Santa Sameville - LA DELIC - E-Book

Santa Sameville E-Book

LA DELIC

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Beschreibung

Es sollte der Sommer ihres Lebens werden. Doch dann hörten sie vom mysteriösen Fluch des Anwesens. Spencer und die anderen jugendlichen Campbesucher müssen schnell feststellen, dass die Vorstellung von langen lauen Nächten, geschmorten Marshmallows über dem Lagerfeuer und dem Schließen neuer Freundschaften bald schon einem ausgewachsenen Albtraum weicht, denn eines der Kinder wird nach kürzester Zeit als vermisst gemeldet. Ist es etwa dem Ungeheuer, welches des Nachts angeblich durch die Wälder streift, zum Opfer gefallen, oder lauern noch andere Gefahren zwischen den kargen Felsspalten von Rockfield Due? Eins ist jedoch klar: Was immer den Jungen geholt haben mag, wird seine Klauen auch nach ihnen ausstrecken. Zehn Jahre später- … Das Grauen ist zurückgekehrt, doch diesmal in einer völlig anderen Gestalt. Kann Alisha mithilfe eines neuen Verbündeten das Unheil besiegen oder hat ausgerechnet sie es zur Tür hereingebeten?

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Santa Sameville

 

Ladelic

 

Triggerwarnung:

 

Diskriminierung, Kraftausdrücke, Gewalt,

Alkohol- und Drogenmissbrauch, Entführung, Tod und Suizid

 

Impressum:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Veröffentlicht bei Infinity Gaze Studios AB

1. Auflage

August 2024

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2024 Infinity Gaze Studios

Texte: © Copyright by LaDelic @ladelic_tells_a_story

Lektorat: Christina Staudinger @christinastaudinger_schreibt

Cover & Buchsatz: Verena Valmont @valmontbooks

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung von Infinity Gaze Studios AB unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.

Infinity Gaze Studios AB

Södra Vägen 37

829 60 Gnarp

Schweden

www.infinitygaze.com

 

Prolog

 

 

So Sonne, so schenke mir Wärme, Gelassenheit und Geborgenheit.

Mutter Mond erhelle mich mit Weisheit, Zuversicht und Mut.

Finsternis, nimm mich gefangen in deinen Bann, schenke mir Erleuchtung.

Und alles darüber hinaus … töte mich!

Ich wurden nicht geboren, um zu leben, ich wurde geschaffen, um zu verstehen.

Liebe, verschone mich, denn du brichst mir nur Willen und Verstand, das Herz.

Aber berühre mich, damit das Monster im Inneren mich mit Haut und Haaren verschlingt, damit ich dem gewachsen bin, was auf mich zukommt.

 

Denn all das wird bald ein Ende haben.

 

 

Piekipiekspeiks

 

 

»Wir sind an einem Ort, den man sonst nur aus schaurig-schönen Gruselerzählungen kennt, doch niemals als Ferienort auserwählt. Die Villa des Grauens, bekannt als Santa Sameville, wacht wie ein Rabe über diese Stadt. Wer dort eintritt, verschwindet auf unerklärliche und mysteriöse Weise. Ja, genau! Nicht unweit von ihr befinden wir uns jetzt, sie liegt direkt hinter diesem Hügel. Der Besitzer ist zu meiden. Soll ein richtig garstiger und unsympathischer Typ sein, wie man hört, der sich nichts aus Gästen macht. Wie dem auch sei, haltet euch einfach fern! Den Sommer unseres Lebens möchte ich hier erleben, bleibt aber abzuwarten, ob dieser Traum wahr wird oder sich zu einem wahrhaftigen Albtraum entwickelt. Wenn ich klüger wäre, dann hätte ich meine Eltern um einen sechswöchigen Schauspielkurs gebeten, statt Körbe zu flechten und klammes Holz zu hacken. Verflucht noch eins, warum hat mein jetziges Ich - mein Vor-ein-paar-Tagen-Ich nicht gewarnt? Scheiß drauf! Das Freizeitangebot stinkt vor Langweile, aber nun zurück zu den wirklich wichtigen Themen.«

Sie wollte bereits an dieser Stelle Einspruch erheben, da sich das Geschwätz über das Haus auf spekulative Gerüchte bezog und es keinerlei echte Beweise dafür gab, dass etwas Schreckliches dort drinnen vor sich ging, widerstand diesem Impuls jedoch mit unsäglicher Willenskraft. Für sie ein ganz eindeutiges Indiz, dass er mal einen Therapeuten in absehbarer Zeit aufsuchen sollte.

Unbeirrt sprudelte es nur so aus ihm heraus.

»Man sagt dem stadtbekannten Anwesen seither nach, dass es einst der Sommerlandsitz eines Adeligen gewesen sein soll, bevor diese ach so fabelhafte Bilderbuchfamilie es sich unter den Nagel gerissen hat. Ihnen wird es auch nicht anders ergehen! Die Menschen der Umgebung halten sich tunlichst fern, so weit wie nur irgendwie möglich, weil scheinbar ein unaussprechlicher und finsterer Fluch auf ihm liegt. Dabei sind die Leute hier nicht von der weichen Sorte, sondern genauso robust und hart wie der Acker der Ländereien. Aber wie es bekanntlich mit der Latrinenparole so ist, ein kleiner Teil der Saat stößt immer auf fruchtbaren Boden.« Ein kühler Luftzug umschmeichelte seine freien Knöchel, da er vergessen hatte, sich Socken überzuziehen, und somit nun barfuß in seinen Turnschuhen steckte.

Der Mond schien derart grell, dass seine blasse Haut noch gespenstischer wirkte als ohnehin schon. In der Ferne kreischte ein alter, hungriger Kauz. Das Knacken der Bäume glich einer unterschwelligen Drohung, dem Spuk ein Ende zu setzen, doch er konnte es einfach nicht gut sein lassen. So war er eben gestrickt.

»Erst einmal unter dessen Bann stehend, heißt es, man würde am lebendigen Leibe unschön verfaulen. Die Maden fräßen sich ein Loch durch Herz und Gedärm, bis sie durch eine breite Öffnung am Magen an die Oberfläche dringen. Abermillionen Spinnen kriechen aus den hervorgetretenen Augäpfeln, die anschließend platzen und ihre schleimige Flüssigkeit auf den rauen Steinwänden hinterlassen, sodass dieser schreckliche Ort stets gezeichnet von Blut und Furcht genährt, für alle Gezeiten existiert, um all diejenigen zu bestrafen, die sich ihm zu sehr nähern und die Ruhe der Geister stören.«

»Ach du heilige … jetzt hör aber auf, Thompson! So einen Schwachsinn liest man doch in jedem x-beliebigen Horrorroman. Glaub ja nicht, dass ich darauf reinfalle und du mir Angst einjagen kannst, denn das schaffst du nicht! Kapiert?!«, preschte der sommersprossige Giggles-Junge hervor und hielt seinen Marshmallow noch weiter in die offene Flamme des Lagerfeuers, wodurch der weiche, fluffige Zylinder sein unwiderstehliches geschmortes Aroma vollends entfaltete.

Genüsslich leckte er sich über die spröden Lippen und fixierte den direkt gegenübersitzenden schwarzgelockten Jungen mit Argusaugen. Dieser hingegen wirkte völlig unbeeindruckt vom Sohn des einzigen Staatsanwaltes der Stadt und fuhr mit seiner Schauergeschichte fort.

»Ich berichte euch nur, was mir zu Ohren gekommen ist und finde, das solltet ihr wissen, wenn ihr in den Wäldern Morningstars umherstreift. Ich bin nun schon zum dritten Mal hier, und O Gott sei Dank ist bislang nichts geschehen, außer …«, er stoppte abrupt und hielt nach etwas Ausschau, was er zur Veranschaulichung verwenden konnte.

»Moment mal! Sagtest du nicht eben noch gerade, du wolltest …«

Thompson fiel ihm rasch ins Wort und tat die Frage mit einem Stirnrunzeln ab, während er über die freie Stelle seines Beines scheuerte. »Okay, das mit der Schauspielerei war nur so dahergeredet, aber alles andere stimmt, was ich euch erzählt habe.«

Dann erhob er sich von dem umgestürzten Baumstamm, der bis dato als Sitzbank gedient hatte, und ging zu einem Busch, dessen Schatten im Licht des Feuers eine monströse Größe annahm, brach einen morschen Zweig ab und zeichnete damit eine Art Symbol in die noch vom gestrigen Regenfall feuchte Erde.

»Da fehlt was«, merkte eine zurückhaltende Stimme an, schnappte sich den Ast aus seiner Hand und ergänzte das Gebilde um eine weitere saubere Kurve. »Dieses Zeichen erscheint immer eine Woche vor der alljährlichen Erntezeit der angrenzenden Felder und der Ertragsentnahme von frischen Pfirsichen.«

Spencer Peikers, das unscheinbare Mädchen, das dieses Jahr ihre Jungfräulichkeit definitiv noch ein Weilchen behalten würde, ganz im Gegensatz zu ihrer Sitznachbarin Bristella Kumari, auch genannt Queen B, dem beliebtesten Mädchen an der Rocky Stanson High School, mit dem unvergleichlich schönen indischen dichten Haar und so gar keiner traditionellen Einstellung, beugte sich zur Seite und rückte sich zeitgleich das Brillengestell auf der kantigen Nase zurecht, damit es nicht vornüberfiel.

»Das Emblem der Vergeltung«, raunte sie ehrfürchtig und reichte Thompson den Zeichenstock zurück, aber der verschränkte nur beleidigt und übellaunig die Arme vor der Brust und schnaubte.

»Tut mir leid, ich wollte nicht …« Spencer versuchte ihre neunmalkluge Art hintanzustellen und brach mitten im Satz ab.

Die zwei vierzehnjährigen Teenager und der leicht propere fünfzehnjährige Wellvour Thompson, dessen ungewöhnlichen Namen keiner von ihnen jemals zuvor irgendwo gehört hatte, sahen Spencer zugleich entsetzt, aber auch mitleidig an, als hielten sie sie für das klassische Paradebeispiel einer Oberstreberin.

Dabei müsste es einer unter ihnen besser wissen …

Diese stumme Behauptung zu dementieren würde zwecklos erscheinen, denn sie liebte es nun einmal, Bücher zu wälzen, ihre Freizeit in ihrem kuscheligen Bett zu verbringen und dabei Konstellationen zu studieren, ihre Zukunft dem Erforschen des Universums zu verschreiben, denn auf diesem Gebiet konnte der Mensch noch vieles lernen, erstaunliche Tore zu anderen Welten aufstoßen. Peikers wusste, wie es um ihre Beliebtheit bestellt war, es sollte sie nicht weiter kümmern, aber auch Spencer war nur eine Heranwachsende, die schlussendlich akzeptiert werden und dazugehören wollte.

»Also ich für meinen Teil habe gestern beim Bäcker aufgeschnappt, dass diese überdimensionalen Prägungen in den Maisfeldern von Aliens stammen sollen. Ein Zeichen, dass sie bald mit ihren Untertassen anrücken werden, um die Menschheit zu versklaven. Der alte Stanley schien von dieser Theorie sehr angetan, Herrgott, was für ein Loser, der kann ja noch nicht mal ordentliche Brezeln einschlagen. Und ohne Salz sind sie auch noch. Solch eine Frechheit!«

Bristellas glockenhelles Gelächter war so demütigend wie zugleich wohlklingend, dass Spencer erschauderte.

Sie wusste, dass ihre ehemals beste Freundin damit darauf anspielte, es lächerlich zu finden, dass sie sich für fremde Lebensformen außerhalb des eigenen Horizonts interessierte und sich noch ganz nebenbei über Menschen mit weniger Status lustig machte. Weshalb sie einst so eng miteinander verbunden gewesen waren, ging Spencer nicht mehr in den Trichter. Ach ja, weil Bristella nicht immer eine Zimtzicke gewesen war. Klar, sie hatte ihre Macken – so wie sie alle, aber seitdem sie quasi über Nacht beliebt wurde, und Spencer selbst nicht, war die Anwärterin auf die Krone der Prom-Queen nur noch unausstehlich.

»Du meinst Ufos. Das steht für „unidentified flying objects“, hochentwickelte Raumschiffe, deren Steuerung wahrscheinlich das derzeitige menschliche Verständnis bei Weitem überschreiten«, flüsterte Spencer unter einer verdeckten Hand so leise, dass es nur das dunkelhaarige Mädchen mit den bernsteinfarbenen Augen hören konnte.

»Hast du was gesagt, Piekipiekspeiks?«, fauchte sie barsch zurück und fixierte den Schlauberger.

Spencer versuchte den scharfen Unterton auszublenden und fokussierte sich wieder auf die Zeichnung zu ihren Füßen.

Der Kreis wand sich ineinander wie eine Schnecke. Inkorrekt! Ein zutreffender Vergleich war wohl eher eine korkenförmige Spirale. Keiner konnte sich einen echten Reim darauf bilden, woher diese ominösen und bizarren Symbole stammten, wann sie das erste Mal auftauchten und sie wieder verschwinden würden, aber für Spencer stand eines glasklar fest. Es gab sie da draußen irgendwo, sie existierten und sendeten all jenen einen Gruß, die bereit waren, ihnen zuzuhören und ihren Geist wachsam für Veränderungen offenhielten.

Warum das Ganze in Rockfield Due, einem kargen, sandigen Fleck nahe Mancos im Südwesten von Colorado geschah, war jedoch noch weitgehend ungeklärt, weshalb das Medieninteresse bezüglich der Kleinstadt stetig anschwoll und schaulustige Touristen zur Hochsaison vermehrt wie die Schmalzfliegen anzog, als seien dessen Schauergeschichten das Sinnbild eines unvergleichlichen Wahrzeichens und die drum herumliegenden Erntefelder ein dick beschmiertes Butterbrot.

Hier gab es nichts weiter als kilometerweiten Acker, Wanderwege, Rinderzucht und versalzene Speisen, wie auch unfreundliche Gesichter, die kein müdes Lächeln für Großstädter entbehrten. Die meisten Kids langweilten sich halb zu Tode, aber Spencer hatte es geliebt, bevor der Wohlstand nach und nach zurück in die Stadt einkehrte. Ungesehen zu bleiben brachte auch gewisse Vorzüge mit sich.

Die Wirtschaft mit den Reisenden florierte, schoss förmlich durch die Decke und zahlreiche Kettenimbisse wurden aus dem Boden gestampft, gut platziert an jeder Ecke ein weiterer Souvenir Shop mit überteuertem Ramsch und fertig war das verschandelte Erscheinungsbild.

Was sich natürlich zu ihrem Leidwesen entpuppte, denn der allgemeine Irrglaube, Marsmenschen seien allesamt rot und alle anderen „Außerirdischen“ grasgrün wie eine erntefrische Bohnenschote, wurmte und verletzte das introvertierte Mädchen. Zugegeben konnte Spencer Peikers sich nicht anmaßen, von einer hundertprozentig sicheren, ihrerseits gestellten These rechtens auszugehen, das dem doch nicht so war. Aber irgendwie stellte sie sich andere Lebensformen von fremden Millionen von Lichtjahren entfernten Planeten wesentlich komplexer vor, als nur als einfache Männchen mit großem neonfarbenen Kopf und zwei freundlich dreinblickenden gelben Hunde- oder Katzenaugen, je nach dem, was man präferierte.

Sie selbst empfand es sogar als diskriminierend, denn schließlich sahen auf der Erde auch nicht alle Menschen identisch aus, auch nicht, wenn sie ein und demselben Genpool entsprangen. Das Gesicht, die Mimik und der Körperbau waren stets einzigartig. Sowohl als auch der Klang der Stimmfaser und darüber hinaus noch viele weitere Merkmale. Denn das, was wohl am aller Entscheidendsten war, der Charakter, der wahrhaftige Indikator dafür, wie divers Artenvielfalt wirklich ist, war meist nicht mit dem bloßen Auge zu erkennen. Daher war es absurd, tausende Male dieselbe, immer gleichbleibende dauergrinsende grünliche Alienfratze auf kostengünstige Tassen zu bepinseln mit - jetzt kam der ausgeklügelte Marketing-Clue an der ganzen Geschichte -, passender Untertasse für teures Geld zu verscherbeln, als seien es Wahlkampfartikel für den Bürgermeister. Dass die überhaupt wer kaufte, wunderte sie doch schon sehr.

Die Regierung gab sich vorerst unbeteiligt an dem Ganzen, wie man es so schön nennen konnte, Humbug. Aber Spencer fragte sich insgeheim, wie lange noch? Die Anzeichen waren unverkennbar gegenwärtig.

Schnell schüttelte sie ihre abschweifenden Gedanken von sich, gleich der Moskitoseuche um sich herum. Sie musste sich eingestehen, dass sie nicht nur auf die fiesen kleinen Stiche sehr sensibel reagierte, sondern auch gegen Menschen eine gewisse Allergie im Allgemeinen verspürte. Nichtsdestotrotz hatte sie keine Lust darauf, gestochen zu werden, also tunkte das Mädchen den Ast in das glühende Feuer, sodass dieser eine kleine Flamme am oberen Ende entzündete und verscheuchte im Namen aller, die um das Lagerfeuer versammelt saßen, die Schar an Insekten. Denn wenn es eines gab, das sämtliche Lebensformen des Planeten Erde miteinander teilten, dann, dass die glühende Hitze Härchen versenkte, einem das Fleisch von der Haut herunterzog und man schlussendlich zu Staub und muffiger Asche zerfiel.

Alles Lebende musste eines schönen Tages früher oder später sterben und dorthin zurückkehren, wo es erschaffen wurde.

»Leute, hat jemand noch ein paar Snacks übrig? Die Marshmallows neigen sich dem Ende zu und ich habe immer noch Kohldampf«, moserte Thompson herum und begann in einem der Rucksäcke hinter sich wie ein begieriger Waschbär zu wühlen.

Bristella sprang wie vom Floh gebissen auf und warf sich auf Wellvour, zog ihn mit einer Hand kräftig an den Haaren, riss ihn zu sich auf Kniehöhe und kam seiner glühenden Wange so nahe, dass er ihren erregten Atem auf seiner kribbelnden Haut spüren konnte.

»Flossen weg, Langfinger! Das ist fremdes Eigentum, das gehört dir nicht. Chor kaheen!« Sie zog noch ein Stück weit fester an seinen schwarzen Locken. »Sollte ich dich noch einmal dabei erwischen, wie du in meinen Sachen kramst, wirst du das bitter bereuen! Verstanden, Thommyboy?«

Er wand sich atemringend unter ihrem festen Griff, doch obwohl die beiden fast gleichalt waren, überragte ihn Queen B um einen halben Kopf, wogegen er wirklich mickrig wirkte, trotz seiner peinlichen Versuche, ihr die Unterarme blutig zu kratzen.

Mit einem weiten Ruck stieß sie den Jungen nach vorne und er fiel mit dem entsetzten Gesicht direkt in den abendfeuchten Schlamm. Wie ein zappelnder Molch stützte Wellvour sich auf den Händen ab und streckte den Rücken durch. Luft wich aus seiner Kehle und mühselig rappelte der Thompson-Junge sich wieder auf.

Mit dem Handrücken fuhr er über seine Augenpartie, Nase und Mundgegend und befreite die Stellen von der überschüssigen schleimigen Masse. Die Hände zu Fäusten geballt, wagte er es aber nicht, näher zu kommen und sofortige Vergeltung für ihren Übergriff einzufordern.

Dabei bemerkte er nicht, dass er derjenige war, der zuvor eine Grenze überschritten hatte. Mit hochgezogener Augenbraue stierte Queen B ihr Gegenüber an.

»Die Botschaft ist also angekommen. Schön! Beschwör einfach keinen weiteren Ärger herauf, dann bekommst du selbst auch keinen«, Bristella setzte sich wieder auf ihren Platz zurück und schlang überraschend ihren Arm um Peter, der wie vom Blitz getroffen zusammenzuckte.

Die Schamesröte in seinem Gesicht verdeckte doch glatt seine Sommersprossen. Dann begannen die beiden herzhaft wie aus dem heiteren Nichts zu lachen, und selbst Spencer konnte sich ein spitzbübisches Grinsen nicht verkneifen. Ohne dass es einer laut aussprach, waren sie alle ein und derselben Meinung, dass ihm dieser kleine Weckruf ganz recht geschah, immerhin war Thompson allzeit dermaßen vorlaut und ungestüm, dass es an ihnen oblag, die Aufgabe zu erfüllen, ihn zurechtzuweisen, solange sich noch etwas an seinem Verhalten ändern ließe.

Auch Wellvour dachte flüchtig darüber nach, was das zu bedeuten hatte. Schwer schluckte er die Pein, gepaart mit Selbstzweifeln und Verdrängung, die Emotionen, die immer mehr in Wut umschlugen, still und klamm herunter. Dass die anderen offenkundig über ihn herzogen, lag ihm schwer im Magen, drohte ihn wie einen Zentner Beton unter dem Gewicht der Demütigung zu begraben, denn war er nicht derjenige gewesen, der überhaupt erst dafür gesorgt hatte, dass diese drei Niemandes – in seinen Augen – durch sein Zutun als Gruppe zusammengefunden hatten?

Er wollte sie am liebsten anschreien, ihnen verständlich machen, dass ohne ihn das alles hier nicht zustande gekommen wäre, und sie ihm dafür gefälligst Dankbarkeit entgegenbringen sollten, statt über ihn herzuziehen, bloß weil er eben Hunger gehabt und sich an den Vorräten aller bedienen hatte wollen – es stünde ihm ebenso sehr zu wie den anderen Pappnasen, doch Wellvour zügelte seine Zunge. Es stand drei gegen eins. Eine Verwarnung vom Campleiter erteilt zu bekommen und eventuell vorzeitig wieder abreisen zu müssen, kam nicht infrage. Also gab er klein bei und setzte sich mit knurrendem Magen wieder um das Feuer, starrte in die aufsteigenden Flammen und die zischende Glut.

Bis jetzt hatte Thompson das unverschämte Glück gehabt, dem neuen strengen Leiter Arnold Spex noch nicht höchstpersönlich begegnet zu sein, da er anders als die meisten Kids nicht schon morgens mit dem ersten Bus eingetroffen war, sondern erst gegen späten Nachmittag. Seine Mutter arbeitete als Krankenschwester Schicht. Die Klinik befand sich im Westen der Kleinstadt, genau in dem Stadtteil, dessen protzige Villen wie eine geschlossene Einheit die Straßenränder säumten, deren schwarze massive Tore verkündeten: Wir sind etwas Besseres! Heavensfield East, dort, wo der blasse Junge niemals leben werden würde. Ebenjenes Wissen schürte seinen Zorn, treibender Zündstoff für eine unvorhersehbare und unkontrollierbare Explosion. Ja, Wellvour war ein komprimiertes Pulverfass auf zwei Beinen. Er wohnte mit seiner alleinerziehenden, dauergestressten Mom in der Mayflower-Road, die den Grenzübergang der Gegenden suggerierte, als ob man dort eine unsichtbare Linie zwischen den Kluften der Gesellschaft schnitt, bei der penibel Wert darauf gelegt wurde, sie aufrechtzuerhalten. Doch sie repräsentierte so vieles mehr für den introvertierten Extrovertierten. Eine Grauzone zwischen Richtig und Falsch, Gut und Böse, Tag und Nacht, wie Thommyboy sie nannte.

Wellvour hoffte selbst inständig, eines Tages dieses graue Trauerspiel von Blockhäusern mit winzigem Vorgartenanbau zu verlassen, ein mondänes Anwesen zu beziehen und einen fetten Aston Martin zu fahren, zu jeder seiner Seiten eine großbusige Schönheit. Außer Frage, er hätte andere Sorgen haben sollen. Schließlich waren sie Kinder der Nachkriegszeit, aber hier und jetzt konnte er all die Probleme der Welt und der Erwachsenen aussperren, als lebten sie in einer Blase der Sorglosigkeit. Und in jener war es erlaubt zu träumen. Und seine waren verdammt groß!

Thompson wollte von Luxus und Reichtum eines Tages überschwemmt werden. Alle wären dann gezwungen, neidvoll zu ihm aufzublicken, anzuerkennen, wie weit er es doch im Leben gebracht hatte und sich nicht länger das Maul darüber zerreißen, dass sein Vater sich nicht für ihn interessiert und Mischa Thompson mit einem schreienden Säugling allein gelassen hatte, um irgendwo durch die Weltgeschichte zu cruisen.

Ja, seine oberste Priorität galt nun als ein glänzender Stern am Himmel hervorzugehen und allen zu beweisen, dass sie Unrecht damit besaßen, dass er eines verfluchten Good Fridays aufwachen und sich gleichermaßen in einen Taugenichts wie sein alter Herr verwandeln würde. Aber vorher wollte Wellvour diesen eingebildeten Kids zeigen, dass man sich besser nicht mit ihm anlegte, ihr Gelächter sie teuer zu stehen bekommen würde. Er schwor, es ihnen so richtig heimzuzahlen. Nicht jetzt und nicht hier, das wäre viel zu vorhersehbar, aber schon bald gäbe es eine geeignete Chance. Seine Mom pflegte immer zu sagen: Ist man in kleinen Dingen nicht geduldig, bringt man die großen Vorhaben zum Scheitern. Dieser Spruch stand auf einer ihrer Tassen und darunter ein Name, der so ähnlich klang wie Cornelius oder so was in der Art. Wen juckte das schon so genau?

Hämisch grinste er in sich hinein.

Peter Giggles indessen blickte auf seine Armbanduhr und stellte erschrocken fest, dass sie schon über dem Zenit waren. Schon seit geschlagenen vollen zehn Minuten erwartete man sie in voller Schlafbekleidung im jeweiligen Waschraum zur Abendkontrolle, um die Anwesenheitsliste beim Zähneputzen abzuarbeiten.

»Scheibenkleister!«, dachte er sich, versuchte aber, die Ruhe zu bewahren.

Jeden Abend von neunzehn bis einundzwanzig Uhr dreißig hatten sie „echte“ Freizeit und durften mit ihrem Resttag anstellen, wonach ihnen der Sinn stand. Tagsüber arbeiteten die Teenager in der Hauptzentrale, wie im Kindervolksmund und von den Angestellten der runde Platz inmitten des Camps Rock(y) your Summer genannt wurde.

Dort wurden sie zum Abspüldienst eingeteilt oder fungierten als fleißige Küchenhelferlein und das bis zum späten Nachmittag in kontinuierlichen Wechselschichten. Andere bevorzugten lieber die Arbeit im hauseigenen Gewächshaus, gossen die bereits wuchernden Obstbäume und Pflanzen, säten neue aus oder unterstützten bei der beinharten Ernte, um die Erträge im relativ belebten Stadtkern auf dem Wochenmarkt zu verkaufen, wodurch die Anlage zusätzliche finanzielle Mittel zur Instandhaltung erwirtschaftete.

Die monatlichen Spenden der Bürgermeisterin Fran Nancy McLaugin waren ein Segen für Mister Spex. Abgesehen hiervon waren natürlich die Einnahmen durch die professionell angeleiteten Ferienkurse wie Angeln, Handknüpfen von Teppichen, Töpfern, Werken und Malen oder den reinen Aufenthalt essenziell, um das Ferienlager aufrechtzuerhalten. Sein Vorgänger war unvermittelt an einem Herzinfarkt verstorben. Aber lange würde auch der Neue niemandem mehr etwas vormachen. Es stand nicht rosig um das Camp, seitdem man drohte, eine Schnellstraße durch das Waldgebiet zubauen, damit Lasterfahrer schneller nach Denver gelangten.

Außerdem war sein Geduldsfaden nicht besonders lang, wenn es um Ungehorsam ging, allen voran bei Kindern, die man trotzdem noch formen und züchtigen konnte, wie es einem beliebte. Und um dessen Umstand war sich der strebsame und sonst so pflichtbewusste Peter bewusst.

»Wir hätten schon längst auf dem Weg in unsere Betten sein sollen. Los, räumt schnell euren Dreck weg, bevor uns Spex die Köpfe abreist.« Giggles konnte echt ein Weichei sein, wenn es darum ging, befand Bristella, die seine Hetzerei gar nicht verstand.

Der Campleiter war ihrer Ansicht nach auch nichts weiter als eine Autoritätsperson, die zu blöd war, einen richtigen Job, wie zum Beispiel einen an der Börse, auszuüben und daher lieber Halbstarke herumschubste und kommandierte.

Dass Peter aber aufgrund seines erfolgreichen Vaters Komplexe aufwies, niemals gut genug für irgendetwas zu sein, da er offenbar immer alles falsch machte und noch nicht einmal hinbekam, pünktlich zu erscheinen oder eine Gruppe anzuführen, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte, als nach diesem Sommeraufenthalt den letzten verchromten Korkendeckel an sein T-Shirt zu pinnen, wodurch er offiziell zur Prüfung zum Camp-Assistent zugelassen werden würde. Denn nächstes Jahr wäre er alt genug, um hier arbeiten zu dürfen, hatte sie natürlich nicht auf dem Schirm. Peter Giggles wollte nämlich nicht an die Yale, um Jura zu studieren, wie sein Vater es ihm vorgelebt hatte, sondern ein Medizinstudium bei der Army beginnen und im Vietnamkrieg seinen Brüdern und Schwestern ehrenvoll als Truppenarzt dienen, um Fleischwunden, Schädeltraumata, gebrochene Knochen und Löcher, die wie Schweizer Käse im menschlichen Körper prangten, zu behandeln.

Ein normales Krankenhaus kam für ihn nicht infrage. Schon zu diesem Zeitpunkt wusste er, dass er sich nichts sehnlicher erträumte, als ein Held zu sein. Auch wenn er jetzt Schiss hatte, den Zorn von Mister Spex auf sich zu ziehen und dadurch seine weitere Marke zu riskieren, war es ihm noch wichtiger, seine Truppe heil nach Hause zu bringen – die rustikalen Bauernhütten, die ihnen für noch drei Wochen als ebendieses zur Verfügung standen.

Hastig machte sich die geladene Zusammenkunft zuverlässig von Giggles dirigiert daran, die schändlichen Spuren des Verrats in die Taschen zu packen und sich schleunigst auf den Fußmarsch zu begeben. Einer von ihnen löschte das brennende Lagerfeuer, indem er die anderen dazu aufforderte, die sperrigen, noch immer glimmenden Holzscheite einzeln aus dem Feuer zu ziehen und mit einer Flasche Wasser zu überschütten, hinterher machten sich alle gemeinsam daran, die noch verbliebene Glut langsam im Keim zu ersticken, traten mit ihren Kinderschuhen heftig zu.

Mächtig begeistert von ihrer reibungslosen Teamarbeit - selbst Wellvour hob die Hand und schlug mit voller Wucht in den Kreis der Teenies mit ein – grinsten sie breit bis über alle Ohren.

»Das war echt nicht von schlechten Eltern! Bristella, du hast vorne eine Taschenlampe verstaut. Die brauchen wir unbedingt!« Thommyboy zeigte auf den Reißverschluss ihrer Bauchtasche, die sie prompt daraufhin öffnete und zwei Leuchten herausnahm.

Eine behielt sie für sich selbst, die andere drückte sie Peter in die Hände. Verschwörerisch funkelten ihre Augen wie die einer Katze, die eine Maus zum Spielen witterte.

»Das ist unfair! Es war meine Idee«, beschwerte sich der Knabe mit dem mitternachtsschwarzen Haar wie nicht anders zu erwarten. Er war einer von der Sorte, die dachte, alles im Leben stünde ihm unweigerlich zu.

Aber Spencer pflichtete ihm ausnahmsweise bei.

»Ich finde auch, wir sollten abwechselnd mit den Taschenlampen leuchten, damit jeder mal an die Reihe kommt. Es ist ja doch ein ganz schöner Fußmarsch zurück in die Zentrale, so können wir wenigstens sichergehen, dass niemandem der Arm einschläft.«

Kurz herrschte Stille, denn das Mädchen mit dem altmodischen Brillengestell rechnete die exakte Laufdauer im Kopf aus.

Bristella verzog eigenartig ihren rosaglitzernden Mund zu einer schmalen Linie, die Spencer nicht ganz deuten konnte, aber zu ihrer großen Verwunderung befürwortete ausgerechnet Queen B den Vorschlag.

»Abgemacht! Wir führen euch bis zum Fluss und ihr übernehmt den Rest der Strecke durch das Steinmeer.«

Das Steinmeer war eine Bezeichnung, die die Kinder für den Part des Waldes verwendeten, dessen Untergrund aus glatten und imposanten Felsspalten bestand, die einst vor Abermillionen Jahren wie lose schwimmende Bretter im Ozean aus dem Boden aufgeragt und sich natürlich in ihre Umgebung eingegliedert hatten.

Sie waren so ebenmäßig und wunderschön, dass man sich schmächtig und unwürdig in ihrer Mitte fühlte. Dieser von Mutternatur geschaffene Durchgang war völlig unbedenklich zu passieren und kam einer raschen Abkürzung gleich. Von dort aus war es nicht mehr weit bis zu ihrem Ziel.

Die prächtige Weide, auf der das Camp in den späten Fünfzigern errichtet worden war und in den frühen Sechzigern eröffnet hatte, lag direkt dahinter und exakt da wiederum begann die Ackerlandwirtschaft.

Im Süden ging es zum Steinbruch, der schlichtweg einzig wahrhaftigen Touristenattraktion hin, und im Osten gelangte man in das verschlafene Kleinstädtchen Rockfield Due. Es war demnach alles sehr, sehr überschaubar.

Die Menschen hier kannten einander wie in einem Hühnerstall, kamen sich niemals zu nahe, denn wo Obst, Getreide und Rind Hauptnahrungsmittelbestandteil einer Gemeinde bildete, vergaßen die Leute oftmals, dass es noch mehr außerhalb der eigenen Grenzen in der großen weiten Welt gab.

Peter machte seine Sache hervorragend und achtete darauf, dass keiner aus seiner Kameradschaft vom rechten Weg abkam. Wenn alles glatt lief, dann wären die Hütten der Mädchen bereits in wenigen Minuten im Dunklen sicher auszumachen, sie könnten sich hineinschleichen und einfach behaupten, sie hätten schlichtweg vergessen, Zähne zu putzen. Bristella konnte außerordentlich überzeugend sein.

Mr Arnold Spex würde von ihrer Verspätung nichts mitbekommen, und falls doch, würde er eventuell Gnade walten lassen, noch einmal ein Auge zudrücken, da er wenigstens für sicheres Geleit ihrer weiblichen Besucher gesorgt hatte, was ihnen allemal eine gewisse Art der Nachsichtigkeit einbrächte.

Das beruhte zwar nur auf reiner Spekulation, aber wo ein Wille war …

Während die Gruppe ihres Weges entlangmarschierten, möglichst darauf bedacht, weder Unterholz aufzuwühlen, wodurch Tiere erschrecken und ihre nächtliche unerlaubte Anwesenheit im Wald offenbaren würden, hielten sie wie besprochen ihre hellen Taschenlampen abwechselnd im Gleichschritt. Als Thompson an der Reihe war, witterte er seine große Chance.

Jetzt oder nie!

Wellvour blieb urplötzlich stehen und gab keinen Laut von sich. Spencer war die Erste, der auffiel, dass er nicht mehr mit der restlichen Truppe schritthielt.

»Was hast du?« Zunächst völlig unbeeindruckt blickte sie umher, begutachtete eine Hemlocktanne, deren Spitze halb abgebrochen herunterhing und deren Schatten wie das vordere Teil eines Pfeils sich weitläufig über die glatten Felswände erstreckte.

Thommyboy würde gewiss nur trödeln, damit sie alle gewaltigen Ärger kassierten, es schien ihm offenbar gleichgültig zu sein, dass er mit ihnen im selben Boot saß. Aber als sie erkannte, wie er plötzlich am gesamten Leibe zitterte, sich unter Schmerzen krümmte und wandte wie ein glitschiger nasser Aal, stürmte sie auf ihn zu, kam jedoch nicht rechtzeitig, um ihn aufzufangen. Aufgebracht schrie Spencer, dass der Rest von ihnen prompt anhalten sollte, weil sie Hilfe brauchte.

»Ojemine! Sieht nach einem epileptischen Anfall aus. Haltet ihn an den Handgelenken und Beinen fest, damit er sich nicht selbstverletzt«, ordnete Bristella Kumari an, die Herrin der Ruhe selbst.

Mit einer erstaunlichen Souveränität schien sie die Situation unter Kontrolle zu bringen.

Spencer tat wie geheißen. Peter spendete mit seiner Leuchte ausreichend Licht, damit sich Schwester Kumari zu Boden knien konnte, um Wallvour zu untersuchen. Sie kannte sich erstaunlich gut mit solchen Dingen aus, wie Peter Giggles feststellte.

Ob sie ähnlich wie er den Wunsch hegte, einmal Ärztin zu werden?

»Wir müssen dafür sorgen, dass seine Atemwege frei bleiben, bis der Anfall von selbst vorerst ausgestanden ist.«

»Soll ich den Mund öffnen und eine Baumrinde dazwischenschieben, damit Wellvour sich nicht die Zunge abbeißt«, schlug er vor, aber die Einsatzleiterin schüttelte den Kopf.

Ihr langes, seidiges Haar fiel ihr ins Gesicht, doch auch unter dem Vorhang konnte Peter erkennen, dass sie die Lippen schürzte.

»Es kann passieren, dass Betroffene sich wirklich die Zunge verletzen, sogar mit den Zähnen durchstoßen, aber man sollte den Kiefer lieber geschlossen halten, um weitere schwerwiegendere Komplikationen vorzubeugen.«

»Wow. Woher weißt du das alles?«

»Dafür haben wir jetzt keine Zeit!« Spencer, die hilflos daneben wie hypnotisiert an ein und derselben Stelle schwankte, fiel vor Verzweiflung auf die Knie und zog sich eine Schürfwunde zu. Das leuchtende Rosa lenkte sie für einen Augenblick vom eigentlichen Geschehen ab.

Dann richtete sie ihre volle Konzentration wieder auf den zappelnden Thompson Jungen.

Peter Giggles war noch immer so von der intelligenten, dunkelhaarigen Schönheit fasziniert, dass er nicht bemerkte, dass die Taschenlampen allmählich den Geist aufgaben und das Licht dabei war, von der Dunkelheit verschluckt zu werden. Spencer jedoch, die nun ihre Gelegenheit schnupperte, auch einen Teil zur Auflösung der Situation beizutragen, riss ihm das eine leidige Ding aus der Flosse und hämmerte ordentlich gegen den Stocksockel. An einem Wackelkontakt konnte es nicht liegen, es musste die Stromzufuhr sein. Geistesgegenwärtig griff sie die Außentaschen ihrer Hose und zog frische Batterien hervor, die sie immer vorsorglich für den Notfall bereithielt.

»Danke«, flüsterte Peter leicht verlegen und kratzte sich am Hinterkopf. Es war wirklich schwerer als gedacht, auch in kritischen Zeiten cool und gelassen zu reagieren. Er war froh, die beiden Mädchen an seiner Seite als Verstärkung zu wissen.

Das Knacken von Wellvours unkontrollierbarem Kiefer lies alle drei ruckartig aufhorchen und erschaudern.

»Okay, die Kontraktion in der Mundhöhle erweist sich als problematisch. Vergesst, was ich eben gesagt habe, das klang fast so, als wären unter dem enormen Druck ein paar seiner Zähne zersplittert.«

»Ist das nicht egal, ich meine … es sind doch nur Milchzähne? Kann er die nicht ohne Weiteres einfach herunterschlucken?«

Bristella lachte höhnisch auf. »Erklär das mal seinen Eltern. Abgesehen davon hat er schon alle Zweiten. Willst du wirklich, dass das Camp verklagt wird und wegen solch eines zahnlosen Froschmauls am Ende noch schließt?«

»Mein Dad sagt, seine Mutter ist alleinerziehend.«

Kumari wusste allmählich nicht mehr weiter und zog die Nase kraus. »Das tut doch jetzt nichts zur Sache! Packt lieber mit an. Spencer leg deine Hände unter seinen Kopf, nicht, dass er sich noch den Schädel blutig schlägt.«

Peter schlug sich erschrocken die Hände vors Gesicht, nicht aber wegen des Bisschens roter Flüssigkeit, das sie in Kauf nahmen, im Krieg würde er schließlich auch nichts anderes als das zu sehen bekommen, viel eher härmte ihn Bristellas Schlussfolgerung. »Aber das wäre doch Irrsinn!«

»Seine Mom ist auch Krankenschwester. Vielleicht hätte sie dafür Verständnis? Ich meine, wir sind doch bloß Kinder.«

Spencer zuckte mit den Schultern.

»Auch wenn er ein echter Arsch ist, er gehört zu unserer Truppe. Und wir lassen niemanden allein zurück, um unsere eigene Haut zu retten!« Bristellas Stimme war so autoritär wie noch nie zuvor, und Spencer fragte sich, ob ein kleiner Teil ihres alten Ichs noch immer in dieser überschminkten Hülle verweilte.

Sie nickte stumm und schob ganz vorsichtig ihre weichen Hände unter seinen Nacken und fixierte seine müffelnde Rübe, die von kleinem Getier bereits belagert wurde, welches an ihm hochgekrabbelt war. Dann näherte Bristella sich seinem bebenden Kiefer, ihre Fingerspitzen berührten fast seine bläulich angelaufenen Lippen, um diese auseinanderzuschieben. Doch da schoss Wellvour wie ein Roboter hoch und streckte die mit Johannisbeeren überzogene Zunge heraus. Spucke flog ihr wie ein nasser Sommerregen entgegen, und schützend hielt sie sich die Hände vors Gesicht.

»Bäh, Wellvour du bist unmöglich! Wir haben wirklich gedacht, du schwebst in Lebensgefahr!«

Er hielt sich vor Lachen den Bauch. Alle sahen ihn mit gemischten Gefühlen an: Erleichterung, Perplexität und unbändiger Wut.

»Mit so was macht man keine Scherze. Das war völlig unangebracht!«, schnaubte ihn auch Peter an und stemmte dabei beide Hände in die Hüfte.

Thompson, der noch auf der Erde lag, streckte beide Hände nach ihnen aus, damit sie ihm trotz seines kleinen makabren Theaters aufhalfen. Doch da stockte Spencer der Atem und die blasse Kälte puren Entsetzens verscheuchte jedwede Farbe aus ihrem Gesicht.

Ihr wurde ganz schwindelig zumute und ihre Arme sanken zu Boden, als sie ihm versuchte aufzuhelfen.

»B … Blu … Blut. An deinen Händen klebt frisches Blut!«

Mechanismus

 

 

Sein makabrer Scherz kam zwar weniger gut in der Runde an, aber dadurch waren sie auf etwas gestoßen, was sie weitaus mehr zu fürchten hatten als das alberne Gezappel von Thompson, den man als Kind zu viel Süßigkeiten statt Äpfel zu essen gegeben hatte, weshalb er jetzt durch und durch Banane war, wie Bristella befand. Diese persönliche Einschätzung war nicht weiter von Belang, als sie der blutigen Spur mit den schwachen Lichtern ihrer Taschenlampen folgten, um ihren Ursprung zu finden.

»Vorsicht!«, flüsterte Spencer ihr zu und hielt sie erstaunlich fest am Handgelenk zurück.

Bristella stand wie erstarrt da und wagte es nicht zu atmen, so schnell pochte ihr Herz, als sie Spencers Blick mit den Augen folgte und etwas Glänzendes links neben sich im Unterholz des Waldes ausfindig machte. Spencer fiepte wie ein scheues Rehkitz, rang nach Luft und ließ sie bedacht wieder aus ihrer Kehle weichen, als sie die dunkelhaarige Schönheit freigab.

»Das sieht aus wie eine Bärenfalle«, gab Peter seine Beobachtung stocknüchtern preis, als sei er bei jener Erkenntnis ein halbes Jahrzehnt älter und weiser geworden, derart tief klang seine Stimme plötzlich. »Ich habe so ein Modell schon einmal gesehen. Für gewöhnlich liegt in der Mitte ein Köder aus, und sobald man eine Pfote in das Zentrum setzt, schnappt sie ohne jede Vorwarnung zu und fräst sich knochentief in das Fleisch, trifft sogar auf den Widerstand von Knorpeln. Es muss also aktuell ein Jäger zugange sein.«

»So weit, so gut, Schlauberger. Und wo ist dann das Lockmittel abgeblieben? Oder gar der pelzige Vierbeiner?«, gab Thompson zu bedenken, der sich noch immer die feuchte Erde von den Knien wischte und sich mit einer Hand anschließend durch das zottelige Haar fuhr, in dem immer noch ein paar einzelne lose Tannennadeln hingen, als seien sie festlicher Weihnachtsbaumschmuck an den beliebten, verschneiten Feiertagen.

»Womöglich war die Falle noch nicht fertiggestellt und er musste noch mal eben los? Wäre doch denkbar.«

Thompson gluckste.

»Verstehe. Nur mal eben die Schrotflinte wechseln.«

Prompt erstarb das höhnische Lachen, als er selbst einen Moment wirklich darüber nachdachte. »Aber der schießt nur auf Tiere, oder?«

»Jetzt mach dir nicht ins Hemd! Sind ja schließlich nicht alle so Psychos wie du einer bist«, fuhr ihn Bristella ihn an und verdrehte die Augen.

Spencer bückte sich, hob einen schweraussehenden Stein auf und warf ihn direkt in das weitaufgerissene Metallmaul. Wie ein Piranha schnappte das Teil in Sekundenschnelle zu.

Der sonst so gefestigte Peter erschrak so heftig, dass er beinahe rückwärts ausgerutscht wäre. Just in dieser Sekunde fragte er sich zum ersten Mal selbst, ob er tatsächlich Verwundete und Sterbenskranke in Risikokrisengebieten behandeln wollte. Was, wenn er all dem nicht gewachsen war und sich mehrfach vor lauter Angst in die Hose scheißen würde?

»Hey, alles okay bei dir?«, hakte Spencer nach, die seinen grübelnden Blick, den er ungewollt in die Welt entsandte, auffing. »Ich … ähm, ja. Nett, dass du fragst. Ich glaube einfach nur, wir sollten so schnell es geht zurück ins Lager und diesen Vorfall hier vielleicht doch melden. Ist nicht gut, wenn irgendwelche Kids in eine der Bärenfallen tappen.« Wieso hatte er angefangen zu stottern, das kannte sie so von ihm gar nicht. Spencer hatte noch nicht viele Jungen mit ihren fünfzehn Jahren getroffen und tat sich nur sehr schwer damit, was diese wirklich dachten oder fühlten, aber Peter schien freundlich zu sein.

Sie spürte, wie ihre Wangen leicht erröteten.

»Gut, dass keiner von uns hineingestolpert ist.«

Plötzlich meldete sich Bristella zu Wort: »Boah Peikers, musst du immer dermaßen selbstgefällig sein und glauben, dass du alles besser weißt? Niemand wäre so blöd von uns gewesen und hätte dieses Ding da …«, sie zeigte auf das glänzende Teil am Boden und schnaufte lautstark dabei, »übersehen. Ich bin nicht dafür, dass wir Mister Spex davon erzählen, überlegt doch mal, in welch Teufelsküche wir dadurch geraten. Meiner Ansicht nach werden wir zwar so oder so erwischt, denn mal ehrlich, ich bin mir sicher, sie haben wahrscheinlich schon einen Suchtrupp nach uns losgeschickt. Aber ich habe keine Lust, meinen Urlaub hier vorzeitig abzubrechen, nur weil ein Jäger auch mal seinem Job nachgehen muss, um den Kühlschrank zu füllen? Sind wir uns da alle einig?« Sie zog ihre Augenbrauen mahnend nach oben, und niemand verspürte das dringliche Bedürfnis, ihr zu widersprechen.

Der Mann, der diese Naturgewalt an Frau einmal ehelichen wollte, würde mächtig unter ihrem Pantoffel stehen, stellte Spencer insgeheim eine These über Bristellas absehbare Zukunft, verborgen im Stillen auf.

Dennoch fand sie es nicht okay, wie sie ständig mit ihr umsprang. Weshalb hatte sie sich also einen Narren daran gefressen, sie ganz offensichtlich und ohne Scham diesen Sommer so richtig fertigmachen zu wollen? Es war doch nicht wegen dieser Kleinigkeit an Thanksgiving, die gefühlt eine halbe Ewigkeit hinter ihnen lag. Spencer hatte gedacht, diese Geschichte wäre schon längst vom Tisch und hätte sich ein für alle Male erledigt, aber was, wenn Bristella ihr tatsächlich noch immer nicht verzeihen konnte, oder gar wollte? Sollte das auf ewig so weitergehen?

Schon in wenigen Wochen würde das nächste Schuljahr beginnen.

Wäre das Camp nur der Anfang von einer bis ins Erwachsenenalter reichenden Fehde, die niemals enden sollte?

Aber ohne dass sich Spencer dagegen wehren konnte, mochte sie noch so sehr von ihrem eigenen Handeln angeekelt sein, denn sie wusste ja, man goss kein Öl ins offene Feuer, schaltete sie auf Gegenangriff über.

»Hör mal, ohne mich wären deine Chancen, nach diesem zeitweisen Aufenthalt mit der Volleyballmannschaft ins Halbfinale zu ziehen beachtlich geschrumpft, wenn man bedenkt, dass du ausgefallen wärst, wenn dir ein Stück deines Beins fehlt. Und die hochhackigen Treter zum Abschlussball im letzten Senior Jahr könntest du dir auch abschminken! Also sei nicht immer so gemein zu mir! Lass die Vergangenheit ruhen!« Wider jede Erwartung war es Wellvour, der sich plötzlich zwischen den Streithähnen platzierte und versuchte die Situation zu deeskalieren. Keines der Mädchen wollte gerne nachgeben, aber definitiv war es falsch, die Prioritäten so zu setzen, alte Kamellen aufzuwärmen, statt sich um die eigentliche Aufgabe – die Rückkehr zu ihren Hütten – zu bemühen. Bristella, die für gewöhnlich keinen guten Zweikampf ausließ, hielt Spencer als Erste die Hand hin, die diese Geste wiederum, ohne zu mosern annahm.

»War doch gar nicht so schlimm!«, triumphierte der Thompson-Junge und wischte sich erneut die Hände an Baumblättern und einer knorrigen Rinde ab. Er erschauderte leicht, aber das Blut ließe sich noch ohne weiteres Zutun durch heißes Wasser und einem Stück frischer Seife widerstandslos entfernen.

»Wir haben uns geirrt, Leute. Unser Jäger hat den Köder nicht vergessen. Etwas anderes hat sich ihn zuvor geschnappt, ohne dabei den Mechanismus auszulösen«, erregte Peter die Aufmerksamkeit der anderen. Mit dem Licht seiner Lampe fing er etwas ein, was verdächtig nach schweren Fußspuren aussah, die eindeutig weder von einem Menschen noch von einem Tier stammten, welches sie kannten.

»Ihr habt doch nicht mehr alle Latten am Zaun. Was soll das denn gewesen sein? Ein Wolf … ein Grizzly, oh nein wartet, eine von Peikers Lieblingskreaturen, ein hungriger Marsmensch, willst du das etwa damit andeuten?«

Wellvour schnalzte genervt mit der Zunge, woraufhin ihn alle in der eingeschüchterten Runde fixierten.

Bristella, die an ganz andere Gottheiten glaubte als ihre Sommerbekanntschaften, wollte ihm diese Genugtuung, zu offenbaren, dass sie ein kleines bisschen Angst besaß und deshalb alles Menschenmögliche tat, um diese Gefühle zu unterdrücken, nicht gönnen, weshalb sie ihm mit ihrer Leuchte ins Gesicht strahlte. Er kniff die Augenlider heftig zusammen und verstand, dass der Bogen spätestens jetzt überspannt zu sein schien.

»Ich bin dafür, dass wir trotz der Standpauke und der nicht dürftig ausfallenden Konsequenzen unserer Pflicht Genüge leisten und diesen Befund umgehend melden sollten«, Giggles räusperte sich bedeutungsschwanger, »wir können dabei außenvorlassen, wann wir genau auf die Falle gestoßen sind. Das ist nicht lügen, wir verschweigen bloß ein winziges Detail.«

»Aber die volle Wahrheit ist es auch nicht.«

»Spencer! Jetzt sei nicht immer so dermaßen überkorrekt. Das hängt einem ja schon zum Halse raus, probier‘ mal eine neue Platte aufzulegen und schließ dich dem Strom der Masse an. Sind wir alle damit einverstanden, dass wir den Zeiger um zwei Stunden zurückdrehen? Sollte man uns erwischen, behaupten wir alle einfach felsenfest, wir hätten so etwas wie einen Schrei vom Camp aus gehört und wollten nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist, um sicherzugehen, dass sich unsere Befürchtungen, einem der anderen Kinder im Ferienlager sei etwas Fürchterliches zugestoßen, nicht bewahrheiten.«

Jetzt war es das Mädchen mit der Brille, welches seine Erzfeindin – wenn man sie so nennen wollte – mit Freude gerne geblendet hätte, aber sie tat es nicht.

Stattdessen starrte Spencer zum Neumond hoch ans mitternachtsblaue Fundament, horchte tief in sich hinein, verpasste ihrem schlechten Gewissen einen Tritt in den Allerwertesten. Auch sie konnte es sich nicht leisten, vom Lager ausgeschlossen zu werden, so wäre ihre einzige Alternative Tante Orkly in Ohio zu besuchen, und das war wirklich zum Davonlaufen. Die Schreckschraube war mehr als nur gottesfürchtig, sie hielt Spencer mit ihrem Hang zum wissenschaftlichen Interesse und der unvorteilhaften Frisur, die sich für ein frommes Mädchen nicht zierte, für eine Perversion, etwas Unnatürliches. Deshalb nickten sie alle einverstanden und machten sich schweigend daran, die restliche Route so schnell es ging entlangzumarschieren, das Beste zu hoffen. Der Ruf eines Kauzes im dichten Geäst, die fiesen finsteren Schatten der Kiefern und die frische Nachtluft begleiteten sie bei ihrem Vorhaben, während die Kids ihrem Ziel immer näher kamen - mit der Halbwahrheit im Gepäck und leeren Mägen.

Denn nicht nur, dass sie sich allesamt insgeheim fürchteten und ihnen das ein flaues Gefühl in den Bäuchen, ein echtes Unwohlsein, bereitete, sondern auch ihr langer Aufenthalt in den Morningstars hatte dafür gesorgt, dass sie ihr tägliches Abendbrot verpasst hatten und zur Strafe hungrig ins Bett geschickt werden würden.

Wieso habe ich mich nur darauf eingelassen? Aber andererseits, das war meine Chance darauf, Freunde zu finden. Trotzdem, das alles fühlt sich nicht richtig an, schalt sich Spencer selbst. Unter Garantie würde sie das verbotene Treiben bitter bereuen. Und wozu? Sie war stets darauf stolz gewesen, wer sie war, was sie auszeichnete. Aber wem nützte es, kantig und geradlinig zu sein, wenn man in keinen Kreis aufgenommen wurde?

Hätte sie doch nur auf ihr inneres Bauchgefühl gehört und ihrer Mutter widersprochen, als diese meinte, es würde ihr da sicherlich gefallen und ganz leicht für sie sein, neue Bündnisse zu schließen. Dann hätte sie für ein anderes Sommerprogramm plädiert, was dazu geführt hätte, dass sie nicht schon bald knöchelhoch im Kuhmist sitzen werden würde.

Spencer Peikers strahlte bis über beide Ohren hinweg, als man sie mit der Taschenlampe vorauslaufen ließ und Peter ihr bei der Rückkehr auf die Schulter klopfte, sich gegenseitig angrinsten, da offenbar ihr Verschwinden unentdeckt geblieben war, ehe sich die Jungs von den Mädchen wie die Spreu von Weizen trennten. Allerdings würde ihnen das Lachen noch gehörig vergehen …

 

 

The Show must go on!

 

 

Während Bristella ihr neues Kleid überstreifte, das mit dem gewagten Groove Muster, entschied sich Spencer für einen weiten Jumpsuit aus Cord.

Heute war ein ganz besonderer Tag, Mittwoch. Zunächst dürfte dies nicht ungewöhnlich klingen, aber die goldene Mitte der Woche wurde dazu genutzt, zu zelebrieren, wer man außerhalb der Freizeitunterbringung für Jugendliche war. Man zeigte Bilder von den Häusern, in denen man lebte, Aufnahmen von den geliebten Haustieren oder ein Familienporträt, erzählte sich gegenseitig davon, was man für Hobbys pflegte und was man einmal später beruflich machen wollte. Das taten alle selbst Wellvour, der maßlos mit allem übertrieb, sodass auch ja schön ein jeder davon überzeugt wurde, dass aus ihm mal eine große Nummer werden würde. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm nicht. Heute jedoch hatte Mister Spex eine ganz besondere Aufgabe für seine Schützlinge vorbereitet. Er wollte von den Kindern, dass sie sich einen Partner suchten und zusammen ein kleines Schauspiel einstudierten. Jeder sollte in die Rolle des jeweils anderen schlüpfen. Damit strebte er an, das natürliche Verständnis füreinander zu stärken. Obwohl der bereits graumelierte Mann mit dem kräftigen, kantigen Kiefer und den scharfen Wangenknochen noch immer die Werte aus einer anderen Zeit mit sich herumtrug wie Ballast, den man nie loswurde, beschränkte er sich nicht nur auf ebenjene. Er wollte verstehen, weshalb sich die jetzige Generation so anders verhielt in Relation zu seiner eigenen. War es der Umstand, dass sie selbst nicht miterlebt hatten, wie hart das Leben damals gewesen war? Sie hatten gut lachen, erfreuten sich eines lauwarmen Sommers, während er zu seiner Jugend die Weltwirtschaftskrise am eigenen Leibe miterlebte, hautnah, dürr bis auf die Knochen mit einem Vater, der nicht nur seinen Job verloren, sondern sich aufgrund einer Depression die Schrotflinte an die Schläfe gesetzt hatte, und einer Mutter mit sechs Kindern, von denen vier diese Epoche nicht überstanden hatten.

Mister Arnold Spex ertappte sich gelegentlich dabei, wie er sich wünschte, mit seiner Schwester Tamarah tauschen zu können, denn sie hatte er immer von allen am meisten gemocht, aber sie starb an einer Infektion, und Mutter hatte nicht genug Rücklagen besessen, um die Kosten für Medikamente zu decken. Also ließ er sie jeden Tag, obwohl das alles schon so lange her war, Stück für Stück gehen. Verstaute die Erinnerung an sie samt einer unsichtbaren Kiste mit seinen Gefühlen darin in die hintersten Winkel seines Verstandes. Verschloss sein Herz und ging für eine Weile fort aus seinem Heimatort, wollte den Börsencrash für immer vergessen, weshalb er in Colorado strandete, um dort neues Glück zu finden. So war er hier gelandet.

Kurz darauf war er seiner Frau Misha begegnet, die anders als er nicht aus Staten Island stammte, sondern in Denver aufgewachsen war und dort Sozialarbeit studiert hatte. Weil sie selbst keinen Nachwuchs bekommen konnten, wollten sie an einem Projekt arbeiten, das Kindern zugutekam. Ihnen die kostbare Chance ermöglichen, ihre Alltagssorgen zu vergessen und einfach nur Kind sein zu dürfen. Dann stieß er auf die Annonce im Zeitungsblatt. Die Stelle bekam er ohne große Einwände, wenngleich sich dieses Unterfangen als wesentlich komplizierter erwies als gedacht, denn wer selbst nie welche sein Eigen nennen konnte, ahnte eigentlich gar nicht, wie viel Arbeit und Dreck sie produzierten.

Arnold Spex war der Ansicht, nur durch eine strenge Hand, Zucht und harte Konsequenzen konnte man aus ihnen Charaktere formen, die Stürme, tobende Wellen und ja, selbst so etwas wie Armut und Krieg überstehen konnten. Womöglich hatte er sich so sehr in seiner eigenen Vorstellung seines verzagten Vaterglücks verloren, dass er damit aufhörte, die Bengel als Teil seiner Arbeit zu betrachten, Empathie zu ihnen aufbaute, wodurch er dem Drang folgte, sie vorbereiten und trainieren zu wollen, damit sie nichts im Leben so einfach vermochte, umzuhauen. Arnold Spex empfand es als seine persönliche Mission, dort einzuschreiten, wo ihre Papas und Mamas an ihre Grenzen stießen und aus Bequemlichkeit kapitulierten.

»Ich will einen anderen Partner«, moserte Amber Becks, deren kupfergüldenes Haargestrüpp mit einer Klammer zurückgesteckt war, und deren Kleid neue Nähte gebrauchen könnte, als man sie Peter Giggles zuteilte, der über ihre Beschwerde äußerst verwirrt dreinblickte. Soweit Spencer das beurteilen konnte, hatten die beiden zuvor noch nie ein nennenswertes Wort miteinander gewechselt. Woran lag es also, weshalb hegte sie solch eine Abneigung gegen ihn?

»Hier wird nicht einfach getauscht! Keine Diskussionen, Fräulein! Das gilt auch für alle anderen. Ist das klar?«

»Ja«, riefen die achtzehn Kinder im Chor.

Natürlich ging die Rechnung mit dem Zweiergespann nicht reibungslos auf, aber auch hierfür hatte er eine Lösung parat.

»Mister Thompson, Mister Norris und Miss Kumari. Sie bilden unser einziges Dreierteam.«

Spencer atmete erleichtert auf, als sie hörte, dass sie jemandem zugeteilt wurde, mit dem sie sich keine kritische Vergangenheit teilte.

»Was guckst du denn so, Brillenschlange?« Zugegeben, ihr neuer Partner Patt Miller war auch kein Hauptgewinn, aber den musste sie höchstwahrscheinlich nach diesen paar Wochen eh nie wieder sehen, da er gar nicht von hier stammte, sondern nach dem Erreichen des Ablaufdatums seines Aufenthalts zurück nach Fort Collins abreisen würde, und dort durfte er auch bleiben, wo der grüne Pfeffer wuchs!

»Wisst ihr, was mich so richtig nervt? Euer kindisches Verhalten!« Spencer war sonst nicht von der Sorte, die direkt ansprach, was sie tatsächlich störte, weil sie stets bemüht war, das Gleichgewicht zu halten. Das entsprach ihrer konfliktscheuen Art, weil sie schon früh gelernt hatte, dass es sich als äußerst schwierig erwies, Kleingeister vom Gegenteil zu überzeugen und sie damit nur ihre kostbare Zeit vergeudete, aber jetzt war ihr der Geduldskragen geplatzt.

»Verstehst du keinen Spaß, oder was?«

Sie entschied sich dazu, nicht näher auf die Provokation des Burschen einzugehen, der immer leicht aufgedunsen aussah und auch sonst einen kränklichen Eindruck machte. Wer wusste schon, was sich zu Hause bei ihm abspielte, dass er es nötig hatte, alles an ihr auszulassen. Das stellte natürlich keine Rechtfertigung dar, aber Spencers Empathie reichte selbst für den größten Volltrottel aus, und das war ausnahmsweise nicht dieser charmante Herr hier, sondern jemand, von dem sie insgeheim hoffte, er käme auf die Idee, sein Verhalten zu überdenken und sich nicht immer gar so danebenzubenehmen.

»Schluss! Genug der lächerlichen Zankerei. Wir sind hier nicht zum Vergnügen, sondern wollen uns etwas erarbeiten, was sich später einmal in eurem Leben als nutzbringend herausstellen soll.«

Nacheinander führten die Kids ihre improvisierten Stücke auf, in denen sie jeweils ihr Gegenüber widerspiegelten und imitierten. Manches war sehr lustig, so sehr, dass selbst der Gehörnte es auf die leichte Schulter nahm, und im Großen und Ganzen wurde die Gürtellinie nie unterschritten. Es hatte etwas Spielerisches und auch Albernes an sich, was sich aber schon bald ändern sollte, als das Trio die Bühne betrat. Schon bevor es richtig losging, stellte Kumari Thompson ein Bein. Dieser schlug dermaßen hart auf dem frisch gebohnerten Fußboden der Tribüne auf, dass alle um sie herum hörbar die Luft einsogen und man befürchtete, ein halbes Dutzend Zähne seien ihm beim Aufprall aus dem quakenden Maul gesprungen. »Was sollte das, du dumme Gans?!«

Bristella zuckte gelassen mit den Schultern.

»Ich versuche nur, mich in meine Rolle einzufinden.«

James Norris, von dem man in der Regel wenig sah und noch weniger hörte, half Wellvour wieder auf und begab sich dann direkt aus der Schusslinie – kluges Kerlchen, wie Peter Giggles befand, der mit seiner Spielpartnerin großes Glück gehabt und die ganze Prozedur bereits hinter sich gebracht hatte. Auch wenn er Bristella mochte, sie vielleicht sogar als Freundin bezeichnen würde, und der Lockenschopf es eindeutig verdiente, dass sich auch andere gegen ihn behaupteten und ihn bare Münze für sein Verhalten heimzahlten, fand er doch, die Aktion, ihn so vor allen zu demütigen, ging einen Schritt zu weit. Rund sechsunddreißig Paar Augen, die auf ihm ruhten, kontinuierlich dabei zusahen, wie sich sein blasser Hautton ungesund purpurn färbte und er sich vor Zorn auf die Unterlippe biss, bis an diesem Punkt eine kleine Kluft aufklaffte, verwirrten ihn. Fragend suchte er Spencers vertrauten Blick, doch diese starrte nur wie gebannt auf das Spektakel, regte sich nicht in ihrem Sitz und für eine Sekunde lang befürchtete er sogar, sie hätte vergessen, wie man Sauerstoff inhalierte. Mister Spex griff ebenfalls nicht ein, sondern wies mit einer raschen Handbewegung an, dass die Gruppe fortfahren sollte.

Das wollte Thompson nicht auf sich sitzen lassen »Seht mich an, ich bin ja so exotisch und was ganz Besonderes, habe schon die Hälfte der Welt bereist, bis sich meine Eltern dazu durchgerungen haben in diesem …«, er zögerte kurz und langte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn, »wie nennst du das hier noch gleich?« Er schnippte mit den Fingern und setzte ein diabolisches Grinsen auf, als es ihm wieder einfiel. »Ach ja, Kuhkaff … ein Haus zu kaufen und mitten in der Pampa vor Langeweile zu versauern. Aber Moment mal, betet ihr diese dreckigen Viecher nicht an?«

Ihre Augen sahen ungewohnt wässrig aus, als sie sich an den Campleiter wandte. »Das war rassistisch! Unternehmen Sie doch was. So darf man nicht mit anderen Menschen sprechen.« Für einen flüchtigen Moment wirkte es so, als sei der erwachsene Mann nicht derselben Auffassung, als teilte er die gleichen schwachsinnigen Gedanken wie das Kind, dessen angeborenes loses Mundwerk einfältig daherredete, wenn es nicht das bekam, was es wollte.

Doch dann beugte er sich in seinem Sitz vor, das raue Mokka glänzende Leder begann unter seinem festen Griff zu quietschen.

»Ich würde es sehr begrüßen, Mister Thompson, das gilt natürlich auch für alle anderen Anwesenden in diesem Raum, wenn sich das schauspielerische Talent und die damit einhergehenden Argumente und Imitationen ausschließlich auf reine Charaktereigenschaften beziehen würden. Und nun fahren Sie fort!«

Sein Gerede überzeugte die große breite Masse, doch Spencer vernahm den bitteren Unterton einer hauchfeinen, aggressiven Note in seiner Aussprache. Bislang hatte sie sich kaum Gedanken um ihn gemacht, darum geschert, welch Moral er vertrat, doch das ließ sie aufhorchen.

Vielleicht war sie demnach auch nur feinfühlig, da es sie selbst hätte betreffen können, denn auch sie hatte Wurzeln anderen Ursprungs, wodurch sie nicht weniger vor verbalen Attacken gefeilt gewesen war als jeder andere, der nicht zu einhundert Prozent reiner amerikanischer Abstammung war. Dabei lebte Spencer schon ihr gesamtes Leben in den Vereinigten Staaten. Ihre Ururururgroßeltern waren britische Zuwanderer, wenngleich von ihrer Kultur nicht mehr viel übriggeblieben war, so geschickt hatten sie sich angepasst.

Es waren die frühen Sechziger und im Süden des Landes herrschte fortwährend angewiesene strikte Rassentrennung. Schwarze durften nicht neben Weißen in einem öffentlichen Restaurant sitzen, wurden nicht zu Wahlen zugelassen und auch sonst wollte man deren Kinder noch nicht einmal eine Kugel Eis verkaufen.

In ihrem Herzen breitete sich eine tiefe Traurigkeit aus, etwas, von dem sie bisher angenommen hatte, es könne sie nicht in ein finsteres Loch reißen, ihre Gedanken in den Abgrund stürzen, weil es sie zum Glück nicht selbst in diesem Ausmaße betraf, doch da irrte sie sich gewaltig. Innerlich bebte sie so sehr, dass ihre Hände zu zittern begannen und sie Mister Spex mit ihren wütenden Blicken fixierte, der allerdings keine Minute darauf verschwendete, ein klappriges Mädchen von der Seite zu betrachten, welches ihn nicht beschäftigte.

Gerade als das zornig dreinblickende Mädchen zum Gegenschlag ansetzen wollte, um Thompson die Leviten lesen zu lassen, fiel der Strom in der Halle aus. Die Umgebung wurde in tiefstes Schwarz getaucht, da die Vorhänge alle samt zugezogen waren. Mister Spex, der sich von seinem Sitzplatz aus der ersten Reihe erhob, wollte dieses kleine unerfreuliche Malheur bereinigen, indem er nach dem Rechten sah, doch just in dieser Sekunde versetzte etwas alle Anwesenden in panisches Kreischen.

Aus dem rechteckigen Kasten, der an einer Theatersäule befestigt gewesen war, sprühten grelle, zischende Funken. Die Sicherungen waren herausgesprungen und binnen von Sekunden durchgeschmort, wie Peikers stark vermutete.

»Nolite timere«, versuchte sie die aufgeschreckte Meute zu beruhigen und kletterte über den Vorsprung.

Dass sich nur einen Meter neben ihr eine kleine Treppe befand, hatte sie in all der Aufregung und Dunkelheit nicht registriert. James, der vor lauter Schreck zurückgewichen war, hatte sich im schweren dunkelgrünen Samtstoff des Bühnenvorhangs verheddert. Gewaltsam kämpfte er dagegen an, was nur zur Folge hatte, dass er halb aus seiner Verankerung herausgerissen wurde. Erneut schrie irgendwer, doch sie konnte nicht ausmachen, um wen es sich hierbei handelte. Sie steuerte den Stromverteilerkasten an, hielt sich schützend eine Hand vors schwitzende Gesicht, damit die funkensprühende Elektrizität ihr nicht die Haut versengte. Mit der freien Hand zog sie sich ein kleines Taschenmesser aus der Hosentasche, welches sie von ihrem Onkel aus Deutschland geschenkt bekommen hatte, als er das letzte Mal zu Besuch in den Vereinigten Staaten gewesen war. Danach ging er auf große Weltreise. Seither schickte er vier Mal jährlich Postkarten von überall und nirgendwo. Es würde ihr jetzt gute Dienste erweisen müssen, um die angespannte Lage aufzulösen.

Souverän meisterte Spencer diesen unerfreulichen Zwischenvorfall, indem sie nichts weiter tat, als die Enden wieder miteinander zu verbinden. Sie nahm sich der Herausforderung an und sorgte dafür, dass sie die bunten Kabel crimpte und einen provisorischen Quetschverbinder anbrachte. Dieses Verfahren hatte sie schon unzählige Male durchgeführt, daher war es ihr ein Leichtes. Das hitzige Sprühen erlosch zeitnah und nach wenigen Sekunden setzte sich der Strom wieder in Kraft. Zufrieden klappte Spencer die Abdeckung des Kastens wieder zu und verstaute ihr unscheinbares Werkzeug zurück in der Gesäßtasche.

»Das sollte sich aber noch einmal ein Fachmann ansehen. Der Kurzschluss sieht nicht so aus, als wäre er durch eine Überlastung hervorgerufen worden. Eher als stimme etwas mit der Leitung nicht«, gab sie gut hörbar für alle kund.

»Puh! Das war ja was«, stöhnte Bristella erleichtert auf und stieß zu Spencer. Seltsam, Queen B schenkte ihr einen anerkennenden Blick und auch Wellvour legte ihr eine Hand auf die Schulter, nickte ihr zu. »Hast du gut gemacht!«

Aber Mister Spex sah das ganz anders, als er ebenfalls einen Fuß auf die Bühne setzte.

»Junges Fräulein, ich hoffe schwer für Sie, dass Sie sich darüber im Klaren sind, wie gefährlich Ihr egoistisches Verhalten war.«

Spencer wich jedwede Farbe aus dem Gesicht. »Aber ... ich wollte doch bloß …« Das Mädchen wusste nicht, ob es lachen oder weinen sollte.

»Dem mag vielleicht so sein, aber stellen Sie sich doch nur einmal vor, wie das hätte ausgehen können, wäre etwas schiefgegangen. Man hätte mich … ich meine natürlich das Camp verklagen können, wäre Ihnen etwas Ernsthaftes bei diesem waghalsigen Unterfangen zugestoßen. Sie werden nun unverzüglich unsere Krankenschwester Miss Quarley aufsuchen und sich gründlich durchchecken lassen. Ist das klar?!«

Spencer konnte seine Reaktion immer noch nicht fassen, aber was blieb ihr anderes übrig, als seine Entscheidung hinzunehmen? Es war so ungerecht. Sie hatte doch bloß nützlich sein wollen – zum Wohle aller. Aber als sie gerade entrüstet davontraben wollte, um seiner Anweisung Folge zu leisten, war es ausgerechnet Peter, der ihr einen Strich durch die Rechnung machte.

»Verzeihen Sie, Sir, aber als das Licht wieder anging habe ich eine Zählung durchgeführt und …« Er wurde leichenblass um die sommersprossige Nase.

»Ja und was? Jetzt tun Sie nicht so geheimnisvoll, Mister Giggles.«Er schluckte hart. Seine Kehle fühlte sich urplötzlich trocken wie die Sahara an. Nur ein Wimpernschlag war vergangen, dann zeigte er auf die Stelle, an der der Samtvorhang am unteren Saum in Fetzen lag.

»Norris, James Norris ist spurlos verschwunden.«

 

Idealist

 

 

Zur selben Zeit in etwa - nur einen

großen Hügel weit entfernt)

 

Grayham Polanski war keiner jener Menschen, die mit Zynikern etwas anzufangen wussten, wenngleich er eine geheiratet hatte, die noch dazu aus gutem Hause entsprang. Er selbst war stets ein Träumer, ein regelrechter Romantiker gewesen, was er zu keinem Zeitpunkt zu verstecken versuchte. Die Liebe zur süßen Seite des Lebens hatte ihm großes Ansehen beschert und zu einem wohlhabenden Mann gemacht. Fast die halbe Welt hatte er schon bereist, Schlösser, Burgen und Paläste gesehen, an Land wie auch versunkene im Meer, weshalb er sich umso mehr wunderte, dass seine Gemahlin darauf bestand, sich an einem ruhigeren Ort niederzulassen. Doch dann dämmerte es ihm. Sie hatte sich gewandelt, war dem vielen Umhertreiben ohne festen Wohnsitz – ohne echtes Zuhause – überdrüssig geworden, und das war nicht die einzige Veränderung, auch ihr Körper begann zu reifen. In ihr wuchs das Wunder des Lebens heran. Deshalb kam er ihrem Wunsch nach und kaufte ein hübsches Häuschen, aber nicht irgendeines, es sollte ihrem Traumheim entsprechen, damit sie sich dort sicher und geborgen fühlte, im Mutterglück erblühen durfte. Aber als sie ihn darum bat, das alte Santa Sameville Anwesen zu erstehen, fröstelte es ihn. Grayham Polanski schien ein klein wenig abergläubisch im Vergleich zu seiner Marry-Ann, die von Tag zu Tag noch schöner wurde, zu sein. Durch den Zuwachs an Hormonen bekam sie seidenweiche Haut und eine rosige Ausstrahlung, wie sie nur werdende Mütter versprühten. Sonnig, warm, beschützend und voller echter Liebe. Also erfüllte er ihr alles, wonach sie sich sehnte und unterschrieb den Kaufvertrag.