinaschulzphotography

Widmung

Für die Bodos dieser Welt,

ohne die der Erdentrabant

womöglich nur ein angestrahlter, kalter Stein wäre.

1

Ihr wurde kalt. Seit Stunden streifte sie schon durch den Wald. Es zog sie, alles drängte sie, es zerrte geradezu an ihr. Sie hatte versucht zu widerstehen. Sei nicht dumm, sagte sie sich, zum wiederholten Mal.

Doch es half nichts. Ihre Beine gehorchten dem Gehirn nicht mehr. Freier Wille war reine Theorie, der Körper handelte automatisch. Sie selbst war losgelöst von dem was passierte, schaute nur von außen zu und wunderte sich. Wie war sie nur in diese Blase geraten? Viele Wochen war sie schon darin gefangen. Ihre Gedanken kreisten in einer Endlosschleife, aus der sie keinen Ausweg fanden.

Es gab diese Stelle im Wald, von dort konnte sie das Wohnzimmerfenster sehen. War es Zufall, dass sie immer wieder diesen Weg einschlug? Dass sie das Fernglas dabeihatte, war kein Zufall, nicht mitten in der Nacht.

Was sie sah, ließ ihr Innerstes erstarren. Mit jedem Besuch im Wald legte sich eine neue, steinerne Schicht um ihr Herz. Ein kalter, harter Klumpen in ihrer Brust, der ihr selbst das Atmen schwer werden ließ. Sie fühlte ihn deutlich, diesen Klumpen. Lange würde es nicht dauern und ihr Herz hätte keinen Platz mehr für einen einzigen weiteren Schlag. Dann würde sie tot umfallen, vielleicht hier im Wald und das ganze Leid wäre beendet. Oder sie musste etwas tun, um ihr Herz zu befreien.

***

1.1

»Nein, auf keinen Fall! Wenn er mich umbringen will, dann ist hier im Raum niemand, der das verhindern kann.«

»Aber warum sollte er das tun, Frau Donelly?«, fragte die zierliche ältere Dame. »Frau Schröder, Sie unterschätzen die Männer. Wenn es um die Potenz geht, legen sie ungeahnte Energien an den Tag.« Frau Schröder legte ihre Stirn in Falten. »Aber Bruno weiß doch gar nicht, warum er heute hier ist.« Die Dame erschien Fiona ein wenig naiv. »Frau Schröder, ich wette, Sie haben seit dem Aufstehen an nichts anderes gedacht, als an unseren Termin heute Morgen. Und wenn Sie daran denken, dann bekommt er das doch mit. Schauen Sie mal, wie misstrauisch er mich schon ansieht. Der Maulkorb bleibt drauf. Wollen Sie zartes Persönchen etwa einen Fünfundfünfzig-Kilo-Rottweiler niederringen, wenn er jetzt gleich seine Narkosespritze bekommen soll und ihm das vermutlich nicht gefällt? Ihr Vertrauen in seine treue Hundeseele in allen Ehren, aber es ist meine Halsschlagader, die hier auf dem Spiel steht.« Das musste jetzt mal in aller Deutlichkeit klargestellt werden, auch wenn Fiona ihre Patientenbesitzer normalerweise mit Samthandschuhen anfasste.

»Ich meine ja nur weil er so unglücklich aussieht mit dem Ding da auf der Schnauze«, gab Brunos Besitzerin kläglich zu bedenken.

»Ich finde nicht, dass er unglücklich ausschaut. Ich finde, er sieht aus wie ein ziemlich großer Hund, der kurz vor einem Wutausbruch steht. Egal, er schläft ja gleich und träumt was Schönes. Und wenn er wieder aufwacht, ist alles vorbei und Sie haben ein Problem weniger. Genau genommen zwei. Es geht einfach nicht, dass er das ganze Dorf in Angst und Schrecken versetzt, jedes Mal wenn er Ihnen ausbüxt, um auf Brautschau zu gehen. Ach Frau Schröder, im Tierheim sitzen so viele freundliche, gutmütige Hunde mit einer vernünftigen Körpergröße, die deutlich besser zu Ihnen gepasst hätten, und was machen Sie? Sie kommen mit diesem Zerberus nach Hause.« Frau Schröder schaute versonnen auf ihr Muskelpaket. »Er hat halt so traurig geschaut hinter den Gitterstäben. Außerdem heißt er Bruno und nicht Cerebus.«

Gitterstäbe hörte sich nicht unbedingt nach einem schönen Aufenthaltsort für Hunde an, aber wer weiß, vielleicht hatten sie ihn im Tierheim im Hochsicherheitstrakt gehalten. Fiona wusste auch nicht, wie die gefährlichsten Kampfmaschinen es immer wieder schafften kleine alte Damen um die Pfote zu wickeln. Was sie aber überhaupt nicht verstand, war das Tierheimpersonal. Das sollte schon die ersten zarten Annäherungsversuche zwischen solch ungleichen Paaren unterbinden.

»Sie haben ja Recht, Frau Schröder. Also los jetzt, an die Arbeit. Der brave Bruno kastriert sich ja schließlich nicht von allein.«

Schnell hatte der Fleischberg eine Nadel im Hinterteil stecken. Gerade als er sich wütend aus der liebevollen Umarmung seines Frauchens, das wie ein lästiges Insekt von ihm abgeschüttelt wurde, auf seine Chirurgin stürzen wollte, war das Narkosemittel auch schon injiziert. Mit einem kleinen Hüpfer brachte Fiona einen netten Sicherheitsabstand zwischen sich und den Hund, Maulkorb hin oder her.

Sie konnte durchaus leichtfüßig sein, wenn es sein musste. Immerhin rühmte sie sich damit, dass sie in ihrer fast dreißigjährigen Karriere als Tierärztin nie gebissen, gekratzt, getreten oder auf die Hörner genommen worden war.

Nach wenigen Augenblicken übermannte Bruno der Schlaf. Die zunehmend besorgte Frau Schröder wurde geschickt von Fionas unbezahlbarer Helferin Ina hinauskomplimentiert, mit der Versicherung, dass man sich sofort bei ihr melden werde, sobald Bruno gegen Ende der Narkose nur mit dem Augenwinkel, oder eher mit dem Maulwinkel zuckte. In Brunos Fall würden sie das vermutlich auch tun, man musste ja kein unnötiges Risiko eingehen und ihn länger als unbedingt nötig beherbergen.»Aber ich muss auf jeden Fall dabei sein, wenn mein Liebling aus der Narkose aufwacht. Ohne mich geht das gar nicht, da wäre er ja sonst total verstört«, gab Frau Schröder noch zu bedenken, bevor sie sich widerwillig von Ina Richtung Ausgang bugsieren ließ.

Weit gefehlt. Jeder vierbeinige Patient war heilfroh, nach einer OP wenigstens noch ein halbes Stündchen in Ruhe auf einer gemütlichen Decke zu liegen und langsam wieder zu sich zu kommen, bevor er zurück in den überfürsorglichen Schoß seiner Besitzer entlassen wurde. Wenn Bruno sich anständig benehmen würde, durfte er dieses Privileg natürlich auch für sich in Anspruch nehmen.

Brunos kleiner Eingriff war rasch erledigt. Schwieriger war es da schon die schlafenden fünfundfünfzig Kilo, die Fiona und Ina vorher mühsam auf den Operationstisch gehievt hatten, jetzt um hundert Gramm erleichtert, auf die gemütliche Decke zu betten. Aber die Rücken der beiden Frauen waren Kummer gewohnt.

»Ich könnte ja schnell nach Heinzheim rausfahren. Da sind noch Blutproben von den Kühen der Treidingers zu nehmen«, überlegte Fiona laut, nachdem Bruno versorgt war. Gespannt wartete sie auf Inas Reaktion.

»Was, bist du von allen guten Geistern verlassen? Willst du mich mit diesem Monster hier alleinlassen? Das kommt ja gar nicht in Frage! Der wacht doch bald auf«, protestierte Ina lautstark und entsetzt.

»Okay, okay, dann fahr ich erst nach der Mittagspause los, keine Panik.« Fiona konnte sich das Lachen nur schwer verkneifen. Ina hatte leider keinen besonders guten Start mit Bruno gehabt; sie, die nebenbei Hundetrainerin war und die gefährlichsten Kampfhunde zu Hause als Pensionsgäste betreute. Trotz ihrer eher schmalen Statur und einer Körpergröße von nur einem Meter sechzig, konnte sie sich in der Regel gut bei allen Hunden durchsetzen. Bei Brunos erstem Besuch in der Praxis hatte er Ina allerdings als Feind Nummer eins auserkoren.

Besser sie als mich, hatte Fiona damals gedacht. Dabei hatte Ina gar nichts Falsches getan. Allerdings war sie mit einem OP-Kittel bekleidet ins Behandlungszimmer gekommen. Anscheinend mochte Bruno diesen Anblick nicht. Vermutlich überkam ihn da schon eine Ahnung von seinem zukünftigen Schicksal. Frau Schröder konnte sich damals gerade noch zwischen die Helferin und ihren geliebten Bruno werfen und so das Schlimmste verhindern. Ina kam mit einem leichten Schock davon. Dass es tatsächlich einen Hund auf Gottes schöner Erde gab, der sie fressen wollte, das musste sie erst einmal verkraften. Zum Glück war kein Blut geflossen. Gutes Personal war schwer zu finden und Fiona war sehr froh Ina gefunden zu haben. Obwohl das so gar nicht stimmte. Eigentlich hatte Ina ihre zukünftige Arbeitgeberin gefunden und sich schnell unentbehrlich gemacht, genau genommen schon am ersten Tag ihrer Zusammenarbeit.

***

1.2

»Hunde, einsteigen!« Das musste man ihnen nicht zweimal sagen, Toni und Trulla sprangen sofort auf ihre Stammplätze in dem kleinen Kastenwagen, mit dem Fiona die Praxistouren fuhr. Sie nahm die beiden häufig mit, weil zwischen zwei Besuchen oder am Ende des Arbeitstages meist noch Zeit für einen Spaziergang war.

Nach der Mittagspause waren heute Besuche auf einigen Höfen geplant. Ein paar Kühe standen kurz vor der Geburt. Die Bauern hatten ihre Skepsis Fiona gegenüber zum Glück inzwischen abgelegt. Anfangs wollten sie die neue Tierärztin mit ihrem Hokuspokus, wie sie es nannten, gar nicht auf den Hof lassen. Wahrscheinlich hatten sie Angst, dass sie ihnen den Kuhstall abfackeln würde. Fionas Methode, Kaiserschnitte im Stall zu vermeiden, bestand darin, den werdenden Kuhmüttern ein glühendes Häufchen Beifußfasern aufs Hinterteil zu setzen; natürlich auf eine isolierende Schicht aus Haferbrei, damit die Kuhhaut keinen Schaden nahm. Das begünstigte in den allermeisten Fällen eine natürliche Geburt. Die Kühe dankten es ihr, denn sie mochten Kaiserschnitte im Stall genauso wenig wie Fiona. Die Bauern dankten es ihr inzwischen auch, denn sie mochten alles, was Kosten sparte und ihre Kühe schonte. Solange der Stall nicht abbrannte.

Den Hunden waren die Behandlungsmethoden ihres Frauchens ziemlich egal. Hauptsache, es ging danach noch in den Wald. Für heute waren alle Besuche erledigt und Fiona hatte zum Abschluss den Waldparkplatz angesteuert, der um diese Uhrzeit schon angenehm leer war. Jetzt, am späten Nachmittag, war es richtig erholsam hier im Wald und so friedlich. Sie waren ganz alleine unterwegs, die Touristen hatten sich alle schon auf den Weg in ihre Übernachtungsquartiere gemacht. Auch von den Einheimischen war nichts zu sehen. Die Hundebesitzer hatten ihre Gassirunden für heute beendet und auch die Jogger hatten sich ausgepowert und bereiteten inzwischen zu Hause das Abendessen vor. Für Rehe und Wildschweine war es noch zu früh. Die Sonne stand schon recht tief und zauberte goldene Flecken in die dunkelgrünen Schatten. Fionas Hunde streiften durchs Unterholz und so konnte sie in Ruhe ihren Gedanken nachhängen. Wie so oft kreisten diese um die bevorstehende Chorprobe am Abend. Bodo, der Chorleiter, hatte letzte Woche angekündigt, bis heute einen neuen Chorsatz fertig zu schreiben. Es wäre schön, mal wieder ein neues Lied zu lernen.

Langsam wurde es Zeit, abzubiegen, um in einem Bogen zum Parkplatz zurückzukehren. Fiona hielt Ausschau nach den Hunden und rief nach ihnen, konnte aber keinen von beiden sehen, oder hören. Merkwürdig, wo waren sie denn? Sie pfiff ihren langgezogenen Dreiklanghundepfiff, den die Tiere gut kannten, aber nichts passierte. Sie ging ein Stück zurück und pfiff nochmal, diesmal eindringlicher, wie sie hoffte. Waren doch schon Rehe in der Nähe und Fiona hatte es nicht bemerkt? Aber auch dann waren die Hunde nie lange fort. Langsam wurde sie ärgerlich. Schließlich wollte sie nicht zu spät zur Chorprobe kommen und hatte geplant, nach dem Spaziergang noch in Ruhe zu duschen. Erneut rief sie die beiden und jetzt endlich regte sich etwas. Einen Moment später kletterte Trulla, die braun gefleckte Barsoidame über den Rand des Steilhangs zurück auf den Weg. Was hatte sie denn da unten getrieben? Fiona ging vor bis zu der Stelle, an der Trulla aufgetaucht war und schaute den Hang hinunter. Ein Stück bergab sah sie eine Bewegung. Zwischen den Büschen konnte sie die schwarz-weißen Locken von Toni, ihrem Großpudel ausmachen. Sie rief ihn und er schaute zu ihr hoch, kam aber nicht. Dafür bellt er ein paarmal. Das machte er nur, wenn ihn etwas besonders aufregte. Was konnte da unten bloß sein? Jetzt war sie neugierig geworden und machte sich an den Abstieg, denn ein paar Minuten Zeit hatte sie noch. Sie musste sehr aufpassen, um nicht auszurutschen, oder über Wurzeln zu stolpern, aber wenn sie genau hinsah, schien es fast so etwas wie einen kleinen Pfad zu geben. Es sah nicht nach einem Wildwechsel aus, dafür war zu viel Gestrüpp im Weg. Als sie endlich bei Toni ankam, freute er sich und sprang aufgeregt an ihr hoch.

»Was machst du denn hier unten, du dummer Junge? Warum kommst du nicht, wenn ich rufe?« Zur Antwort leckte er ihre Hand. Dann verschwand er hinter dem nächsten Gebüsch und als Fiona ihm folgte, landete sie auf einer kleinen freien Fläche im Unterholz, eine Mini-Lichtung am Abhang. Anscheinend waren die beiden dort nicht die ersten Besucher. Am Stamm einer kleinen Eiche war ein dünnes Seil festgebunden. So eins hatte sie vorher noch nie gesehen. Das Seil schien einige Meter lang zu sein und war aus weißen, roten und schwarzen Strängen geflochten. Wozu brauchte man so etwas mitten im Wald? Hatte sich jemand hier abgeseilt? Aber dafür war das Seil gar nicht lang genug. Außerdem war Sie schließlich auch ohne Seil bis hierher gekommen. Vielleicht hatten Kinder hier ein Lager eingerichtet.

»Komm Toni, wir klettern wieder hoch«, ermunterte sie ihren Pudel. Zwischen den Blättern der Bäume sah Fiona in der Ferne Gebäude des Nachbardorfs. Die letzten Strahlen der Abendsonne erleuchteten die Häuser am Hang gegenüber. Dort wohnte auch Bodo, womöglich packte er in diesem Moment seine Noten für heute Abend ins Auto. Sein Haus konnte sie von hier aus sogar erkennen. Um Einzelheiten zu sehen, hätte sie aber ein Fernglas benötigt. Und noch etwas entdeckte Fiona, als sie sich umdrehte, um den Rückweg anzutreten. Deshalb sprang Toni vermutlich immer wieder an ihr hoch.

Eine Armeslänge entfernt hing schräg über ihrem Kopf ein großes Einmachglas an einem Stück Draht im Baum. Hier auf der Ostseite lag schon alles im Schatten, deshalb konnte sie den Inhalt nicht gleich erkennen. Einen Moment später hatten sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt. Im Glas befanden sich Kieselsteine. Und ein Herz.

2

Bodo verfluchte das Chaos in seinem Büro. Er musste endlich einmal aufräumen. Die ganze Zeit, die er mit Suchen verbrachte, war verschwendete Lebenszeit. Kein Wunder, dass er nie dazu kam, etwas Bedeutendes zu komponieren, wenn er ständig auf der Suche nach Noten war. Und zwar nicht in seinem Kopf, sondern ganz profan auf den verschiedensten Ablageflächen, die sich im Haus anboten. Er musste bald los zur Probe mit seinem ältesten und zugleich anspruchsvollsten Chor und freute sich schon darauf, den neuen Chorsatz einzustudieren, den er am Morgen endlich fertig geschrieben hatte. Vorher wollte er ihn für alle Sänger und Sängerinnen kopieren, aber das verdammte Ding war verschwunden. Vor einer halben Stunde hatte er ihn noch in der Hand gehalten, dann hatte sein Handy geklingelt und er hatte ihn irgendwo abgelegt. Aber wo? Er beschloss, analytisch an die Sache heranzugehen und noch einmal in Gedanken seine Schritte Revue passieren zu lassen. Er war von der Küche auf dem Weg zum Büro gewesen, als sein Freund Klaus, Leiter der örtlichen Musikschule, ihn angerufen hatte. Bodos Hände hatten geklebt vom letzten Apfelpfannkuchen, der mittags übrig geblieben war und den er sich noch schnell in der Küche gegönnt hatte. Ein Besuch im Bad, bevor er an den Kopierer trat, sollte Abhilfe schaffen, als das Telefon in seiner Hosentasche klingelte. In der einen Hand die Noten, die andere voll Zucker, das nervende Telefon und dann musste er auch noch die Badezimmertür öffnen. Das war eindeutig zu viel Multitasking für einen Mann.

Na klar, da waren die Noten! Im Handtuchregal vor dem Bad.

Fall gelöst, auf zu neuen Taten Dr. Watson!

Zugegeben, seitdem er sich von seiner Frau Irene getrennt hatte – nein, das stimmte so nicht ganz. Seit seine Frau ihn für einen zehn Jahre jüngeren Tenor mit festem Engagement am Schauspielhaus verlassen hatte, war sein Haushalt noch ein bisschen chaotischer geworden. Aber nicht viel. Eigentlich hatte er auch schon vorher den Großteil der Hausarbeit allein gemeistert. Sein jüngster Sohn, inzwischen bereits siebzehn Jahre alt, wohnte noch bei ihm, und sie hatten einen sehr gut funktionierenden Männerhaushalt.

Der einzig weibliche Einfluss kam von Paulette, die eines Abends als ganz junges Kätzchen, während eines heftigen Gewitters, zitternd und völlig durchnässt, vor der Haustür gesessen hatte. Seine Frau war damals nicht begeistert gewesen vom Familienzuwachs, aber Bodo hatte sich durchgesetzt. Und da seine Kinder sie natürlich sofort ins Herz geschlossen hatten, war Paulette eingezogen.

Irene hatte sich für viele Dinge nicht begeistern können, die mit Familienleben zusammenhingen. Sie war als gefragte Koloratursopranistin häufig auf Konzerttour und überließ Bodo dann den Haushalt und die Kinder. Immerhin hatten sie drei davon zustande gebracht, die bis auf den Jüngsten inzwischen alle ihr eigenes Leben lebten. Irene und Bodo hatten keine schlechte Ehe geführt, hatten viel Spaß gehabt und aufregende Reisen unternommen. Manchmal wurden sie sogar zusammen engagiert. Er war schließlich auch ein hörenswerter Tenor, wenn auch nie so gefragt wie Irene. Als dann die Kinder ins schulpflichtige Alter kamen, war es Zeit, sesshafter zu werden. Zumindest für einen Elternteil. Dass seine Frau sich irgendwann einem anderen zuwenden würde, war fast eine logische Folge. Sie hatten sich durchaus geliebt, keine Frage, aber diese ruhige, selbstverständliche Liebe, die er manchmal bei anderen Paaren etwas neidvoll beobachtete, war ihnen nie vergönnt gewesen. Sie hatten sich eher aneinander berauscht, am Glanz und Erfolg, den das Bühnenleben so mit sich brachte. Und nachdem ihr Mann nicht mehr so häufig im Rampenlicht stand und häuslicher geworden war, war Irene weitergeflogen. Wie eine Motte, die es im Dämmerlicht nicht lange aushält. Es machte Bodo nicht mehr so viel aus, obwohl er am Anfang betroffen und in seiner Ehre gekränkt war. Doch er bemerkte schnell, dass der Hauptgrund für den anfänglichen Groll gegen seine Frau verletzte Eitelkeit und nicht unbedingt das Gefühl der verlorenen Liebe war. Also gab es nicht wirklich einen Grund, unnötig lange vergangenen Zeiten hinterherzutrauern, auch wenn er sie mit einem Teil seines Herzens noch liebte. Schließlich war sie die Mutter seiner Kinder, aber schon lange nicht mehr seine Muse.

***

Mit etwas Beeilung hatte Fiona es doch rechtzeitig zur Chorprobe geschafft, auch wenn sie ihr Fund im Wald noch einige Zeit beschäftigt hatte. Ein blutiges Herz in einem Glas voller Kieselsteine. Das waren doch keine Kinder! Beim ersten Anblick war sie richtig erschrocken. Zwar hatte sie noch nie ein menschliches Herz in natura gesehen, aber die Größe kam ungefähr hin.

Kurz hatte Fiona sogar überlegt, ob das ein Fall für die Polizei sei, aber die ganze Geschichte war doch reichlich absurd. Sie wollte sich nicht unnötig lächerlich machen. Hier auf der Ostseite des Berghangs war das Licht im Wald schon recht dämmrig, daher hatte sie das Einmachglas mit einiger Mühe vom Baum geholt, um sich den Inhalt genauer anzusehen. Wer auch immer es da hingehängt hatte, musste entweder groß gewesen, oder irgend wo drauf gestiegen sein, um es aufzuhängen. Oder aber es war genauso aufgehängt worden, wie Fiona es jetzt vom Baum geholt hatte: mit Hilfe eines Astes mit einer kleinen Gabelung am Ende. Ganz geheuer war ihr die Sache nicht, daher hatte sie ein paar Fotos mit dem Handy gemacht, bevor sie es vom Baum genommen hatte. In ihrer Jackentasche fanden sich ein paar Latexhandschuhe, die sie durch ihre Arbeit häufig überall einstecken hatte. Die zog sie vorsichtshalber an, bevor sie das Glas anfasste. Toni hatte sich inzwischen beruhigt, seitdem sie den Abhang zu ihm hinuntergestiegen war. Vermutlich war er froh, die Verantwortung für seinen ungewöhnlichen Fund an die Rudelchefin abgeben zu können. Ob er das Fleisch im Glas gerochen hatte, obwohl ein Deckel auf das Gefäß geschraubt war? Es sah nicht so aus, als ob es schon lange dort gehangen hätte, die Oberfläche des Herzens war feucht glänzend und sah frisch aus. Auch eine Geruchsprobe, wegen der sie das Glas kurz geöffnet hatte, ließ keinen anderen Schluss zu. Trotzdem mussten Toni und Trulla das Fleisch gerochen haben, sonst hätten sie sich kaum für diesen merkwürdigen Platz interessiert.

Als Fiona das Glas in ihren Händen hielt, konnte sie das Herz von allen Seiten betrachten. Was sie dabei entdeckte, ließ ihr sozusagen einen Stein vom Herzen fallen. Wie oft verwendete man diese Redewendung eigentlich ohne eine bildliche Vorstellung von dem Stein, oder dem Herzen? Hier hatte sie beides im Glas und war jetzt doch sehr froh nicht direkt die Polizei gerufen zu haben. Das Herz war ordentlich in dem Behältnis zwischen die Steine drapiert worden, aber wenn man genau hinsah, konnte man den glatten Schnitt erkennen, der mit einem scharfen Messer ausgeführt worden war. Dieser Schnitt beruhigte Fiona ungemein. Er eröffnete alle Herzkammern, damit man diese von innen begutachten konnte, und zwar bei der Fleischbeschau nach der Schlachtung. Gut möglich, dass sie sogar selbst dieses Herz in der Hand gehalten und aufgeschnitten hatte, denn sie war für die meisten Hausschlachtungen bei den kleineren Metzgern der Gegend zuständig. Ein Schweineherz, zum Glück!

Menschen und Schweine waren sich ähnlicher, als den meisten Leuten vermutlich bekannt war, oder mancher vielleicht wahrhaben mochte. Nicht nur was die Dimensionen ihrer Organe anging. Wenn man genauer darüber nachdachte, war es kaum zu verstehen, warum Menschen Schweine aßen und ihnen davor ein grauenvolles, kurzes Leben, zumeist in ihrem eigenen Kot und Urin liegend, zumuteten.

Wieder zu Hause angekommen wusste Fiona erst einmal nicht, was sie mit ihrem Fund anstellen sollte. Also verpackte sie das Glas in Alufolie, als Sichtschutz, und deponierte das Ganze hinten in einer Schublade des Gefrierschranks. Normalerweise war das ein Ort, der vor ihren Kindern wenigstens halbwegs sicher war. Da warteten auch gelegentlich Weihnachtsgeschenke, die das Einfrieren vertrugen, auf ihre Bestimmung. Von den Kindern war zum Glück nichts zu sehen. Sie waren auf ihre Zimmer verteilt, vermutlich mit elektronischer Freizeitgestaltung beschäftigt, und wollten ausnahmsweise einmal nichts von ihrer Mutter. Miranda, die zweitälteste Tochter, saß unüberhörbar an ihrem Schlagzeug und Oma Erna mit zwei Katzen auf dem Schoß vor dem Fernseher. Fiona steckte auf dem Weg ins Bad kurz den Kopf ins Wohnzimmer, um ihre Mutter zu begrüßen.

»Bin wieder zurück, alles klar hier?«

»Aber sicher, alles ruhig ausnahmsweise, wie du ja hören kannst, na ja, fast«, erwiderte Erna. Sie wandte ihren silbergrauen Kopf, mit der immer gepflegt aussehenden Kurzhaarfrisur, ihrer Tochter zu, mit dem Blick zur Zimmerdecke, durch die gerade ein beeindruckendes Schlagzeugsolo zu hören war. Mehr Bewegung war ihr nicht möglich, denn die Katzen weigerten sich, ihre ergatterten Ruheplätze so bald wieder aufzugeben. Ergeben kraulte Erna die beiden hinter den Ohren. Zum Glück hatte sie ja zwei Hände.

»Na, dann wünsche ich dir auch weiterhin einen zumindest halbwegs ruhigen Abend, ich fahr jetzt gleich zur Chorprobe. Vielleicht sollten wir doch mal anfangen, Eierkartons zu sammeln, und Mirandas Zimmer damit dekorieren.«

Nach einer kurzen Dusche fuhr Fiona unbehelligt von allen zur Probe. Unterwegs im Auto beschloss sie, erst einmal niemandem von dem Glas zu erzählen. Sie hatte vorerst genug davon und gar keine Lust, die halbe Probe lang mit den anderen darüber zu spekulieren warum ein Herz im Wald gehangen hatte. Deswegen hatte sie das Glas auch ihrer Mutter gegenüber noch nicht erwähnt. Viel lieber wollte sie jetzt singen, das beruhigte die Nerven.

***

»Ihr müsst mehr Verantwortung übernehmen! Ich kann nicht immer hier vorne die Lokomotive für euch machen. Ihr müsst selbst der Motor sein, jeder einzelne. Vertraut auf das Lied! Das sagt euch, wann ihr einsetzen müsst.«

Bodo war in seinem Element. Notgedrungen, denn der Chor ging heute wieder nur sehr zögerlich ans Werk. Vermutlich aus Mangel an Konzentration, aber das war gar nicht so verwunderlich. Die meisten Sänger kamen abends nach einem langen Arbeitstag einfach nur zum Entspannen in die Chorprobe und aus Spaß an der Sache. Für den Spaß sorgte Bodo. Wäre er nicht Chorleiter, könnte er sein Geld locker, als Alleinunterhalter verdienen. Ein Großteil der Sängerinnen und Sänger kam hauptsächlich wegen des Unterhaltungswertes zu den Chorproben. Fünfundneunzig Prozent von ihnen waren nur mäßig ehrgeizig, was die Entwicklung der eigenen Singstimme anging. Trotzdem konnten sich die Ergebnisse mehr als hören lassen und das war einzig Bodos Verdienst. Er hatte eine ganz eigene Art, seinen Chören die Musik nahezubringen und Fiona bewunderte Bodos Langmut. Er wurde nie müde auch die verborgensten Emotionen aus seinen Sängern herauszukitzeln und er liebte es, Beispiele zu finden, mit denen er die Gefühle erklären konnte, die gerade benötigt wurden. Man konnte ganze Bilderbücher illustrieren mit seinen Beschreibungen von Vögeln, Schmetterlingen, Engeln, Regenbögen und was sonst noch so in der modernen Chorliteratur besungen wurde. Aber heute musste es anstrengend für ihn sein. Der Chor war wie ein großes träges Tier, das laufend von allen Seiten gepiesackt werden musste, damit es endlich aufwachte.

»Das Wort heißt Zeit und nicht Zaaait. Singt das bitte so, wie ihr auch sprechen würdet. Und die Sätze verlieren alle am Ende die Energie. Ihr müsst die Energie oben halten. Das Lied muss ständig weiterlaufen, irgendwohin wollen. Und zwar die ganze Zeit und nicht die ganze Zaaait. Und der Einsatz war wieder zu spät. Wenn ihr im Vorspiel dabei wärt, würde das nicht passieren. Ich hoffe doch, dass ihr zu Hause beim Vorspiel mehr bei der Sache seid. Da quatscht ihr doch wohl auch nicht ständig dazwischen, oder? Also, anwesend sein, das Lied sagt euch schon, wann es losgeht. Vertraut doch auf das Lied! Und guckt zu mir und macht die Augen zu!«

Alles tausendmal gehört. Aber es stimmte, immer wieder. Wenn man sich an Bodos Anweisungen hielt, dann klappte es auch, auf einmal lebte das Lied. Jedes Mal ein kleines Wunder. Nur Schade, dass von einer Probe zur nächsten immer wieder die komplette Festplatte im Sängerhirn gelöscht wurde und neu formatiert und beschrieben werden musste. Aber so wurde Bodo wenigstens nicht arbeitslos.

Nach der Probe stapelten alle die Stühle am Rand des Gemeindesaals. Es blieben immer noch ein paar Grüppchen zusammen im Probenraum und plauderten. Einer ging, einer wechselte zur nächsten Gruppe, bis nur noch eine Handvoll Leute da war.

Maike gehörte mit zu den Letzten und besprach mit Fiona noch kurz ihren nächsten Arbeitseinsatz in der Praxis. Mit Maike verhielt es sich nämlich ähnlich wie mit Ina. Diese hatte Fiona auch für sich entdeckt und mit einiger Ausdauer davon überzeugt, dass sie die Richtige war, um Haus und Hof und Praxis sauber zu halten. Zwar war Fiona damals nicht auf der Suche nach einer Haushaltshilfe gewesen, aber manchmal konnte man sich auch finden lassen. Maike war eher das Gegenteil von Ina, stiller und immer etwas in sich gekehrt aber genauso zuverlässig. Es kam vor, dass Fiona sich im selben Raum mit ihr aufhielt und sie erst nach einer kleinen Weile bemerkte. Sie hatten sich im Chor kennengelernt. Meist saß Maike in den Proben schräg hinter Fiona und sang im zweiten Sopran. Fiona fiel als Erstes Maikes klare, sichere Stimme auf. Diese Stimme hätte sie anfangs eher beschreiben können, als Maikes Aussehen. Wenn sie sang, verwandelte sie sich ein wenig vom hässlichen Entlein in den vielzitierten Schwan. Wobei sie gar nicht hässlich war, eher unscheinbar. Alles an ihr war unauffällig und schmal, die jungenhafte Figur, die Nase, die Lippen, dazu grau-grüne Augen und aschblonde Haare, die in einem praktischen Stufenschnitt versteckt waren. Hauptsächlich arbeitete sie halbtags im Büro einer metallverarbeitenden Firma. Seit einem guten halben Jahr kam sie jetzt schon ein- bis zweimal pro Woche in die Tierarztpraxis und half dabei, alles sauber und halbwegs ordentlich zu halten. Das war bei fünf Kindern, vier Katzen, zwei Hunden und nur einer einzigen Oma nicht immer leicht. Was genau ihre Motivation war, für Fiona zu arbeiten, hatte diese noch nicht herausgefunden. Geld konnte es nicht sein, davon hatte Maike genug. Ihr Mann schien gut zu verdienen, allerdings war er, bedingt durch seinen Job, nur selten zu Hause. Er arbeitete meist im Ausland auf Bohrinseln. Daher nahm Fiona an, Maike war es einfach langweilig allein zu Hause, und in der Praxis war immer etwas los. Außerdem verstand sie sich gut mit Fionas Mutter Erna, die beiden gingen sogar gelegentlich zusammen shoppen. Seitdem sah man manchmal auch ein etwas farbenfroheres Kleidungsstück an Maike, als nur ihre üblichen Blau- und Grautöne. Erna, eine ruhige und besonnene, aber trotzdem energiegeladene Frau, hatte anscheinend Maikes Vertrauen gewonnen, aber viel Privates hatte auch sie noch nicht von ihr erfahren. Trotzdem schien sich Maike in Fionas Familie wohlzufühlen und ein extra Paar Hände konnte man immer gebrauchen.

***

Fiona hatte, wie fast bei jeder Probe, einen großen Thermosbecher voll Tee getrunken und wollte schnell noch einmal auf die Toilette, bevor sie ebenfalls nach Hause fuhr. Im kleinen Vorraum mit dem Waschbecken schaltete sie das Licht ein. Das genügte, um auch den Raum dahinter mit den drei Toiletten ausreichend zu beleuchten. Wie immer nahm sie die rechte Toilette, der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Außerdem beeilte sie sich. Nicht dass alle schon gingen und sie hier vergaßen! Als sie ihren Korb mit den Noten, den sie beim Betreten der Toilette an der Seite abgestellt hatte, wieder hochnahm, sah sie dahinter etwas am Boden der Nachbarkabine: eine Schuhsohle.

Ach du liebe Güte, da ist jemand zusammengebrochen! Schnell verließ Fiona ihre Kabine und riss die Tür nebenan auf, die zum Glück nicht versperrt war, und erkannte zuerst gar nicht, wer da lag. Nur ein Rücken in einem dunklen Wollpulli mit auffälligen Sternenapplikationen, die sich quer über eine Schulter zogen, hing über der Toilette, kurze braune Locken, die Beine verdreht am Boden. So eine Jacke hatte doch Petra heute angehabt. Automatisch fasste sie der Person von hinten an den Hals. Die Haut war warm, aber Fiona konnte keinen Puls fühlen. Rasch lief sie die drei Schritte raus auf den Flur.

»Bodo, Bodo! Micha! Kommt schnell! Ruft einen Krankenwagen!« Die beiden sah sie am anderen Ende des Ganges stehen, bevor sie wieder zurück in den Waschraum eilte. Sie schaffte es, die leblose Person von der Toilette zu ziehen, ohne dass der Kopf auf den Boden schlug. Jetzt lag der Körper auf der Seite, aber in dem engen Raum konnte sie nichts tun, darum packte sie die Beine an den Knöcheln und zog den Körper vorsichtig aber mit Kraft in den Vorraum. Endlich konnte sie auch erkennen, wen sie da gefunden hatte. Es war tatsächlich Petra, eine der besten Altstimmen.

Was war bloß passiert? Herzinfarkt? Sie war doch noch so jung, höchstens Mitte dreißig, ging Fiona durch den Kopf, während sie sich über Petras Gesicht beugte, um ihrem Atem zu lauschen. Sie tastete noch einmal nach dem Puls. Der war nicht zu fühlen, und sie schien auch nicht zu atmen. Sie lag jetzt auf dem Rücken und Fiona kniete neben ihr, um mit der Herzmassage anzufangen. Bodo und Micha standen inzwischen in der Tür.

»Was ist passiert?«, »Oh Gott, Petra!«, riefen beide durcheinander. Bodo hatte schon sein Telefon gezückt und tippte die Nummer des Notrufs, während sich Micha neben Fiona auf den Boden hockte. Fiona legte ihre Hände übereinander auf Petras Brustbein und fing an zu drücken. Beim ersten Mal vielleicht noch mit zu wenig Kraft aber beim zweiten und dritten Mal dann richtig und mit Schwung. Ein unerwarteter Schmerz ließ Fiona nach Luft schnappen und ihr wurde kurz schwarz vor Augen. Erschrocken riss sie ihre Hände von Petras Brustkorb und blickte auf ihre Handflächen. Zuerst verstand sie nicht gleich, was passiert war. Jemand hatte aufgeschrien. Es war Fiona selbst gewesen. Bodo und Micha schauten sie entsetzt an. Aus ihrem linken Handballen lief Blut. Nicht sehr viel aber es quoll aus einer kleinen Wunde.

Stigma, schoss ihr durch den Kopf. So ein Blödsinn.

Das konnte doch alles nicht sein. Fionas Hand tat zwar noch weh, aber ihr Verstand setzte jetzt wieder ein. Sie knöpfte Petras Wolljacke auf und schob ihr T-Shirt hoch bis zum Hals.

Zum Glück trägt sie einen BH, stellte Fiona mit dem Gedanken an die beiden Männer im Raum erleichtert fest. Als wenn das jetzt wichtig wäre! Da, in der Mitte neben dem Brustbein, was war das? Ein kleiner Punkt, kaum zu sehen. Sie fuhr vorsichtig mit dem Finger darüber. Zum ersten Mal, seitdem sie Petra in den Vorraum geschafft hatte, blickte sie zurück zu den Toiletten. Dort brannte immer noch kein Licht, aber man erkannte eine schmale, dunkle Spur am Boden, auf dem Stück, über das sie Petra gezogen hatte. Petras Augen waren geschlossen. Langsam schob Fiona eines ihrer Augenlider nach oben. In ihrem Job arbeitete die Tierärztin häufig Hand in Hand mit dem Tod. Sie wusste, wie die Augen aussahen, wenn die Seele den Körper verlassen hatte. Petras Augen waren seelenlos.

Micha wollte nach der ersten Verwunderung über Fionas sonderbares Verhalten mit der Herzmassage weitermachen, aber sie hielt seine Hände fest, bevor er sie auf Petras Brustkorb stützen konnte. Sie wusste nicht so genau, wie es sich mit dem Leichengift verhielt. Wann bildete es sich? Es waren im Grunde Zersetzungsprodukte des Körpers und Petras Körper war noch ganz warm, aber ein bisschen Sorge bereitete ihr die Wunde in ihrer Hand schon. Gut, dass sie blutete, das reinigte. Trotzdem wollte sie natürlich vermeiden, dass Micha sich auch noch verletzte.

»Lass sein, Micha, das hilft nicht mehr.«

»Aber warum? Wir müssen doch was tun, bis der Krankenwagen da ist,« rief er mit einem Anflug von Panik in der Stimme. Micha war ein großer, bärtiger Kerl, den man in einer Notsituation eigentlich gerne an seiner Seite hatte und Fiona war auch froh, dass sich bisher nur Micha und Bodo hier eingefunden hatten. Waren die anderen schon alle nach Hause gegangen? Sie mochte ihren Verdacht nur ungern aussprechen.

»Micha, sie ist schon etwas länger tot, ich sehe das an den Augen,« log sie deshalb. Wie es aussah, hatte sie hier momentan die Kernkompetenz in Sachen Leben und Tod, darum schauten Micha und Bodo sie nur betreten an, versuchten aber keine weitere Reanimation.

»Bodo ruf doch bitte noch bei der Polizei an. Ich glaube, es wäre gut, wenn die auch schnell hier ist.«

»Polizei? Warum? Was soll ich da sagen? Der Krankenwagen ist doch hoffentlich bald da.«

»Ich würde sagen, Tod durch Fremdeinwirkung ist im Augenblick die passende Beschreibung. Und dann sollten wir vielleicht auch hier rausgehen. Obwohl die Kriminaltechnik wahrscheinlich ohnehin die Hände über dem Kopf zusammenschlagen wird.« Immerhin hatte Fiona die Tote bewegt, auch wenn sie einen guten Grund dazu gehabt hatte.

»Kriminaltechnik?« Bodo sah fassungslos von seinem Telefon hoch.

»Kommt«, ordnete Fiona an. Micha war inzwischen aufgestanden und sie schob die beiden Männer vor sich her durch den Gang in Richtung Atrium, da hörten die drei auch schon die Sirenen. Krankenwagen und Notarzt trafen fast zeitgleich mit flackerndem Blaulicht auf dem großen Parkplatz vor dem Gebäude ein. Sie sahen durch die Glasfront, wie die Sanitäter ihr ganzes Equipment schulterten und Richtung Eingang eilten. Bodo, Micha und Fiona waren anscheinend die Letzten aus der Chorgemeinschaft, die noch vor Ort waren. Normalerweise schlossen entweder Bodo oder Barbara ab, wenn alle raus waren, aber Barbara war auch nicht mehr zu sehen. Der Notarzt kam als Erster durch die Tür.

»Hier entlang,« wies Fiona ihm den Weg, und während sie neben dem Mediziner hereilte, erklärte sie ihm ihren Verdacht. Der Arzt sah sie im Laufen von der Seite fragend an. Wahrscheinlich dachte er, sie hätte einen Schock, oder zu viele Krimis gesehen. Oder beides. Bei den Toiletten angekommen ging er in die Knie und sah Petras entblößten Brustkorb.

»Besser keine Herzmassage«, schlug Fiona vor und hielt ihm ihre Hand unter die Nase.

»Das meinten Sie tatsächlich ernst vorhin?«, fragte er ungläubig.

»Todernst, leider.«

»Defibrillator«, ordnete der Notarzt an, nachdem er Puls und Pupillenreflexe geprüft und kurz das Stethoskop angesetzt hatte. Die Sanitäter gingen ans Werk. Fiona wartete im Gang und schaute zu, wie sich die Männer um Petras leblosen Körper bemühten. Nach dem ersten Stromstoß stieg ein feiner Rauchfaden von Petras Brust auf. Kaum zu sehen außer für den Notarzt und für sie, aber er bestätigte ihre Theorie. Der Arzt drehte sich zu ihr um.

»Hat schon jemand die Polizei verständigt?«

»Ich glaube schon, aber vorsichtshalber frage ich nochmal nach«, erwiderte Fiona und ging den Gang zurück in die Eingangshalle, um Bodo zu befragen. Der saß auf einem der Stühle und nickte nur ein paarmal, als Fiona ihn ansprach. Er war ganz blass. Petra war eine langjährige und sehr gute Freundin von ihm gewesen. Sie wusste, dass er früher, bevor er seine Frau kennen gelernt hatte, sogar lange Zeit in sie verliebt gewesen war. Das hatte er gelegentlich erwähnt, natürlich nur wenn Petra nicht in der Nähe war und auch nie vor den anderen Chormitgliedern. Bodo war immer sehr darauf bedacht, dass unter keinen Umständen das Gefühl aufkam, irgendjemand würde bevorzugt behandelt.

»Was ist denn bloß passiert?«, fragte er.

»Ich glaube, wir müssen abwarten, was die Polizei herausfindet«, gab sie ihm zur Antwort. Zum Glück schien er damit zufrieden. Auf keinen Fall wollte sie hier und jetzt ihren Verdacht äußern. So legte sie nur einmal kurz ihren Arm um ihn – körperliche Zuwendungen waren nicht so seine Sache – als auch schon der erste Streifenwagen auf den Hof fuhr.

»Guten Abend, Baumann, Kriminalpolizei Ludwigshafen«, stellte sich einer der Beamten der kleinen Gruppe vor, nachdem die Polizisten die Lage inspiziert und zunächst mit dem Notarzt gesprochen hatten. Leise allerdings, so dass die drei, die brav in der Eingangshalle gewartet hatten, nicht viel mitbekamen. Brauchte Fiona auch nicht, denn sie war sicher, sie wusste, woran Petra gestorben war und was das bedeutete, wurde ihr langsam klar. So klar, dass sich eine unbestimmte Angst in ihr ausbreitete. Ein ähnliches Gefühl, wie wenn man nachts alleine draußen unterwegs ist und einem ohne Grund auf einmal sehr unheimlich zumute wird. Die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf und sie hatte das dringende Bedürfnis, sich umzudrehen, um einer drohenden Gefahr ins Auge zu blicken. Tat sie aber nicht, denn hinter ihr standen nur Bodo und Micha.

»Kripo«, erwiderte sie »das ging aber schnell.« Herr Baumann war in Zivil, anders als seine Begleiter, und er sah sie prüfend an.

»Ich war zufällig gerade auf der hiesigen Dienststelle, als ihr Anruf einging. Wer hat die Tote denn zuerst entdeckt?«

»Das war ich. Ich musste noch schnell zur Toilette, bevor ich nach Hause fahren wollte. Und erst als ich die Toilette wieder verlassen wollte, habe ich den Schuh unter der Zwischenwand gesehen.«

»Wieso haben Sie die Tote denn bewegt? Und das auch noch bis in den nächsten Raum«, fragte Baumann sichtlich irritiert. War ja klar, dass die Frage kommen musste.

»Zu dem Zeitpunkt wusste ich doch noch gar nicht, dass sie tot war. Ich konnte anfangs noch nicht einmal erkennen, wen ich da gefunden hatte. Ich habe keinen Puls gefühlt und wollte sie natürlich erst einmal reanimieren. Zwischendurch habe ich nach Bodo und Micha gerufen. Und dann ist das hier passiert.« Fiona streckte ihre linke Handfläche zu diesem Baumann aus. Das kleine Loch im Handballen war gar nicht mehr so leicht zu sehen, aber die Stelle fing langsam an zu pochen. Vielleicht doch Zeit für ein Antibiotikum? Baumann runzelte die Stirn, als er auf ihre Hand blickte. Er nahm sie in seine Rechte und drehte sie leicht, sodass mehr Licht darauf fiel. Es war zwar völlig fehl am Platz, aber die Berührung gefiel ihr, er war sehr vorsichtig. Es erinnerte Fiona daran, wie sie selbst einen verletzten Vogel halten würde. Sanft, aber doch fest genug dass er nicht entkommen konnte. Was einem in den unpassendsten Momenten für Gedanken durch den Kopf schießen konnten!

»Das war aber ungewöhnlich geistesgegenwärtig von Ihnen. Reagieren Sie immer so schnell?«, fragte der Kommissar und zog dabei seine linke Augenbraue kurz in die Höhe. »Meiner Erfahrung nach handeln die meisten Menschen anders, wenn sie Tote in Toiletten finden«, setzte er noch hinterher. Diese Asymmetrie der Brauen verlieh seinem Gesicht einen leicht aristokratischen Touch, fast ein wenig britisch.

»Keine Ahnung, wie andere Leute reagieren. Mir kommt es offenbar als Erstes in den Sinn zu helfen. Wie schon gesagt, ich wusste anfangs nicht, dass sie tot war. Es geschah alles automatisch, ich bin Ärztin, Tierärztin. Reanimieren heißt ja nun mal Wiederbeleben und das macht man dann, wenn jemand gerade stirbt.« Herr Baumann hob wieder diese Augenbraue. Eine Reaktion, die fast schon zu erwarten war. Die meisten Menschen hielten es für abwegig, dass Tierärzte im Prinzip genauso handeln können wie Humanmediziner.

»Warum sind Sie eigentlich hier heute Abend?« Fiona schaute zu Bodo und Micha und fand es an der Zeit, dass Bodo als Chef die Frage beantworten könnte. Für ihren Geschmack stand sie schon viel zu sehr im Mittelpunkt des Gesprächs. Aber Bodo sah immer noch aus wie ein Häufchen Elend. Er war blass und zitterte leicht. Hoffentlich hatte er keinen Schock. Wahre Künstler waren vermutlich sensibler als das gemeine Volk, zu dem Fiona sich zählte. Aber Micha hatte auch noch kein Wort gesagt. Er war völlig in sich gekehrt und sah aus, als würde er nicht alles mitbekommen, was hier vor sich ging. Und ihn hätte sie jetzt nicht als sensiblen Künstlertypen eingeschätzt. Dann musste sie wohl doch selbst antworten.

»Wir haben hier dienstags immer Chorprobe, von halb acht bis halb zehn. Petra, Petra Hellenberg heißt sie, gehört auch zum Chor, sitzt im Alt. Gehörte.« Jetzt schnürte es Fiona doch den Hals zu. Sie schluckte und merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Herr Baumann schaute sie für einen kurzen Augenblick intensiv an, dann besann er sich und blickte zu Bodo, der das aber nicht bemerkt.

»Chorprobe? Aber wo ist dann der Chor? Oder waren Sie nur zu viert?« Baumann machte schon wieder etwas mit seinen Augenbrauen. Zusätzlich runzelte er seine Stirn.

»Nein, nein. Es sind nie alle da, aber heute waren wir ungefähr fünfundzwanzig oder dreißig«, informierte Fiona ihn. Diesmal schnellten beide Augenbrauen nach oben. Noch dazu riss der Kommissar die Augen weit auf. Wie es aussah, war das eine Nachricht, die ihn nicht unbedingt glücklich stimmte.

»Dreißig Leute waren heute Abend hier in diesen Räumen? Und die sind jetzt alle weg? Das ist ja eine Katastrophe. Wieso sind die denn verdammt nochmal nicht hiergeblieben?« Herrn Baumann fiel es sichtlich schwer, seinen Ärger im Zaum zu halten.

»Als ich Petra gefunden habe, waren vermutlich fast alle schon fort. Ich habe nur noch Bodo und Micha gesehen, wie sie sich am anderen Ende des Flurs unterhalten haben. Und die sind dann auch gleich zu mir gekommen, als ich gerufen habe.«

»Gibt es hier nur den einen Ausgang?«, wollte Baumann noch wissen und deutete mit dem Kopf Richtung Haupteingang.

»Das weiß ich gar nicht genau. Ich bin noch nie woanders reingekommen. Es gibt den Haupteingang ins Foyer, und dann noch die beiden Türen, die direkt vom Probenraum in den Pfarrgarten führen. Kann sein, dass es am Ende vom Toilettengang noch eine Tür gibt. Da scheint auf jeden Fall Tageslicht durch eine bodentiefe Scheibe. Keine Ahnung, ob die offen ist. Soweit ich weiß, schließen Bodo oder Bärbel, die gehört zum Presbyterium und hat auch einen Schlüssel, immer nur vorne auf.« Der Kommissar drehte sich um und ging Richtung Toiletten.

»Sie warten bitte alle noch,« wies er den kläglichen Rest seiner potentiellen Zeugen oder vielleicht auch Tatverdächtigen im Gehen an. Kurz darauf war er wieder da und orderte gerade Verstärkung über sein Telefon.

»Sie hatten Recht, am Ende des Flurs gibt es noch eine Tür. Von außen kann man sie anscheinend nur mit einem Schlüssel öffnen, aber von innen war sie nicht verschlossen. Ich nehme an, Sie haben nicht zufällig gesehen, ob da jemand heute Abend rausgegangen ist?« In einer unbewussten Geste kratzte er sich den Hinterkopf. Fiona schüttelte kurz den Kopf, von Bodo und Micha kam gar nichts.

Zwei starke Männer an meiner Seite, typisch, dachte sich Fiona, die Augen verdrehend, und atmete einmal tief durch. Die nächste Frage hatte sie bereits erwartet und ihr war klar, dass der Kommissar – war er eigentlich Kommissar? Sie kannte die Dienstgrade bei der Polizei ja nur aus dem Fernsehen – von der Antwort enttäuscht sein würde.

»Wer war denn alles dabei heute Abend? Ich brauche eine Liste aller Chormitgliedern und dann muss ich natürlich wissen, wer von den Herrschaften heute bei der Probe war. Können Sie das organisieren, Frau ...?«

»Donelly«, entgegnete sie. »Fiona Donelly. Es tut mir sehr leid, aber das wird schwierig oder zumindest langwierig. Die Liste ist kein Problem, die kann Andreas Ihnen ausdrucken. Er verwaltet die Chorliste und die Homepage. Den könnte ich wahrscheinlich später noch erreichen, ich habe seine Telefonnummer zu Hause. Aber wer heute Abend alles hier war, das kriege ich nicht unbedingt alleine zusammen. An viele kann ich mich schon erinnern, aber spontan weiß ich nicht von jedem den Namen. Manchmal noch nicht einmal den Vornamen. Das müsste ich dann mit der Chorliste vergleichen, damit mir zu allen Gesichtern der passende Name einfällt. Andreas habe ich übrigens heute Abend nicht gesehen.«

»Stimmt, der war nicht da«, mischte sich Micha jetzt endlich mal ins Gespräch ein. »Aber wenn wir drei uns zusammen Gedanken machen, müssten wir uns doch an die meisten erinnern. Und den Rest müssen dann andere ergänzen.« Das war eine gute Idee von Micha. Im Auto hatte Fiona immer einen Schreibblock, auf dem sie unterwegs Termine notieren konnte.

»Ich hole schnell etwas zum Schreiben. Das sollten wir sofort machen, morgen kann ich mich gar nicht mehr erinnern.« Nach zehn Minuten hatten sie immerhin achtundzwanzig Leute auf der Liste, an die die drei sich sicher erinnern konnten, viele standen aber tatsächlich nur mit Vornamen und drei sogar nur in Form einer Beschreibung auf der Liste: Dunkelblond, kurze glatte Haare mit Ponyfransen, schlank, singt zweiten Sopran. Bodo war auch keine große Hilfe, er konnte sich Namen noch schlechter merken als die anderen beiden. Er leitete allerdings auch mehrere Chöre, da war das schon schwieriger mit den ganzen Namen.

»Warum brauchen Sie eigentlich alle Namen? Meinen Sie, jemand aus dem Chor hier hat was mit der Sache zu tun«, fragte Bodo nach einer Weile, als sich Herr Baumann, nach kurzer Abwesenheit, wieder zu der Gruppe gesellte.

»Ich meine grundsätzlich gar nichts, aber wir müssen mit allen sprechen, die heute Abend hier waren.«

Oho, ein Herr ohne Meinung. Fiona dachte an Petra, die immer noch auf dem kalten, harten Toilettenboden lag. Die Kälte machte ihr nichts mehr aus. Ob sie über allem geschwebt und zugesehen hatte, wie man sich um sie bemüht hatte? Oder war ihre Seele da schon lange fort? Wusste sie überhaupt, wer ihr das angetan hatte? Vermutlich wurde sie von hinten überrascht und ist dann sofort über der Toilette zusammengebrochen, so hatte es zumindest ausgesehen. Kein Wunder, wenn man einen Nagel im Herzen stecken hat.

Im Herzen! Fiona erinnerte sich an das Einmachglas, das hoffentlich immer noch in ihrer Kühltruhe stand. Ob es doch eine grausamere Bedeutung hatte? Zum Glück hatte sie das Glas bisher nur von außen betrachtet, nicht mit bloßen Händen angefasst und für die Geruchsprobe nur einmal kurz aufgeschraubt.

»Ich denke, Sie können jetzt vorerst nach Hause gehen. Morgen früh kommen Sie drei bitte auf die Polizeidienststelle. Wir brauchen Ihre Aussagen noch schriftlich. Frau Donelly, sie müssten dann auch noch zu Protokoll geben, wie die Leiche, äh Frau Hellenberg genau gelegen hat. Momentan sind die Toiletten gesperrt, bis die Spurensicherung fertig ist, aber es werden Fotos gemacht und dann können wir das morgen nochmal rekonstruieren. Hier ist meine Karte. Würden Sie bitte veranlassen, dass mir die Chorliste so schnell wie möglich gemailt wird?« Der Kommissar konnte sich ein knappes Lächeln in ihre Richtung abringen. Fiona nickte. Micha und Bodo waren schon durch die Tür auf dem Weg zu ihren Autos. Sie sah, wie draußen gerade das Auto des örtlichen Bestatters vorfuhr. Was wohl jetzt mit Petras Leiche passieren würde? Wo befand sich überhaupt die nächste Rechtsmedizin? Es war zwar makaber, aber sie wäre schon gerne bei der Obduktion dabei, um zu sehen, ob ihre Vermutung stimmte.

»Kommissar Baumann, ich müsste Ihnen vielleicht auch noch etwas zeigen, das ich heute im Wald gefunden habe. Ist allerdings bei mir zu Hause. Ich weiß auch nicht, ob es wirklich wichtig ist.«

»Was ist es denn?« Gerade wollte sie ansetzen, zu erklären, wie ein Herz im Glas in ihren Gefrierschrank gekommen war, als einer der uniformierten Polizisten zu ihnen trat.

»Könnten Sie noch mal mit nach hinten kommen, Chef?« Baumann rieb sich über die Augen und wendete sich kurz noch einmal Fiona zu.

»Dann machen wir das so, Sie brauchen morgen nicht auf die Polizeidienststelle zu kommen, ich komme zu Ihnen. Gegen zehn? Geben Sie Ihre Adresse bitte meinem Kollegen hier. Ach ja und die Namen und Adressen der beiden anderen Herren bitte auch gleich.« Eine Antwort wartete er nicht mehr ab. Egal, um zehn Uhr müsste Fiona mit der Operation fertig sein, die morgen als erstes auf dem Plan stand. Ein Uhr zwanzig, Zeit fürs Bett. Sie bezweifelte allerdings, dass sie schlafen würde.

3

Fiona schlief wie ein Stein. Es war wohl doch alles anstrengender gewesen, als es ihr bei all der Aufregung und dem Adrenalin letzte Nacht vorgekommen war. Nachdem sie ihre Kinder am nächsten Morgen aus dem Haus und auf dem Weg zur Schule hatte, mussten noch die Tiere gefüttert und die Küche aufgeräumt werden. Dabei hatte sie genügend Zeit den letzten Abend Revue passieren zu lassen.

Petra war bei der Probe gewesen, das war klar. Sie hatte wie immer auf ihrem angestammten Platz im Alt gesessen. Was sie allerdings am Ende der Probe getan hatte, ob sie sich noch mit jemandem unterhalten, oder den Raum gleich verlassen hatte, das wusste Fiona nicht. Sicher war nur, dass sie kurz nach der Probe auf der Toilette ums Leben gekommen war, und zwar gewaltsam.

Viel mehr konnte Fiona leider auch Herrn Baumann nicht erzählen, der um kurz nach zehn bei ihr eintraf. Sie war soeben mit der Kastration einer Katze fertig geworden, als sie sein Auto auf dem Parkplatz hörte und ließ ihn ins leere Wartezimmer.

»Guten Morgen,« begrüßte sie ihn einigermaßen schwungvoll, wenn man bedachte, dass sie nur gut vier Stunden geschlafen hatte. Dem Kommissar war es vermutlich auch nicht besser ergangen. »Sollen wir rüber in die Küche gehen, ich könnte einen zweiten Kaffee vertragen. Möchten Sie auch einen?« Herr Baumann musterte sie kurz mit einem Blick, den sie nicht einschätzen konnte, lächelte dann aber und nickte. »Danke gerne, ich bin auch schon seit sechs Uhr unterwegs. Ein Kaffee wäre schön.«

Vom Wartezimmer aus führte eine Tür durch die Waschküche ins Wohnhaus. Nach ein paar Minuten saßen die beiden mit zwei großen Tassen Kaffee und einem Kännchen Milch am Küchentisch. Fionas Mutter war nirgendwo zu sehen. Gut möglich, dass sie im Ort unterwegs war. Mittwochs war Wochenmarkt, dort traf sie häufig ihre Freundinnen und gönnte sich mit ihnen ein ausgiebiges Frühstück beim Bäcker am Marktplatz.

»Die Chorliste habe ich übrigens heute früh schon erhalten, viele Dank Frau Donelly,« eröffnete Baumann das Gespräch. Fiona hatte Andreas letzte Nacht noch angerufen. Zwar musste sie ihn und seine Frau aus dem Bett klingeln, aber das erschien ihr unter den gegebenen Umständen angemessen. Erst wollte Andreas gar nicht glauben, was auf der Probe passiert war und Fiona brauchte zwei Anläufe dem verschlafenen Verwalter der Chorbürokratie die Situation glaubhaft zu machen. Als die Fakten endlich in sein sich sträubendes Hirn gesickert waren, versprach er, noch in der Nacht die Liste an den Kommissar zu schicken, was offensichtlich auch geklappt hatte.

Fionas Besucher wollte als Erstes wissen, woran sie sich erinnern könne und ob während oder nach der Chorprobe irgendetwas Außergewöhnliches vorgefallen war.

»Nicht dass ich wüsste. Es war eine ganz normale Probe. Das einzig Ungewöhnliche war vielleicht, dass ich etwas länger als sonst dageblieben bin. Das lag daran, dass ich mich erst eine Weile mit Bettina und Clara über das bevorstehende Gartenfest der Kirche unterhalten habe. Wir geben dort ein kleines Konzert und anschließend wollen wir noch grillen. Wir haben überlegt, wer was organisieren kann, ob wir auch Kuchen backen sollen und ob genug Getränke vorrätig sind, oder noch etwas eingekauft werden muss.«

»Das wären dann Bettina Meisner und Clara Neufang«, unterbrach Baumann sie, während er auf ein Blatt Papier schaute, das er kurz zuvor ordentlich gefaltet aus seiner Jackentasche gezogen hatte. Zusätzlich macht er sich Notizen in ein kleines, in dunkelbraunes Leder gefasstes Büchlein. Dieses Notizbuch fiel ihr direkt auf, der Einband aus weichem, dicken Leder, an den Kanten abgegriffen und die Oberfläche fleckig vom häufigen Aufschlagen. So eines würde Fiona vermutlich auch benutzen, wenn sie einen Beruf hätte, in dem sie sich Notizen machen müsste. Sie nickte zur Bestätigung der beiden Namen.

»Und was ist dann passiert?«, lautete Baumanns nächste Frage.

»Danach hat Maike mich noch kurz aufgehalten. Wir haben darüber gesprochen, wann sie das nächste Mal zum Putzen in die Praxis kommen soll. Maike Kallmert, sie arbeitet ein-, zweimal in der Woche hier bei uns. Und als ich dann eigentlich gerade gehen wollte, hat Jutta mich abgefangen, weil sie mit mir reden wollte. Jutta Hemmerlein«, ergänzte Fiona. Juttas gab es nämlich zwei im Chor.

»Darf ich fragen worüber?«

»Worüber wir geredet haben? Sicher. Über Hühner.«

»Über Hühner?«, vergewisserte sich der Kommissar erstaunt.

»Ja, wir halten beide Hühner. Demnächst stehen die Impfungen wieder an und wir versuchen, das immer mit den anderen Hühnerhaltern im Ort zu koordinieren, damit diese Impfaktion für alle nicht zu teuer wird. Außerdem hat sie mir noch von ihren Neuanschaffungen berichtet.«

»Und die wären?«