Schakal – Black Dagger Prison Camp 1 - J. R. Ward - E-Book
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Schakal – Black Dagger Prison Camp 1 E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

An einem geheimen Ort, tief unter der Erde, befindet sich das berühmt-berüchtigte Gefängnis der Glymera. Als die schöne Vampirin Nyx einen Hinweis erhält, wo das Gefängnis liegt, in dem ihre Schwester einsitzt, macht sie sich sofort auf den Weg, um sie zu befreien. In dem düsteren verschlungenen Labyrinth begegnet sie einem Gefangenen, den alle nur den »Schakal« nennen. Er ist geheimnisvoll, gefährlich und hat eine fatale erotische Ausstrahlung. Als er Nyx anbietet, sie bei ihrer Suche nach ihrer Schwester zu unterstützen, nimmt sie seine Hilfe an – nicht ahnend, dass sie beide schon bald in ein tödliches Abenteuer verwickelt werden ...

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Das Buch

An einem geheimen Ort, tief unter der Erde, befindet sich das berühmt-berüchtigte Gefängnis der Glymera. Dort sind die schlimmsten Verbrecher der Vampirwelt eingesperrt, und wer einmal dort gelandet ist, kommt nie wieder raus. Als die schöne Nyx einen Hinweis erhält, wo das Gefängnis liegt, in dem ihre Schwester ihre Strafe verbüßt, macht sie sich sofort auf den Weg, um sie zu befreien. In dem düsteren, verschlungenen Labyrinth begegnet sie einem Gefangenen, den alle nur den »Schakal« nennen. Er ist geheimnisvoll, gefährlich und hat eine fatale erotische Ausstrahlung. Als er Nyx anbietet, sie bei ihrer Suche nach ihrer Schwester zu unterstützen, nimmt sie seine Hilfe an – und ahnt weder, dass der Schakal ein Geheimnis hat, das ihn mit der Bruderschaft der BLACK DAGGER verbindet, noch, dass sie beide schon bald in tödlicher Gefahr schweben werden …

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während des Studiums mit dem Schreiben. Nach dem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestsellerlisten eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als Star der romantischen Mystery.

Ein ausführliches Werkverzeichnis der von J. R. Ward im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Bücher finden Sie am Ende des Bandes.

Mehr über Autorin und Werk erfahren Sie auf:

www.jrward.com

Titel der amerikanischen Originalausgabe: THE JACKAL – BLACK DAGGER PRISON CAMP Deutsche Übersetzung von Dorothee Witzemann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 03/2022

Redaktion: Lisa Scheiber

Copyright © 2020 by Love Conquers All, Inc.

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Dirk Schulz, Bielefeld

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-28014-7V002

www.heyne.de

Dieses Buch ist allen Menschen in systemrelevanten Berufen gewidmet, die uns durch die COVID-19-Pandemie gebracht haben, vor allem denen im Gesundheitswesen, die ihr eigenes Leben in Gefahr gebracht haben, um anderen zu helfen.

Wir sind euch so dankbar.

Danksagung

Mit riesigem Dank an alle, die die Bücher über die Bruderschaft der Black Dagger lesen! Es ist eine lange, wundervolle, aufregende Reise, und ich kann es kaum erwarten zu sehen, was als Nächstes in dieser Welt passiert, die wir alle lieben. Ich möchte außerdem Meg Ruley, Rebecca Scherer und allen bei JRA danken, außerdem Hannah Braaten, Andrew Nguyen, Jennifer Bergstrom, Jennifer Long und der ganzen Familie bei Gallery Books und Simon&Schuster.

An Team Waud: Ich liebe euch alle. Ehrlich. Und wie immer tue ich alles mit Liebe und Bewunderung für meine Ursprungsfamilie wie auch meine Adoptivfamilie.

Oh, und ich danke Naamah, meinem WriterAssistant Nummer zwei, der genauso hart an meinen Büchern arbeitet wie ich – und Archieball!

Glossar der Begriffe und Eigennamen

 Ahstrux nohtrum – Persönlicher Leibwächter mit Lizenz zum Töten, der vom König ernannt wird.

 Die Auserwählten – Vampirinnen, deren Aufgabe es ist, der Jungfrau der Schrift zu dienen. In der Vergangenheit waren sie eher spirituell als weltlich orientiert, doch das hat sich mit dem Aufstieg des letzten Primal geändert, der sie aus dem Heiligtum befreite. Nachdem sich die Jungfrau der Schrift aus ihrer Rolle zurückgezogen hat, sind sie völlig autonom und leben auf der Erde. Doch noch immer nähren sie alleinstehende Brüder und solche, die sich nicht von ihren Shellans nähren können, sowie verletzte Kämpfer mit ihrem Blut.

 Bannung – Status, der einer Vampirin der Aristokratie auf Gesuch ihrer Familie durch den König auferlegt werden kann. Unterstellt die Vampirin der alleinigen Aufsicht ihres Hüters, üblicherweise der älteste Mann des Haushalts. Ihr Hüter besitzt damit das gesetzlich verbriefte Recht, sämtliche Aspekte ihres Lebens zu bestimmen und nach eigenem Gutdünken jeglichen Umgang zwischen ihr und der Außenwelt zu regulieren.

 Die Bruderschaft der Black Dagger – Die Brüder des Schwarzen Dolches. Speziell ausgebildete Vampirkrieger, die ihre Spezies vor der Gesellschaft der Lesser beschützen. Infolge sorgfältiger Auswahl der Fortpflanzungspartner besitzen die Brüder ungeheure physische und mentale Stärke sowie die Fähigkeit zur extrem raschen Heilung. Die meisten von ihnen sind keine leiblichen Geschwister; neue Anwärter werden von den anderen Brüdern vorgeschlagen und daraufhin in die Bruderschaft aufgenommen. Die Mitglieder der Bruderschaft sind Einzelgänger, aggressiv und verschlossen. Sie pflegen wenig Kontakt zu Menschen und anderen Vampiren, außer um Blut zu trinken. Viele Legenden ranken sich um diese Krieger, und sie werden von ihresgleichen mit höchster Ehrfurcht behandelt. Sie können getötet werden, aber nur durch sehr schwere Wunden wie zum Beispiel eine Kugel oder einen Messerstich ins Herz.

 Blutsklave – Männlicher oder weiblicher Vampir, der unterworfen wurde, um das Blutbedürfnis eines anderen zu stillen. Die Haltung von Blutsklaven wurde vor Kurzem gesetzlich verboten.

 Chrih – Symbol des ehrenhaften Todes in der alten Sprache.

 Dhunhd – Hölle.

 Doggen – Angehörige(r) der Dienerklasse innerhalb der Vampirwelt. Doggen pflegen im Dienst an ihrer Herrschaft altertümliche, konservative Sitten und folgen einem formellen Bekleidungs-­ und Verhaltenskodex. Sie können tagsüber aus dem Haus gehen, altern aber relativ rasch. Die Lebenserwartung liegt bei etwa fünfhundert Jahren.

 Ehros – Eine Auserwählte, die speziell in der Liebeskunst ausgebildet wurde.

 Exhile Dhoble – Der böse oder verfluchte Zwilling, derjenige, der als Zweiter geboren wird.

 Gesellschaft der Lesser – Orden von Vampirjägern, der von Omega zum Zwecke der Auslöschung der Vampirspezies gegründet wurde.

 Glymera – Das soziale Herzstück der Aristokratie, sozusagen die »oberen Zehntausend« unter den Vampiren.

 Gruft – Heiliges Gewölbe der Bruderschaft der Black Dagger. Sowohl Ort für zeremonielle Handlungen als auch Aufbewahrungsort für die erbeuteten Kanopen der Lesser. Hier werden unter anderem Aufnahmerituale, Begräbnisse und Disziplinarmaßnahmen gegen Brüder durchgeführt. Niemand außer Angehörigen der Bruderschaft, der Jungfrau der Schrift und Aspiranten hat Zutritt zur Gruft.

 Hellren – Männlicher Vampir, der eine Partnerschaft mit einer Vampirin eingegangen ist. Männliche Vampire können mehr als eine Vampirin als Partnerin nehmen.

 Hohe Familie – König und Königin der Vampire sowie all ihre Kinder.

 Hüter – Vormund eines Vampirs oder einer Vampirin. Hüter können unterschiedlich viel Autorität besitzen, die größte Macht übt der Hüter einer gebannten Vampirin aus.

 Hyslop – Aussetzer im Urteilsvermögen, der klassischerweise zur Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit oder zum Abhandenkommen eines Fahrzeugs oder anderen motorisierten Transportmittels führt. Wenn zum Beispiel jemand den Zündschlüssel stecken lässt, während das Auto über Nacht vor dem Haus parkt, und be­sagtes Versehen in unerlaubten Spritztouren Dritter resultiert, so ist dies ein Hyslop.

 Jungfrau der Schrift – Mystische Macht, die dem König bis in jüngste Zeit als Beraterin diente sowie die Vampirarchive hütete und Privilegien erteilte. Existierte in einer jenseitigen Sphäre und besaß umfangreiche Kräfte. Gab ihre Stellung zugunsten einer Nachfolge auf. Hatte die Befähigung zu einem einzigen Schöpfungsakt, den sie zur Erschaffung der Vampire nutzte.

 Leahdyre – Eine mächtige und einflussreiche Person.

 Lesser – Ein seiner Seele beraubter Mensch, der als Mitglied der Gesellschaft der Lesser Jagd auf Vampire macht, um sie auszurotten. Die Lesser müssen durch einen Stich in die Brust getötet werden. Sie altern nicht, essen und trinken nicht und sind impotent. Im Laufe der Jahre verlieren ihre Haare, Haut und Iris ihre Pigmentierung, bis sie blond, bleich und weißäugig sind. Sie riechen nach Talkum. Aufgenommen in die Gesellschaft werden sie durch Omega. Daraufhin erhalten sie ihre Kanope, ein Keramikgefäß, in dem sie ihr aus der Brust entferntes Herz aufbewahren.

 Lewlhen – Geschenk.

 Lheage – Respektsbezeichnung einer sexuell devoten Person gegenüber einem dominanten Partner.

 Lhenihan – ein mystisches Biest, bekannt für seine sexuelle Leistungsfähigkeit. In modernem Slang bezieht es sich auf einen Vampir von immenser Größe und sexueller Ausdauer.

 Lielan – Ein Kosewort, frei übersetzt in etwa »mein Liebstes«.

 Lys – Folterwerkzeug zur Entnahme von Augen.

 Mahmen – Mutter. Dient sowohl als Bezeichnung als auch als Anrede und Kosewort.

 Mhis – Die Verhüllung eines Ortes oder einer Gegend; die Schaffung einer Illusion.

 Nalla oder Nallum – Kosewort. In etwa »Geliebte(r)«.

 Novizin – Eine Jungfrau.

 Omega – Unheilvolle mystische Gestalt, die sich aus Groll gegen die Jungfrau der Schrift die Ausrottung der Vampire zum Ziel gesetzt hat. Existiert in einer jenseitigen Sphäre und hat weitreichende Kräfte, wenn auch nicht die Kraft zur Schöpfung.

 Phearsom – Begriff, der sich auf die Funktionstüchtigkeit der männlichen Geschlechtsorgane bezieht. Die wörtliche Übersetzung lautet in etwa »würdig, in eine Frau einzudringen«.

 Princeps – Höchste Stufe der Vampiraristokratie, untergeben nur den Mitgliedern der Hohen Familie und den Auserwählten der Jungfrau der Schrift. Dieser Titel wird vererbt; er kann nicht verliehen werden.

 Pyrokant – Bezeichnet die entscheidende Schwachstelle eines Individuums, sozusagen seine Achillesferse. Diese Schwachstelle kann innerlich sein, wie zum Beispiel eine Sucht, oder äußerlich, wie ein geliebter Mensch.

 Rahlman – Retter.

 Rythos – Rituelle Prozedur, um verlorene Ehre wiederherzustellen. Der Rythos wird von dem Vampir gewährt, der einen anderen beleidigt hat. Wird er angenommen, wählt der Gekränkte eine Waffe und tritt damit dem unbewaffneten Schuldigen entgegen.

 Schleier – Jenseitige Sphäre, in der die Toten wieder mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammentreffen und die Ewigkeit verbringen.

 Shellan – Vampirin, die eine Partnerschaft mit einem Vampir eingegangen ist. Vampirinnen nehmen sich in der Regel nicht mehr als einen Partner, da gebundene männliche Vampire ein ausgeprägtes Revierverhalten zeigen.

 Symphath – Eigene Spezies der Vampire, deren Merkmale die Fähigkeit und das Verlangen sind, Gefühle in anderen zu manipulieren (zum Zwecke eines Energieaustauschs). Historisch wurden die Sympha­then oft mit Misstrauen betrachtet und in bestimmten Epochen auch von den anderen Vampiren gejagt. Sind heute nahezu ausgestorben.

 Talhman – Die böse Seite eines Vampirs. Ein dunkler Fleck auf der Seele, der ans Licht drängt, wenn er nicht ganz ausgelöscht wird.

 Trahyner – Respekts-­ und Zuneigungsbezeichnung unter männlichen Vampiren. Bedeutet ungefähr »geliebter Freund«.

 Transition – Entscheidender Moment im Leben eines Vampirs, wenn er oder sie ins Erwachsenenleben eintritt. Ab diesem Punkt müssen sie das Blut des jeweils anderen Geschlechts trinken, um zu überleben, und vertragen kein Sonnenlicht mehr. Findet normalerweise mit etwa Mitte zwanzig statt. Manche Vampire überleben ihre Transition nicht, vor allem männliche Vampire. Vor ihrer Transition sind Vampire von schwächlicher Konstitution und sexuell unreif und desinteressiert. Außerdem können sie sich noch nicht dematerialisieren.

 Triebigkeit – Fruchtbare Phase einer Vampirin. Üblicherweise dauert sie zwei Tage und wird von heftigem sexuellem Verlangen begleitet. Zum ersten Mal tritt sie etwa fünf Jahre nach der Transition eines weiblichen Vampirs auf, danach im Abstand von etwa zehn Jahren. Alle männlichen Vampire reagieren bis zu einem gewissen Grad auf eine triebige Vampirin, deshalb ist dies eine gefährliche Zeit. Zwischen konkurrierenden männlichen Vampiren können Konflikte und Kämpfe ausbrechen, besonders wenn die Vampirin keinen Partner hat.

 Vampir – Angehöriger einer gesonderten Spezies neben dem Homo sapiens. Vampire sind darauf angewiesen, das Blut des jeweils anderen Geschlechts zu trinken. Menschliches Blut kann ihnen zwar auch das Überleben sichern, aber die daraus gewonnene Kraft hält nicht lange vor. Nach ihrer Transition, die üblicherweise etwa mit Mitte zwanzig stattfindet, dürfen sie sich nicht mehr dem Sonnenlicht aussetzen und müssen sich in regelmäßigen Abständen aus der Vene ernähren. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme können Vampire Menschen nicht durch einen Biss oder eine Blutübertragung »verwandeln«; in seltenen Fällen aber können sich die beiden Spezies zusammen fortpflanzen. Vampire können sich nach Belieben dematerialisieren, dazu müssen sie aber vollkommen ruhig werden und sich konzentrieren; außerdem dürfen sie nichts Schweres bei sich tragen. Sie können Menschen ihre Erinnerung nehmen, allerdings nur solange diese Erinnerungen im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert sind. Manche Vampire können auch Gedanken lesen. Die Lebenserwartung liegt bei über eintausend Jahren, in manchen Fällen auch höher.

 Vergeltung – Akt tödlicher Rache, typischerweise aus­geführt von einem Mann im Dienste seiner Liebe.

 Wanderer – Ein Verstorbener, der aus dem Schleier zu den Lebenden zurückgekehrt ist. Wanderern wird großer Respekt entgegengebracht, und sie werden für das, was sie durchmachen mussten, verehrt.

 Whard – Entspricht einem Patenonkel oder einer Patentante.

 Zwiestreit – Konflikt zwischen zwei männlichen Vampiren, die Rivalen um die Gunst einer Vampirin sind.

Im Westen des Bundesstaates New York, heute

Die ganze »Life is a highway«-Metapher war so allgegenwärtig, so überbeansprucht, so abgenutzt und ausgelutscht, dass Nyx, als sie auf dem Beifahrersitz des zehn Jahre alten Kombis saß und auf den mondbeschienenen Asphaltweg starrte, der sich durch Gebüsch und Gestrüpp im westlichen New York State zog, nicht dar­über nachdachte, wie ähnlich sich die Windungen von Straßen und dem Leben sein konnten: Man konnte auf sanft geschwungene Küstenlinien treffen. Auf schlechte, holprige Schlaglochpisten, die einem die Zähne lose rüttelten. Auf steile Anstiege, von denen man dachte, sie würden nie enden. Auf langweilige Autobahnstrecken zwischen weit auseinanderliegenden Ausfahrten.

Und dann gab es Hindernisse auf dem Weg, die aus dem Nichts auftauchten und einen so weit von der geplanten Route abbrachten, dass man an einem komplett anderen Ort landete.

Manche davon hatten, sowohl in der Analogie als auch in Wirklichkeit, vier Beine und ein Kleines namens Bambi.

»Pass auf!«, schrie Nyx und griff ins Steuer.

Zu spät. Reifen quietschten, und der Aufprall war Übelkeit erregend weich, wie es passierte, wenn Stahl auf Fleisch traf, und die Reaktion ihrer Schwester war, sich die Augen zuzuhalten und die Knie anzuziehen.

Nicht hilfreich, wenn man bedachte, dass Posie die Einzige mit Zugang zum Bremspedal war. Aber auch sehr typisch.

Der Kombi hatte massenhaft Schub durch die zweiundsechzig Meilen pro Stunde, die sie gefahren waren. Also bockte der alte Volvo wie ein Wildpferd, als sie von der ländlichen Nebenstraße abkamen, seine starre, sperrige Karosserie walzte sich hüpfend über Hügel und Senken, sodass Nyx sich den Kopf an dem gepolsterten Dachhimmel anstieß, obwohl sie angeschnallt war.

Die Scheinwerfer tasteten die Umgebung ab, ihr Strahl schoss hin und her, folgte der Richtung, in die der Kühlergrill geworfen wurde. Meistens beleuchtete er nur einen Morast mit Buschwerk; der grüne, schwammartige Boden war ein deutlich besserer Ausgang als sie vorhergesagt hätte.

Dann änderte sich alles.

Wie eine Kreatur, die sich aus den Tiefen eines Sees erhebt, wurde in dem grünen Lichtspektakel etwas Braunes, Dickes und Vertikales sichtbar, verschwand und tauchte im wahllosen Herumschwenken der Scheinwerferkegel wieder auf.

Oh, shit. Es war ein Baum. Und es schien, als wäre dieser senkrecht stehende Rammbock durch ein Stahlseil mit dem Fahrgestell des Kombis verbunden.

Hätte man einen Kollisionskurs angestrebt, hätte man es nicht besser machen können.

Unausweichlich war wohl das richtige Wort dafür.

Nyx’ einziger Gedanke galt ihrer Schwester. Posie stemmte sich in den Fahrersitz, die Arme ausgestreckt, die Finger gespreizt, als wollte sie den Baum wegschieben …

Der Aufprall war wie ein Ganzkörperschlag, und sicher knirschte Metall auf Holz, aber als die Airbags auslösten, konnte Nyx nicht viel hören. Konnte nicht gut atmen. Konnte irgendwie nichts sehen.

Fauchen. Tropfen. Verbrannter Gummi und etwas Chemisches.

Jemand hustete. Sie selbst? Sie wusste es nicht.

»Posie?«

»Mir geht’s gut, mir geht’s gut …«

Nyx rieb sich die brennenden Augen und hustete. Tastete nach der Tür, öffnete sie und stieß hart gegen irgendeinen Widerstand. »Ich komme her­um und helfe dir.«

Vorausgesetzt, sie kam aus dem verdammten Auto her­aus.

Sie stemmte sich mit der Schulter dagegen und zwang die Tür durch etwas Buschiges und Grünes, und die Rache war, dass der Busch her­eindrängte und sich in dem Auto ausbreitete wie ein Hund, der her­umschnüffeln wollte.

Sie ließ sich von ihrem Sitz fallen und rollte sich auf dem Grünzeug ab. Eine Weile blieb sie auf allen vieren, dann schaffte sie es, aufzustehen und sich am Dach abzustützen, als sie zur Fahrerseite her­umging. Sie zerrte Posies Tür auf und löste den Gurt.

»Ich hab dich«, stöhnte sie, während sie ihre Schwester her­auszog.

Dann lehnte sie Posie ans Auto und strich ihr die blonden Haare aus den weichen Gesichtszügen. Kein Blut. Keine Glasscherben in der perfekten Haut. Die Nase immer noch kerzengerade.

»Du bist unverletzt«, verkündete Nyx.

»Was ist mit dem Hirsch?«

Nyx behielt die Flüche für sich. Sie waren ungefähr zehn Meilen von zu Hause entfernt und was zählte, war, ob das Auto noch fuhr. Nichts gegen Mutter Natur und Tierfreunde überall, aber diese vierbeinige Geißel der Interstate stand ganz weit unten auf ihrer Prioritätenliste.

Sie stolperte nach vorn und betrachtete kopfschüttelnd den Schaden. Gut ein halber Meter der Motorhaube – und damit des Motorraums – war um einen Baumstamm her­um eingedrückt, der die Flexibilität eines T-Trägers besaß, und sie war wohl kaum Kfz-Sachverständige, aber das war sicher inkompatibel mit dem Ziel, schnell nach Hause zu kommen.

»Mist«, fluchte sie unterdrückt.

»Was ist mit dem Hirsch?«

Sie schloss die Augen und erinnerte sich an die Geburtsreihenfolge. Sie war die Ältere, die Vernünftige, mit schwarzen Haaren und barsch, wie ihr Vater es gewesen war. Posie war die blonde, gutherzige Jüngste, die all die Wärme und das sonnige Wesen ihrer Mahmen geerbt hatte.

Und die Mittlere?

Sie durfte jetzt nicht in den Janelle-Kaninchenbau fallen.

An ihrer Seite des Wagens beugte sich Nyx durch die offene Tür hin­ein und schob den zusammengefallenen Airbag aus dem Weg. Wo war ihr Handy? Nachdem sie ihrem Großvater geschrieben hatte, als sie Hannaford verließen, hatte sie es in den Becherhalter gesteckt. Toll. Nirgends zu finden …

»Gott sei Dank!«

Sie stützte sich mit der Hand auf dem Sitz auf und tauchte in den Fußraum ab. Heraus kam eine Handvoll schlechter Neuigkeiten.

Der Bildschirm hatte Risse und war schwarz. Als sie versuchte, das Ding zum Laufen zu bekommen, ging gar nichts. Sie richtete sich auf und schaute über die zerstörte Motorhaube. »Posie, wo ist dein …«

»Was?« Ihre Schwester konzentrierte sich auf die Straße, die knapp fünfzig Meter entfernt war, ihre glatten Haare waren hinten ein wirres Knäuel. »Hm?«

»Dein Handy. Wo ist es?«

Posie warf einen Blick über die Schulter. »Ich hab es zu Hause gelassen. Du hattest deins dabei, also dachte ich einfach … na ja.«

»Du musst dich zurück auf die Farm dematerialisieren. Sag Großvater, er soll den Abschleppwagen holen und …«

»Ich gehe hier nicht weg, bis wir uns um den Hirsch gekümmert haben.«

»Posie, hier sind zu viele Menschen in der Nähe und …«

»Er leidet!« Tränen glitzerten. »Und nur weil er ein Tier ist, heißt das nicht, dass sein Leben nichts wert ist.«

»Scheiß auf den Hirsch!« Nyx warf einen finsteren Blick über das dampfende Chaos. »Wir müssen dieses Problem jetzt lösen …«

»Ich gehe nicht weg, bis …«

»… denn im Kofferraum schmelzen Einkäufe im Wert von zweihundert Dollar. Wir können es uns nicht leisten, Einkäufe für eine Woche zu …«

»… wir uns um dieses arme Tier gekümmert haben.«

Nyx löste den Blick von ihrer Schwester, dem Unfall, dem Mist, den sie in Ordnung bringen musste, damit diese verdammte Posie weiterhin ihr Herz der ganzen Welt schenken und sich um Dinge sorgen konnte, die nichts mit der Miete, Essen auf dem Tisch und so exotischem Luxus wie Elektrizität und fließendem Wasser zu tun hatten.

Als sie sicher war, dass sie wieder hinschauen konnte, ohne einen Haufen Schimpfwörter auf ihrer bescheuerten Schwester abzuladen, sah sie absolut keine Veränderung in Posies Entschlossenheit. Und das war das Problem. Ein liebevolles Naturell, ja. Dieses nervtötende blutende Herz, der empathische Scheißdreck, genau. Eiserner Wille? Ja, davon hatte sie tonnenweise.

Diese Frau hatte nicht vor, von der Sache mit dem Hirsch abzurücken.

Nyx warf die Hände in die Luft und fluchte. Laut.

Zurück ins Auto. Das Handschuhfach öffnen. Die Neunmillimeterpistole her­ausholen, die sie dort für Notfälle aufbewahrte.

Als sie hinten um den Kombi her­umkam, warf sie einen Blick auf die wiederverwendbaren Lebensmitteltaschen. Nach dem Unfall klemmten sie an der Sitzbank, und das war sowohl gut als auch schlecht. Alles Zerbrechliche war erledigt, aber wenigstens waren die gekühlten Produkte in ihrem Kampf gegen den Augustabend mit seinen 27 Grad vereint.

»Oh, danke, Nyx.« Posie legte andächtig die Hände unterm Kinn aneinander. »Wir helfen dem – warte, was hast du mit der Pistole vor?«

Nyx blieb nicht stehen, als sie vorbeiging, deshalb packte Posie sie am Arm. »Warum hast du die Pistole dabei?«

»Was glaubst du, was ich mit dem verdammten Vieh vorhabe? Herz-Lungen-Massage?«

»Nein! Wir müssen ihm helfen …«

Nyx näherte ihr Gesicht dem ihrer Schwester und ­sagte ausdruckslos: »Wenn es leidet, erlöse ich es. Das ist das Richtige. So hilft man diesem Tier.«

Posie hob unwillkürlich die Hände ans Gesicht, drückte sie an Wangen, die blass geworden waren. »Das ist meine Schuld. Ich habe den Hirsch angefahren.«

»Es war ein Unfall.« Nyx drehte ihre Schwester zu dem Kombi her­um. »Bleib hier und schau nicht hin. Ich kümmere mich darum.«

»Ich wollte dem Hirsch nicht wehtun …«

»Du bist die letzte Person auf dieser Erde, die absichtlich einem Lebewesen wehtun würde. Und jetzt bleib verdammt noch mal hier.«

Posies leises Weinen begleitete Nyx zurück zur Straße. Sie folgte den Reifenfurchen im Dreck und dem zerstörten Grünzeug und fand den Hirsch etwa fünfzehn Meter von dort entfernt, wo sie von der Straße abgekommen waren …

Nyx blieb wie erstarrt stehen. Blinzelte ein paarmal.

Dachte dar­an, sich zu erbrechen.

Es war kein Hirsch.

Das waren Arme. Und Beine. Dünne, das schon, und mit matschfarbener Kleidung bedeckt, die in Fetzen hing. Aber nichts an dem Wesen, das sie angefahren hatten, war tierisch in seiner Natur. Schlimmer noch: Der Geruch des vergossenen Blutes war nicht menschlich.

Es war ein Vampir.

Sie hatten einen der Ihren angefahren.

Nyx rannte zu der am Boden liegenden Gestalt, legte die Pistole weg und kniete sich hin. »Alles okay?«

Blöde Frage. Aber der Klang ihrer Stimme weckte den Verletzten, ein entsetzliches und entsetztes Gesicht wandte sich ihr zu.

Es war ein männlicher Vampir. Vor der Transition. Und oh Gott, das Weiß in beiden Augen war rot, auch wenn sie nicht sagen konnte, ob das am Blut lag, das ihm übers Gesicht lief, oder an irgendeiner inneren Verletzung. Was aber klar war: Er lag im Sterben.

»Hilf … mir …« Die dünne, hohe Stimme wurde durch schwaches Husten unterbrochen. »Aus dem … Gefängnis … versteck mich …«

»Nyx?«, rief Posie. »Was ist los?«

Einen kurzen Augenblick lang konnte Nyx nicht denken. Nein, das war eine Lüge. Sie dachte fieberhaft nach, nur nicht über das Auto, die Lebensmittel, den Jungen, der hier im Sterben lag oder ihre hysterische Schwester.

»Wo?«, ­sagte Nyx eindringlich. »Wo ist das Camp?«

Vielleicht konnte sie nach all diesen Jahren … vielleicht konnte sie nun her­ausfinden, wohin man Janelle gebracht hatte.

Das musste Schicksal sein.

Laut der Geschichte, die man dem Schakal erzählt hatte, war »Hungry Like the Wolf« eine »Single«, die 1982 in den USA von der britischen New-Wave-Sensation ­Duran Duran her­ausgebracht worden war. Das Video, das ganz offensichtlich ein Indiana-Jones-Thema aufarbeitete – was auch immer das war – lief auf »MTV« rauf und runter, und diese »Fernsehsendung« schoss den Song in die »Billboard«-Charts, wo er sich monatelang hielt.

Während er durch einen der zahllosen unterirdischen Tunnel des Straflagers schlich, hörte er den Song und dachte über seine typischen Einzelteile nach, als läse er ein Buch, das er auswendig gelernt hatte, noch einmal. So lief das mit Informationen hier unten. Der Verstand sehnte sich nach Neuem, und doch kam selten etwas dazu. Also musste man Dinge wiederholen, genau wie sein Mithäftling den Song auf diesem »Kassettenrecorder« noch einmal abspielen musste.

Der Schakal bewegte sich weiter und war aus dem Schatten her­aus, als er hörte, wie der blecherne Re­frain von den Steinwänden zurückgeworfen wurde. Er erinnerte sich, dass man ihm von dem »Video« erzählt hatte. Simon Le Bon, offenbar der Sänger, war in einem blassen Leinenanzug an einem tropischen Ort durch viele belebte Straßen gegangen. Danach hatte er sich in den Dschungel begeben und in einen Fluss … und wurde dabei die ganze Zeit von einer schönen Frau verfolgt – oder war es andersrum?

Hallo, Drama und Intrigen.

Und wie sehr er die Außenwelt vermisste.

Einhundert Jahre, nachdem man ihn eingesperrt hatte, war die Welt da oben – die Freiheit, die frische Luft – wie der verzerrte Klang dieses Songs: stumpf geworden durch das Verrinnen der Jahrzehnte und ohne jede Auffrischung durch die Echtzeit.

Der Schakal bog um eine Ecke und betrat den Zellenblock, der ihm vor langer Zeit zugewiesen worden war. Die Gitterkäfige, in die man sie verbannt hatte, waren in Intervallen in den Fels gebaut, auch wenn die jeweiligen Gitter offen blieben. Hier streiften die Wachen her­um, Monster in der Dunkelheit, da musste man nichts abschließen. Niemand wagte es zu gehen.

Der Tod war ein Segen im Vergleich dazu, was Command mit einem machte, wenn man versuchte zu fliehen.

Die Quelle des geisterhaften Songs, der sich jetzt seinem Ende näherte, befand sich drei Zellen weiter, und er blieb im Torbogen des fraglichen Gefangenen stehen. »Wenn du dich damit erwischen lässt, werden sie …«

»Was machen? Mich ins Gefängnis schmeißen?«

Der Vampir lag auf seiner Pritsche, sein riesiger Körper entspannt ausgebreitet, mit nichts als einem Tuch, das er um die Hüften gebunden hatte, um sein Geschlechtsteil zu verbergen. Gelbe Augen schauten ohne zu blinzeln aus der Horizontalen nach oben, und das listige Lächeln zeigte lange, scharfe Reißzähne.

Lucan war ein Hurensohn, leicht bösartig und vielleicht nicht vertrauenswürdig. Aber im Vergleich zu vielen anderen war er ein toller Kerl.

»Ich pass nur auf dich auf.« Der Schakal nickte zu dem silber-schwarzen Kassettenrekorder hin, der neben der Hüfte des Vampirs klemmte. »Und auf dein kleines Gerät.«

»Alle sind im Bienenstock, auch die Wärter.«

»Du bist ein Spieler, mein Freund.«

»Und du, Schakal, bist ein Langweiler.«

Als das Lied zu Ende war, drückte Lucan die Rückspultaste und ein Surren war zu hören. Dann begann die leise Musik von vorn.

»Was machst du, wenn das Band kaputtgeht?«

Der Vampir zuckte mit den Achseln. »Ich hab’s jetzt im Moment. Das ist alles, was zählt.«

Wolven gehörten zu einer durchtriebenen, gefährlichen Subspezies, und das galt, egal, ob sie oben frei durch die Nacht streifen konnten oder hier unten im Gefängnis saßen. Doch Command hatte eine Lösung dafür, diese Seite des Mannes in Schach zu halten – und es war zufällig dieselbe Lösung wie für alle Gefangenen. Lucan trug ein schweres Stahlband um den muskulösen Hals, das ihn davon abhielt, sich zu dematerialisieren oder zu verwandeln.

»Du haust besser ab, Schakal.« Eines dieser gelben Augen blinzelte. »Du willst ja keinen Ärger kriegen.«

»Stell einfach das Ding leiser. Ich will dich nicht retten müssen.«

»Das verlangt auch keiner von dir.«

»Die Last des Gewissens.«

»Keine Ahnung, was das sein soll.«

»Du Glücklicher. Das Leben ist komplizierter, wenn man so was hat.«

Er ließ seinen Kameraden zurück und ging weiter, an seiner eigenen Zelle vorbei und dann zum Hauptweg. Als er näher an den Bienenstock kam, stieg die Luftdichte, die Gerüche der Gefängnisbewohner fluteten seine Nebenhöhlen, gedämpftes Stimmengemurmel drang an sein Ohr …

Der erste Schrei zerriss die Stille, stellte ihm die Nackenhaare auf, und seine mächtigen Schultermuskeln spannten sich.

Als er in dem großen, offenen Bereich ankam, schweifte sein Blick über die tausend ungepflegten Köpfe zu den drei blutbefleckten Baumstämmen, die man vorn in das erhöhte Felspodest einbetoniert hatte. Der Gefangene, der an den mittleren Pfosten gefesselt war, wand sich in den Ketten, die ihn hielten; mit blutunterlaufenen und vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrte er den geflochtenen Korb zu seinen Füßen an.

Etwas in dem Korb bewegte sich.

Zwei Wärter in sauberen schwarzen Uniformen standen links und rechts von dem Angeklagten, in den Gesichtern eine tödliche Ruhe, vor der man sich wirklich fürchten sollte. Es hieß, das Leben sei ihnen nicht das Geringste wert. Ob ein Gefangener lebte oder starb, war ihnen egal. Sie machten ihren Job und gingen am Ende ihrer Schicht in ihre Quartiere, sicher in dem Wissen, dass, egal, welchen Schmerz sie verursacht hatten, egal, welche Zerstörung, welches Leid – es war in Ausübung ihrer Pflicht geschehen.

Egal, welche Verdorbenheit, ihr Gewissen war rein.

Etwas, woran dieser dumme Wolf denken sollte, wenn er sich so über die verdammten Regeln wegsetzte.

Die abgerissene, schäbige Menge summte vor Adrenalin, gespannt auf die Show. Diese kleinen »Züchtigungen« wurden regelmäßig von Command angeordnet, es war zum Teil blutrünstiges Schauspiel, zum Teil Verhaltensmodifikation.

Würde man die Gefangenen fragen, würden sie alle, männlich wie weiblich, sagen, dass sie diese regelmäßige öffentliche Folter hassten, aber es wäre eine Lüge – zumindest zum Teil. In der erdrückenden Langeweile und abgestumpften Hoffnungslosigkeit hier unten war sie eine willkommene Unterbrechung der Monotonie. Eine theatralische Show, das Lieblingsprogramm aller.

Andererseits gab es auch nicht viel anderes am hiesigen Broadway.

Anders als der Rest der Gefangenen hob der Schakal den Blick zu einer Seite des Podestes. Er spürte, dass Command heute Abend persönlich anwesend war – oder heute Morgen. Er wusste nicht, ob es draußen hell war oder dunkel.

Die Anwesenheit ihres Anführers war außergewöhnlich, und er ­fragte sich, ob es sonst noch jemand bemerkt hatte. Wahrscheinlich nicht. Command hielt sich bedeckt, mochte aber diese Machtdemonstrationen.

Als einer der Wärter den Korbdeckel anhob, schloss der Schakal die Augen. Der durchdringende Schrei, der von den Wänden zurückgeworfen wurde, ­schmerzte bis ins Mark. Und dann kam der Geruch nach frischem Blut.

Verdammt, er musste hier raus. Er starb innerlich: Er hatte keinen Glauben mehr übrig. Keine Liebe. Keine Hoffnung, dass sich irgendetwas je ändern würde.

Doch es war ein Wunder nötig, um ihn zu befreien, und falls das Leben ihn eines gelehrt hatte, dann, dass es auf der Erde davon keine gab. Und auch im Schleier nicht oft, wenn überhaupt.

Als die Menge zu skandieren begann, und er nichts mehr riechen konnte als dieses Blut, schob er sich aus dem Spektakel her­aus und stolperte zurück in den Haupttunnel. Selbst in seiner Verzweiflung und trotz der zahllosen männlichen und weiblichen Insassen, die sich in der Höhle drängten, konnte er den Blick spüren, der ihm folgte.

Command beobachtete ihn, und nur ihn.

Immer.

Caldwell, New York

Rhage war gerade dabei, die wichtigste Entscheidung der Nacht zu treffen.

»Rocky Road«, verkündete er. »Definitiv Rocky Road.«

Als er die beiden Schüsseln und die zwei Löffel für besondere Gelegenheiten her­ausholte, beugte sich seine Tochter Bitty in die altmodische Tiefkühltruhe und schnappte sich die Familienpackung, die er ausgesucht hatte. Dann betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen die ungefähr dreißig anderen Geschmacksrichtungen.

»Und wonach ist dir heute Nacht?«, ­fragte er, lehnte sich mit der Hüfte an den Tresen und machte sich auf eine Wartezeit gefasst.

Man mischte sich nicht in die Eisauswahl anderer Leute ein. Egal, wie lange es dauerte, egal, was dabei her­auskam, das war ein heiliger Moment, eine Verschmelzung von Stimmung und Gaumen. Sie ließ sich nicht durch Außenstehende beschleunigen oder beeinflussen, selbst wenn be­sagte Anhängsel elterlicher Natur waren.

»Was schauen wir heute Nacht?«, ­fragte seine Tochter.

Einen Moment lang verlor er sich im Anblick ihrer welligen braunen Haare und schmalen Schultern. Sie trug eines seiner schwarzen Hemden, und das Ding war ein Kleid für sie, der Saum reichte ihr bis zu den Knöcheln, die Falten umhüllten sie wie ein Zeremoniengewand. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt, und um ihre dünnen Oberarme war so viel überschüssiger Stoff, dass sie aussah, als hätte sie Watthosen für den Pool mit Fledermausflügeln an. Aber sie liebte seine Hemden, und er liebte es, dass sie sie tragen wollte.

Er liebte alles an seiner Tochter, vor allem, wie sie zu ihm aufsah – und nicht, weil er in seinen klobigen Stiefeln einen Meter größer war als sie. In ihren Augen war er ein Superheld. Ein Beschützer der Spezies. Ein Kämpfer, der sich um die Unschuldigen, die Gebrechlichen, die weniger Leistungsfähigen kümmerte.

Was alles stimmte, angesichts seiner Rolle in der Bruderschaft der Black Dagger. Er gehörte zur ersten Verteidigungslinie der Spezies gegen alles und jeden, was ihr schaden konnte. Aber dank seiner Tochter fühlte er sich stärker. Mächtiger. Besser vorbereitet.

Unbesiegbar fühlte er sich allerdings nicht. Scheiße, nein, keine Unbesiegbarkeit. Wie bei allen guten Dingen gab es eine Balance, und Bitty machte ihm, trotz des Lebenssinns und der Kraft, die sie ihm verlieh, seine eigene Sterblichkeit schmerzhaft bewusst.

Er hatte mehr Angst vor dem Tod als je zuvor.

»Dad?«

Rhage schüttelte sich. »Hm? Ach, der Film. Ich denke an Zombieland: Doppelt hält besser.«

»Dann Minze mit Schoko.« Die Entschiedenheit brachte Rhage zum Lächeln. »Minter Wonderland von Ben&Jerry’s, nicht das von Breyers.«

Als Bitty ihre Wahl in die Hand nahm und sich aufrichtete, glitt die Glastür mit einem dumpfen Geräusch wieder an ihren Platz und schloss die Kälte ein. »Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich eine Schüssel brauche. Das ist nur ein Pint.«

Rhage besah sich, was er in den Händen hielt. Er war überraschend enttäuscht. Sie benutzten immer ihre Schüsseln und Löffel, weshalb Fritz, der Butler, zwei Paar hier in der hintersten Ecke der Küche aufbewahrte. Es gehörte zum Ritual.

»Na gut, dann benutze ich auch keine.« Er stellte ihre normalen Schüsseln zur Seite, öffnete eine Schublade und zog zwei Geschirrtücher her­aus. »Dann wickeln wir sie damit ein.«

Er warf seiner Tochter eines zu, tauschte ihren Löffel gegen seine halbe Gallone Eis aus, und sie machten sich auf den Weg durch die Küche, deren Größe der eines Hotels alle Ehre gemacht hätte, und durch die Vorratskammer nach draußen. Als sie am Fuß der herrschaftlichen Freitreppe im Foyer ankamen, legte er Bits die Hand auf die Schulter.

»Ich bin froh, dass ich heute Abend frei habe.«

»Ich auch, Dad. Wie geht’s deinem Fuß? Alles in Ordnung?«

»Oh, ja. Keine Sorge.« Er behielt den Schmerz und das Humpeln für sich. »Der Knochen heilt sehr gut. Manny hat sich darum gekümmert.«

»Er ist ein guter Mensch.«

»Das ist er.«

Gemeinsam gingen sie die mit rotem Teppich ausgelegten Stufen hinauf. Trotz des majestätischen Dekors, des Blattgolds und des Kristalls, der Marmorsäulen und des Deckengemäldes hoch über ihnen war dies sein Zuhause. Hier lebte die Bruderschaft der Black Dagger mit ihren Familien und kümmerte sich um Wrath, Beth und L.W. Hier ereignete sich das beste Leben für sie alle, hier unter diesem schweren Dach, hier innerhalb dieser starken Steinmauern, hier, geschützt vom Mhis, das Vishous erschaffen hatte.

Eine Festung.

Ein verdammter Tresorraum, und genau dorthin gehörten wertvolle Dinge, geschützt vor Diebstahl und Zerstörung.

Das Kino befand sich ganz unten im zweiten Stock, durch den Flur mit den Statuen, hin­aus in den Mitarbeitertrakt. Es war nach zwölf in einer Arbeitsnacht, deshalb war außer ihnen niemand hier. Die Kämpfer, die sich turnusmäßig abwechselten, waren draußen im Feld. Die Verletzten, die behandelt werden mussten oder Reha brauchten, waren im Trainingszentrum. Und die Angestellten hatten Pause, um etwas zu essen, nachdem sie das Erste Mahl gekocht, serviert und abgeräumt hatten. Währenddessen tagte Mary mit Zsadist unten im Keller. Wrath und Beth spielten mit L.W. oben im dritten Stock. Und die anderen Shellans und Kids waren in der Hüpfburg draußen am Pool.

Also war es hübsch und ruhig.

Das Kino war eine professionelle Sache: ansteigende Ränge mit gepolsterten Arschpalästen als Sitze. Ein Süßigkeitentresen und eine Popcornmaschine, wie alles auf dem Anwesen, von Fritz betreut. Eine riesige Leinwand, eingerahmt von roten Samtvorhängen, die gerade erst neu angefertigt worden waren. Dolby-Surround-Sound und noch einiges mehr, mit Woofern, mit denen man die Schritte des T. Rex aus Jurassic Park bis ins Mark spürte.

Rhage und Bitty wählten die beiden Plätze direkt in der Mitte auf halber Höhe. Hier hatten sie auch in der Nacht zuvor gesessen, deshalb lagen die Fernbedienungen fürs Computersystem noch im Becherhalter zwischen ihnen.

Es dauerte nur einen Moment, um den Film bei Amazon zu leihen und das Ganze ins Rollen zu bringen.

Als sie die Deckel von ihren Eisbehältern nahmen und es sich gemütlich machten, atmete Rhage lang und langsam aus.

Perfekt. Das war einfach …

»Cheers, Dad!«

Bitty hielt ihm ihren Löffel hin, und Rhage klirrte mit seinem dagegen. »Cheers, Tochter.«

In der Dunkelheit, als das Abenteuer des Films begann, lächelte Rhage so breit, dass er sein Eis ganz vergaß. Alles war richtig auf der Welt. Alle Kreise vollendet. Nichts mehr grau, in keinem Bereich seines Lebens.

Er hatte seine Tochter.

Er hatte seine geliebte Shellan.

Er hatte seine Brüder und seine Kumpels.

Ja, es gab Stress, und die Spezies war immer noch in Gefahr, und die verdammten Menschen dachten sich immer irgendeinen Scheiß aus. Aber er hatte das Gefühl, sein Leben war ähnlich wie diese Festung von einem Haus.

Stabil gegen die Stürme und Angriffe des Schicksals.

In der Lage, allem zu widerstehen, was ihm begegnete.

Es war das erste und einzige Mal, dass er sich je so gefühlt hatte, und es führte dazu, dass er tief in seinen Knochen spürte, dass sich nichts ändern würde, egal, was passierte. Seine Mary war sein Herz und seine Seele. Seine Bitty seine Zukunft und seine Hoffnung. Seine Brüder und Freunde die Glieder seines Körpers.

Und wie wundervoll das alles war.

Er tauchte den Löffel in sein Rocky-Road-Eis … und hatte keine Ahnung, was auf ihn zukam. Hätte er es gewusst, hätte er eine ganz andere Eissorte gewählt.

Zum Beispiel ein verdammtes Vanilleeis.

Caldwell, New York, 1913 

»Oh, aber sie war so reizend, das war sie wirklich. Und ihre Schwester ebenso. Nicht?«

Während Jabon der Jüngere sich über Dinge ausließ, die sein Gegenüber schon vergessen hatte, machte sich ein Gefühl der rastlosen Langeweile in Rhages Körper breit, so sicher wie Abwasser, das durch die Bodendielen des Pubs sickerte. Tatsächlich musste er sich nicht nur von dieser ermüdenden Gesellschaft befreien, sondern auch von dem Ort, an dem er sich befand. In der Luft hier stand der Geruch nach dem sauren Schweiß lärmender Kunden und dem süßlichen Met in den Krügen in allen fleischigen Fäusten.

Jabon beugte sich vor. »Sagt mir, was Ihr mit ihnen gemacht habt.«

Rhage konzentrierte sich auf zwei Gäste, die auf der anderen Seite der gedrängten Enge des Etablissements auf Hockern saßen. Es waren Menschen mit Bärten so dicht wie Hundefell und Kleidung in der Farbe von Dünger. Sie waren betrunken, stießen immer wieder mit den Schultern zusammen wie ein Metronom, das herunterzählte, bis der unvermeidliche Streit ausbrach.

»Also möchtet Ihr es mir nicht sagen.« Jabon rückte mit seinem Stuhl näher und legte seine glatte, verzärtelte Hand auf Rhages Unterarm – aber er überlegte es sich anders, als Rhage seinen Blick verlagerte. Sofort zog er das Fliegengewicht wieder zurück. »Aber Ihr habt sie beide erobert. Gleichzeitig. Ihr müsst mir erzählen, wie es war.«

Rhage drehte sich wieder zu den beiden Arbeitern dort drüben auf den Hockern um. Die Situation war kurz vor dem Überkochen, und er machte sich Sorgen, einer oder beide könnten bewaffnet sein.

»Kommt Ihr wenigstens zum nächsten Abend? Bei mir zu Hause? Ihr werdet weitere Eroberungen finden, das verspreche ich Euch.«

Der Arbeiter links, der mit den dunkleren Haaren, riss den Kopf zu seinem Landsmann her­um. Mit finsterem Blick, das Kinn vorgereckt, das Gesicht rot wie eine Scheunentür, spuckte er aus, was nur so etwas wie Flüche sein konnte. Und dann stellte er sich hin, so stabil wie ein zweibeiniger Tisch. Zur Konfrontation aufgerufen, sprang prompt auch sein Landsmann auf.

Ein Schubs. Ein Stoß. Und dann wanderte die Hand desjenigen, der angefangen hatte, in seinen schlecht gemachten Mantel.

»… Ihr müsst am morgigen Tag kommen. Ich habe vielen gesagt, dass Ihr anwesend sein werdet. Und ich verspreche, es werden weibliche Wesen verfügbar sein …«

Rhage packte Jabon im Nacken seiner fein genähten Jacke mit dem hohen Kragen. Er schob den Mann unter den Tisch und duckte sich selbst, als der erste Schuss ertönte. Mit der Entladung der Waffe verlor die betrunkeneJovialität des Etablissements ihre überschwängliche Ausgelassenheit. Es gab allerdings keine erschrockenen Schreie. Dies war nicht das erste Mal, dass so etwas passierte, und die Menschen begannen, in Deckung zu gehen, als wären sie in dieser Reaktion gut gedrillt.

Unter dem Tisch riss Jabon die blassen Augen auf und krallte sich in seinen feinen Mantel, zog das Revers eng an den Hals wie ein zerbrechliches Kettenhemd aus Wolle, Seide und Baumwolle.

Es folgte ein Geraschel von Körpern und Schaben von Füßen, als die Menge sich eilig unter Eichentische und Stühle duckte, neben der steinernen Feuerstelle, hinter der Bar – auch wenn Letzteres von einem Barmann mit seiner eigenen Waffe verhindert wurde, der seinen Bereich mit größerem Interesse verteidigte als alles andere, was in seinem Pub passierte. Der Kerl war ein guter Geschäftsmann.

»Was sollen wir tun?« Jabon senkte das Gesicht fast ganz auf die rauen, fleckigen Holzdielen. »Was sollen wir tun, was sollen wir tun …?«

Rhage verdrehte die Augen. Die Gefahr würde nicht lange andauern, und er behielt recht. Drei Schüsse fielen, dann war es vorbei.

Zwischen den derben Tischbeinen und dem Durcheinander von umgekippten Stühlen schätzte Rhage den Schaden mit wenig Interesse ab. Beide Kämpfenden lagen reglos am Boden, also setzte er sich auf und streckte sich, ließ seinen schlimmen Arm kreisen. Jabon blieb unten, als hätte er ein neu erwachtes Interesse dar­an, ein Teppich zu werden. Die meisten anderen taten dasselbe.

Die Tür zum Pub öffnete und schloss sich wieder, als jemand her­einkam. Rhage achtete nicht darauf. Dieses Menschen-Etablissement war für Ärger dieser Sorte bekannt. Der Feind kam nicht oft in dieses Theater der menschlichen Sittenlosigkeit, und die Lesser kümmerten sich nicht um sie, wenn sie es vermeiden konnten. Dasselbe galt für Vampire, auch wenn Mitglieder der Spezies sich zwischen den Ratten ohne Schwänze viel besser bewegen konnten. Und man sehnte sich wirklich nach Abenteuern.

Abenteuer waren im Grunde alles, was man hatte.

Der menschliche Teppich, gebildet aus allen, die den Kugeln ausweichen wollten, begann auseinanderzubrechen, als sich Köpfe hoben und Oberkörper vorsichtig aufrichteten.

Die wogende Ungeduld, die so charakteristisch für Rhage war wie seine blonden Haare und die türkisblauen Augen, nahm sich ein Beispiel und wanderte durch seine Muskeln und Knochen. Unruhig wie immer, wandte er sich zum Gehen, nicht nur weg von den Menschen und ihrer Dummheit, sondern auch von Jabons unablässigem Genörgel …

Der Schlag kam von links und erwischte seinen ganzen Körper, etwas Großes und Schweres drückte Rhage zurück auf den Boden. Während er einen kurzen Moment in der Luft hing, bemerkte er zwei Dinge: erstens eine Kugel, die den Raum an der Stelle durchquerte, von der sein Fleisch und Blut gerade gewaltsam entfernt worden war; sie bohrte sich in die Eichenvertäfelung der heimeligen Wand des Pubs und schuf einen runden Sarg für ihren feingeschliffenen Metallkörper.

Die zweite Erkenntnis war, dass Rhage wusste, wer sich auf ihn gestürzt hatte.

Und sein Retter war auch keine Überraschung.

Die Landung war hart, denn er trug sowohl sein eigenes Gewicht als auch das eines anderen mit ähnlicher Statur, aber die blauen Flecken waren ihm egal. Wieder spähte er durch den Wald aus Tischen und Beinen und sah das neu aufgenommene Scharmützel, bei dem der ursprüngliche Kämpfer, kurzzeitig wiedererweckt, seine Waffe erneut angehoben hatte und sichergehen wollte, dass der Tod tatsächlich über den anderen Trunkenbold gekommen war.

Um die Bedrohung, die er darstellte, kümmerten sich aber inzwischen die anderen Gäste. Mehrere stürzten sich auf ihn und entwaffneten ihn.

Rhage konnte jetzt tiefer atmen, weil der Felsbrocken von ihm genommen war. Und dann streckte sich ihm eine Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen.

Lachend nahm er das Angebot an. »Das hat Spaß gemacht!«

Darius, Sohn des Marklon, war offenbar nicht derselben Meinung. Die blauen Augen des Bruders hatten vor Missbilligung die Farbe von Schiefer angenommen. »Wir definieren dieses Wort nicht auf dieselbe Weise … «

»Ihr müsst auch kommen!«

Rhage und sein Bruder im Dienst schauten beide auf Jabon herab, der unter dem Tisch aufgetaucht war wie ein Erdhörnchen aus seinem Loch.

Der unangenehme Aristokrat klatschte in die Hände. »Ja, ja, Ihr auch. Morgen Abend in meinem Haus. Ihr wisst sicherlich, wo das ist?«

»Wir werden leider arbeiten müssen«, verkündete Darius.

»Aye«, ­sagte Rhage, obwohl er keine bestimmten Pläne hatte.

»Es werden Frauen von edlem Blut da sein.«

»Von edler Komplikation, meinst du wohl.« Rhage schüttelte den Kopf. »Die sind in zu vieler Hinsicht langweilig.«

Darius hakte sich bei Rhage unter und führte ihn zur Tür. Als Jabon sich ihnen anschließen wollte, genügte ein strenger Blick über die Schulter, und der Mann war von seinem Impuls geheilt, als Ménage à trois zu verschwinden.

Draußen tauchte der Mond die dörfliche Umgebung in schimmerndes Licht, die Konturen der Handelsgebäude aus Ziegelstein und Holz leuchteten heilig, als hätten sie sich von ihrem ursprünglichen Zweck des Geldmachens abgewandt. Der Sommer befand sich im Juni in früher Blüte, das Laub an den Bäumen auf dem Platz war voll entfaltet, wenn auch von einem blassen Grün. Jadegrün, im Gegensatz zu dem tiefen Smaragdgrün im August.

»Kannst du mir mal sagen, was du an so einem Ort zu suchen hast?«, wollte Darius wissen, während sie über das Kopfsteinpflaster davongingen.

»Dieselbe Frage könnte ich dir stellen.«

In Rhages Erwiderung lag kein Tadel. Er hielt sich nicht nur nicht mit den Sorgen anderer auf, er wusste auch sehr wohl von Darius’ Ruf, in Denken und Taten anständig zu sein. Der Ausbund an Tugendhaftigkeit würde sich genauso wenig an Ausschweifungen beteiligen wie er sich die eigene Dolchhand abhacken würde.

»Ich bin auf der Suche nach Arbeitern«, erklärte der Bruder.

»Zu welchem Zweck?«

»Ich habe vor, ein Haus von großem Schutz undSicherheit zu bauen.«

Rhage runzelte die Stirn. »Genügt dir deine momentane Bleibe nicht?«

»Der Zweck wird ein anderer sein.«

»Und du würdest Menschen einsetzen, um so etwas zu bauen? Du müsstest deine Arbeiterschaft loswerden, wenn es fertig ist, ein Grab für jeden.«

»Ich suche nach Arbeitern von unserer Art.«

»Dann hast du in diesem Pub kein Glück.«

»Ich wusste nicht, wohin ich sonst gehen soll. Unsere Spezies ist zu weit verstreut. Man findet sich in diesem menschlichen Sumpf nicht einmal selbst.«

»Manchmal ist es besser, unsichtbar zu bleiben.«

In der blütenduftenden Nacht erklangen Glockenschläge, und Rhage schaute zum Uhrenturm des Marktplatzes von Caldwell hin­über. Er blieb stehen und lächelte, als er sich an eine recht ansehnliche Frau mit zuvorkommender Haltung erinnerte, die drei Straßen von hier wohnte.

»Vergib mir, Bruder, ich habe noch etwas vor.«

Darius blieb ebenfalls stehen. »Es geht nicht um die Jagd, nehme ich an.«

»Morgen ist auch noch Zeit.« Rhage zuckte die Achseln. »Dieser Krieg wird nie zu Ende sein.«

»Bei deiner Hingabe an den Kampf hast du wohl recht.«

Als Darius sich zum Gehen wandte, hielt Rhage ihn am Ellbogen fest. »Ich kann dir sagen, dass ich heute Nacht zwei Lesser erledigt habe, oder hältst du diesen Tintenfleck wirklich für Tinte?«

Rhage zeigte ihm den Ärmel seines Kalbsledermantels. Doch Darius sah nicht hin.

»Gut gemacht, mein Bruder«, ­sagte er ausdruckslos. »Ich bin so stolz auf dich.«

Daraufhin entzog ihm Darius seinen Arm und stolzierte davon, nach unten, Richtung Fluss. Rhage blieb allein stehen und starrte auf die Stelle, die der Bruder verlassen hatte. Dann brach er in die Gegenrichtung auf.

Erst mit etwas Abstand hatte er sich so weit beruhigt, dass er sich zu der Frau materialisieren konnte, die seine fleischlichen Neigungen nie abgewiesen hatte. Er ­sagte sich, das Gefühl, das ihn quälte und aufhielt, sei Wut über die Selbstgerechtigkeit dieses Bruders.

Es war eine Lüge, die er beinahe selbst glaubte.

Am folgenden Abend, nachdem die Sonne untergegangen und es dunkel genug war, öffnete Nyx die Tür des Bauernhauses ihrer Familie. Das knarrende Fliegengitter kam als Nächstes, und als sie auf die Veranda hin­austrat, knallte der Rahmen scheppernd wieder zu.

Sie hatte dieses Geräusch ihr ganzes Leben lang gehört, und als es in ihr Ohr drang, reihte sich jedes Alter, das sie je gehabt hatte, in diesem Takt aneinander. Das Kind. Die Jugendliche vor der Transition. Die junge Erwachsene. Wo sie jetzt war … wo auch immer das war.

Janelle war vor über fünfzig Jahren gegangen …

Die Gittertür öffnete und schloss sich wieder, und sie wusste, wer es war. Sie hatte auf etwas Zeit für sich gehofft, denn die Tagesstunden waren sehr lang gewesen. Doch die schweigende Gegenwart ihres Großvaters war die zweitbeste Option. Abgesehen davon würde er nicht lang bleiben.

»Auf dem Weg zur Scheune?«, ­fragte sie, ohne sich nach ihm umzusehen. »Du bist heute Nacht ein bisschen früh dran.«

Seine Antwort war ein Grunzen, als er sich in einen der Korbstühle setzte, die er selbst gemacht hatte.

Jetzt runzelte sie die Stirn und warf einen Blick über die Schulter. »Dann gehst du nicht zur Arbeit?«

Ihr Großvater zog seine Pfeife aus der großen Tasche seines Arbeitshemdes. Den Tabakbeutel hielt er schon in der Hand. Das Stopfen des Pfeifenkopfes war ein Ritual, das ihr zu intim erschien, um dabei zuzusehen, also setzte Nyx sich auf die oberste Treppenstufe und schaute über die Wiese zur Scheune hin­über. Dem Zischen, als er sein altmodisches Feuerzeug in Gang setzte, folgte der süße Rauchduft, noch so etwas Vertrautes.

»Wann gehst du?«, ­fragte er.

Nyx drehte sich her­um. Im Gegensatz zum Knallen der Gittertür und dem Aroma der Pfeife war die Stimme ihres Großvaters ein Phänomen, das man nicht sehr oft erlebte. Und es war so eine Überraschung, dass sich die weichen Silben nicht sofort in Wörter mit Bedeutung übersetzten.

Als sie es doch taten, schüttelte sie den Kopf.

Doch das war nicht ihre Antwort.

Ihr Großvater stand auf und kam nach vorn, die süßen Rauchwolken, die er ausblies, stiegen über seinen Kopf und wehten hinter ihm her. Sie dachte, er käme, um mit ihr zu sprechen, doch er blieb nicht stehen, als er vorbeiging. Er ging die Treppe hin­unter und auf die frische grüne Wiese hin­aus.

»Geh ein Stück mit mir«, ­sagte er.

Nyx sprang auf und beeilte sich, ihn einzuholen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal um etwas gebeten hatte, und schon gar nicht, ihm Gesellschaft zu leisten.

Schweigend gingen sie zur Scheune hin­über, und er öffnete die seitliche Tür und ließ die großen Flügel offen stehen. Als sie die kühle Dunkelheit betrat und die Holzspäne roch, merkte Nyx, wie ihr Herz klopfte. Das war der heilige Ort ihres Großvaters. Niemand kam hierher.

Licht flammte auf, und Nyx versuchte, nicht vor Ehrfurcht nach Luft zu schnappen. Um die Balken waren Lichterketten gewickelt, eine Galaxie von Sternen, und die anderen altmodischen Lampen leuchteten goldgelb. Sie holte tief Luft und ging unwillkürlich weiter zu den zwei Sägeböcken in der Mitte des Raums.

Darauf befand sich ein Kunstwerk in Arbeit.

Adirondack Guide Boats stammten aus der gnädigen Vergangenheit, sie wurden ursprünglich Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut und dienten als Sportgeräte für die Wohlhabenden, die in den Norden kamen, um die Seen und Berge des nördlichen Bundesstaats New York zu genießen. Sie waren auf zwei Passagiere und ihre Ausrüstung ausgelegt und niedriger und breiter gebaut als Kanus, gerudert wurden sie mit überkreuzten Händen von einem Lotsen vom Sitz in der Mitte aus.

Obwohl sich in den letzten hundertsiebzig Jahren so viel geändert hatte, gab es immer noch solche, die das antike, schöne Gleiten der handgemachten Schöpfungen schätzten, und ihr Großvater baute und wartete sie für eine kleine Schar treuer Kunden.

Nyx strich mit den Fingerspitzen über die langen, rohen Zedernholzplanken zwischen den horizontalen Zedernholzrippen.

»Mit dem bist du fast fertig.« Sie berührte die Reihen winziger Kupfernägel. »Es ist wunderschön.«

In der Scheune befanden sich noch vier weitere Boote auf Sägeböcken: zwei, die ihre erste Lackschicht bekommen hatten; der Honigton des Holzes und die Maserung schimmerten durch. Ein weiteres war nur ein Skelett. Ein drittes wurde gerade repariert.

Nyx drehte sich um. Ihr Großvater stand neben seiner Werkzeugauslage, der schimmernden Reihe von Meißeln, Hämmern, Handschleifmaschinen und Schraubzwingen, die über einer langen Werkbank an der Scheunenwand hingen. Alles hatte seinen Platz und nichts davon wurde mit Strom betrieben. Ihr Großvater baute die Boote auf die alte Art … denn so machte er das schon, seit er in der viktorianischen Ära damit begonnen hatte. Derselbe Vorgang. Dieselbe Disziplin.

»Wann gehst du?«, ­fragte ihr Großvater.

Als sie sich ihm zuwandte, wurde ihr bewusst, dass sie oft den Blick senkte, wenn er in der Nähe war. Zum Teil lag das an seiner außergewöhnlichen Verschlossenheit und ihrem Gefühl, dass er es vorzog, nicht angesehen zu werden. Hauptsächlich lag es dar­an, dass sie das Gefühl hatte, als könnte er ihre Gedanken lesen, und sie behielt ihre Gedanken lieber für sich.

Vielleicht konnte er in ihre Gedanken schauen, vielleicht nicht.

So oder so wollte sie es lieber nicht wissen.

Gott, er war alt geworden! Seine Haare waren jetzt ganz weiß und seine Wangen hohler als in ihrer Erinnerung, aber seine Schultern waren gerade, genau wie sein Rückgrat. Sicher würden sie noch mehr Zeit mit ihm haben. Bei Vampiren musste man sich Sorgen machten, sobald sich die ersten körperlichen Veränderungen zeigten. Danach ging es normalerweise blitzschnell abwärts.

»Großvater«, wand sie sich.

»Lüg mich nicht an, Kleines. Es gibt hier noch andere, an die zu denken ist.«

Er meinte natürlich nicht sich selbst. Posie war das Problem, das alles aufhielt. Wie üblich.

»Um Mitternacht«, ­sagte Nyx. »Ich will um Mitternacht gehen.«

»Ich habe gehört, dass du mit diesem Prätrans gesprochen hast. Er hat dir gesagt, wo das Lager ist?«

»Es ist schwer zu sagen, was genau er gesagt hat. Aber ich glaube, ich weiß, wo ich hinmuss.«

»Er spricht nicht mehr.«

»Er wird bis Tagesanbruch tot sein.« Nyx rieb sich die Augen. »Posie wird durchdrehen. Sie muss aufhören, Wesen zu retten. Nicht alles ist ein Hundewelpe, den man behalten kann.«

»Deine Schwester gibt ihr Herz großzügig. So ist sie eben.«

»Sie sollte damit aufhören.« Um nicht zu fluchen, tigerte Nyx um die Boote her­um, ihre Stiefel knallten laut auf dem gut gefegten nackten Boden. »Und ich muss es zumindest versuchen.«

»Janelle ist auch, wer sie ist. Du wirfst Posie vor, Wesen retten zu wollen. Du könntest in Bezug auf deine Abreise heute Nacht auch auf deinen eigenen Rat hören.«

»Wie kannst du das sagen?« Nyx sah ihren Großvater an. »Janelle sitzt in diesem Gefängnis fest …«

»Sie hat sich ihren Platz dort verdient.«

»Nein, hat sie nicht …« Nyx zwang sich, ruhig zu bleiben. »Sie hat ihn nicht umgebracht.«

Ihr Großvater paffte an seiner Pfeife, der Rauch, den er in die die Luft blies, blühte auf und verflog dann. Sein Gesicht war so ruhig und gefasst; Nyx musste den Blick abwenden, zu groß war der Kontrast zu ihrer Wut.

»Ich werde nicht lange weg sein«, ­sagte sie.

»Du wirst wohl eher nicht wiederkommen«, gab er zurück. »Du musst dich da raushalten, Nyxanlis. Es ist zu gefährlich.«

Um elf Uhr dreiundfünfzig stopfte Nyx den letzten Gegenstand in ihren Rucksack. Sie hatte zwei Wasserflaschen, sechs Proteinriegel, eine Taschenlampe, eine Fleecejacke, ein frisches Paar Socken und ihre Zahnbürste. Letzteres war ein nachträglicher Einfall und dumm. Als müsste sie sich über Zahngesundheit oder schlechten Atem Sorgen machen.

Während sie das Gewicht prüfte, indem sie den Rucksack schulterte, nahm sie eine Baseballkappe von ihrem Bett. Dann sah sie ihr dünnes Kissen an. Natürlich würde sie ihren Kopf wieder darauf ablegen. Sie würde wiederkommen …

»Es geht ihm schon viel besser.«

Nyx schloss die Augen, bevor sie sich zu ihrer Schwester umdrehte. Und sie achtete verflucht genau darauf, sich ihren Einen-Scheiß-geht’s-ihm-besser-Ausdruck nicht anmerken zu lassen.

Posie lehnte sich ins Zimmer, ihre Augen leuchteten, ihre Haare waren feucht und glatt, frisch gewaschen und duftend. Ihr Kleid war butterblumengelb mit einem Muster aus blauen und rosa Blümchen, die Spitzenborte am Saum streifte die Rücken ihrer nackten Füße.

»Komm, schau’s dir an …« Posie runzelte die Stirn, als sie die Stiefel, den Rucksack und die Mütze sah. »Wo gehst du hin?«

»Nirgendwo. Nur raus zum Wandern.«

»Oh, okay.« Sie gestikulierte wild. »Schau selbst, wie gut es ihm geht!«

Nyx folgte ihrer Schwester ins Gästezimmer nebenan. In dem gedämpften Licht lag unter schweren Decken reglos eine schmächtige Gestalt.

Posie hob ihren langen Rock an und überquerte auf Zehenspitzen den Läufer. »Ich bin hier, Peter. Ich bin bei dir.«

Ihre Schwester kniete sich hin und nahm mit beiden Händen seine Hand. Als sie mit den Daumen über eine Handfläche rieb, die grau war, und über Finger, die sich nicht bewegten, näherte Posie ihr Gesicht dem Kissen. Es waren zu viele Decken, um etwas zu sehen, aber das verzweifelte Murmeln aus ihrem Mund war ein Flehen, von dem Nyx wusste, dass es nicht beantwortet werden konnte.

»Posie …«

Ihre Schwester blickte erwartungsvoll auf. »Siehst du? Es geht ihm sehr viel besser.«

Nyx holte tief Luft. »Wann hat er zum letzten Mal etwas gesagt?«

Posie schaute auf die Decken. »Er schläft. Er braucht Ruhe. Damit er gesund wird.«

Bevor Nyx etwas sagen konnte, was sie bereut hätte, nickte sie, setzte ihren Rucksack wieder auf und ging in die Küche, um durch die Hintertür nach draußen zu gehen. Sie warf einen Blick auf das Geschirr, das zum Trocknen auf dem Gestell stand. Auf die Fenster mit ihren offenen, schweren Tageslichtvorhängen. Auf den chaotischen Wiesenblumenstrauß, den Posie gepflückt hatte, bevor sie die schicksalshafte Fahrt zum Einkaufen unternommen hatten.

»Nyx?« Posie kam her­ein, die Brauen hochgezogen, als wäre sie besorgt. »Glaubst du nicht, dass es ihm besser geht?«

Nyx stellte sich eine Schaufel in der zarten Hand ihrer Schwester vor. Erde von einem frisch ausgehobenen Grab an ihren nackten Füßen. Tränen, die über dieses sanfte Gesicht liefen.

»Nein, Posie. Das glaube ich nicht.«

»Aber er hat gestern Nacht etwas gegessen.« Ihre Schwester machte ein paar tapsende Schritte, umklammerte ihr Kleid mit verzweifelt verkrampften Händen. »Und heute Nachmittag hat er etwas getrunken.«

Nyx schaute aus dem Fenster über dem Spülbecken. Die Scheune wirkte meilenweit weg. Ihr Großvater würde die ganze Nacht da draußen sein.

»Er erholt sich doch, ja?« Posies Stimme wurde schrill. »Ich meine, ich habe ihn nicht umgebracht, oder?«

Mit einem Fluch nahm Nyx ihren Rucksack ab und ließ ihn an ihrer Hand baumeln.

»Wolltest du nicht wandern gehen?«, ­fragte Posie.

Nyx ließ den Rucksack auf den Boden fallen, dann beugte sie sich herunter und öffnete den Reißverschluss. Sie holte eine ihrer Wasserflaschen her­aus und nahm einen großen Schluck.

»Posie, hör mir zu. Unfälle passieren. Du wolltest nicht …«

Ihr Großvater betrat die Küche durch die Hintertür, unerwartet und lautlos wie ein Geist. Ohne eine von ihnen anzusehen, ging er mit einem Nicken an ihnen vorbei hin­unter in den Keller. Dass er die Tür hinter sich offen ließ, war seltsam, und seine Schritte wurden leiser, als er die Treppe hin­unterstieg, die er mit eigenen Händen gebaut hatte. Vielleicht brauchte er etwas von da unten? Alle seine Werkzeuge, das Holz und die Materialien für die Boote waren draußen in der Scheune, aber hier gab es Pläne für Kanus und Fischerboote. Und auch noch andere Baupläne.

Der Mann konnte aus Holz fast alles machen.

Als kein Geräusch heraufdrang und er nicht wiederkam, sah Nyx Posie an. Dann wieder zu der offenen Tür.

»Was macht er da unten?«, murmelte sie und stellte ihre Wasserflasche auf den Tisch.

Sie ging zur Kellertreppe und horchte. Dann stellte sie einen Fuß auf die oberste Stufe.

Unten ­sagte ihr Großvater leise: »Sag deiner Schwester, sie soll oben warten.«

Nyx packte den Türknauf fester. »Posie, geh dich zu Peter setzen. Wir sind gleich wieder oben.«

»Okay. Kommst du auf Wiedersehen sagen, bevor du gehst?«

»Ja.«

Nyx wartete, bis das gelbe Kleid aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Dann schloss sie die Tür hinter sich und ging nach unten. Am Fuß der Treppe sah sie sich stirnrunzelnd zwischen Waschmaschine und Trockner um. Zwischen dem geschlossenen Eingang zu den unterirdischen Räumen und dem Fluchttunnel. Zwischen ordentlichen Regalen mit Farbdosen, Eisenwaren und sonstigem Material.

»Wo bist du …?«

»Hier drüben.«

Nyx folgte dem Klang der Stimme um den Fuß der Treppe her­um und fand ihren Großvater vor einem schmalen Durchgang in der Betonwand, den sie vorher noch nie gesehen hatte. Und als sie näher kam, duckte er sich und verschwand schlurfend außer Sicht. Gebückt ging sie in der rabenschwarzen Dunkelheit einen engen Gang entlang. Ein Stück weiter hörte sie, wie ein schweres Schloss geöffnet wurde, und dann flackerte Licht von einer einzelnen Quelle auf.

»Was ist das …?«

Nyx blieb die Stimme weg, als sie einen Raum mit Metallwänden betrat, der drei Quadratmeter groß war und zweieinhalb Meter hoch. An Halterungen vom Boden bis zur Decke befand sich ein Waffenarsenal inklusive Munition und taktischer Ausrüstung.

Während sie noch mit ihrem Schock rang, ging ihr Großvater hin und hob eine leere Reisetasche auf. Er stellte sie auf einen niedrigen Tisch und begann, Waffen und Munition von der Wand zu nehmen. Ein Stück Kette. Ein Messer. Einen Dorn, der aussah wie etwas aus einem Dracula-Film.

»Was tust du?«