Sardor 2: Am See der Finsternis - Thomas Ziegler - E-Book

Sardor 2: Am See der Finsternis E-Book

Thomas Ziegler

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Beschreibung

"Dietrich von Warnstein marschierte keuchend weiter. Die Augen hinter dem Glas der Fliegerbrille hielt er starr auf das Metall des Ahnenwegs gerichtet, die Hände waren tief in den Seitentaschen seiner gefütterten Lederjacke vergraben. Die Kälte, der Schnee, der schneidende Wind - barbarisch. Eisnadeln trafen sein ungeschütztes Gesicht; er senkte den Kopf, damit sie ihm nicht die ganze Haut zerstachen. Der Atem hing als weiße Fahne vor seinen blaugefrorenen Lippen. Ein Fluch entschlüpfte ihm." Die Geschichte des deutschen Jagdfliegers, den es aus den Wirren des Ersten Weltkriegs in eine fremdartige Welt verschlagen hat, nimmt ihren Lauf. Nachdem sein treuer Doppeldecker in die Brüche gegangen ist, muss er sich nun ganz auf seinen Wagemut verlassen; und auf sein Schwert, mit dem er immer besser umzugehen lernt ... Die lang erwartete Neuausgabe der großen Fantasy-Trilogie von Thomas Ziegler! Bei Band 1 und 2 handelt es sich um behutsam durchgesehene Neuausgaben der ursprünglich 1984 bzw. 1985 bei Bastei Lübbe erschienenen Romane; der bisher noch nicht publizierte, fast schon legendäre Band 3 wurde, zur Hälfte fertiggestellt, im Nachlass des Autors entdeckt und wird von Markolf Hoffmann zu Ende geschrieben.

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Seitenzahl: 216

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Thomas Ziegler •Am See der Finsternis

Erstausgabe bei Bastei Lübbe (Bergisch Gladbach, 1985)

© 1985 by Rainer Zubeil

Mit freundlicher Genehmigung von Verena Zubeil,

vermittelt durch Ronald M. Hahn

© dieser Ausgabe 2013 by Golkonda Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Hannes Riffel

Korrektorat: Hellfrid Niesche

Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.de]

Satz und E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36

12683 Berlin

Kontakt: [email protected]

www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-942396-52-3 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-942396-72-1 (E-Book)

Inhalt

Titel

Impressum

1. Kapitel: Am Knochenpfad

2. Kapitel: Ein kurzer theologischer Disput mit der Kummerspinne

3. Kapitel: Die Herrin der Schmerzen

4. Kapitel: Die Rückkehr des Boslings

5. Kapitel: Zu Gast im denkenden Schlachthaus

6. Kapitel: Eine Audienz bei dem Soldatenkönig

7. Kapitel: Durch das Land der wandernden Gräber

8. Kapitel: Die Fürsten der Nacht

9. Kapitel: Am See der Finsternis

10. Kapitel: Die Wege trennen sich

Über den Autor

Weitere Bücher

1. Kapitel: Am Knochenpfad

Till the slow sea rise and the sheer cliff crumble,

Till terrace and meadow the deep gulfs drink,

Till the strength of the waves of the high tides humble,

The fields that lessen, the rocks that shrink,

Here now in his triumph where all things falter,

Stretched out on the spoils that his own hand spread,

As a god self-slain on his own strange altar,

Death lies dead.

– Algernon Charles Swinburne

»A Forsaken Garden«, 1866

Tot war er und lag dennoch lauernd in seinem Turm aus schwarzem Stein, lag reglos, leblos aufgebahrt in blinder Wacht am Knochenpfad und hörte nicht die Stimmen aus allen Ritzen dringen.

»... einst war ich schlank und schön, gebleicht die Haut, mit Blut gefärbt das Haar, war Meisterhure im Rinnenland. Bis eines Nachts die Trötze kamen. Wurde von der üblen Brut gepackt, betäubt, verschleppt und erst an jenem Ort geweckt, wo Fleisch wie Obst an Bäumen wächst. Sah Ma Lyn Schmerzen weben, sah Trötze rasend Fleischobst nagen, und ich floh. Dann Qu’ail-In-Trümmern, die Eisenberge, die Kummerspinne am Knochenpfad, dann L’Ingan ... Leichnam Ingan, hörst du Beute nahen?«

Denn Beute kam.

In all den Zeitaltern, die er modernd verbracht, war Beute zu ihm heraufgestiegen; er hatte sie zu Tode gehetzt und das genommen, was er immer nahm: die Köpfe, die geschwätzigen. Den Rest bekam der Knochenpfad. Nur die Schädel nahm der Jäger und trug sie in den schwarzen Turm, damit ihr klapperndes Geschwätz sein stilles Grab mit Leben füllte. In allen Nischen, allen Winkeln waren Schädel aufgebahrt; aus jeder Ritze des Gemäuers drang knöchernes Gerede.

»... einst war ich auf großer Fahrt von Pol zu Pol und sah im Quarz die Mahre ruhen. Und zu Tausenden im Glas begraben Riesen, die vom Eisenvolk, und die Gehörnten von den Sternen. Vor Mirsingval zerbrach mein Schiff am Riff aus Stahl. Der Alte, der das Meer beherrscht, fraß alle, nur mich fand er nicht. Ich floh an Land, dann durch die Wüste Tod, verlor die Hand, den Arm, behielt das Leben, bis ich zu den Seufzerschründen kam, am Fuß der Eisenberge. Ich stieg hinauf zum Knochenpfad, zu L’Ingan, der dort wacht ... Leichnam Ingan, hörst du Beute nahen?«

Er hörte sie nicht, doch er spürte sie.

Und da er tot war, und da das Leben nie in seinen kalten Gliedern gewesen, und da er blind wie alle Toten war, sah er auch nicht das Sonnenlicht in Ostiens Tälern strudeln und über die Berge fluten, über die Schluchten hinweg, die Gletscher und Klippen zu den Gipfeln hinauf, dem Westen entgegen. Am Himmel über L’Ingans Turm, wo eben noch der Eisenring die Dunkelheit grün angeschimmelt hatte, blähte sich die rote Sonne in ungeheurer Größe auf und goss Kirschlicht über Eis und Erzgestein, bis ihre purpurrote Glut den Grund des Knochenpfads erhellte: ein Beinhaus auf dem Dach der Welt mit skelettierten Mietern. Dem Morgen folgte der Morgenwind und verirrte sich wie jeden Tag im Labyrinth der Felskamine, um dort bis zum Abend zu heulen, zu toben, zu rasen. Vom Lärm des Windes aufgeschreckt, hob sich tausend Meter tiefer Eisenherzog Hartrokor von seinem Gletscherlager. Schon zerriss sein erster Schrei des Morgens kalte Stille. Dem ersten Schrei folgte der erste Schlag der Eisenfaust, sodass der Gletscher, der sein Kerker war, wie eine Glocke dröhnte, und dann begann des Herzogs Eisenleib vor Wut und Hass zu glühen. Wie besessen schlug er auf den Gletscher ein, und es dauerte nicht lange, bis unter den Erschütterungen Lawinen zu Tale stürzten. In seiner Wildheit rammte der Riese nun auch den Schädel ins rote Gletschereis und brüllte so laut, dass man sein furchtbares Geschrei noch am Knochenpfad vernahm. Der Gletscher bebte, der Gletscher kalbte, Lawinen lösten sich. In seinem Eisenwahn hielt Hartrokor den Donner für die Schritte nahender Retter, die ihm, nach all den Jahren Tiefkühlhaft, die Freiheit schenken wollten. Und er hielt inne; horchte, hoffte.

Doch kein Retter nahte.

Nur Beute kam.

Zu L’Ingan, nicht zu Hartrokor.

Beute ...

Wind winselte in den Klüften und Schründen, die den Ahnenweg säumten. Schnee stieg aus den Tiefen herauf, Myriaden roter Flocken; blutgefärbtes Schneegestöber vernebelte die Berge und dämpfte sogar das Licht des Fegefeuers, das als Sonnenball maskiert am Himmel hing.

Dietrich von Warnstein, Leutnant in der Fliegertruppe Seiner Majestät Kaiser Wilhelm des Zweiten, marschierte keuchend weiter. Die Augen hinter dem Glas der Fliegerbrille hielt er starr auf das Metall des Ahnenwegs gerichtet, die Hände waren tief in den Seitentaschen seiner gefütterten Lederjacke vergraben. Die Kälte, der Schnee, der schneidende Wind – barbarisch. Eisnadeln trafen sein ungeschütztes Gesicht; er senkte den Kopf, damit sie ihm nicht die ganze Haut zerstachen. Der Atem hing als weiße Fahne vor seinen blaugefrorenen Lippen.

Ein Fluch entschlüpfte ihm.

Was für eine jämmerliche Posse! Ausgerechnet er, des deutschen Kaisers treuester Flieger, zum Dasein eines Wurms verdammt! Melde gehorsamst, bin zum Wurm geworden, Eure Majestät. Ha! Könnte er doch noch einmal frei und ungebunden mit den Winden um die Wette fliegen. Könnte er doch noch einmal am Steuerknüppel seines Doppeldeckers sitzen und wie ein Vogel den Himmel durchkreuzen ...

Zornig schüttelte er den Kopf.

Der Doppeldecker vom Typ Albatros D-III aus den Flugzeugwerken in Berlin-Johannisthal war beim Duell mit dem Schwarzen Mirn zu Bruch gegangen, brennend am Geborstenen Berg zerschellt. Ah, zum Henker damit! Was geschehen war, ließ sich nicht mehr ändern. Er musste sich damit abfinden. Schließlich war er nicht der erste deutsche Jagdflieger, der seine Maschine verloren hatte. Wie oft war Boelcke schon vom englischen oder gallischen Feind die Kiste unterm Hintern fortgeschossen worden. Gott, wie oft hatte sogar der tollkühne Richthofen Bruch gebaut und nur mit knapper Not seinen Hals gerettet! Von Reimann und den anderen Fliegern ganz zu schweigen ...

Andererseits – weder Manfred Freiherr von Richthofen noch Boelcke, Reimann oder einer der anderen Kampfflieger des Deutschen Reiches hatte sich je in einer dermaßen vertrackten Lage befunden: durch Raum und Zeit vom Vaterland getrennt und in eine höllische Welt versetzt, wo sich der Antichrist anschickte, in Ewigkeit zu triumphieren; wo die Sonne ein aufgedunsener Ball aus Lava war und Kirschlicht über Länder warf, wie sie sich scheußlicher nicht denken ließen; wo Heiden, Halunken, Unholde und Dämonen zur Pfeife kosmischer Gespenster tanzten. Und diese durch und durch verderbte Welt, dieses lästerliche Pandämonium sollte die gute, alte Erde sein? Reinste Blasphemie! Denn nicht einmal in Afrikas wilden Dschungeln, wo es weiß Gott genug Götzendiener von Profession und heimtückische Fetischgesellen gab – nicht einmal im unerforschten Herzen des schwarzen Kontinents konnten Ungeheuer vom Format des schurkischen Mirn hausen; gar nicht zu reden vom kosmischen Nachtmahr oder von L’Ingan, dem menschenfressenden Ghul, der am Knochenpfad sein Unwesen treiben sollte ...

Und doch, flüsterte da eine Stimme in ihm, und doch ist es wahr, Sardor.

Dietrich von Warnstein stöhnte auf. Nur zu vertraut war ihm diese Stimme, die im Gehäuse seines Schädels raunte; die Stimme seines anderen Ichs, seines unerwünschten Mieters, der fristlos sein Kellerloch in den Heldenhügeln gekündigt und es sich in Warnsteins Seele gemütlich gemacht hatte: Sardor, der Heidengötze, nach zwanzig Jahrtausenden gründlich betriebener Verwesung von den Toten wiederauferstanden.

Du irrst, wisperte die hartnäckige Stimme. Du und ich – wir sind eins – vereint im Fleisch, vereint im Geist. Nur gemeinsam sind wir er: Sardor, in die Welt gekommen, um die Menschen zu einem Heer zu schmieden, groß und stark genug, den Sieg über die Stern- und Eisenmacht zu erringen. Im zweiten und letzten kosmischen Krieg.

Ja, dachte der deutsche Flieger. So geht die Legende: Die Glocke von Gorm ruft zur letzten Schlacht, und wenn der Glockenschlag über den ganzen Erdball dröhnt, dann schlägt auch unsere Stunde. Dann kehren die Eisenmänner aus ihrem Exil hinter der Zeit zurück; dann steigen die Gehörnten von den Sternen herab; dann rauscht der ganze Äther vom Flügelschlag der Mahrenschwärme. Und der Krieg beginnt. Die höllischen Heerscharen werden in die Schlacht marschieren, und kein Gott ist da, sich ihnen entgegenzustellen ...

Aber Sardor, erinnerte die Geisterstimme, aber Sardor hält Wacht und schlägt die Stern- und die Eisenmacht.

Mit einem unterdrückten Schrei riss Warnstein beide Hände hoch und presste sie gegen die Stirn. Sie war heiß wie im Fieber.

Mein Gott! Mein Gott!, dachte er verzweifelt. Wann werde ich endlich aus diesem Albtraum erwachen?

Da zerriss das Schneegestöber.

Enthüllte kurz den basaltschwarzen Turm auf dem Massiv aus Erzgestein, das alle Gipfel überragte. Wie ein versteinerter Riesenfinger wies der Turm zum Himmel, und neben ihm ein Spalt, der bis zum Ahnenweg hinunter reichte – der Knochenpfad. Der einzige Pass über das Krograniten-Gebirge, der einzige Weg nach Ostien, wo L’Ingan wachte. Der Wind ließ jammernd nach, der Flockenvorhang schloss sich wieder. Warnstein marschierte grimmig weiter.

Und in der dunklen Gruft des Turmes sprach klappernd eine Schädelstimme.

»... war einst ein Krieger, war General, war General im Cryptenland. Mit blank polierter Brünne und nimmersattem Schwert im Dienst des Lichtdespoten. Bis Verrat mich stürzte und ich nach Süden floh. Über den Strygenfluss, die rote Stryge, die Eisenberge hinauf und in den Knochenpfad hinein, wo L’Ingan mich fand. Und meinen Kopf mir stahl ... Leichnam Ingan, hörst du Beute nahen?«

Obwohl tot wie Stein, spürte L’Ingan, dass Beute kam. Er rührte sich und regte sich, und Staub stieg von ihm auf. Gelenke schabten trocken; Haut knisterte wie Pergament; Wirbel knarrten; ein Kiefer knackte. Der Schädel knirschte, drehte sich lauernd, wandte sich von hier nach dort, ruckte hoch und reckte sich, nickte schräg und streckte sich. L’Ingan lebte nicht und dachte nicht, war blind und taub und stumm und tot und spürte dennoch Beute nahen.

In der Finsternis der Gruft erhob sich der Leichnam vom Totenbett, wuchs riesig, bleich und kalt empor, drehte den Kopf und drehte dann sich der Wendeltreppe zu, die sich steinern wie alles hier hinauf zu den Zinnen schraubte. Mit schlurfenden Schritten durchmaß er die Gruft, neigte den Kopf und reckte sich, knirschte und knarrte und hob das Gesicht zum Licht, das sich nie in die dunkle Tiefe wagte. Ein tauber Fuß schabte über tauben Stein; die erste von vielen Stufen. Knackend hob sich Bein nach Bein, trug L’Ingan hoch und höher, dann traf ihn ein verirrter Sonnenstrahl: Kirschröte überzog sein Wachsgesicht und seine erloschenen Augen. Das grausige Haupt nach oben gereckt, den Rücken gekrümmt, die Arme gestreckt, verharrte er. Er wartete, aber er wusste es nicht. Er wusste nie, was er tat. Er wusste nur, dass Beute kam. Tot, wie er war, hatte er nie das Leben gekannt, doch wenn er es fand, dann nahm er es, aber er fand es nur, wenn es zu ihm kam.

Also wartete er.

Dann weckte ihn ein dumpfer Trieb. Mit grindigem Geknirsche stieg er die nächsten Stufen hinauf, von Absatz zu Absatz in engen Windungen, dem Himmel entgegen, der Titanensonne, die wie eine Geschwulst über den Bergen schwärte. L’Ingan kümmerte es nicht. Gestorben und nie geboren, war das Kirschlicht ihm von jeher fremd. Blind folgte er der Korkenziehertreppe, erreichte die Zinnen und bemerkte es nicht. Wind bauschte sein schwarzes Gewand. Mit schmirgelnden Wirbeln drehte er Kopf und Körper dem Westen zu, sah blicklos auf Wolken hinunter, die wie Schorf die Luft verkrusteten. Unter den Wolken das tiefe Land: die Seufzerschründe; die Stryge; die Pilzwälder der Hainvölker; die bemoosten Hügel, unter denen die Helden der Haine schliefen. Im Norden die Festung Gorm mit dem Wehrturm und der Glocke; die Alte Eisenstraße; der Geborstene Berg.

Mit blinden Augen, tauben Ohren, mit dumpfer Gier hielt L’Ingan Wacht.

Beute kam.

Über den Ahnenweg, die stählerne Serpentine, die an rostigen Hängen entlang zu rostigen Gipfeln kletterte, Gletscher zerschnitt, Schluchten überbrückte, dann die Wolken durchstieß und sich zum Spalt des Knochenpfads schwang.

Blutleere Lippen bewegten sich.

Morsche Glieder knirschten.

Beute ...

Der Morgen ging, der Mittag kam, und Warnstein marschierte weiter. Nur selten ließ das Schneegestöber nach, und wenn der rote Nebel zerriss, zog er es vor, das Haupt gesenkt zu halten – zu widerwärtig war ihm der Anblick des verwunschenen Turms, der am Knochenpfad in den schorfigroten Himmel ragte. Während er über den Ahnenweg wanderte, wanderte die Riesensonne in die entgegengesetzte Richtung: westwärts, an Gorm vorbei, über den Strygensee hinweg zu den Purpursümpfen und den stacheligen Ländern Dorngrunds und weiter zur verfluchten Wüste namens Tod ...

Ein Knirschen im Heulen des Windes.

Der Flieger sah sich um.

Und fuhr zusammen, als ein Schatten aus dem Schneegestöber trat. Churm! Der Letzte vom Orden des Horns, der aberwitzige Heide, der ihn – welch lästerlicher Gedanke – für einen Gott hielt. Einen Gott, ha!

»Die Sonne wird bald sinken«, knurrte Churm. »Die Nacht ist nah, die Schatten über Ostien wachsen. Wir müssen vor der Finsternis den Knochenpfad erreichen!« Seine Augen schienen aus purem Silber zu bestehen; die Hände waren aus Horn. Reif verkrustete den schwarzen Bart, Eis glänzte rot auf Helm und Rüstung. Blau leuchtete die Klinge Gly durch den tanzenden Schnee.

»Und L’Ingan?«, fragte Warnstein.

Der Heide machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ah, L’Ingan! Er war tot, er ist tot und wird immer tot sein. Mach dir wegen L’Ingan keinen Sorgen, Sardor.«

»Ich soll mir keine Sorgen machen?«, brauste der Flieger hitzig auf. »Weil L’Ingan tot ist? Aber hast du nicht selbst gesagt, dass das Totsein ihn nicht daran hindert, jeden, der den Knochenpfad betritt, im Handumdrehen zu köpfen? Allmächtiger, da lauert uns ein toter Menschenfresser auf, und du hast die Frechheit, mir zu sagen, ich soll mir keine Sorgen machen! In was für eine Welt bin ich da nur geraten? Mein Gott!«

»Wie stets bereit, dich selbst zu beschwören, eh?« Der Hornmann lachte. »Aber Gott hin, Gott her – wir müssen so schnell wie möglich durch den Knochenpfad.«

Er stieß einen Pfiff aus. Kaum war der schrille Ton verklungen, bebte der Stahl des Ahnenwegs. Groß, grau und einäugig stampfte das Weißhorn Fé heran: Träge bewegte es den mächtigen Schädel mit dem weißen Horn hin und her; das Auge strahlte warm; die Nüstern dampften wie Schlote. Dann klaffte das geschuppte Maul, und wie Donner rollte animalisches Grollen über die Hänge. Mit verzerrtem Gesicht hielt sich Warnstein die Ohren zu. Vergnügt peitschte das Untier mit dem Schwanz; die dorngespickte Quaste traf den Boden und ließ den Ahnenweg dumpf dröhnen.

»Fé spürt es auch«, murmelte Churm mit einem finsteren Blick zum Pass. »Irgend etwas braut sich in den Bergen zusammen. Selbst Hartrokor schweigt – sonst rast der Herzog bis zum ersten Licht des Eisenrings ...«

Er gab dem Weißhorn einen Wink; Fé knickte in den Vorderbeinen ein, und Churm stieg geschmeidig auf. Kaum saß er dem Tier im Nacken – im Rücken der gezackte Drachenkamm, den Schuppenkopf vor Augen –, zog er Warnstein zu sich herauf. Fé stemmte sich hoch, stieß Dampf aus den Nüstern und trottete los. Trotz der Kälte und des wirbelnden Schnees war der Ahnenweg nicht einmal vom Hauch einer Eisschicht überzogen, und wo das Auge tückische Glätte argwöhnte, fand Fé sicheren Halt. Aus dem Trott wurde ein Galopp. Der Ahnenweg bebte unter der Wucht der stampfenden Säulenbeine. Wie im Flug schossen sie an Klippen aus zerfressenem Erzgestein vorbei, den Wolken entgegen, durch stiebende Flocken aus Rost und Schnee.

Wie im Flug ...

Ein seltsames Gefühl beschlich Dietrich von Warnstein, eine Mischung aus Furcht und Abenteuerlust, ein Übermut, wie er ihn bisher nur hinter dem Steuerknüppel seines getreuen Albatros erlebt hatte: hoch über der Erde, so hoch, dass er mit dem Kopf fast gegen die Wolken stieß; rechts und links die knatternden Kisten der Kameraden von der Jagdstaffel 11, an der Spitze die Maschine des roten Barons ... und am Horizont die Aasgeier Albions oder eine Rotte gallischer Doppeldecker.

Warnstein lachte auf, wie vom Jagdfieber gepackt, und dachte an die langen Nächte nach jenen Tagen, an denen wie durch ein Wunder alle Maschinen der Staffel unversehrt vom Feindflug heimgekehrt waren. Nächte voller Gesang und derber Scherze, die Zungen gelöst vom rheinischen Wein ... Er seufzte. Seine Augen brannten; Heimweh schnürte ihm die Kehle zu. Der Rhein ... verloren, unerreichbar wie die ostpreußische Heimat, wie das ganze deutsche Vaterland.

»Gräm dich nicht, Sardor!«, rief Churm über die Schulter. »Bald werden wir genug Weiber haben, die uns das Leben versüßen. Sie warten schon auf uns – mit lüsternen Brüsten und feuchten Schößen in den goldenen Ländern des Ostens!«

Und ehe Warnstein seiner Empörung über die unerhörte Verderbtheit dieses Heiden Luft machen konnte, galoppierte Fé in die Wolken hinein, und die Welt ertrank in Rot.

Die Beute war nun nah. Nah genug, dass sich der Tote, von dumpfer Gier getrieben, mit knirschenden Gliedern über die Zinnen schwang. In die Tiefe sprang er, doch er stürzte nicht. Er breitete die Arme und das wehende Gewand zu schwarzen Schwingen aus und flog über Klippen und Grate hinweg, so schwerelos, als hätte selbst die Schwerkraft erkannt, dass es nicht lohnte, in den Tod zu ziehen, was immer tot gewesen war. Lautlos glitt er dahin, spähte mit blinden Augen den Ahnenweg aus, legte dann die Schwingen an und stieß im Sturzflug auf den zernarbten Erzgrat nieder, der unterhalb des Knochenpfads das blanke Stahlband säumte. Er landete hart; der Erzgrat brach, Rost wallte auf. Des Toten morscher Leib knirschte unheilvoll, als wollte er im nächsten Augenblick wie mürbes Holz zersplittern. Doch die Beständigkeit des Todes konservierte ihn.

Missgestaltet auf dem Zackengrat kauernd, die Zehen ins rostende Erz gekrallt, den Schädel lauernd gereckt, das wächserne Antlitz gierig verzerrt, so wartete er, dass Beute kam.

Beute ...

Arglos kam sie zum Knochenpfad, kam über den Ahnenweg galoppiert, wo L’Ingan hungrig wachte. Um sie zu packen, ihre Köpfe abzuzwacken und – verfluchter Aberwitz! – die Schädelbeute in den Turm zu schleppen. Doch noch war es nicht so weit, noch hatte er Zeit. Geduldig moderte er, beharrlich verweste er vor sich hin. Dann fuhr er hoch, mit einem Ruck, reckte in blinder Gier das grausige Haupt, denn nun war die Beute, der sein Lauern galt, nah, so nah. Rost rieselte vom Grat aus Erzgestein; Klauenzehen bohrten Löcher in den porösen Narbenkamm. Der Ahnenweg bebte, der Ahnenweg dröhnte, schon kam die Beute um die letzte Biegung der stählernen Serpentine gedonnert.

Beute!

Tote Augen starrten blind das Tier und seine beiden Reiter an. L’Ingan regte sich. Er reckte den Schädel und reckte dann sich, er knirschte und knarrte leichenstarr und setzte an zum Sprung. Gestorben, ohne gelebt zu haben, ahnte er nicht, wer ihm gegenüberstand, und der Trieb zum Morden war ein unerbittlicher Zwang, dem er sich nicht entziehen konnte. Denn L’Ingan war groß, ein Riese, und stark, im Tode von der Furcht befreit, die alles Leben mit Schwäche bedrohte. Er hatte nie den Schmerz gekannt, hatte nie erfahren, wie bitter der Schmerz des Fleisches war.

Also sprang er, landete schwer auf dem Ahnenweg und hob die Klauen zum Todesstreich. Da war das Untier heran. Und blind, wie er war, sah er nicht das Horn, nicht des Schädels wilde Drehung, nicht das weiße Schwert in des einen Reiters Hand und nicht des Hornmanns blaue Klinge. Nie hatte L’Ingan mehr getan als zugepackt und Köpfe abgezwackt; nie hatte er erfahren, was er an diesem Tag erfuhr: wie grausam Schmerzen waren. Das Horn traf ihn, das weiße Schwert, des Hornmanns blaue Klinge, und dreifach schnitt ihm Schmerz ins Fleisch. Er stürzte schwer, vom Schmerz umwabert, überschlug sich wohl ein Dutzend Mal, und dröhnend schoss das Tier vorbei. Das Dröhnen verklang, der Schmerz blieb. Morsch kam er hoch, besiegt, obwohl er aufrecht stand, und hob in stummer Agonie das Wachsgesicht zur Sonne. Kirschlicht floss wie Blut von seinem Haupt.

Dann schrie er – er, der nie gewusst, wie laute Schreie klangen. Fremd und roh wie Mahrenfleisch lag L’Ingans Schrei über den Bergen. Aus Augen, matt wie alte Spiegel, tropften trübe Tränen. Wild fuhr der Unhold herum, mit knarrenden Gelenken, drehte sich mahlend und knirschend im Kreis und hieb blind nach seinen Feinden, die schon längst in donnerndem Triumph dem Knochenpfad entgegeneilten. Wie flehentlich streckte der Leichnam dann die Arme nach der Sonne aus, die teilnahmslos ihr lichtes Blut über Berg und Tal verströmte und den Toten dem Tod überließ, die Lebenden dem Leben.

Der Wind verhöhnte ihn, die Nacht schlich heran, sodass er sich geschlagen gab, waidwund zum Turme floh.

Wie ein Geschoss jagte Fé über den Ahnenweg, wie eine Furie heulte der Wind. Der Flieger schauderte, während er mit beiden Armen Churm umschlungen hielt, damit er nicht den Halt verlor, vom Weißhorn stürzte und vom Tod geholt wurde, der hinter ihnen auf Insektengröße schrumpfte.

Was für ein Unhold!, dachte Warnstein und schüttelte sich. Was für ein garstiges, gotteslästerliches Geschöpf! Das Scheusal schreckte ja nicht einmal davor zurück, einen rechtschaffenen Christenmenschen anzufallen! War wohl Franzos, der Lump. Er schnaufte höhnisch. Ho, ho, und wie lebendig dieser bleiche Höllenwurm mit einem Mal geworden war, als er die Schwerter und Fés hartes Horn zu kosten bekommen hatte!

Er verrenkte den Kopf und spähte durch das Glas der Fliegerbrille zurück zu jener Stelle, wo L’Ingan vom rasenden Weißhorn zu Boden gestreckt worden war. Ein verdutzter Schrei löste sich von seinen Lippen. Der Mordbube war fort! Vom Ahnenweg verschwunden! Verstummt war sein grausiges Gejammer. – Jesus Christus, wo steckte der Kadaver? Im Graben? Hinterm Grat aus Erz? Oder war er gar in die Schlucht gerutscht, die rechts vom Stahlband gähnte?

Aber – ! Was war das dort oben? Am dämmernden Himmel? Ein ungeheurer Rabe? Eine verfluchte Riesenmotte? Oder – ?!

»L’Ingan!«, krächzte Warnstein. »Es ist L’Ingan! Und er fliegt! Beim Allmächtigen, der Satansbraten kann fliegen!«

In der Tat glitt der Untote auf mitternachtsschwarzen Schwingen durch die Luft, schraubte sich torkelnd empor, stieß dann und wann ein elendes Gewimmer aus und näherte sich, schwankend wie eine flügellahme Fledermaus, dem zinnenbewehrten Turm, der fern auf dem Erzberg stand. Über den Zinnen legte er die Schwingen an, stürzte wie ein Sack voll Blei und verschwand auf Nimmerwiedersehen im verfluchten Turm.

Geschieht ihm recht, dem Menschenfresser!, dachte Warnstein. Das Scheusal hatte sie wohl für leichte Beute gehalten. Hatte nicht damit gerechnet, auf einen deutschen Offizier zu treffen, der schon mit ganz anderem Gelump fertig geworden war. Kam ja genug davon Tag für Tag über den Kanal gebraust, um sich blutige Köpfe zu holen! Der Flieger lachte.

»Da lacht der Gott«, brummte Churm, »wo jeder Sterbliche schlottert!«

Warnstein sah ihn scheel von der Seite an. Lästerte der Heide wieder herum, oder wollte er ihn gar verhöhnen?

Plötzlich riss der Hornmann den Arm hoch. »Dort!«, brüllte er wie im Wahn. »Es ist geschafft! Dort vor uns, Sardor! Der Knochenpfad! Wir haben den Pass erreicht!«

Hoch ragte der Berg, und in seinem rostigen Rot klaffte – wie ein V geformt – ein finsterer Spalt, einladend wie das Tor zur Unterwelt, wie das Maul eines gefräßigen Riesen.

Tot war er und lag sterbend da in seinem Turm aus schwarzem Stein, lag reglos, leblos aufgebahrt in seiner Gruft am Knochenpfad und hörte nicht die Stimmen aus allen Ritzen dringen: »Leichnam Ingan, nun spürst du nie mehr Beute nahen ...«

Und keines Menschen Auge sah, wie in den Nischen, in den Winkeln die Totenschädel hässlich grinsten ...

2. Kapitel: Ein kurzer theologischer Disput mit der Kummerspinne

Tread lightly, she is near

Under the snow,

Speak gently, she can hear

The daisies grow.

– Oscar Wilde

»Requiescat«, 1881

Längst war aus dem Geheul des Windes ein köterhaftes Winseln geworden, und in das Winseln mischte sich Geklapper und Gerassel; wie von einem ausgedörrten Bambusfeld, mit dem die Stürme spielten. Oder wie – welch schauriger Gedanke! – von Knochenmusikanten, die auf Knocheninstrumenten des Teufels zum Knochenmarsch aufspielten. Der Galopp des Weißhorns schlug dazu die Pauke. Und mit jedem Meter, den sie tiefer in das gespaltene Erzmassiv vordrangen, schwoll das gespenstische Lärmen an, wurde im engen Felskanal hundertfach gebrochen und hundertfach verstärkt. Zum Greifen nah stieg rechts und links das schroffe Erzgestein hinauf zum Abendhimmel, der vom Grund des Passes aus betrachtet ein gezackter Streifen Rot war, wie Blut, im Sonnenlicht getrocknet. Ein klammes Gefühl kam in Warnstein auf; er fühlte sich fatal an Verduns Schlachtfelder erinnert ...

L’Ingans Turm, der Ahnenweg, das V-förmige Tor im Erzmassiv – alles lag weit hinter ihnen. Der Leichnam hatte es nicht gewagt, die Verfolgung aufzunehmen; vielleicht hatten sie ihm tatsächlich den Garaus gemacht – zu wünschen wär’s. Der Flieger sah finster drein.

»Ich wusste doch«, überschrie Churm den Höllenlärm, »dass wir uns wegen L’Ingan keine Sorgen machen müssen! Wie kann ein Toter es auch wagen, sich mit einem Gott wie Sardor zu messen?«

Warnstein versetzte ihm erzürnt einen derben Stoß. Unverbesserlicher Heide! Lernte der Hornmann es denn nie? Gott Sardor! Und diese Blasphemie in Gegenwart eines guten Katholiken! Unternehmen sollte man etwas, zur Not die Gottesfurcht in ihn hineinprügeln, ihm mit der Faust aufs Sünderhaupt hämmern, bis ihm die Lust am Lästern für immer verging ... Warnsteins lodernder Zorn sank in sich zusammen. Aber wie sollte dieser Heidenmensch es auch besser wissen? Gottes Wort schien in dieser Welt seit Ewigkeiten vergessen, so unvorstellbar es auch war. Und er – er war ein Flieger, ein Soldat und Offizier, kein Missionar.