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Viele dunkle Geheimnisse lagern in den kalten Katakomben Saramees. Manche von ihnen sollten für immer versiegelt bleiben, doch was der wiedererstarkende Todeskult der Tänzer am Abgrund im tiefsten Schatten treibt, nagt an den wenigen Stricken, die Recht und Ordnung in Saramee zusammenhalten … Protagonisten Gwendis Lerii Maneth Rogan Talek Falen Indira Die alte Brachte Die Edle Maid Barella Sen Hora Blutblume Meister Eobrah Harim Para Hollar Irikon Drosa Jaane Drosa Joland Kaiser Enerian der Siebente Katta Tausendgesicht Uba Taler Ulai Völker in dem Roman Mensch
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Veröffentlichungsjahr: 2014
Saramee - Stadt der Vertriebenen
Tänzer am Abgrund
Autorin: Sylke Brandt
Saramee Band 12
Schatten der Vergangenheit
Gwendis saß an einem kleinen, abgewetzten Tisch direkt am Fenster, sodass sie hätte hinaus auf die Gasse sehen können. Aber nur, wenn das schmierige Gitterwerk in dem Rahmen – das in zivilisierten Gegenden eine Scheibe aus Glas geziert hätte – nicht von Staub und den längst verlassenen Weben irgendwelcher Insekten nahezu verklebt gewesen wäre. Wenn nicht auf der Straße seit einer Stunde die Dunkelheit geherrscht hätte, die sich nach der kurzen Dämmerung über die Gassen dieser Stadt legte wie eine allzu warme Decke. Und wenn irgendetwas dort draußen auf den Wegen ihrer Aufmerksamkeit Wert gewesen wäre. Doch so wie es war, würdigte die Frau mit dem grauen Haar das Fenster keines Blickes. Manchmal wehte ein Hauch frischer Luft herein – oder eben das, was in dieser stickigen Stadt dafür gelten musste – und trieb in stillem Ringen den weinschweren Dunst des Schankraumes zurück. Geräusche folgten: Das fast heimliche Wispern gedämpfter Stimmen, wohl eher das Gespräch von Halsabschneidern als von Liebenden. Das verstohlene Klimpern von Münzen und ein plötzliches, hartes Lachen über einen Witz, der in dem Geraune der anderen Stimmen untergegangen war. Ein Ruf, ein Fluch, das Kreischen eines halbzahmen Urwaldvogels, der jetzt auf der Schulter eines Menschen durch eine ganz andere Art von Dschungel getragen wurde. Zuweilen waren die Sprachen fremd, Reisende auf ihrem Weg durch ein Viertel der Stadt, das sie besser meiden sollten. So wie man besser diese ganze Stadt mied, wie Gwendis nach kurzem Nachdenken zugeben musste. Und doch war sie hier.
Die Frau seufzte und lehnte sich auf dem Hocker zurück, bis ihr breiter Rücken an der bröckelnden Wand eine verlässliche Stütze fand.
Und doch bin ich hier, wiederholte Gwendis in Gedanken, drehte die Worte hin und her wie ein komisches Tier, das es gar nicht geben durfte. Saramee war so vieles, was sie verabscheute und meiden wollte, aber trotzdem hatte es sie wieder hierher verschlagen. Aus guten Gründen, ja. Aber wie gut konnten sie sein, um einen Aufenthalt in dieser Stadt zu rechtfertigen? Vor allem, wenn der Grund sich zu ihrem Treffen so sehr verspätete?
Gwendis seufzte noch einmal, griff nach dem Krug mit ihrem mittlerweile warmen Getränk und schnippte den Deckel zur Seite. Die Fnossel, die sich hoffnungsvoll am Rand versammelt hatten, stoben lautlos davon. Misstrauisch spähte Gwendis in ihren Becher, bevor sie ihn noch einmal füllte. Nachdem sie anfangs ein paar Mal vergessen hatte, dass in Saramee die Worte Insekt und überall das gleiche bedeuteten, waren – zu ihrer beider Entsetzen – in Wein eingelegte Flieger ihr unfreiwilliges Abendessen gewesen. Jetzt verschloss sie den Krug gleich wieder sorgfältig, trank und legte dann eine Hand über ihren Becher. Gelassen nahm sie ihre scheinbar entspannte, halb liegende Position wieder ein. Die Blicke, die die anderen Gäste ihr immer wieder zuwarfen, ignorierte Gwendis mit geübter Leichtigkeit. Selbst in einer Spelunke wie dieser fiel sie auf mit ihrer Größe und ihren breiten Schultern, die sich unter dem Stoff des Hemdes abzeichneten. Auch das Schwert, das neben ihr am Tisch lehnte, gab wohl genug Stoff für Getuschel. Es war groß und aus den nördlichen Landen, anders als die geschwungenen Klingen, die hier so verbreitet waren. Es brauchte kräftige Hände und Arme, um es effektiv zu führen, und Gwendis hatte beides. Dass niemand der Gaffenden zu ihr hinüber schaute, um die Schönheit ihres Gesichtes zu bewundern, störte sie wenig. Sie wusste selber, wie sie aussah. Der Gedanke malte ein schmales Lächeln auf ihre Lippen und sie blickte sich aufmerksam in dem Raum um.
Es ist einfach, nachts allein in einem kalten Bett zu schlafen, wenn die eine Hälfte aller Männer mir mittlerweile wie Kinder erscheint, die andere wie ein Haufen alter, halb zahnloser Lustgreise, dachte sie mit bitterer Belustigung. Wo waren die Männer geblieben, nach denen sie in ihrer Jugend geschmachtet hatte? Einige von ihnen hatten auch graue Schläfen gehabt und die Erfahrungen mancher langer Jahre im wettergegerbten Gesicht. Waren sie alle ausgestorben, jetzt, wo Gwendis selbst in diesem Alter war? Sie schüttelte den Kopf und trank noch einen Schluck. Vermutlich lag es auch an dieser Kneipe – wer unter einem Stein nachschaute, musste sich nicht wundern, dort Asseln und Würmer zu finden.
»Ist dieser Platz noch frei?« Die Frage riss Gwendis aus ihren mit Erinnerungen vermischten Überlegungen. Ein Junge stand neben dem Tisch – ein junger Mann, verbesserte sie sich sofort. Er war vielleicht um die zwanzig Jahre alt und auffallend hübsch, mit dunklen, langen Haaren und hellen Augen. Das Lächeln, mit dem er die Schwertfrau bedachte, war wie ein Licht. Gwendis unterdrückte den Impuls, die Geste zu erwidern und wies schroff auf den Stuhl, auf dem sie ihre Stiefel abstützte.
»Wonach sieht das aus?« Es gab keinen besseren Weg, um einen Platz frei zu halten, als die Füße darauf zu legen. Besonders, wenn man durch die vom Abendregen durchweichten Straßen gegangen war. Der junge Mann schien den Wink nicht zu verstehen.
»Nach einer Einladung«, antwortete er fröhlich. Er griff nach der wackeligen Lehne des Stuhls und zog daran, doch Gwendis verstärkte einfach den Druck ihrer Beine und das Möbelstück bewegte sich keinen Fingerbreit. Der Fremde machte ein halb belustigtes, halb besorgtes Gesicht.
»Das ist allerdings ein schlechter Anfang für unser Gespräch. Soll das heißen, ich muss stehen bleiben, Gwendis? Und bekomme auch nichts von deinem Wein?«
Für einen Moment war Gwendis verblüfft, dass dieses Jüngelchen offensichtlich der Mann war, auf den sie gewartet hatte. Dann nahm sie mit einer raschen Bewegung, die ihr graues Haar Lügen strafte, die Beine von dem Stuhl und nickte.
»Setz dich, Maneth. Und es wäre eine Höflichkeit, wenn ich dir nichts von diesem Zeug anbieten würde. Ich weiß nicht, aus welchen vergorenen Abfällen sie es herstellen und ich bin auch ganz froh darüber.« Sie nahm den zweiten Becher, der auf dem Tisch wartete, und füllte ihn aus dem Krug. Dann schob sie ihn zu Maneth hinüber, der sich zu ihr gesetzt hatte, als wären sie alte Bekannte.
»Noch vor einem Monat hätte mir Rogan einen prallen Beutel mit Gold in die Hand gedrückt, hätte ich ihm erzählen können, dass du wieder in Saramee bist«, begann er, trank und verzog leicht das Gesicht, ehe er einen zweiten Schluck nahm. »Er hat die Beschreibung von dir und deiner … Freundin überall herumgehen lassen. Silber für eine Spur, Gold für einen Kopf und mehr noch, wenn er euch lebend bekommt. Aber dann hat er seine Meinung irgendwie geändert.« Der Mann neigte den Kopf zur Seite, als würde er auf eine Antwort lauschen. Gwendis lachte leise.
»Ich weiß. Aber wir haben ihn zuerst gefunden. Und mit ihm geredet. Und dann hat er seine Meinung geändert.«
»Was mich freut«, ergänzte Maneth und schaffte es, dass es aufrichtig klang.
Eine Seidenzunge, dachte Gwendis belustigt. Und eine gute.
Maneth lächelte, als wüsste er, was sie dachte. Dann wurde er übergangslos ernst.
»Aber die Priester werden sich nicht so einfach davon überzeugen lassen, Euch nicht mehr zu verfolgen. Es heißt, sie haben nicht nur einige ihrer Tempelkrieger verloren, sondern auch welche von den Weihrauchschwenkern und Sprücheflüsterern. Und einen Schatz, den ihr gestohlen habt.« Wieder schwieg er auffordernd, aber als Gwendis diesmal stumm blieb, überspielte er die Stille mit einem weiteren Schluck aus seinem Becher.
»Ich würde es bedauern, wenn sie euch erwischten«
»Oh, da haben wir etwas gemeinsam. Ich auch.«
»Nicht die einzige Gemeinsamkeit, die wir haben«, bemerkte Maneth und zwinkerte Gwendis zu, sodass sie mit Mühe ein Lachen unterdrücken musste. Schattenspinnerin, konnte es sein, dass der junge Bursche versuchte, ihr schöne Augen zu machen? Sie dachte keinen Moment daran, dass er es ernst meinen könnte, aber es tat ihr trotzdem wohl. Fast gegen ihren Willen musste sie gestehen, dass sie den Jungen mochte. War das nun eine gute oder eine schlechte Basis für ein Geschäft?
»Dann hast du also das, wonach wir suchen?«
»Natürlich ja und natürlich nein. Ich weiß, wo ihr es finden könnt und kann euch ziemlich genaue Angaben machen. Aber meine Fertigkeiten sind, verglichen mit euren, zu gering, um es selber zu beschaffen.« Maneth hob die Hände, als hätte Gwendis ihm einen anklagenden Blick zugeworfen. »Ich bin kein guter Fassadenkletterer und meine Finger sind zu ungeschickt für Schlösser«, verteidigte er sich mit so aufrichtigem Blick, dass die alte Schwertkämpferin ihm kein Wort glaubte. »Ich habe … andere Talente.«
»Mit Sicherheit«, kommentierte Gwendis trocken. Sie sah, dass ihr Becher schon wieder leer war und kam zu dem Schluss, dass es sich nicht lohnte, ihn nachzufüllen. Sie musste den pelzigen Geschmack auf ihrer Zunge nicht noch verstärken. Wahrscheinlich tötete der Wirt mit diesem Gesöff auch seine Ratten. »Also, wo ist es?«
»Unter der Stadt.« Maneths Stimme klang jetzt leise und ernst, jede Spielerei war daraus verschwunden. »Es gibt ein großes Labyrinth aus Gängen und Kammern unter Saramee, fast schon eine zweite Stadt. Gerüchte sagen, dass sie teilweise einige Stockwerke tief in den Boden reichen.« Gwendis konnte nicht verhindern, dass ihr Blick skeptisch war. Bei dem Regen hier in der Stadt mussten solche Tunnel dauernd unter Wasser stehen. Aber sie sagte nichts und ließ den jungen Schurken fortfahren.
»Viele der Anlagen sind sehr alt. Älter als Saramee selber. Sie wurden als Grabkammern genutzt, als Zufluchtsstätten für Verfolgt und als Versammlungsorte für Verbrecher, Aufständische und Schmuggler.«
»Zumindest daran wird sich nicht viel geändert haben.«
»Sicher nicht. Vor allem die Kammern, die leichter zugänglich sind, sollte man meiden. Sie wirken dunkel und verlassen und sind doch sehr lebendig …«
»Und in ihnen ist das, was wir suchen?«
»Nein, so einfach werdet ihr es nicht haben. Es ist mehr, als nur in einen Unterschlupf der Schattengilde einzubrechen und ihre Schatzkammer zu plündern. Ihr werdet tiefer gehen müssen. Dort gibt es die verlassenen Räume einer ehemals machtvollen Sekte, die den Tod anbetete. Sie nannten sich die Tänzer am Abgrund. Aber der Name ist nicht das einzig Dramatische an ihnen. Sie haben sich alle selbst umgebracht, so sagen es die Gerüchte, in einem letzten großen Ritual. Wenn sie es nicht getan hätten, wären sie von den Stadtwachen ausgelöscht worden, denn sie haben sich reichlich aus der Bevölkerung der Stadt bedient, wenn sie Opfer brauchten. Die Anlagen sind damals sofort versiegelt worden, eine einzige große Gruft.«
»Wie lange ist das her?«
Maneth zuckte mit den Schultern.
»Hundert Jahre? Vielleicht mehr.«
»Und woher weißt du davon? Und dass wir dort finden können, was wir suchen?«
»Massenselbstmord ist nicht jedermanns Sache, ein paar der Sektenangehörigen haben gekniffen. Sie sind entkommen und haben ihre Riten im Verborgenen weiter geführt, aber mit wenig Erfolg. Saramee ist wie der Dschungel – nur die Stärksten überleben. Die Tänzer sind zu einer kläglichen Gruppe von Verlierern geworden, noch immer verfolgt, abgerissen. Verarmt genug, um manchmal gesprächig zu werden, wenn man ihnen den richtigen Köder hinwirft. Tod durch Verhungern scheint nicht Teil ihres Glaubens zu sein.
Vor ein paar Monaten sind einige von ihnen in die alten Anlagen unter der Stadt eingedrungen, vermutlich um ihren früheren Hohepriestern die Artefakte von den Knochen zu klauben oder einen Sektenschatz zu stehlen. Die Schattengilde meidet die Gruft und hat nie versucht, sie zu betreten – was schon einiges aussagt, finde ich. Aber sie hat ein gutes Auge darauf, was unter der Stadt geschieht.«
»Und?«
»Das übliche Spiel. Fünf gingen hinein, nur einer kam heraus – und der sah nicht glücklich aus. Aber er hatte allerlei bei sich, heißt es. Leider entkam er, bevor man in seinen Beutel schauen konnte. Ich habe versucht, ihn ausfindig zu machen, aber es ist mir nicht gelungen. Seitdem der innere Kreis der Tänzer diese Beute hat, sind sie sehr effektiv untergetaucht.«
Irgendwie hatte Gwendis den Eindruck, dass das schon etwas heißen sollte. Es schien so, als hätte der junge Maneth weitaus mehr Augen, als ein normaler Mensch haben sollte. Für jemanden seines Alters war das erstaunlich.
»Dann kann es sein, dass er mitgenommen hat, was wir brauchen.«
»Nein, dafür gibt es einen einfachen Grund: es ist zu groß. Als ich mich auf die Suche nach dem Flüchtling machte, habe ich mich über alles informiert, was es über die Sekte gab. In alten Schriften der Stadtwache, die damals die Anlage versiegelt hat, wird erwähnt, dass das Artefakt mindestens dreimal so groß ist wie dieser Tisch – vielleicht auch noch größer. Das konnte der Tänzer nicht in seinem Sack haben, als er aus der Anlage floh. Es ist noch immer da. Und ich habe eine Karte, auf der eingezeichnet ist, wie man dorthin kommt – zumindest, wie man dahin kam, als die Gänge in Benutzung waren. Besser noch: Ich weiß auch, wo der Einstieg zu der Anlage ist.«
»Du hast die Karte dabei?«
»Natürlich nicht.« Maneths Lächeln kehrte zurück. »Ebenso wenig wie du das Geld bei dir hast.«
»Natürlich.« Gwendis grinste, ehe sie bemerkte, dass sie es tat. »Dann werde ich mich wohl noch einmal mit dir treffen müssen, Maneth.«
»Ja, das befürchte ich auch.« Der junge Mann hob seinen Becher, als wolle er trinken, verzog aber schon vorher das Gesicht und stellte ihn wieder ab. »Vielleicht an einem Ort mit besserem Getränken, der nicht schwierig zu finden sein sollte. Ich werde dir morgen eine Nachricht zukommen lassen. Dann schließen wir das Geschäft ab. Aber jetzt …« Maneth beugte sich vor, ehe Gwendis Anstalten machen konnte, aufzustehen und ein paar Abschiedsfloskeln zu sagen.
»… jetzt werde ich dich nicht länger mit meinem Gerede langweilen. Ich weiß, du hast viel interessantere Dinge zu erzählen. Sag mir, wie war das, als du damals zum allerersten Mal nach Saramee gekommen bist und Rogan nichts weiter war als ein schlechter Langfinger, der sich mit seiner Prahlerei um den eigenen Kopf bringen wollte?«
Maneth lächelte und Gwendis merkte, dass sie diesem Köder nicht widerstehen konnte. Langsam lehnte sie sich wieder zurück. Eine bessere Gelegenheit, sich noch ein wenig an Rogan zu rächen, würde es so bald nicht geben. Und Maneth wusste sicherlich gut mit dem Wissen umzugehen …
* * *
Irikon Drosas spinnendünne Finger senkten sich langsam in die schwere Ledertasche und schoben einen weiteren Haufen großer Münzen auf die Tischplatte. Er glättete den Berg mit steifen Bewegungen und griff nach der ersten Münze, wog sie in der Hand und betastete sie. Mittlerweile waren seine Augen so schlecht geworden, dass er den Wert und die Herkunft einer Münze nur noch an ihrer Prägung und ihrem Gewicht erfühlen konnte. Das allerdings vermochte er ohne Fehl – zu sehr war sein ganzes Leben davon bestimmt gewesen, diese kleinen Metallscheiben zu horten, zu sammeln, sie gegen Besitz und Macht einzutauschen, gegen Vergnügungen und Einfluss. Irikon ertastete das Portrait eines Mannes auf der Münze in seiner Hand – ein starker Mann mit groben Zügen, er trug einen Helm mit einer allzu prächtigen Helmzier. Irikon schnaubte. Kaiser Enerian der Siebente von den Freien Inseln im Norden. Ein Schwächling, ganz gleich, was das Bild auf der goldenen Münze behaupten mochte. Hatte nie einen Krieg gefochten, der schlaue Intrigant, keinen Tropfen Blut dafür gegeben, sein Reich zu bekommen oder zu erhalten. Handel war seine Stärke gewesen, in alle Welt hatte er seine Fühler ausgestreckt, seine Schiffe gesandt und seine Diplomaten mit den schmeichelnden Stimmen. Aber dann mit einem Helm auf seinen Münzen abgebildet werden, als wäre er ein Feldherr und ein Eroberer. Irikon stieß ein heiseres Kichern aus. Schwächling. War er nicht schon tot? Ach, er hatte ihn noch in der Blütezeit seiner Regentschaft erlebt, als er selber die Freien Inseln besucht hatte. Aber jetzt war Enerian tot, nichts als Asche, Helmzier hin oder her. Und er selbst, Irikon, reiste schon längst nicht mehr und brauchte seine Finger, um Gold von Silber zu unterscheiden. So weit war es gekommen. Er, einst der gewitzteste Geschäftemacher in der Stadt und nun kaum mehr in der Lage, Gold von Silber zu unterscheiden. Gold von Silber … Gold … Eine kleine Ewigkeit lang schienen seine Gedanken an diesen beiden Worten hängen zu bleiben wie ein Stück Treibholz an einer Sandbank. Er wisperte sie in Gedanken vor sich hin wie ein Lied. Gold … Silber … Gold … Dann ging ein kurzer Schauer durch den abgemagerten Leib, der trotz der schwülen Hitze in einen pelzbesetzten Mantel gehüllt war, und Irikon schüttelte sich leicht. Was wollte er gerade tun? Richtig. Die letzten Münzen zählen.
Mit der Langsamkeit einer Skippagrille, die sich an ihre Beute herantastet, ordnete der alte Mann im Dämmerlicht seines Arbeitszimmers die Münzen nach ihrem Wert. Eine einzelne kleine Öllampe brannte in ihrem prachtvollen Ständer und spendete kaum genug Licht, um den Schatz auf der abgewetzten Tischplatte zum Glänzen zu bringen. Irikons Augen waren zu schlecht zum Sehen, deswegen hatte es keinen Sinn, Geld für teures Öl auszugeben – mochte die Dienerschaft sich daran gewöhnen, durch die dämmerdunklen Flure zu huschen. Er schaffte es doch auch und sie waren so viel jünger. Keiner beschwerte sich. Dumm wäre der gewesen, der das getan hätte …
Was dem Licht an Luxus fehlte, glich eine Räucherschale aus, in der kostbare Essenzen verbrannten und einen herben, intensiven Duft verströmten. Die Luft war schwer davon, das ganze Zimmer roch wie das Allerheiligste eines Tempels. Irikon mochte nicht mehr gut sehen können, aber mit seiner Nase war alles in Ordnung. Er ließ immer Weihrauch in seinem Zimmer verbrennen. Er hasste die Gerüche der Stadt, obwohl er sie früher so geliebt hatte. Aber früher war er auch dort gewesen, wo sie her kamen, nicht in diesen verdammten Kammern und Gängen. Mehr noch als den Duft Saramees, den der laue Wind durch die Fenster herein trug, hasste Irikon aber seinen eigenen Geruch. Oh, er bemerkte ihn wohl. Sein verlebter Körper roch nach Tod und Verfall und kein Duftwasser der Welt konnte das verbergen. Warum hatten nur seine Augen nachgelassen und nicht sein Geruchssinn? Dann könnte er wenigstens die Lider schließen, wenn er den Anblick seiner knochigen, von dicken Adern wie von einem Fischernetz überzogenen Hände nicht mehr ertragen konnte. Aber den Geruch, den konnte er niemals ausschließen. Der war immer da. So wie die Gewissheit, dass Irikon Drosas Leben mit raschem Schritt seinem Ende zuging – was auch das einzige war, das sich in seiner Welt noch beeilte. Er war gefangen in einem Tümpel aus Schatten, die mit den Jahren immer dichter geworden waren – und das einzige helle Licht darin war sein eigener, ungetrübter Verstand.