Saskias Gespenster - Corinna Antelmann - E-Book

Saskias Gespenster E-Book

Corinna Antelmann

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Beschreibung

Saskia hasst das Leben. Und sie hasst das Heim, in das sie nach dem Tod ihrer Eltern geschickt wurde. Bis sie auf dem nahe gelegenen Waldfriedhof unerwartet einige Verstorbene kennenlernt, unruhige Geister, die sich an das Leben klammern. Nicht ohne Hintergedanken behaupten sie, dass Saskias Eltern sicher noch leben, irgendwo, und bieten ihr Hilfe bei der Suche nach ihnen an. Saskia verliert sich in einer irrwitzigen Hoffnung. Einzig Oskar, ein Junge aus dem Heim, zu dem sie Vertrauen fasst, gelingt es schrittweise, sie vom Friedhof fort und auf die Seite des Lebens zu ziehen. Aber dann passiert etwas Unerwartetes, das Saskia vollends aus der Bahn zu werfen droht …

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Saskias Gespenster

Corinna Antelmann

www.verlag-monikafuchs.de

www.corinna-antelmann.com

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN Print-Ausgabe: 978-3-947066-41-4

Dieses Buch ist eine leicht überarbeitete Neuausgabe der Erstauflage, die 2016 unter demselben Titel erschienen ist (ISBN Print: 978-3-940078-94-0).

© 2016 | 2020 Verlag Monika Fuchs | Hildesheim | www.verlag-monikafuchs.de

Cover- und Umschlaggestaltung: Buchgewand Torsten Sohrmann | Dresden | www.buch-gewand.de

Verwendete Grafiken/Fotos (Cover): grandfailure – depositphotos.com

E-Book-Erstellung: Die Bücherfüxin | Hildesheim | www.buecherfuexin.de

Alle Teile dieses Buches sind urheberrechtlich geschützt. Vervielfätigungen, Abdrucke, Bearbeitungen, Verfilmungen etc. sind nur mit Erlaubnis der Rechteinhaber gestattet. Anfragen richten Sie bitte an den Verlag.

Inhalt

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Dank

Die Autorin

Bücher von Corinna Antelmann

1

Die Großstadt pulsiert, dachte Saskia, während die Autos an ihr vorbeirasten, so klingt es, das volle Leben.

Den großen Koffer zu ihren Füßen stand sie wartend am Straßenrand und lauschte dem ununterbrochenen Rauschen, das sie immer so geliebt hatte: dieses Flüstern, mit dem die Stadt durch das Fenster ihres Kinderzimmers gedrungen war, Tag und Nacht. Nun gab es nur noch die Nacht, zu jeder Tageszeit: Nacht; Saskia war allein. Die Stadt kann mich mal, dachte sie außerdem, scheiß auf dieses Leben.

Endlich löste sich ein altersschwacher VW-Bus aus der Blechlawine, fuhr rechts heran und bremste neben Saskia. Das musste der Wagen sein, der sie zum Sankt-Josef-Stift bringen würde, aber das war ihr gleichgültig. Alles war gleichgültig. Als sich die Fahrertür öffnete, wollte sie schnell wegschauen, aber der blaue schuppige Anzug, der zum Vorschein kam, zog ihren Blick ungewollt auf sich.

»Saskia?«, fragte der Mann in dem hässlichen Ding, und als sie nickte, grinste er sie hemmungslos an.

Während er an der hinteren Wagentür rüttelte, bis sie nach einiger Kraftanstrengung schließlich nachgab, scherzte der Schuppenmann über Rost und Rast, doch Saskia hörte kaum zu. Vorsichtig schaute sie in den rückwärtigen Teil des Busses, der genug Platz bot, um Behinderte zu transportieren. Das also war sie jetzt: ein Krüppel.

Zum Abtransport bereit.

»Worauf wartest du?« Wie umgestülpt sahen die Lippen des Mannes aus. Er hatte ihren Koffer verstaut und winkte sie zu sich: »Steig ein, Kind, wir müssen los.«

Niemand gab ihm das Recht, sie Kind zu nennen. Was wusste er von ihr? Was wusste sie von ihm, außer, dass er das Aussehen eines jungen Karpfens hatte? Aber sie gehorchte. Hier konnte sie nicht stehen bleiben, verloren zwischen Benzingestank und Geräusch.

»Ich bin Sebastian, das Mädchen für alles«, sagte der Mann, als er auf den Fahrersitz kletterte, und sein Grinsen riss nicht ab. »Bei uns wird es dir gefallen, du wirst es erleben.«

Sie schwieg, und schweigend ließ sie auch die erste halbe Stunde Fahrt über sich ergehen, in der Sebastian redete und fragte, fragte und redete. Vor dem Fenster zogen die Häuser an Saskia vorbei, bis der Anblick sich verlor und goldenen Ähren wich. Felder, Wiesen und Auen, leuchtendes Ährengold, so hatten sie gesungen in der Schule. In der letzten Zeile des Liedes hieß es: »... aber der Wagen, der rollt.« Und als sie wissen wollte, wer dort neben dem Singenden auf dem Kutschbock säße, hatte die Krämer geantwortet: »Der Tod.«

Saskia mochte nicht länger daran denken. Nicht an Liedtexte und nicht an ihre Lehrerin, Frau Krämer, mit ihrem steten: »So begabt du bist, Kind, sieh zu, dass du dein Violinspiel nicht vernachlässigst.« Sie wollte nicht an Musik denken, und auf kitschige Ähren starren wollte sie auch nicht.

Saskia wandte sich ab. Im Rückspiegel sah sie die kleinen Augen, die über dem Fischmaul saßen. Sebastian musste sie heimlich gemustert haben; er räusperte sich ertappt.

»Steht dir gut, dieser Rock. Habe ich noch nie gesehen in der Art.« Er lächelte wieder, und am liebsten hätte Saskia seine wulstigen Lippen mit Honig beschmiert und an die Armaturen geklebt; stattdessen schwieg sie weiterhin und schlug die Beine übereinander. Dabei raschelte der lange Rock aus schwarzem Krepp, den sie aus dem Fundus der Theater-AG geangelt hatte, gestern, als sie ihr Sportzeug und die Violine aus dem Schließfach der Schule hatte holen müssen. Sie fand nicht, dass ihr der Rock stand, noch weniger als die dunkle Bluse von Mama.

»Finster-Look«, hatte ihre Mutter einmal gewitzelt, als sie sich diese Bluse für eine Tanzaufführung ihres Mannes neu gekauft und sich damit zu Hause im Spiegel betrachtet hatte.

Saskia stockte, als sie an die Worte ihrer Mutter dachte, denn mit einem Mal hörte sie deren melodische Stimme deutlich, wenngleich missgestimmt. Schräge Töne, disharmonisch und laut, dann plötzlich: Stille. Und auch das Bild von ihrer Mutter wurde fortgeweht.

Ein Sturm, vorbei.

Sebastian schien abermals etwas sagen zu wollen, aber seine Worte schreckten vor Saskias Blick zurück. Stattdessen kramte er in seiner Tasche auf dem Beifahrersitz und zauberte eine Brotdose hervor.

»Hätte ich fast vergessen. Du hast sicher nichts gegessen.« Er reichte ihr das Päckchen nach hinten, und vorsichtig spähte Saskia hinein. Zwei reife Pfirsiche lagen Seite an Seite mit einem krossen Salami-Brötchen. Es sah verlockend aus, doch sie wollte sich nicht verführen lassen von diesen Leuten. Der süße Geruch des Pfirsichs stieg zu ihr empor, aber mit eisernem Willen gelang es ihr, ihn in den Gestank von Fäulnis zu verwandeln.

Sie verzog das Gesicht.

»Etwas nicht in Ordn...«, begann Sebastian, dann brach er unvermittelt ab und trat auf die Bremse. »Das gibt es doch nicht. Beinahe hätte ich ihn erwischt.«

Er würgte den Motor ab, stieß hastig die Tür auf und sprang aus dem VW-Bus. Saskia spähte aus dem Fenster und sah etwas Dunkles davonhuschen, ein kleines Raubtier, das ihnen vor den Kühler gesprungen sein musste. Um Gleichmut bemüht, brachte sie ihr Gesicht unauffällig näher zur Scheibe und erkannte in dem Tierchen einen Jungen mit spitzem Wieselgesicht, der feixend davonjagte. Sebastian hechtete laut rufend hinterher, bis sich seine Stimme hinter einer Kurve verlor.

Die plötzliche Stille wirkte unnatürlich, beinahe unheimlich. Die Dissonanzen, die sich in Saskias Ohr verlaufen und zu schmerzen begonnen hatten, meldeten sich mit aller Wucht zurück: Sie lärmten und lachten und verhöhnten die Ruhe der Landschaft dort draußen vor dem Autofenster.

Saskia wartete, doch da Sebastian offenbar nicht plante, bald zurückzukehren, stieg sie ebenfalls aus. Mit einem Satz sprang sie auf die Schotterstraße und schaute sich um. Die Großstadt ließ sich nicht einmal mehr erahnen, der Weg, den sie gekommen waren, schlug eine staubige Schneise durch die Pampa. Zu Saskias Linken lag ein Feld, auf dem das hohe Korn stand, und rechts von ihr verlief eine schiefe Steinmauer, hinter der ein Waldfriedhof lag. Sie schloss die Augen und lauschte gegen die Töne in ihrem Ohr an. In der Ferne hörte sie eine Krähe rufen; die Blätter raschelten im Wind.

Im Wind?

Irritiert öffnete Saskia die Augen wieder: Die Sonne brannte nach wie vor vom Himmel, kein Windhauch trübte das sommerliche Wetter, wieso also raschelten die Blätter?

Vorsichtig hob sie den Kopf und folgte ihrem feinen Gehör zu einem dichtbelaubten Ahornbaum, der auf der anderen Seite der Mauer in den Himmel ragte und –

Sie zuckte zurück. Von irgendwoher schälte sich ein graues Gesicht aus dem Grün und schaute neugierig zu dem verwaisten VW-Bus. Saskia hielt den Atem an. Seit wann turnten ungesund-farbige Erwachsene in Bäumen herum? War das üblich auf dem Lande? Vermutlich hatten ihr die Abgaswolken heute Morgen den Verstand vernebelt. Aber so sehr sie es sich auch auszureden versuchte: Der graugesichtige Mann blieb. Und als sich ihrer beiden Blicke für einen Moment begegneten, schien er nicht minder zu erschrecken als Saskia selbst.

Hastig versuchte die Gestalt, im Blätterwerk unterzutauchen. Dabei stellte sie sich so ungeschickt an, dass Saskia lachen musste.

»Alles klar da oben?«, fragte sie forsch.

»Das solltest du dich fragen«, lautete die prompte Antwort. Die Stimme klang warm, nach einem sanften Fagott.

Dem Gesicht zwischen den Blättern folgte ein massiger Körper, der sich mit merkwürdigen Verrenkungen schließlich zum Sitzen zurechtrückte.

»Gestatten, Vladimir Antipov.« Mit diesen Worten strich Herr Antipov die Tweed-Weste glatt, die straff über seinem Wanst spannte und so wie Saskias Rock ebenfalls aus dem Fundus der Theater-AG hätte stammen können. »Also wenn du Hilfe brauchst, kannst du gern vorbeischauen. Wie wäre es beispielsweise mit morgen?«

»Hilfe?«, fragte sie.

»Brauche ich nicht mehr. Er ist entwischt, leider.« Sebastian war unbemerkt hinter Saskia getreten. »Trotzdem danke, dass du fragst. Oskar ist unmöglich.«

Während er zum Bus lief, die Fahrertür aufstieß und auf seinen Sitz kletterte, spürte Saskia, wie sich die Absätze ihrer Schuhe tiefer in den Schotter bohrten. Ihre Beine verweigerten den Dienst. Sie kniff die Augen zusammen und schaute zum Ahornbaum hinauf: nichts zu sehen. Die Blätter hingen träge vor Hitze an den Zweigen, kein Rascheln, kein Tweed, kein nichts.

»Komm jetzt«, rief Sebastian, halb aus der Tür gebeugt, »gleich haben wir es geschafft.« Er winkte hektisch, zum Zeichen, wieder einzusteigen.

Aber, wollte sie fragen, hast du nichts gesehen? Ihm musste entgangen sein, dass sie mit jemand anderem gesprochen hatte. Sie blieb stumm und riskierte einen zweiten Blick.

Wieder zeigte sich ihr allein der Ahornbaum, ein Ahornbaum, nichts als ein Ahornbaum. Also gab Saskia ihren Beinen den Befehl zum Weitermachen, trabte zum Bus und nahm zögernd den Platz auf der Rückbank ein. Noch immer äußerte sich Sebastian nicht zu der seltsamen Begegnung; offenbar hatte er tatsächlich nichts bemerkt.

Er startete den Motor und begann sogleich, weiterzuplappern.

»Ständig flitzt Oskar unerlaubt in der Gegend herum. Wenn er so weiter macht, landet er eines Tages als Flunder auf dem Asphalt ...« Es sollte scherzhaft klingen, dennoch brach Sebastian seinen Satz unvermittelt ab und schaute hilflos nach hinten; vielleicht war ihm eingefallen, dass es unangemessen sein könnte, Witze darüber zu machen.

Saskia reagierte nicht. Sie kniete auf dem kunstledernen Polster des Autositzes und starrte angestrengt durch das Rückfenster: Kleiner und schmaler zeigte sich der Ahornbaum, bis er ihr wie ein Gemälde im Städtischen Museum erschien, die Blätter mit grüner Farbe aufs Papier getupft. Doch dann, unvermutet, tauchte inmitten der Tupfer ein grauer Punkt auf.

Er sah aus, als hätte er sich ins falsche Bild verirrt, aber vielleicht befand nur sie sich im falschen Bild und vermeinte, Dinge zu sehen, die sie aus dieser Entfernung in Wirklichkeit niemals würde erkennen können.

Nach nur etwa hundert Metern fuhr der Bus durch ein barockes Portal die Auffahrt zu einem alten Gebäude hinauf und hielt vor dem Eingang.

»Da sind wir«, sagte Sebastian. »Ist es nicht schön?«

Saskia stieg aus, während sich Sebastian bereits am Kofferraum zu schaffen machte. Vor ihnen lag ein graues Gemäuer zwischen hohen Kastanien versteckt. Rußige Schornsteine stakten in den Himmel, und von den Fensterläden blätterte der Putz. Über dem Eingangsportal war eine Schrift eingemeißelt: Quid retribuam Domino pro omnibus quae tribuit mihi? Saskia verstand kein Latein, und ihr Begriff von Schönheit unterschied sich von dem des Karpfens, soviel war gewiss.

»Warte erst, bis du die Zimmer siehst«, sagte Sebastian.

Unwirsch nahm Saskia ihm den Koffer ab.

»Das kann ich selbst«, sagte sie. »Und jetzt?«

In diesem Moment spazierte ein eleganter, feingliedriger Herr den Schotterweg entlang. Beim Gehen hielt er die Hände aneinandergelegt, ein reuiger Mönch, der betend durch den Kreuzgang wandelte und um Gnade flehte. Von mir wird er keine bekommen, dachte Saskia; das hatte sie sich schon im Haus von Tante Moni vorgenommen, gleich, nachdem sie erfahren hatte, dass sie verstoßen werden sollte.

»Ich bin Doktor Schäfer«, sagte der vermeintliche Mönch, als er sie erreichte. Seine Stimme tönte in einem tiefen Bass, der seiner Statur zu widersprechen schien. »Ich bin dein zuständiger Erzieher. Das heißt, ich betreue die Gruppe, der du angehören wirst. Deine Tante wird dir vermutlich alles erzählt haben.«

Saskia wusste sofort Bescheid. Schäfer war der Psychologe, der sie heilen sollte, als wäre sie bekloppt geworden. Das war es doch, was sie von Saskia dachte, ihre Frau Tante, die zu dämlich gewesen war, sich wie ein vernünftiger Mensch zu verhalten. Tante Moni hatte Angst bekommen, Saskia hatte es sehr wohl bemerkt. Angst vor der eigenen Hilflosigkeit. Sollte sie daran zugrunde gehen und alle Heilpädagogen und Heilpädagoginnen, Verhaltenstherapeuten oder Therapeutinnen und Heimpsychologinnen ebenso.

Wortlos trabte Saskia hinter Doktor Schäfer her und ließ alles, was er sagte, an sich abperlen, diese Tropfen aus ungeschicktem Trost, der ihr gelten sollte. Aber sie brauchte keinen Trost, und auch Sebastians Zwinkern perlte an ihr ab, als sie ihm den Koffer nun doch überließ.

Während ihrer Wanderung über die langen Flure des Hauptgebäudes, die zu Doktor Schäfers Büro führten, bemerkte Saskia zufrieden, wie ihr Abwehrsystem langsam zu funktionieren begann. Nach und nach fühlte sie die Schicht aus Granit, in die ihre Haut sich verwandelte, ja, resistent würde sie sein. Resistent gegen Sanftmut und Einfühlung, resistent gegen Freundlichkeit. All dies wies der Stein zurück und ließ die anderen im Regen stehen.

Saskia fühlte das Gewicht ihres Körpers, mit dem sie wenig später in den Stuhl vor Doktor Schäfers Schreibtisch sank. Es hatte sich verdoppelt.

Doktor Schäfer kramte die Anmeldepapiere hervor.

»Du bist im Augenblick die einzige Waise, die wir betreuen. Es ist gut, dass deine Tante entschieden hat, dich eine Weile von uns begleiten zu lassen.« Er spitzte die Ohren, auf dass sie zu sprechen beginne, doch sie schwieg. »So ein Unfall kommt immer unerwartet«, fuhr er fort. »Er schmerzt umso mehr, weil er keine Zeit lässt, sich zu verabschieden.«

Wieder sagte sie nichts und beobachtete aus ihrem steinernen Bau heraus, wie Doktor Schäfers Gesichtsausdruck sich wandelte und mit ihm seine Taktik.

»Du kannst jederzeit mit mir darüber reden, wenn du willst. Deshalb bist du hier. Es wird dir gefallen, du wirst sehen.«

Zum zweiten Mal an einem Tag wurde ihr gesagt, was sie wie und wann empfinden würde. Wie sie es hasste, das Gerede von all dem Schönen, das hier angeblich auf sie wartete.

Ihr gefiel der Granit, nicht das Heim. Ihr gefiel die Stille.

»Du spielst Geige?«, tropfte es weiter lieblich von oben auf sie herab, um gleich mit der Frage anzuschließen, ob sie die denn mitgebracht habe.

»Meine Eltern sind nicht tot«, sagte Saskia unvermittelt, und endlich schwieg er, der feine Herr ihr gegenüber.

Auch das gefiel ihr.

»Komm erst mal an«, hörte sie leise. »Nur der Heimleitung müssen wir noch einen kurzen Besuch abstatten.«

Nachdem auch der Heimleiter sie willkommen geheißen hatte, begleitete Doktor Schäfer Saskia in den Flügel des Heimes, in dem die Zimmer seiner Schützlinge lagen. Der Flur war mit albernen Bildchen geschmückt und sollte bunt und lustig aussehen, genau wie die Zimmertüren, auf denen aus Salzteig geknetete Namensschildchen prangten.

Natalie, las Saskia, als sie stehenblieben. Der Name wand sich aus einer Schnecke hervor und war türkis angepinselt.

»Hier ist es«, sagte Doktor Schäfer. »Wir werden deinen Namen daneben setzen, wenn du magst.«

Saskia ließ sich ihr Entsetzen, dass sie offenbar nicht allein wohnen würde, nicht anmerken und sie traten ein.

Auf den Stühlen am Fenster saßen zwei Mädchen, davon eines in ihrem Alter, das andere konnte höchstens acht Jahre alt sein.

»Wir haben dir ein Doppelzimmer gegeben«, sagte Doktor Schäfer, »damit du nicht so allein bist. Lass dir von Natalie alles zeigen. Wir sehen uns später. Es gibt bald Abendbrot.«

Dann verschwand er.

Saskia wusste nicht, womit sie gerechnet hatte. Ihre Weigerung, sich das Sankt-Josef-Stift vorzustellen, hatte sämtliche Bilder einer möglichen Zukunft aus ihrem Gehirn gelöscht. Aber sich ein Zimmer mit einem anderen Mädchen zu teilen, war eindeutig zuviel des Guten und Schönen, von dem hier ständig die Rede war. Im Haus ihrer Eltern gab es ein großes Zimmer für sie allein, in dem ein Bett mit federweichen, frisch gewaschenen Decken und Kissen stand.

Gestanden hatte.

Wo war dieses Bett wohl jetzt? Bestimmt hatte es ihre Tante in einem Anfall ihrer allseits gepriesenen Großzügigkeit der Nachbarin geschenkt, um es deren aufgedonnerter Kuh von Tochter unter den gepuderten Hintern zu schieben.

Saskia kämpfte gegen aufsteigende Tränen und wagte es nicht, den Koffer anzurühren, der auf der unteren Matratze eines Etagenbettes lag. Auf einer kratzenden, alten Wolldecke musste er liegen und sich in sein weiches Leder piksen lassen. Der Koffer war aufgeklappt, zum Ausräumen bereit, aber sobald sie auspackte, würde die fehlende Vorstellung von ihrem neuen Leben durch Wirklichkeit ersetzt. Es war besser, zu warten. Alles verpackt zu lassen und dann in die Stadt zurückzukehren, in die Weite ihres sekündlich wachsenden Zimmers, in dem sie morgens losging und abends noch nicht ankam.

»Bist du zu Stein erstarrt, oder kannst du auch antworten?«, hörte Saskia eine quakende Stimme.

Sie hatte vergessen, dass sie nicht allein war.

»Ich habe gefragt, wie du heißt.« Die Stimme gehörte dem Mädchen, das Doktor Schäfer Natalie genannt hatte. Natalie wandte sich an das kleine sommersprossige Mädchen mit den grünen Knopfaugen, das neben ihr saß, in offensichtlicher Vorfreude, gleich etwas besonders Witziges zu hören. »Vielleicht sollte ich sie Stilla nennen, was meinst du, Petra? Still wie ein Grab.«

Auf so etwas würde Saskia gar nicht erst reagieren. Mädchen wie Natalie, die gestylt herumliefen, mit Lidschatten und Lippenstift, die vermutlich aus der Mülltonne stammten, hatte Saskia immer schon verabscheut.

»Ich habe bereits gehört, dass du nicht ganz dicht bist«, fuhr Natalie fort. »Wenn man so ohne Eltern in einem Keller eingesperrt aufwächst, ist wohl nicht viel zu erwarten ...«

Ein mehrstimmiges Lachen erklang. Saskia bemerkte, dass weitere Kinder im Zimmer standen. Unaufgefordert waren sie einfach hineingekommen. Gestrandet in einer Bahnhofshalle, das war Saskia. Wartend auf den Zug, der sie irgendwohin bringen würde, an einen Ort, den sie nicht kannte. Und solange sie zum Warten verurteilt war, konnte jeder und jede kommen und nach Belieben in sie hineinlatschen. Nicht nur die Haut, auch ihre Lippen mussten zu versiegelten Türen werden, und niemand sollte das Zauberwort erfahren, das die Granitplatten auseinanderschieben konnte, um zu ihr vorzudringen. Sie würde dort sein, wo sie keiner vermutete: in sich drin.

Saskia ignorierte die anderen und versuchte, den Kofferdeckel zuzudrücken, doch etwas klemmte. Sie tastete zwischen den Kleidungsstücken, stieß auf den hellbraunen, abgeschabten Geigenkasten und zog ihn hervor. Sofort spürte sie spöttische Blicke, aber das war gleichgültig. Was konnte man von denen erwarten, die hier auf ihr Leben warteten, ohne zu wissen, wie es aussehen würde? Das waren Abgestellte, unter denen sie nichts zu suchen hatte.

Saskia nahm den Kasten und kickte ihn mit einem entschlossenen Tritt unter das Bett. Dann schloss sie den Koffer, schob ihn ans Fußende, kroch unter die Decke und zog sie sich über das Gesicht. Endlich wurde es still und dunkel.

Und muffig.

Sie war tot und lag in einem Sarg, eingebettet in roten Samt, tief, tief unten, im warmen Schoß der Erde.

Angekommen.

2

Die Stille des Erdreiches währte nicht lange, das Abendessen rief, und schon tanzten die Lebenden wieder um Saskia herum. Sie grölten und lachten und redeten und produzierten einen Lärm, gegen den die Großstadt einer der Museumsräume zu sein schien, in denen ihre Mutter als Kunsthistorikerin gearbeitet hatte. Die Stadt mit ihrem Städtischen Museum und die Mutter mit ihrem Lieblingsthema über die Entwicklung der Kunstfreiheit im 20. Jahrhundert lagen jedoch in so weiter Ferne, dass Saskia sich nicht einmal mehr erinnern konnte, wie es gewesen war, durch die Straßen zu gehen, mit den Gemüseläden zur Linken und der Bäckerei zur Rechten, dem Schreibwarenladen an der Ecke, den Ampeln.

Dem ganz normalen Wahnsinn.

Sie wandte den Blick von den essenden Kindern ab, die in Gruppen zusammensaßen, und starrte auf die Tasse, die vor ihr stand. Auf dem Porzellan hatte jemand mit Porzellanfarbe bereits ihren Namen gemalt.

»So ist es hier üblich«, hatte Sebastian gesagt, als er sie vor Saskia abgestellt hatte. »Was es nicht alles für Farben gibt! Das hält auf ewig.«

Saskia fand die Tasse lächerlich und sehnte sich nach dem weißen Rosengeschirr ihrer Eltern. »Schlicht und schön«, pflegte ihr Vater zu sagen, »wie eine gelungene Drehung.« Kaum dachte Saskia an die Metaphern, die Fred so gern gebrauchte, da geschah dasselbe, was heute Morgen der Stimme ihrer Mutter widerfahren war. Der Klang seiner Worte verrutschte in die Dissonanz, ließ die Saite reißen und schlug Saskia mit aller Gewalt Striemen ins Gesicht.

»Oh, entschuldige«, hörte sie sogleich eine andere Stimme, deren Kröten-Frequenz ihr bereits bekannt vorkam. Saskia rieb sich die Wange, schaute auf und bemerkte Natalies bösartiges Grinsen. »Da ist mir doch tatsächlich mein Hühnchenknochen aus der Hand geflutscht und mitten ins Gesicht unserer kleinen Stilla geflattert. Gack, gack, gack.« Natalie brach in schallendes Gelächter aus, andere fielen mit ein, und es verstummte erst, als einer der Pädagogen Ruhe verordnete.

Die Tür flog auf und ein Junge mit braun gelocktem Haar wirbelte in den Raum. Sofort erkannte Saskia in ihm das Wiesel wieder, das über die Straße gehuscht und den VW-Bus zum Stehen gebracht hatte.

»Pech gehabt, Oskar«, sagte Natalie, »du kommst zu spät. Wir haben alles aufgefuttert. Aber vielleicht gibt dir unser hungerndes Waisenkind etwas von ihrem Tellerchen ab – die hat nichts angerührt.«

»Ich bin keine Waise«, sagte Saskia ruhig und brach den Hühnerknochen entzwei, der ihre Wange geschrammt hatte. »Meine Eltern sind höchst lebendig.«

»Interessant«, spottete Natalie, »und wo sind sie dann, die lieben Eltern? Wollten sie dich nicht mehr haben?«

Sofort verstummte Saskia. Zu dumm, dass sie sich hatte provozieren lassen. Sollten die gackernden Gänse weiterhin an dem pampigen Spinat würgen, der als Beilage zu den Hühnerschenkeln auf den Tellern pappte. Sollten sie mit ihren glasigen Vogelaugen leer aus der Wäsche gucken, nichts anderes im Hirn als Gack-gack. Sie konnte hier sitzen und Hühnchen-Duft in einen Gestank verwandeln, der ihr jeglichen Appetit verdarb, denn je weniger sie aß, umso schneller würde sie wieder fort sein.

Allmählich leerte sich der Raum, nur Oskar kaute noch an seinem Essen, das Sebastian ihm ausnahmsweise nachgereicht hatte. Saskia blieb sitzen. Sollten sie alle auf ihre Misthaufen gehen und aufgeregt mit den Flügeln schlagen; sie würde nichts versäumen.

Während sie finster ihren Gedanken nachhing, wanderte der Blick aus den dunklen Augen des Jungen immer wieder zu ihr, unruhig, wie es sein ganzer Körper war. Er trug einen silbernen Ring, der bei jedem Bissen an die Gabel klickerte. Und wie gierig er aß. Als wäre er tatsächlich ein hungriges Raubtier, dieser Oskar. Seine Neugier prickelte unangenehm auf Saskias Haut, die, so fiel ihr wieder ein, ja glücklicherweise aus Granit war, sodass sie nichts zu befürchten hatte.

Sie wartete, bis Oskar den Teller mit einem genüsslichen Seufzer von sich schob. Nun würde er endlich gehen und sie allein lassen.

Das erste Mal seit ihrer Ankunft: allein.

»Die Letzte räumt die Tische ab, hat Sebastian dir das gesagt?«, fragte Oskar mit einer Stimme, die weit oben schwebte, in falsettierender Höhe. »Aber ich kann dir helfen, wenn du magst.«

»Ich komme zurecht«, hörte sie sich sagen, bereute es aber sogleich und bemerkte erleichtert, dass Oskar ihre Ablehnung zusammen mit seiner zerknüllten Serviette in den großen Abfalleimer warf.

»Mache ich gern. Kein Problem.«

Er lächelte, und sie lächelte zurück. Er konnte ja nichts dafür, dass Saskia in diesem Heim war, nichts dafür, was sie schwätzten, die anderen. Wiesel waren allemal besser als Hühner. Und auch besser als Karpfen, denn die schmeckten allenfalls gut zu Weihnachten.

In Mandelsoße.

»Dieser komische Anzug, den Sebastian trägt, sieht aus wie eine schuppige Haut«, sagte sie und wartete vergeblich auf Oskars Zustimmung, sodass sie hinzufügte: »Oder nicht?«

»Aber er kann mehr als Luftblasen ausstoßen«, sagte Oskar. »Im Übrigen lässt dein Outfit auch etwas zu wünschen übrig, wenn du mich fragst. Warum so finster?«

Seine Bemerkung traf ins Schwarze. Sie mochte seine Ehrlichkeit. Endlich jemand, der sie nicht behandelte, als wären ihr beide Arme amputiert worden.

»Das drückt am besten aus, was ich gern sein würde«, erwiderte sie, während sie es Oskar gleichtat und das Besteck in eigens dafür aufgestellte Ständer ordnete. Dabei blieben eklige Hühnchenhautfetzen an ihren Fingerkuppen kleben.

Zu Hause hatte sie nie helfen müssen.

»Und das wäre?«, fragte Oskar. »Was würdest du gern sein?«

»Tot«, antwortete Saskia, ohne nachzudenken, und erschrak über ihre ungeplante Offenheit. Es musste an seinen Wiesel-Augen liegen, die ungewollt geheime Wahrheiten aus ihr hinauszogen. Schnell begann sie, die Tassen mit den gemalten Namen ineinander zu stapeln. Oskar, der sich gerade einen feuchten Lappen geholt hatte, um die Tische abzuwischen, hielt inne.

»Was soll das heißen: tot?«

»Tot eben. Bei meinen Eltern.« Feine Risse durchzogen mit einem Male den Granit, und statt Tropfen abperlen zu lassen, tropften unvermittelt einige Tränen durch die neu entstandenen Spalten. Saskia vertiefte sich in den Stapel Becher, den sie zum Geschirrwagen balancierte, doch Oskar stellte sich ihr in den Weg und machte ein spitzfindiges Gesicht.

»So, so, bei deinen Eltern. Hast du nicht gerade behauptet, die wären quicklebendig? Oder habe ich mich verhört?«

»Das sage ich nur, damit die mich in Ruhe lassen.«

»Großartige Logik.«

Auf einmal hatte Saskia es eilig, den Speisesaal zu verlassen und den Jungen allein hier herumwieseln zu lassen. Sein: »Warte, so war das nicht gemeint« und: »Wir sind doch noch gar nicht fertig«, schlugen gegen die Tür zum Speisesaal, die sie von der anderen Seite hektisch zustieß. Oskars unerwiderte Worte prallten zu ihm zurück und versetzten ihm einen unerwarteten Schlag, der ihn zum Taumeln brachte, sodass er in den Stapel dreckiger Teller krachte, die er sorgsam auf dem Tisch zusammengestellt hatte, um sie anschließend in den Geschirrspüler zu räumen.

Das würde kaum mehr nötig sein.

Saskia schlief unruhig und träumte von nächtlichen Straßen, auf denen zerquetschte Tiere lagen. In der Dunkelheit stapfte sie über die Kadaver, Nadel und Zwirn in den Händen, um die versehrten Körper wieder zusammenzuflicken. Nur ein kleines Tier regte sich noch, und als sie sich zu ihm hinunterbeugte, blickte sie in die dunklen Augen eines Wiesels, die sie hilfesuchend ansahen. Behutsam nahm Saskia das Tierchen auf den Arm und streichelte sein Fell, als ein feines, rotes Rinnsal über ihre Finger floss: Blut. Das Wiesel schlug die Augen auf. »Keine Angst«, sagte es, »gleich wird es hell.« Und tatsächlich schimmerte am Horizont eine leichte Morgenröte, und der Himmel begann, sich langsam blau einzufärben. Gerade wollte Saskia etwas erwidern, da wurde sie rau an der Schulter gepackt.

»Komm endlich, Stilla-Baby. Oder lässt du das Frühstück auch gleich ausfallen?« Natalie stand über sie gebeugt, mit grellrot geschminkten Lippen und im Mini-Rock. »Und sei froh, dass ich dich geweckt habe. Heute gibt es Rosinenbrötchen.«

Jetzt fiel Saskia wieder ein, wo sie war. Hinter der Fensterscheibe erstrahlte der Himmel in sommerlichem Blau; die Sonne war aufgegangen. Da sie spät dran war, nutzte sie den Umstand, dass sich alle bereits im Speisesaal befanden, ließ das Frühstück Frühstück sein und duschte stattdessen ausgiebig, denn gewöhnlich gab es einen straffen Zeitplan für die Benutzung der Waschräume, um unnötige Wartezeiten zu vermeiden. Anschließend zog sie sich an, schnupperte an der Bluse, die wie ihre Mutter nach Erdbeeren roch, und ging langsam in das Zimmer zurück, das seit gestern das ihre sein sollte.

Am Fenster saß Doktor Schäfer und wartete bereits auf sie.

»Du hast das Frühstück versäumt. Und gestern hast du auch nichts gegessen. Wenn du vorhaben solltest, alle Mahlzeiten zu verweigern, dann werden wir einen Arzt einschalten. Notfalls ernähren wir dich künstlich, dies zur Information.«

Saskia zuckte mit den Schultern, und Doktor Schäfer versuchte, in einen heiteren Tonfall zu wechseln, als er ihr Vorschläge unterbreitete, was sie alles tun könnte, während die anderen in die Schule gingen, die nach langer Sommerpause am nächsten Tag wieder starten würde: den Einkauf erledigen, bei der Gartenarbeit helfen, oder ein wenig musizieren vielleicht?

»Vor den Weihnachtsferien wird unser diesjähriges Adventsfest stattfinden«, schloss er seine Aufzählung. »Deine Tante sagte, du und deine Geige wäret auf deiner Schule bereits richtiggehend berühmt gewesen, und da dachte ich, du könntest eine kleine Kostprobe zum Besten geben. Die anderen Kinder hätten bestimmt große Freude daran, und du spielst sicher gern vor. Das wäre wirklich schön.«

Schon wieder dieses Wort: schön. Wie schön, Saskia, tu dies, tu das, schön machst du das. Ein mit Blumen bekränztes Mädchen, das sorglos durch Erdbeerfelder streift, sollte sie sein, wenn es nach den anderen ginge, ungetrübt und bunt, satt und reif und leuchtend.

Sie spürte ihren hungrigen Magen und den Ekel vor frischen Rosinenbrötchen gleich dazu, während Doktor Schäfer seine Fingerspitzen aneinanderlegte, zum Zeichen, dass er auf eine Reaktion wartete.

»Ich hasse meine Violine«, sagte Saskia und forschte in Doktor Schäfers Gesicht nach Spuren von Enervierung. Der aber ließ sich nichts anmerken, sondern blieb weiterhin freundlich.

»Und noch etwas. Ich will mit dir irgendwann in nächster Zeit in die Stadt fahren, damit wir gemeinsam auf den Friedhof gehen, wo deine Eltern begraben liegen. Deine Tante sagte, du habest dich geweigert, zur Beerdigung zu gehen. Ein Besuch am Grab könnte dir jedoch den Abschied erleichtern. Was meinst du? Es wäre gut für dich zu wissen, wo sie sind.«

Tante dies, Tante das.

Ohne zu überlegen, was sie sagte, schaute Saskia Doktor Schäfer in die Augen.

»Ich sagte Ihnen doch bereits: Meine Eltern haben den Tod nur vorgetäuscht. Kein Tod, keine Beerdigung, kein Grabstein. Leuchtet das ein?«

»Wenn du sechs Jahre alt wärst, würde ich dir glauben«, sagte Doktor Schäfer. »Kleine Kinder halten den Todesbegriff lange ausgeklammert. Aber du bist kein kleines Kind mehr. Du bist zwölf. Bei der Trauerarbeit nennen wir das: nicht wahrhaben wollen.«

»Was soll ich nicht wahrhaben wollen?«, unterbrach Saskia ihn. »Wenn sie doch nicht tot sind …?«

»Gut. Ich werde dir Zeit lassen, aber würde mich dennoch freuen, wenn du Vertrauen fassen könntest zu mir.«

Saskia ließ ihn reden und seine forschenden Augen gegen Wände rennen, denn sie war längst abgetaucht, in die Tiefe ihres Körpers, wo das Wort Friedhof eine Erinnerung ausgelöst hatte. Eine sehr junge Erinnerung, in der eine schiefe Steinmauer die zentrale Rolle spielte. Und ein graues Gesicht, das zwischen Ahornblättern hervorlugte. Sie hatte eine Einladung offen und konnte es nicht erwarten, dem Heim zu entkommen.

Zu ihrem Glück kapitulierte Doktor Schäfer wenig später.

»Wann immer dir danach ist, findest du mich im Büro«, sagte er und vertagte seine verständnisvollen Maßnahmen auf den nächsten Tag.

Kaum hatte er das Zimmer verlassen, schlich Saskia ihm hinterher, durch das Gebäude in den Nordostflügel, wo sie eine Tür zum Garten fand. Unbemerkt stahl sie sich hinaus und fand sich auf dem Grundstück des Kinderheimes wieder. Eine große Wiese breitete sich vor ihr aus, auf der einige Spieltürme standen und zwei Fußballtor-Ruinen. Das Gelände war von Maschendraht umzäunt, der wiederum von Hagebuttenhecken gesäumt wurde, gepflanzt, um seine Hässlichkeit zu verstecken.

Unwiderstehlich zog es Saskia zu dem großen Tor, das vor der Auffahrt zum Heim lag. Sie rüttelte an dem schweren Riegel und stellte entsetzt fest, dass sich das Tor nicht öffnen ließ. Das war schlimmer als erwartet. Zu Hause hatte ihr Vater nur ein einziges Mal die Tür nach draußen versperrt, als –

Saskia stieß den Gedanken fort.

Das verriegelte Tor, der Maschendrahtzaun, sie raubten ihr die Freiheit. »Jeder Mensch ist frei«, hatte ihre Mutter ihr eingeschärft, »vergiss das nie, mein Kind.« Ihre Mutter! Hatte von einer Freiheit gesprochen, wie sie in irgendwelchen Gesetzen der Kunst garantiert worden ist, um anschließend unterwandert zu werden, und war jetzt mit eben dieser Freiheit verschwunden, wohin auch immer.

Zurück blieb Saskia und mit ihr die Unfreiheit.

Den Rest der Woche verbrachte sie vorwiegend auf ihrer Matratze, obwohl sie weder in der Nacht noch am Tag Schlaf finden konnte. Dennoch verließ sie das Bett nur für die Mahlzeiten, die sie zähneknirschend über sich ergehen ließ, um sich anschließend wieder unter der Decke zu vergraben, die den größtmöglichen Schutz vor etwaigen Attacken zu geben versprach. Glücklicherweise wurde sie tatsächlich weitgehend in Ruhe gelassen, außer von diesem einen Gedanken, der unentwegt in ihrem Kopf kreiste: Sie musste fliehen, ja, das wäre das Klügste.

Als die anderen Kinder sich eines Nachmittags in der Aula versammeln sollten, um die Aufgaben für das Adventsfest zu verteilen, eine Zusammenkunft, von der sie zunächst verschont blieb, schlich sich Saskia heimlich aus dem Zimmer und weiter durch die Hintertür, bis sie draußen auf der Wiese stand, dort, wo sie am zweiten Tag gestanden und erkannt hatte, dass sie eingesperrt worden war. Aber heute würde sie eine Lücke finden in diesem Gewebe aus Unfreiheit.

Nach dem ersten Schritt auf den Rasen zog sie sogleich die Sandalen aus, die ihre Füße einschnürten, und grub die nackten Zehen ins Gras. Wie gern hätte sie mit jemandem geredet, jemandem, der ihr gut zureden würde, ihr Mut zusprechen, aber es gab niemanden. Vor und neben und hinter ihr war nichts als die Wiese, so grün, wie eine Wiese nur grün sein konnte.

Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blüh’n.

Die Zeile fiel Saskia ein, ohne dass sie es wollte; immerzu kreisten in ihrem Kopf Lieder und Stückzeilen, denn seit sie denken konnte, hatte sie sich der Musik gewidmet, um über sich hinauszuwachsen. Jetzt musste es etwas anderes geben, um weiterzukommen.

Ich muss den Zaun durchschreiten, dachte Saskia, auch wenn sie sich für einen Moment fragte, warum sie überhaupt noch irgendeinen Gang auf sich nehmen wollte.

Um keine Krise zu bekommen, richtig!

Und da die Antwort befriedigend schien, schritt Saskia weiter und ließ sich auch nicht abhalten, als sie mit ihrem nackten Fuß auf eine Wespe trat. Meter für Meter humpelte sie den Zaun entlang und fand schließlich tatsächlich ein Loch im Maschendraht, kaum sichtbar, versteckt durch die dichte Hagebuttenhecke, die ihr Schrammen auf den blanken Waden bescherte, als sie sich wenig später durch die defekte Stelle zwängte. Aber dann lag die Straße vor ihr: staubig und glühend vor Hitze.

Hauptsache, das Heim lag hinter ihr.

3

Saskia schlug die Richtung ein, aus der sie mit dem VW-Bus hierhergekommen war, und nach einer Weile reckten sich ihr die Zweige des Ahornbaums entgegen, der auf dem Waldfriedhof stand. Kein Blatt regte sich. Sie entschied, dem Verlauf der Mauer zu folgen, und ließ dabei ihre Fingerkuppen über die raue Oberfläche der Natursteine gleiten. Sie hatte den Friedhof auf diese Art etwa zur Hälfte umrundet, als sie auf eine dichte Brombeerhecke stieß, die das Mauerwerk umrankte, sodass kaum mehr ein Stein zu erkennen war. Zwischen Dornen und wenigen zu klein geratenen Beeren lag versteckt ein schmiedeeisernes Tor, das rostig in den Angeln hing.

Der Eingang zum Dornröschenschloss.

Saskia drückte die Klinke, und tatsächlich ließ sich das Tor öffnen. Hier konnte jeder kommen und gehen, wie er wollte.

Hier wohnte die Freiheit.