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Die Endlose Armada ist ein unfassbares Gebilde: Millionen von Raumschiffen, die seit Äonen das Universum durchqueren. Perry Rhodan ist es in harter Arbeit gelungen, die Armada wieder auf Kurs zu bringen. Die Milliarden von Lebewesen, die in den Raumschiffen leben, brauchen eine neue Aufgabe – und Rhodan will ihnen helfen, eine positive Zukunft zu finden. Nun soll die gigantische Flotte in die Milchstraße kommen – ihr Ziel sind die sogenannten Chronofossilien. Sie müssen aktiviert werden, auf eine Weise, die sich bisher kein Mensch vorzustellen vermag. Aber nur so kann die Milchstraße vor einer fürchterlichen Katastrophe bewahrt werden. Diese Absichten rufen mächtige Gegner auf den Plan, gegen die sich Perry Rhodan und seine Gefährten verzweifelt wehren – sie schicken den Dekalog der Elemente in den Kampf. Unter anderem müssen die Menschen von der Erde dem sogenannten Psychofrost widerstehen ...
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Seitenzahl: 586
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Nr. 147
Psychofrost
Cover
Klappentext
Kapitel 1-10
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
Kapitel 11-20
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
Kapitel 21-30
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
Kapitel 31-38
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
Nachwort
Zeittafel
Impressum
Die Endlose Armada ist ein unfassbares Gebilde: Millionen von Raumschiffen, die seit Äonen das Universum durchqueren. Perry Rhodan ist es in harter Arbeit gelungen, die Armada wieder auf Kurs zu bringen. Die Milliarden von Lebewesen, die in den Raumschiffen leben, brauchen eine neue Aufgabe – und Rhodan will ihnen helfen, eine positive Zukunft zu finden.
Nun soll die gigantische Flotte in die Milchstraße kommen – ihr Ziel sind die sogenannten Chronofossilien. Sie müssen aktiviert werden, auf eine Weise, die sich bisher kein Mensch vorzustellen vermag. Aber nur so kann die Milchstraße vor einer fürchterlichen Katastrophe bewahrt werden.
Es war Nacht auf dem Saturnmond Titan. Seit einer Stunde fiel Kohlenwasserstoffregen und verwandelte das gelb-braune Land in einen brodelnden Sumpf. Dunst trübte die eisige Stickstoff-Methan-Atmosphäre und verdichtete sich. Nur hin und wieder rissen die rötlichen Wolkenbänke auf. Im Schwarz des Weltraums glitzerten dann die Sterne wie Diamantsplitter auf Samt.
Krohn Meysenhart warf einen Blick auf sein Kombiarmband. Es zeigte ihm minus 160 Grad Celsius.
Er stand bis zu den Knien im zähflüssigen, teerartigen Kohlenwasserstoff, der sich in den Bodensenken sammelte und, vom Wind gepeitscht, unruhig wogte. Wie Schorf auf schwarzer Haut bildeten sich gelegentlich helle Bereiche aus Methankristallen. Die Temperatur sank weiter. Binnen einer Minute lag sie bei minus 186 Grad Celsius.
Meysenhart ging weiter. Bei jedem Schritt gab der Kohlenwasserstoffschlamm schmatzende Laute von sich. Der Sturm frischte heulend auf, und dunkel rauschte der Teerregen.
In Meysenharts Helmfunk erklang ein Knacken.
»Hübsche Naturaufnahmen«, sagte Tardus Zanc, der aus großer Höhe beobachtete. »Aber es wird allmählich Zeit für mehr.«
Meysenhart hob den Blick zum wolkenverhangenen Himmel. Irgendwo weit über dem rötlichen Dampf hing der Medientender KISCH in einem stationären Orbit und empfing Meysenharts Panorama der Titanlandschaft. Multifrequenzobjektive im Kameraring des Helmes sorgten für milde psychedelische Effekte; hochempfindliche Richtmikrofone übertrugen jedes noch so leise Geräusch; und der biopositronische Multivisionsrechner der KISCH mischte aus allem den perfekten Trivid-Spaziergang.
Alles für die übersättigten Bürger Terras, dachte Meysenhart mürrisch und amüsiert zugleich.
»Warum antwortest du nicht?«, fragte Tardus Zanc.
Die Stimme des Trivid-Technikers klang nervös. Vor Meysenharts geistigem Auge tauchte ein Bild des Unithers auf: Der grauhäutige Koloss mit den großen melancholischen Augen saß vor einem wuchtigen Mischpult. Zancs Mundrüssel zuckte unaufhörlich von einer Seite zur anderen. Meysenhart kicherte.
»Titan scheint erheiternd auf dich zu wirken«, bemerkte Zanc. »Zum Glück ist das hier keine Live-Reportage. Die Junkies vor den Trivid-Holos würden unsere Speicherbänke mit ihren Beschwerden überschwemmen.«
»Ich nehme grundsätzlich keine Beschwerden an.« Meysenhart seufzte tief. »Solche Emotionsausbrüche machen mich krank.«
»Und mich macht es krank, auf eine vernünftige Frage keine anständige Antwort zu bekommen. Wo steckt eigentlich unser genialer Medieninterpret Wonnejunge? Er war seit Stunden nicht im Bild.«
Meysenhart blickte sich um. Mit einem Knurrlaut schaltete er die optimale Erfassung für das Helmdisplay ein. Die Dunstschwaden schienen aufzureißen. Die Projektion auf der Helmscheibe zeigte die lebensfeindliche Oberfläche des Saturnmonds in aller Deutlichkeit: gelb-brauner Sumpf, brodelnde Teerseen und in der Ferne, am zerklüfteten Horizont, die Stahlfestung.
»Wo bleibt der Kommentar?«, drängte Zanc. »Wonnejunge, verdammt, bei allen Giftgeistern ...«
Meysenhart seufzte. Er ging nicht davon aus, dass der Junge in einer der Kohlenwasserstoffpfützen ertrunken ...
»Könnt ihr eure Ungeduld nicht zügeln?«, erklang auf einmal eine jammernde Stimme. »Zaubern kann ich nicht.«
»Der Kommentar!«, verlangte Tardus Zanc. »Die Zentrumspest soll dich holen, wenn ich nicht sofort mindestens ein halbes Dutzend dramatische Sätze von dir höre!«
Aus dem zähen Teerregen schälte sich Wonnejunges Fladengestalt. Sein durchsichtiger Raumanzug ließ weißes Protoplasma erkennen, ein Dutzend Stielaugen und ebenso viele Stummelbeine und andere Pseudopodien. Der Matten-Willy gestikulierte – und stürzte in einen teergefüllten Spalt. Sein schriller Entsetzensschrei gellte im Minikom.
Krohn Meysenhart seufzte. Es war ein Fehler gewesen, diesen verrückten Matten-Willy mitzunehmen. Wonnejunge war nicht für eine Welt wie Titan geschaffen. In der Tiefkühltruhe der Mondatmosphäre war offenbar der Rest seines Verstands erfroren.
Wonnejunge tauchte wieder auf, paddelte mit allen Pseudopodien und erreichte halbwegs festen Boden. Der zähe Teer tropfte in dunklen Tränen von seinem Raumanzug.
»In Ordnung«, krächzte der Matten-Willy. »Ich bin bereit.«
»Tatsächlich?«, fragte Zanc spöttisch und gab ein trompetendes Räuspern von sich. »Schön, Krohn, oder? Also mit Elan – bitte!«
Meysenhart zuckte resigniert die Schultern. Er reduzierte das Auflösungsvermögen des Kamerarings, bis die Stahlfestung im Dunst verschwand, dann ließ er sie langsam wieder aus den Methanschwaden auftauchen.
»Die Stahlfestung!«, intonierte Wonnejunge mit wuchtig veränderter Stimme. Es war ein vibrierender Bass, dunkel und unheilverkündend wie die Mondnacht. »Das gigantische, düstere Grab des Überschweren, der einst mächtigster Herrscher der Milchstraße war. In einem Block aus purem PEW-Metall ist dort sein Bewusstsein begraben und belauert zornerfüllt die Welt der Körperlichen, die für ihn unerreichbar ist ...«
»Ausgezeichnet!«, lobte Tardus Zanc aus dem Orbit. »Ich schätze, das genügt. Nun zur Festung selbst. Wir brauchen Nahaufnahmen, bevor ihr Leticrons Grabkammer betretet.«
»Ihr könnt sagen, was ihr wollt, mir gefällt diese Sache nicht«, protestierte Wonnejunge. »Dieses Interview mit einem Toten ist in meinen Augen ein gigantischer Betrug. Alles, was nicht live gesendet wird, ist irgendwie manipuliert.«
»Dieser Auftrag bringt uns eine Million Galax«, erinnerte Meysenhart. »Irgendwie müssen wir die Leasingrate für die KISCH bezahlen. Und wenn die Reportage Trans-Terra-TV so gefällt, wie ich mir das erhoffe, haben wir wenigstens für den Rest des Jahres ausgesorgt.«
Er stapfte weiter, durch den Teerregen, gegen den Wind. Wie ein Bergmassiv überragte die Stahlfestung das Sumpfland. Das monströse Bauwerk erstreckte sich über gut hundert Quadratkilometer. Ein flirrender Prallschirm schützte die Festung vor der giftigen Titanatmosphäre, dem Regen, der Kälte und dem tosenden Sturm, der die Kohlenwasserstofftropfen in dichten Schleiern vor sich her peitschte.
»Das ist keine Reportage, sondern ein Film«, zeterte Wonnejunge. »Es verstößt gegen mein Berufsethos, den Kommentar für einen Film zu liefern.«
»Du kannst gern kündigen«, meldete sich Zanc. »Du bist ohnehin unser größter Kostenfaktor.«
Meysenhart sah zu Wonnejunge zurück. Die Stielaugen des Matten-Willys wanden sich wie nervöse Blindschleichen.
Das ist genau das richtige Wort: Blindschleiche, dachte er. Trotz seiner zwölf Augen ist der Matten-Willy blind wie ein Stein. Was er auch wahrnimmt, geht irgendwo auf dem Weg zu seinem Gehirn verloren. Er schleicht nur durch die Welt und gibt sich dabei dem Wahn hin, klarzusehen. Einfach großartig: Der zweitbeste Interstar-Kommunikationsspezialist der Milchstraße, zigfach preisgekrönter Medieninterpret, ist nichts weiter als eine Blindschleiche.
»Oje, oje«, brabbelte Wonnejunge. »Ich hätte auf der Hundertsonnenwelt bleiben sollen. Womit habe ich diese Behandlung nur verdient?«
»Wenn du dich nicht beeilst, wirst du überhaupt nichts verdienen«, gab Meysenhart erzwungen ruhig zurück. »Nicht einen einzigen müden Galax. Bei allen Raumteufeln, beweg dich endlich!«
»Ich kann nicht!«, schrie der Matten-Willy. »Ich ertrinke in dieser Teersuppe!«
»Vorher solltest du dein Flugaggregat einschalten«, empfahl Zanc. »Ich gehe jede Wette ein, das hilft.«
»Oh«, machte der Matten-Willy. Sekunden später stieg er aus dem Sumpf auf schwebte in Richtung Stahlfestung. Meysenhart aktivierte das Gravo-Pak seines eigenen Anzugs und folgte dem Matten-Willy.
Der Kohlenwasserstoffregen wurde dichter. Wo die Teertropfen auftrafen, spritzten Schlammfontänen hoch, und bald verwandelten sich die Regentropfen in nussgroße Hagelkörner. Die Temperatur sank weiter. Meysenhart und Wonnejunge überflogen einen Felsgrat, der wie der Kamm eines versunkenen Drachen aus dem Schlamm ragte.
Die Festung wurde größer.
»Wundervoll«, lobte Zanc, der im Orbit die Aufnahmen überwachte, die Meysenharts Kommunikationsmontur lieferte. »Wonnejunge, ich brauche den nächsten Kommentar. Worauf willst du eigentlich warten?«
Erneut sank die enervierend schrille Stimme des Matten-Willys zum Bass.
»Die Festung«, dröhnte er. »Sie ist ein Koloss, ein stählernes Ungeheuer, das hungrig über der sturmgepeitschten Ebene lauert, unbeeindruckt von der Kälte und der tödlich giftigen Atmosphäre, ein Schattenriss am nächtlichen Horizont. Vor einem halben Jahrtausend im Auftrag Leticrons erbaut, atmet sie bis heute den Geist der Schreckensherrschaft aus. Wenn der Beobachter ruhig ist und lauscht – dann hört er noch das Stampfen der Hufe, die einst den Hof der Säulen im Herzen der Festung erschütterten. Das Echo der gnadenlosen Turniere, die die Überschweren auf ihren Roboterpferden austrugen. Barbarische Rituale wie vieles, was mit den SVE-Raumschiffen des Konzils der Sieben in die Milchstraße kam. Hinter den Stahlmauern der Festung haust Leticron als ruheloser Geist und verflucht in seinem ewigen Zorn das Schicksal, das ihn so schrecklich gestraft hat für Taten, die nicht weniger schrecklich waren ...«
Ich komme, Leticron, dachte Krohn Meysenhart, kaum dass Wonnejunge verstummte. Ich, der galaktische Medienmann Nummer eins, der Letzte aus der Zunft der Rasenden Reporter, bin auf dem Weg zu deinem stählernen Grab. Ich werde dir Fragen stellen, und du wirst mir Antworten geben, die alle satten und trägen Terraner aus ihrer selbstzufriedenen Lethargie reißen müssen. Interview mit einem Toten. Du wirst uns reich machen, Leticron, mich und diesen verquasten Matten-Willy, dazu die nicht minder nervige Crew der KISCH ...
Jäh ließ der Regen nach. Der Dunst aus Kohlenwasserstoff, im fahlen Schein der fernen Sonne aus dem Methangas der Titanatmosphäre entstanden, verflüchtigte sich. Der Himmel riss auf, die ersten Sterne flimmerten am Firmament. Die Zinnen der Stahlfestung warfen in der fahlen Helligkeit unruhige Schatten, die den Festungswällen einen Anschein von Leben verliehen.
»Großartig!« Tardus Zanc seufzte. »Herrliche Szenen!«
Unaufgefordert setzte Wonnejunge seinen Kommentar fort: »Selbst heute, vierhundertfünfzig Jahre nach Leticrons körperlichem Tod, verströmt die Titanfestung eine unverkennbare Drohung. Es ist, als ob in den nächsten Sekunden die Überschweren auf ihren eisernen Pferden durch das große Tor galoppieren werden, um jeden zu vertreiben, der es wagt, in ihr Reich einzudringen ...«
»Kosmisch!«, lobte Zanc.
Hinter der monströsen Festung ging der Saturn auf.
Zuerst war da nur ein dünner Streifen, der wie aus dem Nichts über den Zinnen entstand: der äußere Ring des Riesenplaneten. Immer mehr des faszinierenden Rings stieg in die Höhe, dann folgte mit majestätischer Gelassenheit Saturn selbst. Gewaltige Orkane wühlten seine eisige Atmosphäre auf, nicht anders als seit Jahrmillionen. Eine Orgie aus Gelb und Braun, von blassblauen und hellroten Flecken durchsetzt, so bot sich die Gaswelt dem Auge dar. Saturn war ein Gigant, durchmaß über 120.000 Kilometer.
Leticrons Stahlfestung schrumpfte vor diesem Hintergrund zur fahlen Silhouette. Je weiter sich Meysenhart und Wonnejunge aber der Festung näherten, desto beklemmender gewann diese ihre Bedeutung zurück. Schließlich gab es nur noch die Festung, ihre gigantischen Mauern verbargen den Ringplaneten und sperrten den Himmel und die Sterne aus.
Wonnejunge verknotete die Stielaugen, blickte an dem stählernen Wall und den Zinnen hinauf, und dann duckte er sich, als fürchtete er, entdeckt und verschlungen zu werden. »Und nun?«, fragte er schrill. »Was machen wir?«
»Tardus!«, drängte Meysenhart.
»Ein wenig Geduld«, antwortete der Unither. »Ich habe mit dem Direktor des Museums in der Festung gesprochen. In ein paar Sekunden wird für uns eine Strukturlücke im Prallschirm geschaltet.«
Meysenhart und der Matten-Willy warteten schweigend. Der Saturn stieg höher und höher, als wollte er den ganzen Himmel ausfüllen. Von Osten trieben erneut Wolken aus Kohlenwasserstoff heran, blutige Nebelbänke, die aus dieser Perspektive dicht über der Sumpflandschaft zu hängen schienen. Zudem wurde es wärmer. Auf den Teerteichen verdampfte die dünne Schicht aus Methaneis.
Nahe vor Meysenhart entstand ein Riss in dem Kraftfeld, wurde breiter und wölbte sich zu einer energetischen Schleusenkammer, die verhindern sollte, dass sich Stickstoff und Methan mit der erdähnlichen Atmosphäre innerhalb des Prallschirms vermischten.
Schweigend eilten Meysenhart und der Willy weiter. Sie passierten die Schleusenkammer, vor ihnen öffnete sich ein Schott in der Festungsmauer.
Die Umrisse einer menschlichen Gestalt zeichneten sich im Durchgang ab. »Willkommen im Grabmal des Überschweren, dem stählernen Mausoleum«, sagte sie.
Meysenhart fokussierte die Stirnkamera auf die Gestalt. Sie war groß und sehr hager, gespenstisch blass, haarlos, mit runzligem Gesicht. Die charakteristische Eiform des Schädels verriet den Ara.
Der Mann hieß Rarp. Er war ehemaliger Schönheitschirurg, spezialisiert auf Swoon und Blues, jedoch längst der beste Informationssammler der Milchstraße, außerdem Mitglied in Meysenharts Mediencrew. Rarp beugte sich nach vorn, äugte düster in Meysenharts Kamera und verzog die fahlen Lippen zu einem Lächeln, das Uneingeweihten einen Schauder über den Rücken gejagt hätte.
»Tretet ein und lasst alle Hoffnungen fahren ...«, sagte er heiser.
Wonnejunge stieß einen Pfiff aus. »Was für ein Schmierentheater. Unfassbar!«
»Wundervoll«, korrigierte Zanc über Funk. »Genau das, was unsere Abnehmer sehen wollen.«
Ohne den Matten-Willy eines Blicks zu würdigen, machte Rarp kehrt und schritt den kahlen Gang entlang, der wie ein Schlauch in die Stahlfestung führte. Meysenhart folgte ihm in einigem Abstand.
Wonnejunge tappte zögernd hinter ihnen her. »Ich verlange, dass mein Name aus diesem Machwerk getilgt wird!«, rief er. »Was sollen die Fans von mir denken, wenn sie sehen, dass ich mein Genie als Medieninterpret ...«
»Ruhe!«, brüllte Zanc.
Unbeirrt eilte der Ara weiter. Der Gang knickte nach einer Weile ab und mündete in einen geräumigen Innenhof mit einer Säule aus blauem Kristall in der Mitte. Quer über den Hof ging es weiter, durch ein Labyrinth von Tunneln und Rampen bis zu einem düsteren Gewölbe.
Rarp blieb stehen.
Meysenhart ging in die Knie und filmte den Ara von unten.
»Vor zweihundert Standardjahren hauste Leticron an einem anderen Ort in der Festung«, erläuterte Rarp. »Terranische Wissenschaftler wollten ihn aus seinem Kerker befreien und sein Bewusstsein einem gentechnisch erzeugten Androidenkörper einpflanzen. Dafür schmolzen sie den Metallsockel ein, in dem Leticron existierte, und destillierten den Parabio-Emotionalen-Wandelstoff heraus – den Klumpen PEW-Metall, der das eigentliche Grab des Überschweren war. Aber Leticron weigerte sich, sein Gefängnis zu verlassen. Deshalb wurde die pure PEW-Substanz in dieses Gewölbe zurückgebracht. – Tretet näher.«
Der Ara wirbelte herum und hüpfte mit einem grotesken Satz in das Gewölbe. Meysenhart und Wonnejunge folgten ihm.
Das Gewölbe war bis auf einen hüfthohen Stahlsockel an der Rückwand leer. Auf dem Sockel lag ein kopfgroßer Klumpen eines türkisfarben schillernden Materials. Das war die PEW-Substanz mit Leticrons Bewusstsein. Langsam ging Meysenhart darauf zu.
»Sehr schön«, meldete sich Tardus Zanc. »Vielleicht könntest du etwas langsa...«
Ein Warnsignal schrillte, Meysenharts Kommunikationsmontur meldete eine Systemstörung. Verwirrt musterte er sein Armbanddisplay. Alle akustischen und optischen Aufzeichnungs- und Übertragungssysteme waren blockiert. Es gab keine Funkverbindung mehr mit der KISCH.
Die Rückwand des Gewölbes löste sich auf. Das scheinbar massive Metall flimmerte – und verschwand. Dahinter lag ein hell erleuchteter Raum. Ein halbes Dutzend Terraner in orangeroten SERUNS standen dort. Einer der Männer klappte in diesem Moment seinen Helm zurück und sah Meysenhart ironisch lächelnd entgegen.
Krohn Meysenhart kannte diesen Mann. Es war Julian Tifflor, der Erste Terraner und einer der Sprecher der Kosmischen Hanse.
»Ich habe einen Auftrag für dich, Krohn Meysenhart«, eröffnete Tifflor. »Das ist etwas, das nur der beste Medienmann der Milchstraße ausführen kann.« Er machte eine kurze und bedeutungsvolle Pause. Zweifellos genoss er Meysenharts Verblüffung. »Ein Live-Bericht über die Ankunft der Endlosen Armada in der galaktischen Eastside. Wir wollen, dass du mit deiner Crew eine wahre Show inszenierst. Ein kosmisches Spektakel für fünfhundert Milliarden Zuschauer über die Ankunft einer Flotte, die aus Millionen und Abermillionen Raumschiffen besteht. Traust du dir das zu, Krohn? Die Moderation einer Show, die in der gesamten Milchstraße empfangen wird – auf Terra und Gatas, auf Arkon, Ertrus, Plophos, Topsid, Aralon und Siga, auf Swoofon und Akon, überhaupt auf allen Welten, die der GAVÖK angehören.«
Meysenhart taumelte wie unter einem Faustschlag. Er war derart verblüfft, dass er Tifflor nur anstarren konnte.
Alles erinnerte an einen Traum, aber es war kein Traum. In der einen Sekunde hatte sich Perry Rhodan noch in der Zentrale der BASIS befunden, im Kreis seiner Freunde und Vertrauten, umringt von Gesil, Vishna, Nachor, Jercygehl An, Waylon Javier – in der nächsten schwebte er im Nichts des intergalaktischen Raumes.
Er war nicht allein in der Leere. Neben ihm war Taurec.
Jäh wurde ihm bewusst, dass der Helm seines SERUNS nicht geschlossen war. Er trieb in der Kälte des Vakuums, trotzdem konnte er problemlos atmen wie auf der BASIS.
»Ein dramatischer Abgang«, sagte er spöttisch, ohne sich darüber zu wundern, dass seine Stimme im Vakuum deutlich zu hören war. »Dein Sinn für spektakuläre Effekte ist so ausgeprägt wie eh und je.«
Die gelben Raubtieraugen des Kosmokraten blitzten. »Was du für ein Spektakel hältst, Terraner, wird von der Notwendigkeit diktiert.«
»Ich glaube dir kein Wort.« Rhodan blinzelte in die kosmische Nacht. Er hatte oft die Milchstraße aus großer Entfernung gesehen und irrte sich bestimmt nicht: Die gewaltige Sterneninsel mit den deutlich erkennbaren Spiralarmen war die heimische Galaxis. So sah sie aus mindestens hunderttausend Lichtjahren Distanz aus.
In seinen Gedanken klangen Taurecs letzte Worte in der BASIS-Zentrale nach: »Du hast inzwischen so viel Mentalenergie angesammelt, dass du eine wichtige Aufgabe unmittelbar im Frostrubin erledigen kannst ...«
Im Frostrubin!
Rund dreißig Millionen Lichtjahre entfernt!
Mit einem leichten Frösteln erinnerte er sich an seinen ersten Vorstoß in dieses unbegreifliche Gebilde, das rotierende Nichts inmitten der kosmischen Trümmerwüste, die vor über zwei Millionen Jahren eine Zwerggalaxis gewesen war. Bei diesem ersten Vorstoß war der Frostrubin noch von Seth-Apophis als Bewusstseinsdepot missbraucht worden. Voller Unbehagen dachte Rhodan an die gespenstischen Erlebnisse in der irrealen Welt zurück.
»Wie geht es dir?«, fragte Taurec.
Rhodan wandte sich wieder dem Kosmokraten zu. »Gut. Nur ...« Er runzelte die Stirn. Da war dieses Ziehen und Nagen im Hintergrund seiner Gedanken. Das Gefühl, dass etwas absolut Fremdes dicht bei ihm war und auf ihn wartete – so geduldig wie eine Spinne in ihrem Netz, die ihre Beute längst wahrnahm. Instinktiv spürte er, dass dieses Etwas der Frostrubin selbst war, das mutierte psionische Feld TRIICLE-9, das nach äonenlanger Irrwanderung von den Porleytern auf halbem Weg zwischen der Milchstraße und der Galaxis NGC 1068 verankert worden war.
»Wir existieren momentan nicht körperlich«, sagte Taurec. »Obwohl wir glauben, unser Fleisch und Blut zu spüren und Herr unserer Sinne zu sein, ist dies eine Täuschung. Wie so vieles in diesem Universum.«
Rhodan musterte den Kosmokraten, während sie beide durch das Nichts fielen. Taurec hatte den Körper eines Menschen. Sein kurzes, rostrotes Haar; das kantig-harte, von Sommersprossen übersäte Gesicht; die gelben Raubtieraugen ... Jeder Uneingeweihte hätte ihn für einen Terraner gehalten, wenigstens für einen Kolonistenabkömmling von einem erdähnlichen Planeten. Dennoch war Taurec so fremd wie es kein anderes Geschöpf dieses Universums sein konnte.
Der Einäugige, wie er sich selbst mit einer Spur von Sarkasmus oder auch Spott genannt hatte, stammte aus den Bereichen jenseits der Materiequellen. Er war durch tausend Höllen gegangen, um sich für seine Mission zu stählen. Niemand wusste mit Sicherheit, ob Taurec tatsächlich ein Kosmokrat war oder nur von ihnen beauftragt. Aber das spielte keine Rolle. Wichtig war, dass für ein Wesen wie Taurec dieses Universum eine absonderliche Region zu sein schien. Vishna hatte es Reginald Bull gegenüber so formuliert, und selbst wenn dieser Vergleich der Wahrheit nur annähernd entsprach, vermittelte er doch eine Vorstellung davon, wie Taurec zumute sein musste.
Hinabgestiegen in die Hölle, zu den schrecklichen Kreaturen der Unterwelt ... Perry Rhodan verdrängte die Überlegung. Solche Spekulationen brachten ihn nicht weiter. Immerhin verstand er, weshalb die Kosmokraten auf seine Hilfe angewiesen waren. Warum sie trotz ihrer überlegenen Macht und Weisheit manchmal fast hilflos im Kampf gegen die Kräfte des Chaos wirkten. Warum sie ihre Stärke nicht in einem einzigen gewaltigen Schlag einsetzten und den Dekalog der Elemente, den Herrn der Negasphäre und alle anderen Vertreter der Chaosmächte hinwegfegten: Weil ihnen diese Welt fremd zu sein schien, unverständlich und rätselhaft. Der Übergang in eine höher entwickelte Daseinsform, der Sprung von einer Materiequelle zu einem Kosmokraten, hatte sie der Fähigkeit beraubt, die niedere Sphäre in all ihrer Komplexität zu erfassen.
Genau diese Erkenntnis bewahrte Rhodan davor, in Ehrfurcht zu erstarren oder angesichts seiner menschlichen Schwäche und Bedeutungslosigkeit zu resignieren. Seine Schwäche war gleichzeitig seine Stärke; und seine Ohnmacht in einer Auseinandersetzung, die wohl das gesamte Universum umspannte, verschaffte ihm eine Macht, die ein Wesen wie Taurec nie erringen konnte.
Ich bin deshalb kein Werkzeug, dachte er. Ich bin eher Partner der Kosmokraten, gleichberechtigter Verbündeter. Vieles, was sie wissen, wird mir vielleicht für immer unbekannt bleiben. Aber ich darf sicher sein, dass es den Kosmokraten nicht anders ergeht. Wir ergänzen uns. Allein auf sich gestellt muss jeder gegen die Mächte des Chaos unterliegen, erst gemeinsam sind wir unschlagbar.
Er suchte Taurecs Blick, und für einen Moment glaubte er in den gelben Augen eine ähnliche Überzeugung zu lesen. Rhodan lächelte. »Eine Täuschung?«, griff er Taurecs letzte Bemerkung auf. »Du irrst dich. Ich sehe keine Täuschung in unserem Universum, nur viele Wahrheiten. Sie mögen auf den ersten Blick widersprüchlich sein, sind aber Aspekte einer einzigen Wahrheit. Und wenn du weiterhin Täuschungen zu sehen glaubst, wo ich Wahrheiten spüre, Kosmokrat, dann halte dich an meiner Seite. Damit du dich nicht verirrst ...«
Taurecs Miene erstarrte. Das Funkeln seiner Augen wurde trüb und ließ so etwas wie Schmerz erkennen. »Wir schweifen ab und vergeuden unsere Zeit«, sagte er schroff.
Rhodan nickte. »Kommen wir zum Thema: Warum sind wir hier? Du sagtest, unser Ziel sei der Frostrubin. Du sagtest auch, ich hätte inzwischen genug von meiner deponierten Mentalsubstanz angesammelt, um dort eine Aufgabe erfüllen zu können.«
Der ferne Schimmer der Milchstraße spiegelte sich in den silbergrauen Stahlplättchen des Flüsterhemds, das wie eine zweite Haut um Taurecs Körper lag.
»Wir sind hier, weil wir auf den Transferjet warten müssen«, antwortete der Kosmokrat nach kurzem Schweigen. »Der Frostrubin hat sich durch die Mentalenergiestöße der Chronofossilien verändert. Nicht einmal mit der SYZZEL dürften wir es noch wagen, in TRIICLE-9 einzudringen. Der Frostrubin würde dich töten und mich aus diesem Universum schleudern. Der Transferjet wurde für solche Notfälle konstruiert, hat jedoch einen weiten Weg zurückzulegen, weiter, als du es dir vorzustellen vermagst. Deshalb warten wir. Und währenddessen wirst du einige Gegebenheiten erfahren, von denen in all den vergangenen Äonen nur eine Handvoll Wesen dieses Kosmos gehört haben. Es geht dabei um das grundlegende Geheimnis des Seins, und vielleicht verstehst du, wie extrem die Situation ist, dass einem Wesen wie dir dieses Geheimnis enthüllt wird, Perry Rhodan ...«
Rhodan bemerkte die Anspielung, die in dieser Bemerkung lag, doch der unausgesprochene Vorwurf des niedrigen Entwicklungsstands prallte von ihm ab. Vielleicht kenne ich ein viel größeres und grundlegenderes Geheimnis, Kosmokrat, dachte er. Ich weiß, dasswir gleich sind, so verschieden wir erscheinen mögen. Wir sind gleichberechtigt, Taurec ... Er sprach nichts davon aus, sondern hörte schweigend zu.
»Das Geheimnis des Seins, Terraner, liegt in den psionischen Feldern der universellen Doppelhelix des Moralischen Codes verborgen. Das Geheimnis des Seins ist das Geheimnis der wahren Endlosen Armada, und du wirst dieses Geheimnis erfahren, damit du deine Aufgabe im Frostrubin erfüllen kannst.
Du weißt, dass die Beschädigung des Moralischen Codes in grauer Vorzeit verheerende Folgen für dieses Universum hatte. Die ursprüngliche Einheit der Kraft, die allen beseelten Dingen innewohnt und ihnen die Fähigkeit verleiht, im Positiven und im Negativen zu wirken ... diese Einheit zerbrach. Das negative Potenzial verselbstständigte sich, die Chaosmächte gewannen an Terrain. Was einst der Spiegel des Positiven war – die Finsternis, die erst dem Licht seine Größe verleiht –, hörte auf, das Positive zu ergänzen. Mit der Beschädigung des Moralischen Codes erhielt das Ringen, in das die Mächte der Ordnung und des Chaos verstrickt sind, eine neue Dimension.«
Rhodan fragte sich, warum Taurec diese bekannten Gegebenheiten erwähnte. Weil sie nur die Oberfläche waren, unter der versteckt die Wahrheit lag? Er schwieg und wartete, drehte sich träge im Nichts, von ewiger Nacht und Sternenschimmer umgeben, und nach einer kurzen Pause fuhr Taurec mit seinem Bericht fort.
»Der Begriff Moralischer Code ist irreführend – wenn du ihn im beschränkten Sinn der menschlichen Moral verstehst. Es geht nicht um so abstrakte Begriffe wie Gut oder Böse. Es geht auch nicht darum, das Böse zu eliminieren, denn das Gute wirkt nur positiv im Vergleich. Wie soll jemand eine positive Entwicklung beurteilen können, wenn er nicht weiß, wie die negative Alternative aussieht? Wie kann das Gute als gut erkannt werden, wenn es keinen Maßstab dafür gibt? Verstehst du, Perry Rhodan? Das Böse auszulöschen wäre gleichbedeutend mit dem Ende des Guten.
Wer also glaubt, dass der Moralische Code diesem Ziel dient, unterliegt einem Irrtum. Die in der psionischen Doppelhelix codierte Moral ist viel umfassender: Sie ist gleichbedeutend mit dem Sein an sich, mit der Existenz des Universums in der Form, die dir so vertraut und selbstverständlich erscheint.«
Taurecs Raubtieraugen suchten Rhodans Blick. Aber ist die Erscheinungsform des Universums nicht selbstverständlich, nicht natürlich in der grundlegenden Bedeutung des Begriffs?, ging es Rhodan durch den Sinn.
Taurec schien seine Gedanken zu lesen, denn er sagte: »Was dir und allen anderen Bewohnern dieses Universums als natürlich erscheint, ist keineswegs natürlich. Es ist das Resultat eines universellen Schöpfungsprogramms, das in der psionischen Doppelhelix des Moralischen Codes gespeichert ist. Die Welt, in der du lebst, ist keine unveränderliche Welt mit feststehenden Gesetzen. Dein Universum, wie es seit fünfzehn oder zwanzig Milliarden Jahren existiert, existiert in dieser Form nur durch das in der wahren Endlosen Armada gespeicherte Programm.« Taurec hob die Stimme. »Der Moralische Code programmiert das Universum, und jede Veränderung dieses äonenalten Programms bedeutet eine Veränderung der Natur des Universums!«
Rhodan starrte den Kosmokraten an. Die Konsequenzen, die sich aus dem eben Gehörten ergaben, ließen ihn schwindeln.
»Demnach gibt es keine Sicherheit?«, folgerte er heiser. »Jederzeit können die Säulen der Welt nachgeben, kann das Universum zerfallen, sich auflösen und in völlig anderer Form neu entstehen. Ist das es, was du sagen willst?«
Taurec nickte in abgeschauter menschlicher Manier. »Genau dies ist das Ziel der Chaosmächte. Seit sie existieren, trachten sie danach, das Schöpfungsprogramm zu ändern, vielleicht sogar vollständig zu löschen und durch ein Programm zu ersetzen, das ihre Interessen spiegelt.«
Rhodan machte eine hilflose Handbewegung. »Wie sollte das gelingen? Auf welche Weise können sie das Schöpfungsprogramm manipulieren?«
»Indem sie die einzelnen Psi-Felder der Doppelhelix des Moralischen Codes in ihre Gewalt bringen. Indem sie nach und nach alle Bestandteile aus der universellen Doppelhelix herauslösen oder sie beschädigen, zerstören, pervertieren. Du musst wissen, Perry Rhodan, dass jedes dieser Psi-Felder das vollständige Programm des Universums enthält und dass jedes einzelne Psi-Feld in permanenter Verbindung mit einem bestimmten Bereich des Kosmos steht. Die Verbindung ist informell und interaktiv. Informell, weil eine ständige Informationsübertragung zwischen dem jeweiligen Psi-Feld und jener kosmischen Region stattfindet, für die dieses Feld zuständig ist. Interaktiv, weil die Übertragung in beide Richtungen erfolgt – eine Rückkopplung, die der Überwachung des Schöpfungsprogramms dient.«
»Was sind das für Informationen?«, fragte Rhodan. »Wie werden sie übertragen?«
»Es gibt n-dimensionale Botenstoffe, die wir als Messenger bezeichnen. Sie halten den Informationsfluss aufrecht. Und die Informationen selbst ...« Ein leicht überhebliches Lächeln blitzte in Taurecs Gesicht auf. »Nun, Menschen wie du bezeichnen diese Informationen als Naturgesetze. Gesetze, die die Struktur des Universums bestimmen. In jedem Psi-Feld der wahren Endlosen Armada gibt es beispielsweise einen Informationspool, der die Geschwindigkeit des Lichts festlegt. Permanent wird diese Information dem Universum übermittelt, sodass die Lichtgeschwindigkeit in deinen Augen zu einer naturgesetzlichen Konstante wird, unveränderlich für alle Zeit festgelegt. Doch der Eindruck täuscht. Deshalb sprach ich zunächst davon, dass dieser Kosmos eine Welt der Täuschungen ist. Ein Eingriff in den Informationspool Lichtgeschwindigkeit, eine Veränderung der gespeicherten Information, würde sofort die Lichtgeschwindigkeit selbst verändern.
Die Kontrolle des Moralischen Codes ist also gleichbedeutend mit der Kontrolle des Universums. Wer die Fähigkeit oder die Macht hat, Informationen des Schöpfungsprogramms zu manipulieren, der verfügt über das, was du als Allmacht bezeichnen würdest.
Es gibt Informationspools, die den absoluten Nullpunkt der Temperatur festlegen. Andere Pools sorgen dafür, dass die Evolution nach dem Prinzip der natürlichen Auslese, der Anpassung an die Umwelt funktioniert; dass die Schwerkraft mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt und nicht wächst; dass unter bestimmten Druck- und Temperaturverhältnissen in interstellaren Wasserstoff-Helium-Ballungen Kernfusionsprozesse einsetzen und aus Gaswolken Sonnen werden; dass sich bestimmte Atome zu bestimmten Molekülen zusammenfügen ... Diese Aufzählung könnte ich endlos fortsetzen. Eben diese Informationen aus Myriaden von Pools werden dem Universum durch die Messenger einprogrammiert. Das Universum wird geformt, und seine Form wird in jenem n-dimensionalen Rückkopplungsprozess überwacht. Kommt es zu Abweichungen im Programm, wird die Quantität und Qualität der Messenger gesteigert und die Abweichung behoben.«
Taurec sah Rhodan ernst an. »Und nun stell dir vor, was geschieht, wenn die Informationspools im Code geändert oder gar gelöscht werden ...«
»Das Universum löst sich auf«, murmelte Rhodan. »Es versinkt im Chaos.«
Er fror. Doch im nächsten Moment glaubte er, einen Fehler in Taurecs Bericht zu entdecken. »Aber TRIICLE-9, genau so ein Psi-Feld, ist mutiert!«, rief er. »Und nicht nur mutiert, sondern aus der psionischen Doppelhelix herausgefallen! Warum hatte diese Katastrophe keine anderen Auswirkungen als die verstärkte Offensive der Chaosmächte?«
»Du übersiehst, dass es Abermilliarden Psi-Felder gibt, von denen jedes nur einen winzigen Bereich des Universums abdeckt. Die kosmische Region, die von TRIICLE-9 programmiert wurde, ist sehr wohl von einer Katastrophe heimgesucht worden, deren Ausmaß das menschliche Fassungsvermögen übersteigt. Diese Region ist weit entfernt, du hast sie nie gesehen, trotzdem kennst du ihren Namen.«
Ein entsetzlicher Verdacht keimte in Rhodan auf. Er dachte an den Dekalog der Elemente, an die Erkenntnisse, die er inzwischen über dieses Werkzeug der Chaosmächte gewonnen hatte, und an den Herrn der Elemente.
»Die Negasphäre!«, stieß er hervor. »Du sprichst von der Negasphäre?«
»So ist es«, bestätigte Taurec. »Die kosmische Region, deren Schöpfungsprogramm von TRIICLE-9 garantiert wurde, ist zur Negasphäre geworden. Dort gibt es keine Stabilität mehr, keine Sicherheit, keine Logik und keine dauerhaften Naturgesetze, alles wurde pervertiert. Seit die Informationsübertragung durch TRIICLE-9 abbrach, löst sich das Schöpfungsprogramm in der Negasphäre auf. Das Universum zerfällt an jenem Ort.
Dieser Zerfall begann vor Jahrmillionen und dauert bis heute an, nähert sich aber unaufhaltsam seinem Ziel. Dieses Ziel ist das Nichts. Und vor allem: Die Mutation von TRIICLE-9, die Lücke, die der Frostrubin in der Doppelhelix des Moralischen Codes hinterlassen hat, beschwört eine entsetzliche Gefahr herauf, den Domino-Effekt. Die Nachbarfelder werden ebenfalls mutieren und sich aus der wahren Endlosen Armada lösen. Auf diese Weise können weitere Negasphären entstehen, bis der Prozess irreparabel wird und sich das gesamte Universum in eine Negasphäre wandelt.
Deshalb, mein Freund, bin ich in eure Welt gekommen«, fuhr Taurec bedeutungsschwer fort. »Die Kosmokraten versuchen alles, um den Frostrubin zurück an seinen ursprünglichen Standort zu bringen, in die Tiefe. Dort arbeiteten unsere Verbündeten, die Raum-Zeit-Ingenieure, an einem Ersatz für TRIICLE-9. Leider deutet alles darauf hin, dass sie versagt haben. In all den Millionen Jahren ist es ihnen nicht gelungen, das mutierte Psi-Feld zu rekonstruieren. Zweifellos sind sie in der Tiefe gefangen, in der Region unter dem Raum – dort, wo deine Freunde Atlan und Jen Salik seit zehn Monaten versuchen, die Rätsel ihres Versagens zu ergründen. Erkennst du, welche Verantwortung auf dir lastet?«
Taurec verstummte. Wortlos sahen Perry und er einander an.
»Du bist die letzte Hoffnung der Kosmokraten«, sagte der Einäugige nach einer Weile, als die Stille unerträglich zu werden drohte. »Die Chronofossilien, die Abdrücke in der Zeit, die du auf deinem mehr als zwei Jahrtausende währenden Weg zu den Sternen hinterlassen hast, sind der Hebel, der den Frostrubin aus seiner Verankerung lösen und zurück zur Tiefe befördern kann. Indem du in die Geschicke in diesem Bereich des Kosmos eingegriffen und negative Entwicklungen ins Positive verkehrt, zäh und verbissen für den Frieden und die Freiheit gekämpft hast, sind Bruchstücke deiner Persönlichkeit mit dem universellen Psi-Netz des Moralischen Codes und seiner psionischen Botenstoffe eins geworden. Dein Leben, Perry Rhodan, hat sich mit dem Moralischen Code verknüpft. Du aktivierst die unvorstellbare Macht der psionischen Doppelhelix, indem du die Chronofossilien abfliegst und deine deponierte Mentalsubstanz wieder aufnimmst, und durch diese Macht wird TRIICLE-9 zurückgerufen.
Damit der Frostrubin sich wieder in die Doppelhelix einfügt und das beschädigte Schöpfungsprogramm seine Geschlossenheit zurückgewinnt.
Du hast schon viel erreicht, aber mit jedem weiteren Chronofossil, das du erfolgreich aktivierst, werden die Mächte des Chaos verzweifelter. Jeder deiner Siege führt zu einem umso härteren Ringen; jeder Erfolg vergrößert die Gefahr einer Niederlage.«
»Das ist zu viel!«, wollte Rhodan rufen. »Die Verantwortung ist zu groß für mich! Ich bin nur ein Mensch. Ihr dürft einem einzigen Menschen nicht diese entsetzlich große Verantwortung aufbürden! Ich kann dem nicht gerecht werden ...«
Doch welche Wahl hatte er?
Welche Wahl hatten alle die ungezählten Intelligenzen dieses Kosmos und sogar die Kosmokraten angesichts der längst angelaufenen Katastrophe?
»Was haben die Chaosmächte davon, wenn das Schöpfungsprogramm durch die Zerstörung des Moralischen Codes gelöscht wird?«, fragte Rhodan rau. »Wäre der Zerfall des Universums nicht gleichbedeutend mit ihrem eigenen Untergang?«
»Vielleicht ist es ihnen egal«, antwortete Taurec. »Vermutlich ist ihr Denken so verschieden von unserer Mentalität, dass nicht einmal ihr eigener Tod sie schreckt. Außerdem gibt es eine weitere Möglichkeit ...«
Rhodan schauderte. »Du meinst, dass sie den Moralischen Code nicht löschen, sondern ihn verändern wollen? Dass sie ein eigenes Schöpfungsprogramm planen, das ihrer Vorstellung eines Universums entspricht?«
»Genau das ist denkbar. Vieles deutet sogar darauf hin.«
»Der Moralische Code, das Schöpfungsprogramm ...« Fiebrige Erregung hatte Rhodan gepackt und ließ ihn nicht mehr los. »Bezieht sich darauf die Dritte und Letzte der Ultimaten Fragen? Wer hat das GESETZ initiiert und was bewirkt es? Ist das GESETZ identisch mit dem Schöpfungsprogramm? Bewirkt das GESETZ die Informationsübertragung aus den einzelnen Psi-Feldern der psionischen Doppelhelix zum Universum? Und vor allem: Ist die Wirkung des GESETZES identisch mit dem Erhalt des Kosmos in seiner jetzigen Form?«
Aber wer, fragte er sich, hatte das GESETZ initiiert? Die Kosmokraten? Oder eine Macht, die über den Kosmokraten stand?
»Ich weiß es nicht«, antwortete Taurec, und Rhodan spürte instinktiv, dass er die Wahrheit sprach.
Er dachte an die beiden ersten Ultimaten Fragen. Und daran, dass die Kosmokraten die Teilrekonstruktion des Virenimperiums wohl nur deshalb betrieben hatten, um die Antworten auf die Ultimaten Fragen zu erhalten. Mittlerweile wusste Rhodan aus Ordobans Lebensgeschichte, dass die Kosmokraten die Antworten zumindest auf die beiden ersten Fragen kennen mussten. Er hatte in den letzten Wochen oft darüber nachgedacht, warum er auserwählt wurde, Antworten zu finden, die den Mächten jenseits der Materiequellen seit Urzeiten bekannt waren. Aber weder Taurec noch Vishna konnten ihm eine Erklärung dafür geben. Selbst das Virenimperium schwieg in der Hinsicht beharrlich – wie er inzwischen aus den Berichten Reginald Bulls wusste. War es möglich, dass die Kosmokraten die Antwort auf die Dritte Ultimate Frage tatsächlich noch nicht kannten?
Perry Rhodan wurde in seinen Gedanken unterbrochen, weil Taurec weiterredete.
»Natürlich könnte das GESETZ identisch mit dem Inhalt des Moralischen Codes sein. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, dass wir hier einem Trugschluss unterliegen. So wie es dir erging, als du die Wachflotte von TRIICLE-9 mit ihren Abermillionen Raumschiffen für die wahre Endlose Armada gehalten hast. Zudem ... es beantwortet nicht den ersten Teil der Frage: Wer hat das GESETZ initiiert?«
»Waren es nicht die Kosmokraten?«
»Vielleicht.« Taurec verzog die Mundwinkel. »Oder ihre Vorgänger? Ihre Nachfolger? Wer weiß ...« Er schien in sich hineinzuhorchen und sagte übergangslos: »Der Transferjet wird in Kürze eintreffen. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, ich muss dich über deine Aufgabe im Frostrubin aufklären.«
»Ich höre«, sagte Rhodan.
»Wie schon erwähnt: Die Aktivierung der Chronofossilien sorgt für die Lockerung des porleytischen Ankers und bewirkt letztlich die Rückkehr des Frostrubins. Vor Kurzem haben Vishna und ich jedoch eine Entdeckung gemacht, die einen direkten Eingriff in TRIICLE-9 erfordert. Die n-dimensionalen Schockwellen, die den Frostrubin nach jeder Fossilaktivierung durchlaufen, hätten die Folgen der Pervertierung durch Seth-Apophis beseitigen müssen. Teilweise ist dies auch geschehen, aber dann kam ein unerwarteter Faktor hinzu.«
»Du meinst die von Seth-Apophis deponierten Bewusstseinssplitter?«, wandte Rhodan ein. »Sind sie nicht aus dem Depot verschwunden, als die negative Superintelligenz starb?«
»Richtig. Nur hat der lange Missbrauch die psionische Struktur von TRIICLE-9 verändert. Ein Phänomen entstand, das Vishna und ich als Rubinmikroben bezeichnen – Parasiten aus verstofflichter Psi-Energie, die sich von den Informationspools ernähren.«
»Ernähren?«
»Sie absorbieren Informationen, erst dadurch erhalten sie ihre Existenz. Nun, die meisten dieser Rubinmikroben wurden durch jene n-dimensionalen Schockwellen eliminiert, die von ihnen geraubten Informationsbits kehrten in die entsprechenden Pools zurück.«
»Wie viele Mikroben sind übrig geblieben?«
»Drei«, sagte Taurec. »Sie scheinen resistent gegen die Schockwellen zu sein, also ist nicht damit zu rechnen, dass die nächsten Fossilaktivierungen ihrem Treiben ein Ende setzen. Die einzige Möglichkeit, sie zu neutralisieren und die Vollständigkeit der Informationspools zu erhalten, ist ein direkter Eingriff.
Du hast inzwischen ausreichend Mentalenergie aufgenommen, Perry Rhodan, um dich den Mikroben erfolgreich entgegenzustellen. Und du bist der Einzige, der gegen diese Psi-Parasiten bestehen kann.«
»Warum?«
»Du wirst das rechtzeitig erfahren«, sagte Taurec ausweichend.
»Ich bin es allmählich leid ...«, protestierte Rhodan, doch da drehte Taurec den Kopf zur Seite, als lausche er in den Leerraum.
Auch Rhodan hörte Geräusche. Ein Pochen. Er nahm es nicht akustisch wahr, sondern unmittelbar in seinen Gedanken. Dieses Pochen schwoll an. Binnen Sekunden steigerte es sich zum Trommelwirbel, zu Paukenschlägen, zu dröhnendem Donnerhall.
Der Transferjet kam. Zunächst nur ein winziger Punkt inmitten der fernen Sterne und Galaxien; dann ein Fleck, münzgroß und im Rhythmus des mentalen Donners pulsierend; Sekunden später eine Scheibe von der Größe einer Space-Jet. Rasend schnell rotierend, verbreitete sie eine unerträgliche, alles überlagernde Helligkeit.
Rhodan spürte einen heftigen, fast schon schmerzhaften Ruck, zugleich erlosch die grelle Lichtflut.
Keuchend holte er Luft.
Er saß in einem massiven Sessel, der aus purem Stahl zu bestehen schien, aber weich gepolstert war. In einem zweiten Sessel unmittelbar neben ihm saß Taurec. Beide Sessel waren in der Mitte der Scheibe verankert, die nicht mehr leuchtete, sondern ein helles, freundliches Rot verstrahlte.
Das war alles. Keine Kontrollpulte, keine Kanzelkuppel, nichts.
»Wir existieren nicht körperlich«, kamen Rhodan Taurecs Worte in den Sinn.
»Unsere Körper ...«, drängte er. »Wo sind sie?«
»In uns«, antwortete Taurec. »In dem massiven Gehäuse, das wir aus unseren Gedanken erschaffen haben, denn da sind sie vor den Gefahren im Frostrubin geschützt. Sie existieren derzeit in Form eines fünfdimensionalen Impulses. Wir sehen, hören, reden, fühlen und agieren mit der Essenz unseres Ichs, unseres mentalen Bewusstseinspotenzials, das sich in quasistofflicher Form materialisiert hat.«
»Konzepte!«, erkannte Rhodan. »Wir sind Konzepte?«
Taurec lachte. »So klingt es einfacher. Ja, wir sind Konzepte – aber nur für kurze Zeit, bis wir unseren Auftrag ausgeführt haben.« Der Botschafter der Kosmokraten hob die Rechte und ballte sie zur Faust. »Zum Frostrubin!«, rief er. »Zu dem Ort, der keinem anderen in diesem Kosmos gleicht.«
Die Sterne verwischten, der Transferjet tauchte mit seinen beiden Passagieren in die surreale Fremdheit der Dakkarzone ein, in den Bereich zwischen der fünften und der sechsten Dimension ...
Schnelligkeit entschied über Erfolg oder Niederlage im Mediengeschäft, das war nie anders gewesen. Und Krohn Meysenhart gehörte zu den Schnellen. Die Chance, mit Julian Tifflor über Transmitter vom Saturnmond Titan nach Luna zu gehen – nur er und einer seiner besten Leute – ließ er sich nicht entgehen. Die Crew durfte während des Transfers mit dem Medientender zum Erdmond bereits Konzeptvorschläge für die Show ausarbeiten.
Der Transmittersprung benötigte keine messbare Zeit, Meysenharts Erschrecken nur wenige Zehntelsekunden. Kaum dass er in einem der sublunaren Gewölbe rematerialisierte, schlug ein Impulsschuss vor ihm ein.
Die Oberfläche der Transmitterplattform glühte im Trefferbereich auf und verdampfte. Enorme Hitze breitete sich aus, doch Meysenharts Anzug hatte mit positronischer Schnelligkeit den Helm geschlossen und sein Schirmfeld aufgebaut.
Eine Sirene heulte. Dichter Qualm wogte bereits in der weitläufigen Halle und beschränkte die Sicht.
Ein zweiter Impulsschuss brannte eine Glutrinne quer über die Stufen, die von der Plattform in die Halle führten. In der Nähe flackerte der Entladungsblitz einer schweren Explosion.
Eine unsichtbare Faust riss Meysenhart von den Füßen und schleuderte ihn gegen das nächste Aggregat. Mühsam drehte er den Kopf, um mit den Helmkameras die um sich greifende Zerstörung zu dokumentieren, da entdeckte er den Matten-Willy. Wonnejunge war unmittelbar vor ihm durch den Transmitter gegangen. In wildem Zickzackflug tauchte der Medieninterpret in die brodelnden Rauchschwaden ein und stieß mit einem Terraner zusammen, der Dauerfeuer auf mehrere kegelförmige Kampfroboter schoss. Der Matten-Willy und der Terraner bekamen ihren Flug nicht sofort wieder unter Kontrolle und verschwanden in der Schwärze.
»Was für Bilder ...«, ächzte Meysenhart mit einem Tonfall zwischen Entsetzen und Begeisterung.
Ungeachtet der Gefahr, erneut zum Ziel der unbekannten Angreifer zu werden, raffte er sich auf und eilte geduckt auf Tifflor zu. Der Erste Terraner kauerte neben den ausglühenden Überresten eines Kontrollpults. Hinter ihm flackerte der schenkeldicke Energiekranz des Transmitterbogens, aus dem erlöschenden Wallen des Transportfelds blitzten grelle Entladungen.
Meysenhart seufzte vor Erregung. Aufnahmen wie er sie in diesen Sekunden machen konnte, wünschten sich andere Berichterstatter mitunter ihr Leben lang. Er drehte sich um sich selbst, um eine Totale der Transmitterhalle zu bekommen, und betete geradezu, dass die optischen Systeme seiner Montur durch den Sturz nicht beschädigt worden waren. Der Rauch wogte dichter. Die hohe Kuppeldecke der Halle, die wuchtigen Aggregate und die anderen Transmitter, die Schalttafeln und die Holoschirme an den Wänden – immer mehr davon verschwand in Düsternis. Eine unheimliche Szenerie. Geisterhafte Silhouetten huschten durch den Qualm. Von mehreren Positionen aus zuckten Strahlschüsse.
Dazu das ohrenbetäubende Heulen der Sirenen. Und die Donnerschläge immer neuer Explosionen waren körperlich spürbar. Feuersäulen zuckten fauchend in die Höhe.
Meysenhart machte einen Schwenk zurück zu Tifflor. Der potenziell unsterbliche Aktivatorträger hatte sich halb aufgerichtet. Mit beiden Händen hielt er einen kleinen Strahler.
Großaufnahme: Tifflors Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. Das Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt. Meysenhart verharrte voller Faszination sekundenlang bei diesem Bild. Nicht zuletzt, weil sich Feuer und Qualm im Helm des Ersten Terraners spiegelten. Alle Dramatik des Augenblicks war hier vereint.
Fast schon widerwillig der Schwenk auf den Strahler in Tifflors Händen und die Finger, die sich um den Griff der Waffe verkrampft hatten. Dann die schnelle Öffnung der Brennweite, der halb zerstörte Transmitter kam ebenfalls ins Bild.
»Krohn!«, schnaubte Tifflor. »Raus hier!«
Etliche Strahltreffer ließen Tifflors Schutzschirm aufleuchten. Mehr davon sah Meysenhart aber nicht, denn jäh raste ein Schatten auf ihn zu. Er warf sich gedankenschnell zur Seite – und kam wohl nur deshalb mit dem Schrecken davon. Wo er eben noch gestanden hatte, verdampfte der Bodenbelag in der Hitze einer schnellen Schussfolge. Der Angreifer schraubte sich spiralförmig in die Höhe und feuerte nun auf Tifflor.
Meysenhart filmte wie besessen weiter. Dass er dabei knapp nur knapp dem nahen Tod entgangen war, kümmerte ihn nicht. Hastig griff er in eine der Außentaschen seines Medienanzugs und holte mehrere miniaturisierte Schwebekameras heraus. Sie waren nicht größer als Taubeneier. Er schleuderte sie schwungvoll von sich, tastete nach dem zugehörigen Impulsgeber und brachte ihn zwischen zwei Fingern zum Vorschein. Mit einem knappen Daumendruck aktivierte er das Gerät. Die Kameras spritzten förmlich auseinander; sie zeichneten alles auf, was in ihren Erfassungsbereich geriet.
Meysenhart brummte zufrieden und suchte nach Tifflor. Der Erste Terraner hatte sich dem Angreifer entzogen und wurde bereits von mehreren Robotern flankiert und gedeckt.
Meysenhart schaltete auf akustische Kommentaraufzeichnung.
»Liebe Freunde und Trivid-Besessene«, begann er. »Krohn Meysenhart meldet sich aus dem sublunaren Reich. Unbekannte greifen in einer der Transmitterhallen an. Der heimtückische Überfall gilt zweifellos Julian Tifflor, der vor wenigen Augenblicken über Transmitter auf dem Mond eingetroffen ist. Julian, kannst du dich kurz zu den Gefühlen äußern, die dich im Moment akuter Lebensgefahr bewegen?«
Tifflor starrte ihn ungläubig an. »Ich will verdammt sein!«, entfuhr es dem Ersten Terraner.
»Nun, wir alle hoffen, dass es nicht zum Schlimmsten kommt«, sagte Meysenhart leutselig.
Aus dem Augenwinkel nahm er mehrere wuchtige Schatten wahr. Die Kamera folgte zwangsläufig seiner Bewegung und zeichnete vier schwere Kampfroboter auf. Diese Maschinen waren kegelförmige Kolosse mit Halbkugelkopf und vier Waffenarmen. Paratron- und HÜ-Schirme schützten sie vor dem massiven Beschuss, der ihnen entgegenschlug.
»Das Mondgehirn geht zum Gegenangriff über!«, rief Meysenhart enthusiastisch. »Die Lage ist extrem bedrohlich – was sonst? Aber NATHAN wird die noch unbekannten Gegner in die Schranken weisen. Bis diese Wende eintritt, haben wir hoffentlich Gelegenheit, dem Ersten Terraner einige erhellende Kommentare zu entlocken. – Julian Tifflor, wer, glaubst du, steckt hinter diesem perfiden Anschlag?«
Eine Salve von Impulsschüssen ließ die TARA-III-UH-Kampfroboter hinter den ableitenden Paratron-Strukturrissen nahezu unkenntlich werden. Meysenhart registrierte mit einem zufriedenen Nicken, dass in unmittelbarer Nähe eine seiner Kameras kreiste und aufzeichnete. Die TARAS erwiderten das Feuer.
»Wie deprimierend ist eigentlich die Vermutung, dass es sich bei den Angreifern um Terraner handeln könnte?«, fasste Meysenhart nach, weil die Übertragung einer der anderen autarken Kameras mehrere unablässig feuernde Männer und Frauen zeigte.
»Du redest Unfug!«, gab Tifflor schroff zurück.
»Der Erste Terraner reagiert angespannt«, redete Meysenhart weiter. »Nun, liebe Freunde und Augenzeugen dieses ungeheuerlichen Geschehens, später wird sich Gelegenheit für ein ausführliches Interview ergeben. Krohn Meysenhart, euer allgegenwärtiger Medienmann, wird jedenfalls alles daransetzen ...«
Er schaltete den Ton ab, grinste Tifflor an und folgte im Zickzack den Kampfrobotern. Soweit der Qualm das erkennen ließ, näherten sich aus mehreren Richtungen Dutzende TARAS. Die Angreifer zogen sich unter dem Feuer der Kampfroboter langsam zurück. Urplötzlich erschienen hinter ihnen mindestens zwanzig weitere Maschinen und schnitten ihnen den Fluchtweg ab. Die Schutzschirme der Angreifer flackerten unter dem einsetzenden Punktbeschuss und brachen zusammen. Schlagartig erloschen die Energieschüsse, das trockene Knistern schwerer Paralysatoren hing nun in der Luft.
Danach trat Stille ein.
Meysenhart hastete an den Kampfrobotern vorbei, verlangsamte aber seine Schritte, je näher er den paralysierten Angreifern kam. Er machte die Großaufnahme eines verzerrten Männergesichts und schwenkte über die reglosen Gestalten, verharrte erst bei der einzigen Frau unter den Angreifern. Intuitiv legte er einen »All-in-one«-Effekt über ihr Konterfei. Der positronische Effekt stilisierte das Bild der Frau nach dem Muster klassischer und moderner Schönheitsideale – wenn auch jeweils nur für einen Sekundenbruchteil. Kein Zuschauer würde diese Veränderung bewusst registrieren können. Trotzdem dauerte die Manipulation lange genug, dass die selektive Wahrnehmung jedes Betrachters Gelegenheit finden würde, ihr persönliches Idealbild zu erkennen. Jeder, der die Szenen betrachtete, würde die Frau so sehen, dass sie seinem individuellen Schönheitsideal entsprach. Für Meysenhart selbst war sie eine euroasiatische Schönheit mit hohen Wangenknochen, mandelförmigen Augen und dunklem Teint.
Jäh verwischte das Bild. Meysenhart zerbiss eine Verwünschung zwischen den Zähnen. Offenbar hatte der Sturz das integrierte Videosystem der Montur doch beschädigt ... Aber schnell erkannte er, dass die Veränderungen kein Systemfehler waren – die Gesichtszüge der Terranerin veränderten sich tatsächlich. Er schaltete den »All-in-one«-Effekt ab. Das Gesicht der Frau zerfloss dennoch. Ein goldbeflaumter, massiger Kopf mit aufgeblähten Wangen und großen schwarzen Knopfaugen wurde sichtbar. Zudem griff die Metamorphose auch auf den Körper über. Die menschlichen Umrisse wurden zu einem plump birnenförmigen Leib mit kurzen Beinen und grotesk großen Füßen. Die Arme verwandelten sich zu stummelförmigen Greifextremitäten.
Meysenhart wurde schlagartig bewusst, was oder wen er da vor sich hatte: einen Margenan – ein Element des Dekalogs!
»Eine Maske«, sagte Tifflor. Der Unsterbliche war lautlos neben Meysenhart getreten. »Also operieren weiterhin Maskenelemente in der Milchstraße. Obwohl die Aktivierung des Chronofossils Magellan dem Gros der Masken die Erinnerung an ihre wahre Herkunft zurückgegeben hat, arbeiten versprengte Gruppen noch für Kazzenkatt.«
Ein weiterer der Bewusstlosen verwandelte sich ebenfalls. Die übrigen acht schienen echte Terraner zu sein. Was hatte sie zu diesem Amoklauf veranlasst?
Unter dem SERUN eines der Paralysierten bewegte sich etwas. Meysenhart erschien es wie eine große Spinne, die sich da ihren Weg bahnte. Er machte Großaufnahmen und zeigte anschließend in einem raschen Schwenk Roboter und Soldaten, die die Transmitterhalle sicherten. Mit dem Impulsgeber dirigierte er dann eine der Kameras zu dem Paralysierten.
Das Richtmikrofon der Kamera erfasste ein feines Schaben. Sekunden später schob sich ein silbernes, krebsartiges Bein aus der Halskrause des SERUNS hervor.
»Ein Kriegselement!«, erkannte Julian Tifflor und befahl zwei Kampfroboter zu dem Mann. Der Silberkrebs tastete bereits von innen über die Sichtscheibe und suchte nach einer Möglichkeit, den Helm zu öffnen.
Solange der Terraner unfähig war, sich zu bewegen oder auch nur zu artikulieren, hatte der Krebs keine Chance. Meysenhart filmte angespannt weiter. Unter den Anzügen der anderen Paralysierten zeichneten sich ebenfalls faustgroße Krebse ab.
»Der Angriff wurde also von Elementen der Maske und des Krieges durchgeführt«, kommentierte Meysenhart weiter. »Wie diese Werkzeuge des Dekalogs in die bestens gesicherten Anlagen NATHANS eindringen konnten, wird für die Liga Freier Terraner und die Kosmische Hanse womöglich zur Überlebensfrage werden. Denn auf Luna befindet sich auch das Herz der Hanse, der Stalhof ...«
Meysenhart verstummte, weil etwas Fremdes nach seinen Gedanken griff. Die mentale Berührung ließ ihn schaudern, und mit einem erstickten Ausruf wich er zurück.
Komm, komm, der Krieg ruft dich!, raunte eine kratzende Stimme in seinen Gedanken. Das Feuer, das alles Schwache verzehrt und nur das Starke verschont. Sei selbst stark und folge dem Ruf des Krieges. Komm, damit du ein Held wirst, ein Held im Sold der wahren Macht ...
»Das Kriegselement will mich suggestiv beeinflussen«, sagte Meysenhart gepresst. »Bislang kann ich den Einflüsterungen widerstehen ...« Er stöhnte medienwirksam gequält und schaute langsam zu Tifflor. »Der Erste Terraner scheint unbeeinflusst, er ist mentalstabilisiert ... Aber der suggestive Zwang wird stärker ... stärker ... ich ...« Er röchelte.
Ein Schwenk zu den Kampfrobotern untermalte die Dramatik. Eine Totale der verwüsteten Halle folgte, abgelöst von Szenen, in denen immer mehr TARA-III-UH die Opfer der Kriegselemente umringten. Meysenhart versuchte erneut, Tifflor maßgebliche Äußerungen zu entlocken.
»Hältst du es für möglich, Tiff, dass die Elemente auf Luna einsickern konnten, weil die Sicherheitskräfte der Liga Freier Terraner ...«
»Soll das ein Tribunal werden?«, fragte Julian Tifflor zurück.
»Nur ein Interview.« Meysenhart lächelte – und nahm sich natürlich selbst ins Bild.
»Tiff, was ist hier vorgefallen?«, rief jemand.
Meysenhart zoomte den großen, dunkelhaarigen Mann, der eilig näher kam. »Das ist Galbraith Deighton, ein Weiterer aus der legendären Riege der Unsterblichen, der Sicherheitschef der Kosmischen Hanse. Vielleicht wird er uns einige der drängendsten Fragen beantworten ...«
Deighton war heran. Leicht angespannt sah er von Tifflor zu Meysenhart.
»Ist er das?«
Julian Tifflor nickte. »Achte darauf, was du sagst«, warnte er. »Krohn Meysenhart gilt als das personifizierte Klatschmaul.«
»Statt die Freiheit der Berichterstattung abzuqualifizieren, solltet ihr der interessierten Öffentlichkeit alle Hintergrundinformationen geben«, verlangte Meysenhart indigniert. »Galbraith Deighton, als für die Sicherheit zuständigem Hanse-Sprecher muss dir das Eindringen einiger Elemente in den NATHAN-Komplex als Katastrophe erscheinen. Denkst du an Rücktritt, um die Konsequenz aus dem Versagen der Sicherheitsorgane zu ziehen?«
Deighton wölbte die Brauen. »Rücktritt? Versagen? Aus welchem altertümlichen Wörterbuch hast du diese Begriffe?«
»Kompendium für naive Bürger«, konterte Meysenhart. »Noch einmal: Welche Erklärung hast du für den Ausfall aller Sicherheitsvorkehrungen?«
Tifflor und Deighton wechselten einen kurzen Blick; Tifflor nickte kaum merklich.
»Gut«, sagte Deighton. »Das Vorhaben von Liga und Hanse, die Ankunft der Endlosen Armada in der galaktischen Eastside live in die gesamte Milchstraße zu senden, muss den versprengten Überresten des Dekalogs hier im Solsystem bekannt geworden sein. Offenbar gab und gibt es noch unentdeckt operierende Elemente, die auf sich allein gestellt den Feldzug des Dekalogs fortsetzen. Der Oberste Terranische Rat und die Sprecher der Hanse sind übereinstimmend nicht der Ansicht, dass es sich bei dem Angriff auf die Transmitterhalle um eine gezielte Aktion Kazzenkatts handelt. Der Anschlag galt zweifelsfrei dem Medienmann Krohn Meysenhart und seinem Interpreten. Daraus folgt, dass der Dekalog die Armada-Berichterstattung verhindern will. Mit weiteren Anschlägen auf Meysenharts Leben und Gesundheit muss gerechnet werden.« Der Gefühlsmechaniker Deighton lächelte kühl. »Für einen taffen Medienmann gehören Mordanschläge zu den Dingen, die das Leben lebenswert machen. Ist es nicht so, Krohn?«
Meysenhart schnitt eine Grimasse. »Sicher. Ich liebe Attentate. Ich bin echt versessen darauf ...« Er räusperte sich. »Nun, liebes Publikum, dieses Statement des Sicherheitsbeauftragten der Hanse verspricht für die Zukunft weitere kurzweilige Zwischenfälle wie den Angriff auf die Transmitterhalle. Blenden wir deshalb zurück zu den unschuldigen Opfern der Kriegselemente ...«
Meysenhart winkte Deighton und Tifflor jovial zu und näherte sich dann den Kampfrobotern, die alle paralysierten Terraner sowie die beiden Masken umringten. Die autarken Kameras hatten fortwährend aufgezeichnet; er brauchte später nur das Material auszuwerten, zu ergänzen und in die richtige dramaturgische Form zu bringen. Letztlich würde er den fertigen Bericht einer der großen solaren Trivid-Gesellschaften anbieten ...
Keinesfalls, entschied Meysenhart. Die terranischen Medien würden das Material doch nur verwässern. Sie würden herausschneiden, was die glücklichen Bürger des Planeten beunruhigen konnte. Ein Überfall der Elemente auf das eigentlich perfekt abgeschirmte Mondgehirn würde den einen oder anderen satten und selbstzufriedenen Terraner zu sehr irritieren.
Ich werde die Aufnahmen in meine Armadashow einbauen, folgerte Meysenhart. Ein Schockeffekt sofort am Beginn der Sendung. Das ist genial!
Er schob sich an zwei Kampfrobotern vorbei. Die TARAS hatten Funkverbindung mit den Mikropositroniken der SERUNS aufgenommen und sie veranlasst, die Helme zu öffnen. Wieder spürte Meysenhart das suggestive Flüstern der Kriegselemente: Ehe die Krebse jedoch Gelegenheit fanden, ihre handlungsunfähigen Wirte zu verlassen und sich neue Opfer zu suchen, wurden sie von Fesselfeldern gepackt und mit Desintegratorschüssen vernichtet. Medoroboter, von zwei TARA-III-UH begleitet, transportierten die beiden Masken ab. Andere Roboter kümmerten sich um die unfreiwilligen Werkzeuge der Kriegselemente und brachten die Paralysierten zur nächsten Krankenstation.
Meysenhart überlegte zwar, den Bewusstlosen zu folgen und sie zu interviewen, sobald sie aus der Paralyse erwachten, verwarf diesen Gedanken aber schnell wieder. Auf Luna sollte er mit den technischen und organisatorischen Einzelheiten der geplanten Armadashow vertraut gemacht werden. Julian Tifflor würde keinesfalls akzeptieren, dass er die anberaumte Konferenz versäumte.
Ein letzter Schwenk durch die verwüstete Transmitterhalle, dann rief er die Kameras zurück und folgte Tifflor und Deighton zum Ausgang.
Kampfroboter begleiteten sie. NATHAN wollte also kein weiteres Risiko eingehen. Meysenhart schaute sich suchend um. Wonnejunge? Wo, bei allen Schwarzen Löchern der Galaxis, steckte der Matten-Willy?
Er wandte sich an einen der Kampfroboter, die ihn flankierten. »Ich brauche eine Verbindung mit NATHAN!«, verlangte er.
»Du sprichst mit NATHAN«, entgegnete der Roboter.
»Weißt du, wo mein Begleiter ist? Der Matten-Willy verschwand kurz nach unserer Ankunft und ...«
»Medieninterpret Wonnejunge befindet sich seit zehn Minuten im Konferenzsaal. Ich habe ihm bereits ein Interview gegeben – über die Schwierigkeit einer Hyperinpotronik im Umgang mit Terranern. In diesem Moment warnt dein Partner die Besatzung des Medientenders KISCH vor zu sorglosem Umgang mit Terranern. Wonnejunge scheint an einer Terranerphobie zu leiden.«
»Der Matten-Willy ist krank«, bestätigte Meysenhart grinsend. »Ihm missfällt alles, was mit Terra und den Terranern zusammenhängt. Und er hasst mich. Doch abgesehen von dieser übersteigerten Phobie hat er recht. Ich selbst habe die Erde vor dreißig Standardjahren verlassen, weil ich sie nicht länger ertragen konnte, und ich sage: ›Hütet euch vor jedem Planeten, auf dem Utopia verwirklicht wird. Ein richtiger Terraner braucht Abenteuer, Gefahren und Schicksalsschläge; erst dann blüht er auf. Alles andere führt geradewegs in die Dekadenz.‹«
»Darf ich davon ausgehen, dass du dich als ›richtigen‹ Terraner betrachtest, Krohn Meysenhart?«
»Das musst du sogar! Denn der Unterschied zwischen einem Terraner und einem richtigen Terraner ist, dass der Erste auf seinem übergroßen Hintern sitzen bleibt, während der Zweite sich kopfüber in alle Abenteuer stürzt, die der Weltraum für die Wagemutigen bereithält.«
»Du wirfst den Terranern ihre Heimatverbundenheit vor?«, fragte NATHAN.
»Das nicht. Aber ihre Trägheit.«
Meysenhart folgte seinen Kameras einen breiten Korridor entlang und betrat ein Transportband. Knapp fünfzig Meter vor ihm bewegten sich Julian Tifflor und Galbraith Deighton schnell auf einen großen Verkehrsknotenpunkt zu. Zwischen den Transmitternischen, Antigravschächten, Pneumokapseln und anderen Transportmitteln wimmelte es von Robotern und Bewaffneten. NATHAN erwartete zweifellos weitere Anschläge versprengter Gegner. »Diese Trägheit ist eine direkte Folge des durchgeplanten, sozusagen stromlinienförmigen terranischen Lebens«, redete Meysenhart weiter. »Ich nenne es das programmierte Utopia, dessen erstes Gesetz ›Glück für alle‹ lautet.«
»Was ist gegen Glück einzuwenden?«, fragte NATHAN über den Vocoder des Kampfroboters.
»Wenn du das nicht weißt, dann hör dir eine Geschichte an«, sagte Meysenhart. »Als ich sechs Jahre alt war, kam für mich der Tag, an dem ich in das Abenteuer des Lebens hineinstolpern sollte. Meine Eltern brachten mich zum örtlichen Beratungsdienst. Nach den üblichen psychologischen Tests, einer psychometrischen Vermessung und einem tiefenanalytischen Entwicklungsszenario gelangte der Berater zur Überzeugung, dass ich meine Lebenserfüllung nur als Astronom oder Xenolinguist finden würde.« Meysenhart blies die Wangen auf. »Ich sagte, dass ich immer schon Medienmann werden wollte, nichts anderes. Meine Eltern und den Berater traf fast der Schlag. Schließlich erstellte man für mich dennoch ein Fünfzig-Jahre-Szenario als Medienmann.«
»Und?«, fragte NATHAN.
»Das Ergebnis war ein Desaster. Ich will nicht ins Detail gehen, aber das Szenario prophezeite mir Heulen, Zähneknirschen und haufenweise Unglück, sollte ich diese Laufbahn einschlagen.«
»Und?«, wiederholte NATHAN.
»Und? Und?«, äffte Meysenhart nach. »Ich habe Terra verlassen und wurde Medienmann. Ich bin nicht glücklich, aber durchaus zufrieden.«
»Vielleicht wärst du als Astronom vollends glücklich geworden ...«, wandte das Mondgehirn ein.
Meysenhart schnitt eine Grimasse. »Genau da liegt das Problem. Hätte ich mit sechs Jahren die Empfehlung des Beratungsdienstes befolgt, hätte ich ein Leben voller Glück und Zufriedenheit vor mir gehabt. Ich hätte gewusst, dass ich glücklich werden würde. Verstehst du? Mein Leben wäre für mich vorgezeichnet gewesen – positronisch berechnet. Und das, NATHAN, wäre die Hölle gewesen.«
»Deine Argumente sind widersprüchlich«, kritisierte die Hyperinpotronik.
Meysenhart seufzte. »Genau das unterscheidet uns Menschen von euch Computern jeder Art.«
NATHAN schwieg.
Meysenhart folgte seinen Begleitrobotern in einen Antigravschacht. Gemeinsam betraten sie zwanzig Etagen tiefer einen durch Sperrfelder und Abwehrsysteme geschützten Komplex. Hier wimmelte es von Kampfrobotern und Soldaten. Meysenhart filmte nur kurze Sequenzen; die Roboter führten ihn in den Konferenzraum.
»Krohn, da bist du ja endlich!«, rief Wonnejunge.
Der Matten-Willy lag wie ein aufgequollener Hefeteig in einem Pneumosessel und winkte Meysenhart mit einem halben Dutzend Stielaugen und Armen zu. »Ich hatte schon Angst, dich als Leiche wiederzusehen. Was für eine Freude, dass du lebst!«
»Ich verbitte mir jede Heuchelei«, knurrte Meysenhart. Er sah sich um und stellte zufrieden fest, dass der Rest seiner Mediencrew ebenfalls da war.
Neben Wonnejunge saß der Ara Rarp, den dünnlippigen Mund zum erstarrten Lächeln verzogen. Auf der Rückenlehne des nächsten Sessels spazierte Ravael Dong alias Ding-Dong gelangweilt auf und ab. Der begnadete News-Entertainer, der jeden Trivid-Junkie dazu bringen konnte, über eine Supernovaexplosion in herzhaftes Gelächter auszubrechen, wölbte grüßend eine Augenbraue. Er trug den modischen Obst-Look: ein holografisches Körperfeld in Form einer halb geschälten Banane, aus dem nur sein Kopf herausragte. Das grüne Gesicht des Siganesen bildete einen aparten Kontrast zum Gelb des Holos.
Meysenharts Blick wanderte weiter, zu Tardus Zanc, dem unithischen Trivid-Techniker. Zanc wackelte mit dem Rüssel und zupfte an dem antiken Klappzylinder, der dem grauhäutigen Koloss eine surreale Note verlieh. Das letzte Crewmitglied war ein Blue; Lüsysü, Diplom-Videologe und Informationsphilosoph von Gatas. An Bord des Medientenders KISCH arbeitete er zudem als Koch.
Meysenhart wandte seine Aufmerksamkeit den anderen zu: Tifflor, Deighton sowie Homer G. Adams, der älteste lebende Terraner und Finanzspezialist der Kosmischen Hanse. Während Meysenhart Porträts der Unsterblichen speicherte, formulierte er in Gedanken seine Fragen, die er ihnen später stellen wollte. Human Touch, dachte er. Das ist es, was die Trivid-Junkies wollen. Fragen wie »Was hältst du als Unsterblicher von der Renaissance des Ehevertrags auf Lebenszeit?« Oder »Irritiert dich die Forderung der Solaren Raumbestattungsindustrie nach jährlichen Zuwachsraten?«
Meysenhart setzte sich und entdeckte da erst den Posbi im abgedunkelten Hintergrund. Der positronisch-biologische Roboter ähnelte einer mannsgroßen dickbauchigen Weinflasche auf dünnen Teleskopbeinen. Wo bei einer solchen Flasche der Korken saß, trug der Posbi ein Toupet aus silbergrauem Echthaar. Als der Posbi Meysenharts Blick registrierte, verbeugte er sich höflich.
»Freunde!«, begann Julian Tifflor. »Ehe ich zum Thema Armadashow komme, stelle ich euch Ce-2222 vor.« Er deutete auf den Posbi, der langsam näher trat und mit einem Tentakel an seinem Toupet zupfte. »Ce-2222 ist Hyperkom-Relaisspezialist und zuständig für alle technischen Aspekte der bevorstehenden Show. Er wird dafür sorgen, dass die Sendung bei allen uns bekannten Milchstraßenvölkern störungsfrei empfangen werden kann. Dafür wurden weit verstreut Raumschiffe der Kosmischen Hanse mit superstarken Hyperkom-Sendern stationiert. Sie werden als Relaisstationen dienen. Mit anderen Worten: Ihr habt mit der technischen Seite nichts zu tun und könnt euch mit aller Kraft und eurem Können auf die künstlerische und journalistische Gestaltung konzentrieren.«
Tardus Zanc richtete seinen Rüssel auf den Posbi. »Hat dieses haarige Etwas auf deinem, äh, Kopf eine technische Funktion?«
»Keineswegs«, antwortete Ce-2222. »Wie alle Posbis kenne ich konstruktionsbedingt keinen Haarwuchs. Das Toupet erfüllt deshalb einen kosmetischen Zweck.«
Meysenhart blickte den Posbi verwirrt an. Er entsann sich, dass die Aktivierung des Chronofossils Hundertsonnenwelt bei den Posbis quasi einen Evolutionssprung ausgelöst hatte. Aus der hypertoyktischen Verzahnung von Positronik und Plasmakomponente war eine bionische Vernetzung geworden. Die Roboter waren nun fähig, wie organische Wesen Gefühle zu empfinden, sich Stimmungen oder gar irrationalen Wünschen hinzugeben. Offenbar war Ce-2222 ein Vertreter dieser neuen Posbi-Generation.