Schachmatt - Stephen L. Carter - E-Book

Schachmatt E-Book

Stephen L. Carter

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Beschreibung

Wenn der schwarze König fällt … Als der geachtete Richter Oliver Garland überraschend stirbt, ist sein Sohn Talcott überzeugt, dass ein schwaches Herz die Ursache war. Doch warum wird Talcott ständig nach den «Vorkehrungen» gefragt, die sein Vater für den Todesfall getroffen habe? Warum wird er verfolgt? Und warum fehlen zwei Schachfiguren auf dem sonst so sorgsam gehüteten Schachbrett des Richters? Bald darauf wird ein zweiter Toter aus dem Umfeld Oliver Garlands aufgefunden. Und Talcott sieht sich hineingezogen in die dunkle Vergangenheit seines Vaters. Er muss alles aufs Spiel setzen: seine Ehre, seinen Ruf – und sein Leben. «Seit Tom Wolfe habe ich keinen so vielschichtigen, mitreißenden und bereichernden Roman gelesen wie ‹Schachmatt›.» (USA Today) «Ein prall erzähltes, anekdoten- und facettenreiches Werk.» (Der Spiegel) «Dieses Buch kann man einfach nicht aus der Hand legen.» (New York Times Book Review) «Wunderbar erzählt und clever konstruiert. ‹Schachmatt› ist eine lebendige und vielschichtige Familiensaga, die geschickt verbunden ist mit der Spannung eines Thrillers ... Ein wirklicher Genuss!» (John Grisham) «Man kann dieses Buch einfach nicht aus der Hand legen ... Ein ebenso außergewöhnlicher wie überzeugender Roman.» (New York Times) «Ein unterhaltsamer, eleganter und ideenreicher Roman mit einem wunderbaren Kosmos von Figuren.» (The New York Review of Books) «Scharfsichtige Beobachtungen, gepaart mit einem ernsthaften sozialen Gewissen, das den meisten Büchern dieser Art fehlt ... Ein sprachliches Meisterwerk.» (Time)

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Seitenzahl: 1324

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Stephen L. Carter

Schachmatt

Roman

Aus dem Englischen von Jobst-Christian Rojahn und Hans-Ulrich Möhring

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

WidmungMottoProlog Das Vineyard-HausTeil I Die Nowotny-VerstellungKapitel 1 Neuigkeiten per TelefonIIIIIIKapitel 2 Ein Besuch an der KüsteIIIIIIKapitel 3 Die weiße KücheIIIKapitel 4 Der CharmeurIIIIIIKapitel 5 Begegnung am GrabIIIKapitel 6 Der ProblemistIIIIIIIVKapitel 7 Die SkaterinIIIKapitel 8 Weitere Neuigkeiten per TelefonIIIKapitel 9 Eine lehrreiche AuseinandersetzungIIIKapitel 10 Ein tragischer ZufallIIIKapitel 11 Ein bescheidener VorschlagKapitel 12 Eine SonderzustellungIIIIIIKapitel 13 Ein bekanntes GesichtIIIIIIKapitel 14 Freie MeinungsäußerungIIIIIIKapitel 15 Zwei BegegnungenIIIKapitel 16 Die drei NarrenIIIKapitel 17 Der MessingringIIIIIIIVTeil II Die Turton-LinienräumungKapitel 18 Weitere Nachrichten per TelefonIIIIIIIVKapitel 19 Zwei Geschichten werden erzähltIIIKapitel 20 Im Tempel der GerechtigkeitIIIIIIKapitel 21 Eine Reise um den CircleKapitel 22 Gespräch mit einem ColonelIIIKapitel 23 Die doppeldeutige GestaltIIIKapitel 24 Die DiagnoseIIIIIIKapitel 25 Eine bescheidene BitteIIIIIIKapitel 26 Sam Loyds HerausforderungKapitel 27 Eine schmerzliche BegegnungIIIKapitel 28 NeuigkeitenKapitel 29 Ein unterhaltsamer AbendIIIIIIKapitel 30 Die üblichen VerdächtigenIIIIIIIVKapitel 31 Brown-WocheIIIKapitel 32 ÜberraschungenIIIIIIKapitel 33 Eine nützliche UnterhaltungIIIIIIKapitel 34 Etwas klärt sich aufIIIKapitel 35 Die Leiche im KellerIIIIIIKapitel 36 Ein Bruder erzähltIIIIIIKapitel 37 GeschichtsforschungTeil III Ungedecktes SatzfluchtfeldKapitel 38 Häusliches IntermezzoIIIKapitel 39 Unerwartete BesucherIIIKapitel 40 Noch eine EröffnungKapitel 41 KonfrontationIIIIIIKapitel 42 GnadenfristKapitel 43 Eine Entscheidung fälltKapitel 44 Hart am AbgrundIIIIIIKapitel 45 AlarmIIIIIIIVKapitel 46 RuhestättenIIIKapitel 47 Die Entscheidung fälltIIIIIIKapitel 48 ZwischenzugIIIKapitel 49 Ein Plan wird ausgeführtIIIKapitel 50 Wieder auf dem FriedhofIIIKapitel 51 Ein alter Freund kehrt zurückKapitel 52 Besuch von alten FreundenIIIKapitel 53 Noch ein alter Freund erscheintIIIKapitel 54 Rückkehr ins UngewisseIIIIIIKapitel 55 Der Mann in Elm HarborKapitel 56 Ein SommerspaziergangIIIIIIKapitel 57 Allerlei InformationenIIIKapitel 58 Eine denkbare DarstellungKapitel 59 Andererseits …Kapitel 60 Die letzte RundeIIIIIIKapitel 61 Angelas GeliebterIIIIIIIVKapitel 62 Der Kampf um GeorgeIIIKapitel 63 Das WasserbabyKapitel 64 Der doppelte ExcelsiorIIIIIINachwort
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Für Mom, die ein Faible für Kriminalgeschichten hatte, und Dad, der in dieser nicht vorkommt – ich liebe euch beide, immer.

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Deux fous gagnent toujours, mais trois fous, non!

(Zwei Narren gewinnen immer, drei jedoch nie!)

Siegbert Tarrasch

 

(Anm.: Die Schachfigur, die im Deutschen Läufer heißt, nennen die Franzosen le fou.)

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PrologDas Vineyard-Haus

Als mein Vater schließlich starb, hinterließ er die Karten zu den Spielen der Redskins meinem Bruder, das Haus in der Shepard Street meiner Schwester und das Haus auf Martha’s Vineyard mir. Natürlich waren die Tickets der wertvollste Teil des Nachlasses, aber schließlich war Addison stets sein Liebling und der größte Football-Fan gewesen, der Einzige von uns Kindern, der die Leidenschaft meines Vaters in etwa teilte, und außerdem der Einzige von uns, mit dem mein Vater, als er sein Testament zum letzten Mal änderte, noch häufiger sprach. Addison ist ein Juwel, wenn man seine Frömmelei ertragen kann, während Mariah und ich uns, seit ich zum Feind übergelaufen bin, wie sie es formuliert, nicht mehr besonders nahe stehen, weshalb unser Vater uns ja auch Häuser vermacht hat, die über sechshundert Kilometer voneinander entfernt liegen.

Ich war froh, dass ich das Haus auf Martha’s Vineyard bekam. Es ist ein nettes kleines, im viktorianischen Stil erbautes Haus mit viel verschnörkelter Zimmermannsgotik an der leicht durchhängenden Veranda und einem wunderschönen Morgenblick auf den weißen Musikpavillon in dem weiten Meer weichen, grünen Grases, das sich von dem noch weiteren Meer leuchtend blauen Wassers abhebt. Meine Eltern erzählten gerne, wie sie das in dem Städtchen Oak Bluffs am Ocean Park gelegene Haus in den sechziger Jahren für ein Butterbrot gekauft hatten, zu einer Zeit, als Martha’s Vineyard, ebenso wie das Häuflein schwarzer Sommergäste aus der Mittelschicht, Niveau und eine gewisse Exklusivität besaß. In jüngster Zeit war es nach der oft wiederholten Ansicht meines Vaters mit Martha’s Vineyard bergab gegangen, denn es war voll und laut geworden, und außerdem ließ man jetzt Hinz und Kunz dorthin, wobei er mit «Hinz und Kunz» jene Schwarzen meinte, die weniger wohlhabend waren als wir. Es würden zu viele neue Häuser gebaut, pflegte er zu klagen, die zum Teil schon die Straßen und Wälder entlang der besten Strände verschandelten. Mittlerweile gab es vor allem bei Edgartown sogar Wohnanlagen, was er nicht begreifen konnte, weil der südliche Teil der Insel doch Kennedy-Land war. So nannte er das Gebiet, wo sich reiche weiße Urlauber und ihre schlecht erzogenen Gören versammeln. Ein Glaubensartikel meines – teils erbosten, teils eifersüchtigen – Vaters besagte nämlich, dass die Weißen den, wie er sich ausdrückte, Angehörigen der dunkelhäutigeren Nation zwar gestatteten, sich irgendwo gegenseitig die Ellbogen in die Rippen zu stoßen, die freien Räume aber für sich beanspruchten.

Und doch, ungeachtet aller Klagen, ist das Haus auf Martha’s Vineyard ein kleines Wunder. Ich habe es schon als Kind geliebt und liebe es heute noch mehr. Jedes Zimmer, jede dunkle Treppenstufe, jedes Fenster erzählt raunend seine Geschichte. Als Kind brach ich mir bei einem Sturz vom Giebeldach über dem Fenster des großen Schlafzimmers den Fuß und das Handgelenk; heute, dreißig Jahre später, kann ich mich nicht mehr daran erinnern, warum ich dachte, es würde Spaß machen, dort herumzuklettern. Zwei Sommer darauf wanderte ich in nachmitternächtlicher Dunkelheit auf der Suche nach einem Glas Wasser durchs Haus, als mich ein seltsames Wimmern veranlasste, mich auf den Treppenabsatz zu kauern und durchs Geländer zu spähen, was mir, eine Woche vor meinem zehnten Geburtstag, zu einem ersten kurzen, aber anregenden Blick auf das Urwunder der Erwachsenenwelt verhalf. Mein Bruder Addison, der vier Jahre älter ist als ich, balgte sich mit unserer Cousine Sally, einer dunklen fünfzehnjährigen Schönheit, auf dem abgewetzten weinroten Sofa, das in einer schummerigen Ecke nahe der Treppe vor dem Fernseher stand. Beide hatten anscheinend nicht mehr sämtliche Kleider am Leib, auch wenn ich nicht auf Anhieb feststellen konnte, welche fehlten. Im ersten Moment wollte ich weglaufen, blieb dann aber hocken und beobachtete, von einer ausgesprochen anregenden Lethargie befallen, wie sich die beiden auf der Couch wälzten, Arme und Beine scheinbar willkürlich ineinander verschlungen – «rummachen» nannten wir das damals, in unkomplizierteren Tagen, ein herrlich vielsagender Ausdruck, mit dem wir uns vielleicht vor der Last allzu großer Deutlichkeit schützen wollten.

Meine eigenen Teenagerjahre verhalfen mir, wie die eintönigen überlangen Jahre des Erwachsenenlebens, leider nicht zu vergleichbaren Abenteuern, schon gar nicht auf Martha’s Vineyard; der absolute Höhepunkt ereignete sich wohl, als ich dreizehn war, gegen Ende des letzten Sommers, den die Familie vollzählig in Oak Bluffs verbrachte. Mariah, damals eine recht mollige Fünfzehnjährige, war stinksauer auf mich, weil ich mich über ihr Gewicht lustig gemacht hatte. Sie lieh sich deshalb in der Küche eine Schachtel Streichhölzer, stibitzte mir dann ein heißgeliebtes Topps-Sammelbild des Baseballspielers Willie Mays und kletterte die gefährliche Ausziehleiter mit ihren dünnen, wackligen Sprossen hoch auf den Dachboden. Als ich sie eingeholt hatte, verbrannte sie das Bild vor meinen Augen, während ich in der elenden Nachmittagshitze des staubigen, niedrigen Speichers hilflos weinend auf die Knie sank – schon damals hatte sich die hartnäckige Feindseligkeit zwischen uns herausgebildet. Im selben Sommer schaffte es meine Schwester Abigail, die damals immer noch «Baby» gerufen wurde, obwohl sie nur ein gutes Jahr jünger war als ich, in die Lokalzeitung, die Vineyard Gazette, weil sie an einem schwülen Augustabend bei einem Volksfest mit Dart-Pfeilen auf Luftballons und mit Baseball-Bällen auf Milchflaschen geworfen und acht verschiedene Preise abgeräumt hatte, wodurch sie ihre Stellung als einzige potenzielle Athletin der Familie festigte – wir anderen ließen von vornherein die Finger vom Sport, denn unsere Eltern predigten uns ständig, es sei wichtiger, Köpfchen zu haben als Muskeln.

Vier Sommer später war Abbys jungenhaftes Lachen weder am Ocean Park noch sonst irgendwo mehr zu hören, denn ihre Lebensfreude und unsere Freude an ihr fanden in einem einzigen chaotischen Augenblick ein Ende, als sie, ein unerfahrener Teenager, auf regennassem Asphalt den erfolglosen Versuch unternahm, einem außer Kontrolle geratenen Sportwagen auszuweichen, einem dieser schicken Dinger, das zwar etliche Zeugen gesehen hatten, das aber nie genau beschrieben und folglich auch nie ausfindig gemacht werden konnte; der Fahrer, der meine kleine Schwester in jenem ersten Frühling der kurzen Amtszeit von Jimmy Carter ein paar Blocks nördlich der Washingtoner Kathedrale tötete, hatte sich lange vor Eintreffen der Polizei aus dem Staub gemacht. Dass Abby noch keinen richtigen Führerschein, sondern nur eine vorläufige Fahrerlaubnis besaß, erfuhr die Öffentlichkeit nicht; genauso wenig wurde das Marihuana, das man in ihrem geliehenen Auto fand, erwähnt, schon gar nicht von der Polizei, aber selbst von der Presse nicht, denn mein Vater war schließlich der, der er war, und hatte die Beziehungen, die er hatte, und außerdem war es damals noch kein Volkssport, den Ruf der Großen dieser Welt zu zerstören. Deshalb konnte Abby so unschuldig sterben, wie wir vorgaben, dass sie gelebt hatte. Addison stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor seinem College-Abschluss, und Mariah war in ihrem zweiten College-Jahr, was mich in die nervenaufreibende Rolle zwängte, das «einzige Kind» meiner Mutter zu spielen. So nannte sie mich jedenfalls. Und in diesem Sommer in Oak Bluffs, in dem mein Vater zwischen Martha’s Vineyard und dem Gerichtsgebäude in Washington pendelte und meine Mutter im Erdgeschoss ziellos von Zimmer zu Zimmer wanderte, machte ich es mir zur Aufgabe, im ganzen Haus Dinge aufzuspüren, die an Abby erinnerten: unter einem Bücherstapel auf dem schwarzen, metallenen Rollwagen, auf dem der Fernseher stand, ihr Lieblingsspiel Life; ganz hinten in dem Glasschränkchen über der Spüle ein weißer Keramikbecher mit der schwarzen Aufschrift BLACK IS BEAUTIFUL, den sie gekauft hatte, um meinen Vater zu ärgern; und, versteckt in einem Winkel des stickigen Dachbodens, der Plüschpanda George (benannt nach dem militanten, zum Märtyrer gewordenen Schwarzen George Jackson), den sie bei dem besagten Volksfest gewonnen hatte und aus dessen Gelenken inzwischen eine eklige rosa Substanz quoll – Erinnerungen, die, wie ich, der ich die gefahrvollen mittleren Lebensjahre erreicht habe, gestehen muss, im Laufe der Zeit immer mehr verblasst sind.

Ach ja, das Vineyard-Haus! Addison hat zweimal dort Hochzeit gefeiert, einmal mehr oder weniger erfolgreich, und ich habe zweimal die bleigefassten Scheiben der Haustür eingeworfen, einmal mehr oder weniger absichtlich. In meiner Kindheit fuhren wir jedes Jahr hin, um den Sommer dort zu verbringen, denn genau dazu ist ein Sommerhaus schließlich da. Im Winter schimpfte mein Vater dann regelmäßig über die Kosten und drohte, das Haus zu verkaufen, denn genau das tut man schließlich, wenn Glück eine fragwürdige Investition ist. Und als dann der Krebs, der meine Mutter sechs Jahre lang verfolgt hatte, den Sieg davontrug, starb sie in diesem Haus, im kleinsten der Schlafzimmer, von dem aus man den schönsten Blick auf den Nantucket Sound hat, denn genau das tut man schließlich, wenn man sein Ende wählen kann.

Mein Vater starb an seinem Schreibtisch. Und anfänglich glaubten nur meine Schwester und ein paar bekiffte Anrufer bei spätabendlichen Radioshows, dass er ermordet worden sei.

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Teil IDie Nowotny-Verstellung

Nowotny-Verstellung

Bei der Komposition von Schachproblemen ein Thema, bei dem sich zwei schwarze Figuren gegenseitig daran hindern, wichtige Felder zu decken.

Kapitel 1Neuigkeiten per Telefon

I

«Heute ist der glücklichste Tag meines Lebens», sprudelt meine Frau heraus, mit der ich seit fast neun Jahren verheiratet bin, an dem Tag, der in Kürze einer der traurigsten meines Lebens werden soll.

«Aha», antworte ich, und mein Tonfall verrät, dass ich verletzt bin.

«Ach, Misha, nun werd mal erwachsen! Ich vergleiche das doch nicht mit unserer Hochzeit.» Pause. «Oder mit Bentleys Geburt», setzt sie dann gleichsam als Fußnote hinzu.

«Ich weiß, ist schon klar.»

Wieder eine Pause. Ich hasse Pausen am Telefon, aber ich hasse das Telefon sowieso – und noch vieles andere mehr. Im Hintergrund höre ich einen Mann lachen. Während es im Osten schon fast elf Uhr vormittags ist, geht es in San Francisco erst auf acht zu. Es besteht jedoch kein Anlass zu Argwohn – sie könnte von einem Restaurant, einem Einkaufszentrum oder einem Konferenzraum aus anrufen.

Oder auch nicht.

«Ich dachte, du freust dich für mich», sagt Kimmer endlich.

«Ich freue mich ja auch für dich», versichere ich ihr viel zu spät. «Es ist nur –»

«Ach, Misha, nun komm schon!» Sie wird langsam ungeduldig. «Ich bin nicht dein Vater, okay? Ich weiß, worauf ich mich einlasse. Was ihm passiert ist, wird mir nicht passieren. Was dir passiert ist, wird unserem Sohn nicht passieren. Okay, Schatz?»

Mir ist gar nichts passiert, bin ich versucht zu lügen, lasse es aber, zum Teil weil ich den seltenen, köstlichen Geschmack, den dieses «Schatz» hinterlässt, mag. Ich möchte Kimmer, die gerade so glücklich ist, nicht verärgern. Und ganz bestimmt möchte ich ihr nicht sagen, dass meine Freude über das von ihr Erreichte durch die Sorge beeinträchtigt wird, wie mein Vater darauf reagieren mag. Ich sage also sanft: «Ich mache mir bloß Sorgen um dich, das ist alles.»

«Ich kann durchaus auf mich selbst aufpassen», versichert mir Kimmer, und das ist eine Aussage, die in schon erschreckendem Maße den Tatsachen entspricht. Ich staune über die Fähigkeit meiner Frau, mit guten Nachrichten hinter dem Berg zu halten, zumindest ihrem Mann gegenüber. Sie hat bereits gestern erfahren, dass sich ihre jahrelange subtile Einflussnahme und ihre sorgfältige politische Betätigung endlich ausgezahlt haben und sie für die Besetzung einer beim Bundesberufungsgericht frei gewordenen Stelle in die engere Wahl gekommen ist. Ich versuche mir nicht die Frage zu stellen, mit wie vielen Leuten sie ihre Freude schon geteilt hat, bevor sie es endlich geschafft hat, zu Hause anzurufen.

«Ich vermisse dich», sage ich.

«Das ist lieb von dir, aber es sieht leider ganz so aus, als müsste ich doch noch bis morgen hier bleiben.»

«Ich dachte, du wolltest heute Abend kommen.»

«Wollte ich auch, aber … tja, es geht halt nicht.»

«Verstehe.»

«Ach, Misha, ich bleibe doch nicht absichtlich weg. Es ist mein Job. Ich kann es nicht ändern.» Ein paar Sekunden lang denken wir beide darüber nach. «Ich komme so schnell nach Hause, wie ich kann, das weißt du doch.»

«Ja, ich weiß, Liebling, ich weiß.» Ich stehe hinter meinem Schreibtisch und blicke hinunter zu den Studenten, die lesend auf dem Rasen liegen oder Volleyball spielen und im Licht der untergehenden Oktobersonne versuchen, den neuenglischen Sommer in die Länge zu ziehen. Mein Büro ist geräumig und hell, und auch ein bisschen unordentlich, was wohl ganz allgemein auf mein Leben zutrifft. «Ich weiß», sage ich ein drittes Mal, denn wir haben in unserer Ehe den Punkt erreicht, wo der Gesprächsstoff allmählich auszugehen scheint.

Nach einer angemessenen Zeit des Schweigens kehrt Kimmer zu praktischeren Fragen zurück. «Soll ich dir was sagen? Das FBI wird bald anfangen, sich mit meinen Freunden unterhalten zu wollen. Auch mit meinem Mann. Als Ruthie mir das verkündete, meinte ich zu ihr: ‹Ich hoffe bloß, er erzählt ihnen nicht von allen meinen Sünden.›» Ein kleines Lachen, argwöhnisch und selbstsicher zugleich. Meine Frau weiß, dass sie sich auf mich verlassen kann. Und dieses Wissen lässt sie plötzlich bescheiden werden. «Mir ist vollkommen klar, dass sie auch andere Kandidaten im Blick haben», fährt sie nämlich fort, «von denen einige wahnsinnig gute Voraussetzungen mitbringen. Aber Ruthie meint, ich habe trotzdem sehr gute Chancen.» Ruthie ist Ruth Silverman, unsere ehemalige Kommilitonin von der Juristischen Fakultät und Kimmers damalige Freundin, die inzwischen zum Beraterstab des Weißen Hauses gehört.

«Die hast du bestimmt, wenn sie deine Verdienste berücksichtigen», sage ich loyal.

«Das klingt nicht so, als würdest du meinen, dass ich den Posten kriege.»

«Ich meine, du müsstest ihn kriegen.» Und das entspricht der Wahrheit. Meine Frau ist der zweitklügste Anwalt, den ich kenne. Sie ist Teilhaberin der größten Anwaltskanzlei von Elm Harbor, einem Ort, den Kimmer für eine Kleinstadt hält, während ich finde, dass er schon fast Großstadtcharakter hat. Nur zwei andere Frauen haben es so weit gebracht, und keine, die nicht weiß ist.

«Ich schließe nicht aus, dass das Ergebnis schon feststeht», räumt sie ein.

«Ich hoffe nicht. Ich möchte, dass du bekommst, was du haben willst. Und was du verdienst.» Ich zögere, dann presche ich vor. «Ich liebe dich, Kimmer. Ich werde dich immer lieben.»

Meine Frau, die es vorzieht, nicht auf dieses Thema einzugehen, schlägt eine andere Richtung ein. «Vier oder fünf Kandidaten sind in der Endauswahl. Ruthie sagt, einige davon sind Professoren. Sie meint, es sind zwei oder drei Kollegen von dir dabei.» Ich muss lächeln, aber nicht vor Vergnügen. Ruthie ist viel zu klug, um Namen zu nennen, doch Kimmer und ich wissen sehr gut, wer die zwei oder drei Kollegen sein sollen, nämlich nur ein einziger, und zwar Marc Hadley, den einige für den brillantesten Vertreter der Fakultät halten, obwohl er in den fünfundzwanzig Jahren seiner Lehrtätigkeit nur ein Buch geschrieben hat, und das ist fast zwanzig Jahre her. Marc und ich standen uns einmal recht nahe, und ich stehe nicht vielen Menschen nahe, vor allem nicht an der Uni, aber der unerwartete Tod von Richter Julius Kratz vor vier Monaten machte das bisschen Freundschaft, das uns verband, zunichte und löste jenen Wettstreit hinter den Kulissen aus, der uns dahin gebracht hat, wo wir jetzt sind.

«Ich glaube kaum, dass der Präsident wieder einen Juraprofessor ernennt», mutmaße ich, nur um etwas zu sagen. Marc bemüht sich schon länger als meine Frau um ein Richteramt und hat Ruthie, die einmal zu seinen Lieblingsstudentinnen gehörte, zu ihrer augenblicklichen Position verholfen.

«Die besten Richter sind immer die, die wenigstens eine Zeitlang als Anwälte gearbeitet haben.» Meine Frau sagt das so, als zitierte sie eine offizielle Wettbewerbsregel.

«Ich glaube, da hast du recht.»

«Hoffen wir, dass der Präsident das auch so sieht.»

«Genau.» Ich strecke einen Arm aus, und es knackt hörbar. Mein Körper schmerzt an genau den Stellen, die es mir unmöglich machen, still zu sitzen. Heute Morgen nach dem Frühstück habe ich Bentley bei seinem viel zu teuren Kindergarten abgesetzt und mich danach mit Rob Saltpeter, einem weiteren Kollegen, mit dem ich nicht richtig befreundet bin, zum Basketballspielen getroffen, und zwar nicht in der Sporthalle der Uni, wo wir uns vor Studenten hätten blamieren können, sondern beim YMCA, wo alle anderen mindestens genauso alt waren wie wir.

«Ruthie meint, die Entscheidung wird innerhalb der nächsten sechs bis acht Wochen fallen», fährt meine Frau fort und bestärkt mich damit in dem Verdacht, dass sie sich viel zu früh freut. Kimmer spricht Ruthies Namen mit bemerkenswerter Zuneigung aus, jedenfalls wenn man bedenkt, dass sie ihre alte Freundin noch vor zwei Wochen mir gegenüber spöttisch als unsere kleine Richter-Macherin bezeichnet hat. «Gerade rechtzeitig zu Weihnachten.»

«Also, ich finde, das sind wirklich gute Nachrichten, Liebling. Vielleicht können wir, wenn du heimkommst –»

«Oh, Misha, Süßer, ich muss los. Jerry ruft mich. Tut mir leid. Ich melde mich später wieder.»

«Okay. Ich liebe dich», versuche ich es noch einmal, aber ich erkläre meine Liebe schon der leeren Luft.

II

Jerry ruft mich. Zu einer Besprechung? Ans Telefon? Zurück ins Bett? Ich peinige mich mit gewagten Spekulationen, bis es Zeit für mein Elf-Uhr-Seminar ist, sammle dann meine Bücher zusammen und eile zum Unterricht. Ich bin, wie Sie erraten haben werden, Juraprofessor. Ich gehe auf die vierzig zu und war in grauer Vorzeit einmal als Anwalt tätig. Heute verdiene ich meinen Lebensunterhalt damit, dass ich gelehrte Artikel schreibe, die viel zu obskur sind, um etwas zu bewirken, und an einigen Vormittagen der Woche versuche, Deliktsrecht (Herbstsemester) und Verwaltungsrecht (Frühjahrssemester) in die Köpfe meiner Studenten hineinzubekommen – Studenten, die zu intelligent sind, um sich mit mittelmäßigen Zensuren zufriedenzugeben, zugleich aber auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ihre wertvolle Energie an die langweiligen Details zu verschwenden, die man nun einmal kennen muss, wenn man sehr gute Noten bekommen will. Den meisten von ihnen liegt an dem Studienabschluss, den wir ermöglichen, nicht aber an dem Wissen, das wir vermitteln. Und da die Studenten uns in zunehmendem Maße nur noch als eine Art Berufsschule ansehen, klafft die Lücke zwischen dem Wunsch, einen Abschluss zu erreichen, und dem, das Rechtssystem zu durchschauen, immer weiter auseinander. Das sind vielleicht nicht gerade die fröhlichsten Gedanken, die ein Juraprofessor hegen kann, aber den meisten von uns kommen sie hin und wieder, und heute scheint mein Tag zu sein.

Ich presche durch mein Seminar über das Deliktsrecht (was lässt sich zum Thema der Vollkaskoversicherung schon viel Neues sagen?) und bringe ein paar nette Sprüche an, die zwar alle nicht von mir sind, aber meine dreiundfünfzig Studenten den größten Teil der anderthalb Stunden bei Laune halten. Um halb eins trotte ich mit zwei meiner Kollegen zum Essen – mit Ethan Brinkley, der noch so jung ist, dass er sich freut, weil er einen Lehrstuhl erhalten hat, und Theo Mountain, der schon meinem Vater und dann mir das Verfassungsrecht nahegebracht hat und der dank des gesetzlichen Schutzes, den ältere Arbeitnehmer inzwischen genießen, sowie einer unerschütterlichen Konstitution auch gut noch meine Enkelkinder unterweisen könnte. Wir setzen uns in eine ramponierte Nische im Post (nur die Uneingeweihten sprechen vom Post’s), einem zwei Straßen von der Juristischen Fakultät entfernten, trostlosen Bistro, und ich höre zu, wie Ethan von irgendetwas wahnsinnig Komischem berichtet, das Tish Kirschbaum am vergangenen Wochenende auf einer Party von Peter Van Dyke gesagt hat, wobei mich – wie so oft – das Gefühl überkommt, dass es an der Fakultät ein weißes Gesellschaftskarussell gibt, das sich so schnell um mich dreht, dass ich immer nur flüchtig einen Blick darauf erhasche; bis eben hatte ich keine Ahnung, dass bei Peter Van Dyke am letzten Wochenende eine Party stattgefunden hat, und ganz bestimmt wurde mir keine Gelegenheit gegeben, die Teilnahme dankend abzulehnen. Peter wohnt zwar nur zwei Straßen von mir entfernt, steht jedoch in der Fakultätshierarchie weit über mir. Ethan rangiert, theoretisch, Meilen unter mir. Aber die Hautfarbe sorgt selbst an den liberalsten Unis für eine ganz eigene Hierarchie.

Ethan redet und redet. Theo, dessen weißer Bart mit Senf bekleckert ist, lacht vergnügt, und während ich versuche, mich am Gespräch zu beteiligen, erwäge ich, ihnen von Kimmer zu erzählen, nur um zu sehen, wie für einen wunderbaren Augenblick die Blasiertheit von ihren selbstzufriedenen weißen Gesichtern weicht. Ich möchte es einfach irgendwem erzählen. Andererseits, wenn ich jetzt die Nachricht verbreite und Marc am Ende Kimmer aus dem Feld schlägt – was er, wie ich vermute, tun wird, wenn auch unverdienterweise –, trifft mich die geballte Arroganz meiner Kollegen erneut und schlimmer denn je.

Außerdem weiß Marc wahrscheinlich sowieso schon Bescheid. Ruthie würde Kimmer niemals Marcs Namen nennen, aber ich wette, dass sie Marc Kimmers Namen genannt hat. Das rede ich mir jedenfalls ein, als ich allein durch die Town Street zum Gebäude der Juristen zurückgehe. Die Mittagszeit ist vorbei. Theo, der alt genug ist, um eine Enkelin unter den Studenten zu haben, während die meisten von uns gerade mal ihre Kinder in die Grundschule schicken, musste zu einer Besprechung, und Ethan, Experte auf dem Gebiet des Terrorismus und des Kriegsrechts, wollte in die Sporthalle. Er hält sich fit für den Fall, dass MSNBC oder CNN bei ihm anrufen. Ich habe nichts Besonderes vor und kehre deshalb in mein Büro zurück. Studenten eilen an mir vorbei, Studenten aller Hautfarben und mit ganz verschiedenem Kleidungsstil, aber alle mit diesem seltsam anmaßenden Gang, den die jungen Leute heutzutage bevorzugen – sie halten den Kopf gesenkt, ziehen die Schultern hoch, Arme eng am Körper und heben kaum die Füße, schaffen es aber trotzdem, den Eindruck zu erzeugen, dass tief in ihnen Energien schlummern, die nur darauf warten, freigesetzt zu werden.

Marc weiß wahrscheinlich längst Bescheid. Ich werde diesen Gedanken einfach nicht los. Ich passiere die granitene Pracht der um einen quadratischen Platz angeordneten Gebäude der Naturwissenschaftlichen Fakultät, in deren Ausstattung die Universität inzwischen alles Geld steckt. Ich komme an einer Gruppe von Bettlern vorbei, die allesamt der dunkelhäutigeren Nation angehören und denen ich jeweils einen Dollar gebe – Schuldgeld zahlen, wie Kimmer diese Angewohnheit von mir nennt. Ich frage mich kurz, wie viele von ihnen Betrüger sein mögen. Diese Art von Erwägungen bezeichnete mein Vater als unwürdig. Solche Erwägungen sind eurer nicht würdig, predigte er seinen Kindern mit seltener Empörung, gefolgt von der Ermahnung, unsere Gedanken im Zaum zu halten.

Marc weiß wahrscheinlich Bescheid, sage ich mir noch einmal, während ich die breiten Stufen zum Gebäude der Juristischen Fakultät hinaufsteige. Ruthie Silverman hat ihm, darauf möchte ich wetten, alles gesagt. Theo war zwar ebenfalls Ruthies Dozent, und sie hat mit meiner Frau und mir zusammen studiert, aber sie ist Marc Hadley, wie viele Studenten heute auch, eben doch am treuesten ergeben.

«Das ist das Problem mit Studenten», murmele ich leise vor mich hin, als ich über die Schwelle trete, denn ich führe schon mein ganzes Leben lang Selbstgespräche – ein Zeichen von Geisteskrankheit, wie meine Frau mir versichert. «Sie sind einem ewig dankbar.»

Schließlich siegt die Vorsicht. Ich beschließe, Kimmers Neuigkeit für mich zu behalten. Ich behalte die meisten Dinge für mich. Meine Welt bereitet mir zwar gelegentlich Kummer, im Allgemeinen ist sie jedoch still, und so mag ich sie. Dass plötzlich Gewalt und Angst über sie hereinbrechen könnten, liegt an diesem sonnigen Herbstnachmittag außerhalb meines Vorstellungsvermögens.

III

In der hohen Eingangshalle treffe ich eine meiner Lieblingsstudentinnen, Crysta Smallwood, die ein heilloses Faible für Daten hat. Sie ist eine dunkle, stämmige junge Frau mit beträchtlichen Geistesgaben, die vor ihrem Jurastudium an der Pomona University Französisch studiert und sich nie genötigt gesehen hat, mit Zahlen herumzuspielen. Dann kam sie nach Elm Harbor und entdeckte die Statistik, was sie auf eine nette Weise verrückt werden ließ. Im vergangenen Herbst hat sie an meinem Seminar zum Deliktsrecht teilgenommen und sich seitdem hauptsächlich zwei Dingen gewidmet: unserer Rechtsberatung für Bedürftige, wo sie sozialhilfebedürftigen Müttern dabei hilft, nicht aus der Wohnung zu fliegen, und ihrer Sammlung statistischer Daten, mit der sie eines Tages hofft beweisen zu können, dass die weiße Rasse ihrer eigenen Vernichtung entgegengeht, eine Aussicht, die sie fröhlich stimmt.

«Hallo, Professor Garland», ruft sie mit ihrem ausgeprägten Westküstenakzent.

«Guten Tag, Ms. Smallwood», antworte ich förmlich, denn die Erfahrung hat mich gelehrt, dass es klüger ist, mit Studenten nicht auf zu vertrautem Fuß zu stehen. Ich strebe auf die Treppe zu.

«Wissen Sie was?, sagt Crysta schwärmerisch und schneidet mir den Fluchtweg ab, wobei sie die Möglichkeit vollkommen unberücksichtigt lässt, dass ich ja auch einen Termin wahrzunehmen haben könnte. Sie trägt einen ganz kurzen Afro-Schnitt, als eine der Letzten in der Fakultät. Ich bin alt genug, um mich noch an die Zeit erinnern zu können, als nur wenige schwarze Frauen in ihrem Alter die Haare anders trugen, aber wie sich dann zeigte, war der Nationalismus doch weit weniger eine Ideologie als eine Modeerscheinung. Crystas Augen stehen zu weit auseinander, was ihrem Blick etwas Schielendes, leicht Beunruhigendes gibt. Für eine Frau ihrer Körperfülle bewegt sie sich erstaunlich schnell, und es ist deshalb nicht einfach, ihr zu entkommen. «Ich habe mir die Zahlen noch einmal angesehen. Die zu den weißen Frauen.»

«Ach ja.» Ich sitze in der Falle, schaue zur stuckverzierten Decke hinauf: religiöse Symbole, Girlanden aus Eibenzweigen und Anspielungen auf die Gerechtigkeit, wobei das Ganze allerdings schon so oft überstrichen worden ist, dass die scharfen Konturen allmählich verlorengehen.

«Ja, und nun raten Sie mal. Ihre Fruchtbarkeitsrate, also die der weißen Frauen, ist inzwischen so niedrig, dass es ungefähr 2050 keine weißen Babys mehr geben wird.»

«Hm, sind Sie sich Ihrer Zahlen ganz sicher?» Denn Crysta ist, wenngleich brillant, auch ziemlich durchgeknallt. Wie ich als ihr akademischer Lehrer feststellen musste, ist sie in ihrer Begeisterung außerdem recht sorglos und zieht oft mit großer Selbstverständlichkeit Schlüsse aus ihren Daten, ohne sich vorher die Zeit genommen zu haben, sie genauer zu analysieren.

«Vielleicht auch erst 2075», räumt sie ein, und ihr freundlicher Tonfall lässt erkennen, dass sie zu Verhandlungen bereit ist.

«Klingt alles ein bisschen wacklig, Ms. Smallwood.»

«Liegt an den Abtreibungen.» Ich setze mich wieder in Bewegung, aber Crysta hält Schritt. «Daran, dass sie ihre Babys umbringen. Das ist der Hauptgrund.»

«Ich finde wirklich, Sie sollten sich für Ihre Arbeit ein anderes Thema suchen», halte ich dagegen und winde mich an ihr vorbei, um die geschwungene Marmortreppe zu erreichen, die hinauf zu den Büros der Professoren führt.

«Aber es sind nicht nur die Abtreibungen …», schallt mir ihre Stimme die Treppe hinauf nach, was einen meiner Kollegen, den nervösen kleinen Joe Janowsky, auf dem Weg nach unten dazu veranlasst, sich mit seinen dicken Brillengläsern über das Marmorgeländer zu beugen, um festzustellen, wer da so schreit. «… es sind auch die gemischtrassigen Ehen, denn die weißen Frauen …»

Dann bin ich durch die Flügeltür zum oberen Flur, und Crystas wahnwitzige Spekulationen sind glücklicherweise nicht mehr zu hören.

Beim Betreten meines Büros rufe ich mir in Erinnerung, dass ich auch einmal so war. Genauso bar jeden Zweifels bei Themen, von denen ich keinen blassen Schimmer hatte. Deshalb bin ich wahrscheinlich auch eingestellt worden – als ich geistig jünger war, war ich geistig auch noch kühner.

Deswegen und wegen des glücklichen Umstands, der Sohn meines Vaters zu sein, dessen Einfluss in der Universität selbst nach den traumatischen Anhörungen nur langsam schwand. Selbst heute noch, mehr als ein Jahrzehnt nach dem Sturz des Richters, nageln mich Studenten fest und wollen aus meinem Mund hören, dass mein Vater ebenjener ist, der er, wie sie gehört haben, sein soll. Oder Kollegen wollen von mir beschrieben haben, was das für ein Gefühl war, als ich Tag um Tag dasaß und stoisch zuhörte, während der Senat ihn systematisch demontierte.

«Wie wenn man jemandem zuschaut, der in Zugzwang ist», sage ich dann immer, aber sie sind alle keine richtigen Schachspieler und verstehen das nicht. Obwohl sie, weil Professoren, so tun, als ob.

Auf der Suche nach Ablenkung sehe ich meinen Eingangskorb durch. Ein Schreiben des Rektors in Sachen Parkgebühren. Die Einladung zu einer in drei Monaten stattfindenden Konferenz über die Reform des Deliktsrechts in Kalifornien – unter der Bedingung, dass ich die Reisekosten selbst trage. Die Postkarte von jemandem irgendwo in Idaho, gegen den ich bei einem postalischen Schachturnier spiele und der den einen Zug entdeckt hat, von dem ich gehofft hatte, dass er ihn übersehen würde. Eine Erinnerung von Ben Montoya, dem stellvertretenden Dekan, daran, dass am Abend ein großer Rechtsgelehrter einen Vortrag hält. Ein gemäßigt drohendes Schreiben der Universitätsbibliothek wegen eines Buches, das ich offensichtlich verloren habe. Aus der Mitte des Stapels ziehe ich die Harvard Law Review hervor und überfliege das Inhaltsverzeichnis, lege die Zeitschrift aber schnell weg, als ich wieder einmal einen gelehrten Artikel entdecke, der erklärt, warum mein infamer Vater Verrat an seiner Rasse geübt hat. Das ist nämlich das Niveau, auf das sich die dunkelhäutigere Nation hat drücken lassen: Unfähig, im weißen Amerika auch nur auf ein einziges Ereignis wirkungsvoll Einfluss zu nehmen, verschwenden wir unsere kostbare Zeit und geistige Energie damit, uns gegenseitig schlechtzumachen, als dienten wir dem Fortschritt unserer Rasse dadurch am besten, dass wir uns gegenseitig vors Schienbein treten.

Gut, für heute habe ich genug getan.

Das Telefon klingelt.

Ich starre auf den Apparat und denke – nicht zum ersten Mal –, was für ein hässliches, aufdringliches, unzivilisiertes Ding das Telefon doch ist, so fordernd, irritierend, unterbrechend, jegliche Gedanken vernichtend. Ich weiß wirklich nicht, warum Graham Alexander Bell so verehrt wird. Seine Erfindung hat die Privatsphäre zerstört. Das Gerät hat keinerlei Gewissen. Es klingelt, wenn wir schlafen, duschen, beten, streiten, lesen, uns lieben. Oder wenn wir schlicht und einfach unsere Ruhe haben wollen. Ich erwäge, nicht dranzugehen. Ich habe genug gelitten. Und das nicht nur, weil meine blendend gelaunte, quirlige Frau so abrupt aufgelegt hat. Heute ist einer dieser seltsamen Donnerstage, an denen das Telefon mit seinem wütenden, Aufmerksamkeit heischenden Geschrei einfach nicht aufhören will: Der Mitarbeiter einer Fachzeitschrift hat den längst überfälligen Entwurf eines Artikels angefordert, ein unglücklicher Student um einen Termin gebeten, American Express für den vergangenen Monat Geld sehen wollen, und alle sind zum Zug gekommen. Die Dekanin der Fakultät, Lynda Wyatt – oder Dekanin Lynda, wie sie von allen gerne genannt werden möchte, von Professoren, Studenten und Ehemaligen gleichermaßen –, rief kurz vor der Mittagspause an, um mich wieder einmal in einen ihrer Ad-hoc-Ausschüsse zu berufen, die sie ständig einsetzt. «Ich bitte Sie nur, weil ich Sie so mag», flötet sie auf ihre mütterliche Art. Und das sagt sie zu jedem, den sie nicht leiden kann.

Das Telefon klingelt noch immer. Ich warte darauf, dass sich die Voicemail einschaltet, aber wie der Großteil der Spartechnik der Fakultät funktioniert sie dann am besten, wenn man sie nicht braucht. Ich beschließe, das Telefon zu ignorieren, aber dann fällt mir ein, dass mein Gespräch mit Kimmer nicht sehr positiv geendet hat und sie jetzt vielleicht anruft, um das wiedergutzumachen.

Oder um ein wenig weiterzustreiten.

Für beides gerüstet, greife ich zum Hörer in der Hoffnung, die Stimme meiner reuigen Frau zu vernehmen, aber es ist nur der große Anwalt Mallory Corcoran, Partner meines Vaters und sein letzter Freund, zugleich ein begnadeter Washingtoner Drahtzieher. Er ruft an, um mir zu sagen, dass der Richter von uns gegangen ist.

Kapitel 2Ein Besuch an der Küste

I

Ich komme am Freitagnachmittag in Washington an, am Tag nach dem Tod meines Vaters, lasse mein Gepäck bei Miles und Vera Madison, den ebenso bescheidenen wie tüchtigen Eltern meiner Frau, und begebe mich dann zum Haus in der Shepard Street, wo ich Mariah antreffe, die in ihrer umsichtigen Art bereits das meiste von dem erledigt hat, was erledigt werden muss. (Wir sind uns ohne Worte darin einig, dass sich die Familie nicht auf Addison verlassen kann, der noch nicht einmal mitgeteilt hat, wann er zu kommen gedenkt.) Mariah war vor langer Zeit einmal ein dickes, unordentliches Kind und hatte ihrer jüngeren, hellhäutigen Schwester gegenüber fürchterliche Minderwertigkeitskomplexe, denn die Besessenheit, was die Pigmentierung angeht, ist bis heute der Fluch unserer Rasse geblieben, vor allem in Familien wie der meinen. Als Mariah dann älter wurde, entwickelte sie sich zu einer stattlichen, beinahe hoheitsvollen Schönheit, die allerdings trotzdem von den Männern der Goldküste (wie wir das schmale Segment der gesellschaftlich arrivierten Angehörigen der dunkelhäutigeren Nation zu nennen pflegen) ignoriert wurde. Inzwischen neigt sie wohl ein wenig zur Fülle, aber so etwas bleibt nach der Geburt von fünf Kindern nicht aus, folgt man dem Urteil Kimmers, ihres Zeichens Berufsjuristin und Amateur-Fitnessguru. (Kimmer hat genau ein Kind zur Welt gebracht, ein halb geplanter Unfall, den wir nach dem Mädchennamen seiner Großmutter mütterlicherseits Bentley genannt haben.) Die erwachsene Mariah ist außerdem phantastisch gut organisiert – sie ist das einzige der vier Kinder des Richters, das in dieser Beziehung nach ihm geraten ist –, und sie scheint das Wort Pause nicht zu kennen. Was sie nicht daran hindert, mir, kaum dass ich durch die Tür des verwinkelten, hässlichen Hauses in der Shepard Street getreten bin, in dem wir beide unsere Jugendjahre verbracht haben, den Rest der Arbeit aufzuhalsen. Ich glaube, sie tut dies nicht aus Kummer, Bosheit oder gar Erschöpfung, sondern aus dem gleichen Grund, aus dem sie ihre journalistische Tätigkeit aufgegeben hat, nämlich um ihre Kinder großzuziehen, will sagen aus einer seltsamen, ganz bewussten Unterwerfung unter die Männer. Ein Verhalten, das sie von unserer Mutter übernommen hat, die von ihren beiden Töchtern verlangte, dass sie nicht so sehr eine Rolle spielten, als vielmehr eine bestimmte Haltung verkörperten: Es gab Aufgaben, die zu übernehmen ihrem Geschlecht nicht angemessen war. Kimmer verabscheut diesen Wesenszug meiner Schwester und hat sie oft, einmal sogar ganz direkt, beschuldigt, ihre Geistesgaben zu vergeuden, die ihr als Studentin in Stanford immerhin Auszeichnungen und die Mitgliedschaft in der Studentinnenvereinigung Phi Beta Kappa eingetragen hatten. Kimmer hielt ihr das vor zwei Jahren bei der Weihnachtsfeier im Haus meines Vaters vor, an der wir törichterweise teilnahmen. Worauf Mariah ganz ruhig antwortete, die Kinder verdienten es, dass sie ihnen die besten Jahre ihres Lebens widme. Kimmer, die ihren beruflichen Aufstieg kaum unterbrochen hatte, als Bentley zur Welt gekommen war, fasste dies als persönlichen Angriff auf und sagte das auch, was meiner Schwester und mir einen weiteren Grund lieferte – soweit überhaupt einer erforderlich war –, nicht mehr miteinander zu sprechen.

Sie müssen wissen, dass ich meine Schwester in vielerlei Hinsicht liebe und achte. Als wir noch jünger waren, galt Mariah allgemein als das intellektuell begabteste der vier Kinder meiner Eltern, und sie war auch diejenige, die sich am ernsthaftesten und rührendsten der unmöglichen Aufgabe stellte, den elterlichen Beifall zu finden. Ihre Erfolge in der Oberschule und auf dem College wärmten das Herz meines Vaters. Um auch das meiner Mutter zu wärmen, verheiratete sie sich nur ein einziges Mal, und das glücklich (nachdem sie schon einmal verlobt gewesen war, was jedoch zu einer Katastrophe geführt hätte, wenn der Erwählte nicht rechtzeitig mit ihrer besten Freundin durchgebrannt wäre), und produzierte mit einer Regelmäßigkeit und Begeisterung Enkelkinder, die meine Eltern entzückten. Ihr Mann ist weiß und ein Langweiler, ein Investmentbanker, der zehn Jahre älter ist als sie und den sie, wie sie der Familie erzählte, bei einer von Freunden arrangierten Verabredung kennengelernt hatte, wohingegen meine süße Kimmer steif und fest behauptet, dahinter könne nur eine Heiratsanzeige stecken. Aber wenn ich die Wahrheit sagen soll, so hat die dunkle, hübsche Mariah immer weiße Männer bevorzugt, schon als Schülerin, als sie unter den Argusaugen unseres misstrauischen Vaters anfing, mit Jungs auszugehen.

In der Shepard Street begrüßt Mariah die Besucher, förmlich und ernst in dunkelblauem Kostüm und mit einreihiger Perlenkette, ganz die Dame des Hauses, wie meine Mutter bemerkt haben könnte. Durch das Haus weht Musik ganz nach dem fürchterlichen Geschmack meines Vaters – Puccini, in englischer Sprache gesungen. Die Diele ist klein, düster und vollgestopft mit nicht zueinander passenden, schweren Möbelstücken. Links liegt das Wohnzimmer, rechts das Esszimmer, und geradeaus ist ein Durchgang, der zum Familienzimmer und zur Küche führt. Über eine breite, schlichte Treppe neben der Tür zum Esszimmer gelangt man nach oben, wo ich als Junge auf der Galerie hinter dem Geländer zu hocken pflegte, um heimlich die abendlichen Gesellschaften oder Pokerspiele meiner Eltern zu beobachten, und wo ich mich auf Geheiß Addisons versteckte, als er mir erfolgreich bewies, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Jenseits der Galerie befindet sich das höhlenartige Arbeitszimmer, in dem mein Vater gestorben ist. Zu meiner Überraschung sehe ich jetzt dort oben zwei oder drei Gäste, die am Geländer lehnen, als gehörte das alles ihnen. Überhaupt halten sich mehr Menschen im Haus auf, als ich erwartet habe. Das ganze Erdgeschoss quillt über von dunklen Anzügen – ein größerer Teil des wohlsituierten afrikanischen Amerika ist versammelt, als es wahrscheinlich nach Ansicht der meisten weißen Amerikaner außerhalb der Welt des Sports und der Welt der Unterhaltung überhaupt gibt, und ich frage mich unwillkürlich, wie viele der Gäste wohl glücklicher über den Tod meines Vaters sind, als ihre Gesichter verraten.

Bei meiner Ankunft begrüßt mich meine Schwester nicht mit einer Umarmung, sondern mit einem distanzierten Küsschen links, Küsschen rechts und sagt dann leise: «Ich bin froh, dass du da bist, Tal», so wie sie es auch zu einem der Partner oder Pokerkumpel meines Vaters sagen könnte. Dann fasst sie mich an beiden Schultern, was immerhin einer Umarmung nahekommt, und blickt mit müden, dennoch boshaft blitzenden Augen an mir vorbei auf den Weg, der zum Haus führt. «Wo ist Kimberly?» (Mariah weigert sich, sie Kimmer zu nennen, weil es ihr, wie sie mir einmal anvertraut hat, zu sehr nach Möchtegern-Privatschule klingt. Dabei hat meine Frau die Miss Porter’s School besucht, verfügt also durchaus über den entsprechenden Hintergrund.)

«Auf dem Rückweg von San Francisco», sage ich. «Sie war ein paar Tage geschäftlich dort.» Bentley sei bei unseren Nachbarn, füge ich viel zu schnell hinzu. Ich hätte ihn gestern früher als sonst vom Kindergarten abgeholt und heute Morgen zu den Nachbarn gebracht, weil ich davon ausgegangen sei, dass ich an diesem Tag viel zu viel zu tun haben würde, um mich mit ihm zu beschäftigen. Kimmer würde ihn am Abend einsammeln und dann morgen mit ihm zusammen per Bahn herkommen. Während ich diese logistischen Einzelheiten darlege und weiß, dass ich zu viel rede, überkommt mich ein Gefühl großer Leere, was mein Gesicht, wie ich hoffe, nicht verrät, denn ich vermisse meine Frau auf eine Weise, die ich vor der Familie lieber nicht zeigen möchte.

Aber ich hätte mir die Mühe, meine Gefühle zu verbergen, sparen können, denn Mariah hat genügend eigene, mit denen sie fertig werden muss, und sie unternimmt keinerlei Anstrengung, mit ihrem Kummer und ihrer Hilflosigkeit hinter dem Berg zu halten. Sie hat schon wieder vergessen, dass sie überhaupt nach meiner Frau gefragt hat. «Ich verstehe es nicht», sagt sie sanft, wobei sie den Kopf schüttelt und ihre Fingerspitzen in meine Oberarme gräbt. Dabei bin ich sicher, dass Mariah es sehr wohl versteht. Erst im vorigen Jahr hatte der Richter ins Krankenhaus gemusst, um die mangelhaften Ergebnisse einer zwei Jahre zuvor erfolgten Bypassoperation korrigieren zu lassen, eine Tatsache, die meiner Schwester so bekannt ist wie mir. Der Tod meines Vaters ist, auch wenn wir nicht gerade damit gerechnet haben, durchaus nicht unerwartet gekommen.

«Es hätte jederzeit passieren können», murmele ich.

«Ich wünschte, es wäre nicht ausgerechnet jetzt passiert.»

Dazu lässt sich wenig sagen, außer man verwiese auf Gottes Willen, was jedoch in unserer Familie nie jemand tut. Ich nicke deshalb nur und tätschele ihre Hand, lasse es aber sofort wieder sein, denn es scheint sie zu kränken. Sie schließt die Augen, als müsse sie sich zusammenreißen, und als sie sie dann wieder öffnet, ist sie wieder ganz eine Garland. Sie seufzt und wirft den Kopf zurück, als hätte sie noch immer die lange Mähne, die sie als Teenager so mühsam gepäppelt hat, und sagt schließlich in keineswegs entschuldigendem Tonfall: «Tut mir leid, dass für euch im Haus kein Platz ist, aber ich habe die Kinder im Keller untergebracht und die Hälfte der Vettern und Cousinen oben unterm Dach.» Mariah zuckt die Achseln, als könnte sie nichts daran ändern, aber ich ahne, was dieses Arrangement wirklich bezwecken soll: Sie behauptet in aller Ruhe ihre Machtstellung und fordert mich heraus, ihr zu trotzen.

Ich lasse mich nicht darauf ein.

«Ist gut», sage ich und lächele unverdrossen weiter, was sie immer ein wenig aus der Fassung bringt.

Zu meiner Überraschung verrät Mariahs Gesicht keinerlei Triumph. Sie scheint sich vielmehr angesichts ihres Sieges elender zu fühlen als zuvor und ausnahmsweise einmal nicht genau zu wissen, was sie sagen soll. Ich kann mich nicht erinnern, Mariah je so wenig selbstsicher gesehen zu haben. Aber sie hat schließlich den Richter am meisten geliebt, auch wenn es durchaus Zeiten gab, wo sie ihn nicht ausstehen konnte.

«He, Schwesterherz», sage ich sanft (als wir noch Teenager waren und mit dem Experiment befasst, uns zu mögen, nannten wir uns immer Schwesterherz und Bruderherz). «Na komm, es wird schon wieder werden.»

Mariah nickt unsicher, fühlt sich jedoch von keinem meiner Worte ermutigt. Da sie mir misstraut, kann das kaum überraschen. Sie nagt an der Unterlippe, was sie vor ihren Kindern nie und nimmer tun würde. Dann stellt sie sich auf die Zehenspitzen und sagt in einem hohen Flüsterton, wobei ihr Atem mein Ohr kitzelt: «Ich muss mit dir reden, Tal. Es ist wichtig. Irgendwas … irgendwas stimmt nicht.» Ich senke verblüfft den Kopf, und sie sieht sich in der düsteren Diele um, als fürchte sie, es könne jemand mithören. Mein Blick folgt dem ihren und wandert über obskure entfernte Verwandte und Schönwetterfreunde, darunter etliche, die die Familie seit dem demütigenden Kampf meines Vaters um seine Berufung nicht mehr gesehen hat. Schließlich bleibt ihr Blick an Howard Denton, ihrem Mann, hängen, der wohlhabend und fit wirkt und trotz seines Weißseins am richtigen Platz. Howard ist ein fanatischer Bodybuilder; selbst jetzt noch, im Alter von über fünfzig Jahren, scheinen seine breiten Schultern über der schlanken Taille zu schweben. Er liebt Mariah über alles. Aber er liebt auch das Geld. Zwar schaut er gelegentlich ehrerbietig in Richtung meiner Schwester, hauptsächlich unterhält er sich jedoch angeregt mit einer Schar junger Männer und Frauen, die ich nicht näher kenne. Aus ihrer zielstrebigen Art, ihrem Brooks-Brothers-Outfit und der Tatsache, dass einer von ihnen Howard seine Visitenkarte in die Hand drückt, schließe ich, dass es um etwas Geschäftliches geht, selbst hier, selbst jetzt.

Dasselbe hat auch mein Vater immer wieder erlebt, sogar noch nach seinem Sturz: Er betrat einen Raum, und plötzlich wollten alle etwas von ihm. Er verbreitete diese Aura um sich, sandte unterschwellig die Botschaft aus, dass er jemand war, um den herum und durch den sich Dinge bewegten – jemand, den zu kennen nur von Nutzen sein konnte. Und da steht der schlanke, weiße Howard, ausgerechnet mein Schwager, mit seinem dünn werdenden braunen Haar, seinem maßgeschneiderten Anzug und seinem siebenstelligen Jahreseinkommen (vielleicht ist es inzwischen auch schon achtstellig) und besitzt dieselbe Macht über Menschen. Jetzt ist es also an mir, verletzt zu sein, nicht so sehr als Vertreter meiner Familie, sondern eher als Angehöriger meiner Rasse: Vor meinen Augen erscheinen plötzlich leuchtend rote Flecken, was mir des Öfteren passiert, und zwar immer dann, wenn meine Beziehung zur dunkelhäutigeren Nation und zu ihrer Unterdrückung aufs Tapet kommt. Der Raum um mich verschwimmt. Durch den roten Schleier nehme ich nur schwach diese ehrgeizigen jungen Schwarzen in ihren ehrgeizigen kleinen Anzügen wahr, die nicht viel älter sind als meine Studenten und hier um die Gunst meines Schwagers buhlen, bloß weil er Geschäftsführer bei Goldman Sachs ist. Und plötzlich begreife ich, warum viele schwarze Nationalisten in den sechziger Jahren leidenschaftlich gegen die Programme zur Bekämpfung der Rassendiskriminierung Stellung bezogen und davor warnten, dass ebendiese Programme der schwarzen Minderheit die besten ihrer potenziellen Führer wegnehmen würden, indem sie nämlich auf die angesehensten Colleges geschickt und zu … nun ja, Konzern-Apparatschiks in Anzügen von Brooks Brothers gemacht würden, die sich verzweifelt um die Gunst mächtiger weißer Kapitalisten bemühten. Unsere Führungspersönlichkeiten würden, so das Argument, dazu verleitet werden, ein völlig neues Ziel zu verfolgen. An die Stelle der Gerechtigkeit für alle würden tolle Studienabschlüsse und noch tollere Geldsummen für einige wenige treten. Die Nationalisten hatten vollkommen recht: Und ich gehöre zu den wenigen. Meine Frau gehört zu ihnen. Meine Schwester. Meine Studenten. Diese jungen Leute dort, die meinem Schwager ihre Karten aufdrängen.

Die Welt ist von einem hellen, zornigen Rot überzogen. Meine Beine sind aus Stein. Mein Gesicht ist aus Stein. Ich stehe ganz still, lasse mich von der Röte überfluten, genieße sie, wie man eine heiße Dusche genießt. Jede Pore nimmt die Röte in sich auf, ich fühle, wie alle Zellen meines Körpers davon erfüllt sind, und spüre, wie die Luft knistert, sehe ein Omen, das Zeichen eines heraufziehenden Sturms, und erlebe in diesem Moment der Erstarrung und des Zorns noch einmal, mich selbst verachtend, jede Schmeichelei gegenüber Weißen, die mir weiterhelfen konnte …

«Lass gut sein, Bruderherz», sagt mein Gewissen, nur dass es gar nicht mein Gewissen ist, sondern Mariah, die mir eine Hand auf den Arm gelegt hat und deren Stimme überraschend ruhig ist. «So ist er nun mal.» Ich blicke nach unten und bemerke, dass sich meine Hand zu einer Faust geballt hat. Ich weiß, es ist kaum Zeit vergangen – eine Sekunde, vielleicht auch zwei. Nie vergeht Zeit, wenn sich der rote Schleier vor meine Augen senkt, und mir ist oft so, als könnte ich diesen Augenblick kraft meines Willens einfrieren, sodass ich für immer zwischen dieser Sekunde und der nächsten eingeschlossen bliebe und in einer Welt aus glorreichem Rot weiterlebte. Dieses Gefühl habe ich auch jetzt. Dann schaue ich hoch und sehe durch die Röte hindurch den Schmerz – nein, die Bedürftigkeit – in den dunkelbraunen Augen meiner Schwester. Was mag es sein, das sie braucht und das Howard ihr schuldig bleibt? Nicht zum ersten Mal stellt sich mir die Frage, was sie in ihm sieht, das Geld einmal ausgenommen. Meine Frau meint, Mariah sei vor etwas davongelaufen, als sie ihren Partner wählte, aber alle Kinder meiner Eltern sind davongelaufen, so entschlossen und schnell wie möglich, davongelaufen vor demselben Etwas oder Jemand, nur dass weder Addison noch ich jemanden geheiratet haben, der so langweilig ist wie Howard.

Andererseits ist die Ehe meiner Schwester glücklich.

Mariah flüstert meinen Namen, berührt meinen Arm und ist einen Augenblick lang nicht meine Gegnerin, sondern meine Schwester. Das Rot ist fort, der Raum wieder klar. Ich drücke sie beinahe an mich, was ich, glaube ich, seit zehn Jahren nicht mehr getan habe, und meine gar, dass sie es zulassen würde, doch der Augenblick geht vorüber. «Wir können uns später unterhalten», sagt sie und schiebt mich sanft, aber bestimmt beiseite. «Geh und sag Sally guten Tag», fügt sie hinzu, schon dem nächsten Gast zugewandt. «Sie sitzt in der Küche und weint.»

Ich nicke stumm, immer noch ratlos, warum mich diese Stimmungen überkommen, und versuche mich daran zu erinnern, wann es mich das letzte Mal erwischt hat. Als ich mich auf den Weg zur Küche mache, sagt Mariah schon zu einem anderen Besucher, wie nett es sei, dass er gekommen ist, und lässt seinen beiden Wangen je einen Kuss zuteilwerden. Ich begrüße Howard im Vorbeigehen, aber er ist zu sehr damit beschäftigt, Visitenkarten einzusammeln, als dass er mehr zustande bringen würde als eine Grimasse und ein flüchtiges Winken. Ganz kurz umspielt ein roter Schimmer seinen Kopf und verschwindet wieder. Ich gehe weiter. Die zahllosen Vettern und Cousinen, wie mein Vater sie zu nennen pflegte, scheinen jeden Quadratzentimeter des Erdgeschosses besetzt zu halten – zahllos deswegen, weil der Richter die Mühe scheute, sich einzuprägen, wer wer ist. Den Vorsitz über die Vettern und Cousinen führt wie immer die alterslose Alma, oder Tante Alma, wie wir sie nach dem Willen unserer Eltern nennen sollten, obwohl Alma selbst, uns in wahre Duftwolken hüllend, stets darauf bestand, «schlicht Alma» zu ihr zu sagen, was wir dann gelegentlich wörtlich nahmen, wenn auch nie in ihrer Gegenwart. «Mariah, ist Schlicht Alma schon da?» Oder: «Mama, Papa, Schlicht Alma ist am Apparat!» Schlicht Alma, die eine Cousine zweiten Grades oder eine Großtante oder so etwas meines Vaters ist, bekennt sich zu einem Alter von 81 Jahren, wobei sie wahrscheinlich schon viel länger auf Erden weilt, dürr wie ein Zweiglein, aber laut, lustig und unanständig und nie ganz still, in ihrem Verhalten irgendwie den jazzigen Rhythmen folgend, die die dunkelhäutigere Nation seit ihren erzwungenen Anfängen am Leben erhalten haben. Als Kind strebte ich bei jeder Familienzusammenkunft zu ihr, weil sie immer aus irgendwelchen Taschen Münzen hervorzauberte und uns aufdrängte; jetzt gehe ich zu ihr, weil sie seit dem Tod meiner Mutter das Gravitationszentrum der Familie ist und uns alle zu sich hinzieht.

«Talcott!», ruft Alma aus, als sie mich erblickt. Sie stützt sich auf ihren fein geschnitzten Stock und lächelt ihr betörendes Lächeln. «Komm mal her!»

Ich küsse sie sanft, und sie belohnt mich mit einer flinken Umarmung. Ich spüre ihre zerbrechlichen Knochen und staune, dass es den Stürmen des Alters noch nicht gelungen ist, sie fortzublasen. Ihr Atem riecht nach Zigaretten, nach den Kools, die sie seit einem legendären Akt des Protests vor sieben Jahrzehnten raucht, als sie noch die Oberschule in Philadelphia besuchte. Mehr als ein halbes Jahrhundert war sie mit einem Prediger verheiratet, der in Pennsylvania einigen politischen Einfluss hatte und den der Vizepräsident der Vereinigten Staaten in den höchsten Tönen lobte.

«Wie schön, dich zu sehen, Alma.»

«Genau das ist das Problem! Alle attraktiven Männer wollen mich immer nur sehen!» Sie gackert laut und gibt mir einen ziemlich festen Klaps auf die Schulter. Trotz ihrer Zerbrechlichkeit hat Alma sechs Kinder zur Welt gebracht, die alle noch leben. Fünf von ihnen haben studiert, vier sind noch in erster Ehe verheiratet, drei stehen in Diensten der Stadt Philadelphia, zwei sind Ärzte und einer ist schwul – es verbirgt sich anscheinend irgendein numerisches Prinzip dahinter. Almas Kinder sowie deren Kinder und Kindeskinder bilden die größte Untergruppe der zahllosen Vettern und Cousinen. Alma haust in einer engen Wohnung in einem der weniger reizvollen Viertel Philadelphias, verbringt jedoch so viel Zeit damit, ihre Nachkommen zu besuchen, dass sie öfter von zu Hause abwesend als dort anzutreffen ist.

«Du wärst wahrscheinlich eine Nummer zu groß für mich, Alma.»

Ich drücke sie noch einmal kurz und will dann weitergehen, aber sie packt meinen Arm und hält mich zurück. Ihre Augen sind trüb vom grauen Star, aber ihr Blick ist trotzdem scharf und wach. «Du weißt, dass dein Papa dich sehr geliebt hat, nicht wahr, Talcott?»

«Ja», sage ich, obwohl man das beim Richter nie genau wissen konnte. Man konnte nur raten, ob er einen liebte oder nicht.

«Er hatte Großes mit dir vor, Talcott.»

«Wie bitte?»

«Mit Blick auf die Familie. Du bist jetzt das Oberhaupt der Familie, Talcott.»

«Ich würde meinen, dass Addison das ist.» Steif. Ich bin gekränkt und weiß nicht, warum.

Sie schüttelt ihren kleinen Kopf. «Nein, nein, nein. Nicht Addison. Du. So hat es dein Papa gewollt.»

Ich schürze die Lippen und überlege, ob sie das ernst meint. Ich fühle mich geschmeichelt und zugleich beunruhigt. Die Vorstellung, das Oberhaupt der Familie Garland zu sein – was immer das bedeuten mag –, hat einen eigentümlichen Reiz. Zweifellos der Ausdruck eines uralten, genetisch bedingten männlichen Machtstrebens.

«Okay, Alma.»

Sie drückt mich ein wenig fester an sich, will sich nicht abwimmeln lassen. «Talcott, er hatte viel mit dir vor! Er wollte, dass du derjenige wirst, der …» Alma blinzelt und lässt mich los. «Schon gut, schon gut, er wird’s dich wissen lassen.»

«Wer wird mich was wissen lassen, Alma?»

Sie zieht es vor, eine andere Frage zu beantworten. «Du hast die Möglichkeit, alles zu richten. Du kannst alles in Ordnung bringen.»

«Was in Ordnung bringen?»

«Die Familie.»

Ich schüttele den Kopf. «Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Alma.»

«Du weißt schon, was ich meine, Talcott. Denk mal an die schönen Zeiten, die wir in Oak Bluffs verlebt haben. Ihr Kinder, euer Papa und eure Mama, ich, Onkel Derek … damals, als Abigail noch bei uns war», endet Alma plötzlich und überrascht mich mit einem kleinen Schluchzer.

Ich nehme ihre Hand. «Ich glaube kaum, dass ein Mensch Dinge wie diese wieder in Ordnung bringen kann.»

«Wohl wahr. Aber dein Papa wird dich zur rechten Zeit wissen lassen, was du tun musst.»

«Mein Papa? Du meinst den Richter?»

«Hast du noch einen anderen Papa?»

Das ist auch etwas, was alle über Alma sagen, nämlich dass sie nicht mehr ganz richtig im Kopf ist.

Als ich mich schließlich von ihr losmache, fällt mir ein, dass ich ja nach Sally sehen sollte. Diese verrückten Garland-Frauen, denke ich: Liegt das an uns Garland-Männern, dass sie so neurotisch sind, oder ist da nur der Zufall am Werk? Ich kämpfe mich durch das Gedränge. Ich weiß nicht, warum all diese Leute jetzt hier sind, warum sie nicht bis zum Leichenschmaus warten können. Aber vielleicht hat Mariah ja gar keinen vorgesehen. Ein paar Fremde strecken mir ihre Hand entgegen. Jemand flüstert, der Richter habe nicht leiden müssen, wir sollten alle dankbar sein, und ich würde am liebsten herumfahren und fragen: Waren Sie dabei? Aber stattdessen nicke ich nur und gehe weiter, wie es mein Vater getan hätte. Jemand anders, noch ein weißes Gesicht, murmelt, dass die Fackel weitergereicht wurde und es nun Sache von uns Kindern sei, wobei er dieses es nicht genauer definiert. Direkt vor der Küchentür schüttelt mir zu meinem Missfallen ein Baptisten-Prediger die Hand, der im Führungsgremium einer der älteren Bürgerrechtsorganisationen sitzt – ein Mann, der, da bin ich ziemlich sicher, gegen die Aufnahme meines Vaters in den Obersten Gerichtshof ausgesagt hat. Und der jetzt die Stirn hat, so zu tun, als würde er mit uns trauern. Der Händedruck scheint kein Ende nehmen zu wollen. Seine alten Fingerspitzen bewegen sich unablässig über meine Haut, und endlich wird mir klar, dass er versucht, das heimliche Erkennungszeichen irgendeiner Bruderschaft zu übermitteln. Vielleicht weiß er nicht, dass die Ablehnung solcher bei diesen Gruppierungen üblichen Begrüßungsrituale einer der wenigen Akte der Rebellion gegen die Lebensweise meiner Eltern war – eine Lebensweise, aus der mich Kimmer, meine Mit-Rebellin, errettet hat. Aber mir liegt nichts daran, den Mann darüber aufzuklären. Ich möchte lediglich seinem falschen Pathos entkommen, und ich fühle, wie sich der rote Schleier wieder herabzusenken droht. Der Mann will jedoch nicht loslassen. Er redet davon, wie nahe mein Vater und er sich in der Vergangenheit gestanden hätten. Wie leid es ihm tue, dass sich alles so entwickelt habe. Ich bin kurz davor, mit etwas einigermaßen Unchristlichem zu antworten, als ganz plötzlich eine geballte Ladung kleiner Wesen an uns vorbeistürmt und uns fast umreißt – die fünf Denton-Kinder im Alter zwischen vier und zwölf rasen führungslos und ungestüm in einen anderen Teil des Hauses, um dort Unheil anzurichten. Es sind Malcolm, Marshall, die Zwillinge Martin und Martina sowie der Jüngste, Marcus. Mariah sucht verzweifelt nach einem Namen für das sich unübersehbar ankündigende sechste Denton-Kind, das Ende Februar oder Anfang März kommen soll. Sie weiß diesmal nicht so recht, wie sie eine Lösung finden soll, die sowohl unserer Geschichte als auch ihrem Schema gerecht wird. Im Übrigen ist diese jüngste Schwangerschaft sowieso ein Skandal, jedenfalls innerhalb der vier Wände unseres Hauses. Vor einem Jahr hatte Mariah, zweiundvierzigjährig, meiner erstaunten Frau anvertraut, dass sie gern noch ein Kind hätte, was Kimmer mir gegenüber als unverzeihlichen Leichtsinn und als Zügellosigkeit brandmarkte, denn Kimmer schätzt, wie mein Vater, diejenigen am meisten, die sich am wenigsten von ihr selbst unterscheiden.

II

Unsere Familie ist eine alte Familie, was sich bei Menschen unserer Hautfarbe nicht so sehr auf den gesellschaftlichen, als vielmehr auf den rechtlichen Status bezieht. Als die meisten Angehörigen der dunkelhäutigeren Nation noch in Ketten lagen, waren Vorfahren von uns bereits frei und für ihr Einkommen selbst verantwortlich. Natürlich waren nicht alle unsere Vorfahren frei, aber immerhin doch einige, und mit den anderen hält sich die Familie nicht auf; wir haben diesen Teil der historischen Erinnerung so wirkungsvoll verdrängt wie das übrige Amerika das weitaus größere Verbrechen. Und wie alle guten Amerikaner verzeihen wir nicht nur das Verbrechen der Sklavenhaltung, sondern preisen auch die Verbrecher. Mein älterer Bruder verdankt seinen Namen einem ganz bestimmten Vorfahren, nämlich Waldo Addison, der als unser Stammvater gilt. Er war ein befreiter Sklave, der, kaum befreit, selbst Sklaven hielt, bis er sich in den dreißiger Jahren des 19