Schärentod - Lina Areklew - E-Book

Schärentod E-Book

Lina Areklew

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Beschreibung

Ein Grab in den Schären und ein düsteres Geheimnis ...

An einem Sommertag wird auf der malerischen schwedischen Insel Ulvön eine grausige Entdeckung gemacht. In einer stillgelegten Erzgrube stoßen zwei jugendliche Geocacher auf eine skelettierte menschliche Hand. Der Fund ruft Kommissarin Sofia Hjortén aus der Elternzeit in den Dienst zurück. Handelt es sich womöglich um die Überreste einer jungen Frau, die vor vielen Jahren ihren gewalttätigen Ehemann verlassen wollte? Sie war nie auf dem Festland angekommen und galt seitdem als vermisst. Bald darauf geschieht ein Mord, der mit dem damaligen Vermisstenfall verbunden scheint, und Sofia muss gefährlich tief in die dunkle Vergangenheit einer Ulvöner Familie und der Insel eintauchen …

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Seitenzahl: 530

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

An einem Sommertag wird auf der malerischen schwedischen Insel Ulvön eine grausige Entdeckung gemacht: In einer stillgelegten Erzgrube stoßen zwei jugendliche Geocacher auf eine skelettierte menschliche Hand. Der Fund ruft Kommissarin Sofia Hjortén aus der Elternzeit in den Dienst zurück. Handelt es sich womöglich um die Überreste einer jungen Frau, die vor vielen Jahren ihren gewalttätigen Ehemann verlassen wollte? Sie war nie auf dem Festland angekommen und gilt seitdem als vermisst. Bald darauf geschieht ein Mord, der mit dem damaligen Vermisstenfall verbunden scheint, und Sofia muss gefährlich tief in die dunkle Vergangenheit einer Ulvöner Familie und der Insel eintauchen …

Weitere Informationen zu Lina Areklew sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Lina Areklew

Schärentod

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Angela Beuerle

Die schwedische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Av skam« bei Bazar Förlag, Schweden.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2024

Copyright © der Originalausgabe 2023 Lina Areklew

First published by Bazar Förlag, Sweden

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Published by arrangement with Nordin Agency AB, Sweden

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: © FinePic®, München

Redaktion: Julie Hübner

KS · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31442-2V001

www.goldmann-verlag.de

Für Schwiegermutter Tea

Wir hatten viel zu wenig Zeit zusammen, doch du hast mich tief berührt und wirst immer bei mir sein. Einen der besten Sprüche, die ich jemals gehört habe, hast du mir beigebracht:

Ich werde dich voller Liebe umbringen, du Miststück.

Prolog

»Bist du sicher, dass uns niemand gesehen hat?«

Melker duckte sich ins Boot. Die Idee für das Versteck hatten sie schon seit mehreren Monaten, und es wäre sehr ärgerlich, wenn jemand sähe, wie sie den Geocache platzierten. Schließlich könnte man den Cache dann ja loggen, ohne die Koordinaten eigenständig gefunden zu haben.

»Jetzt chill mal.« Hugo packte den Steuerknüppel des Motorboots und drosselte das Tempo. Vor der Insel war das Wasser beinahe hundert Meter tief gewesen, doch hier wurde es plötzlich seicht. »Verdammt.« Er warf den Rückwärtsgang ein, doch zu spät. Schon hörte man das teure Boot seines Vaters über die Felsen schrammen. »Hoffen wir mal, dass Papa das nicht sieht.« Er grinste schief über die Schulter.

Doch wahrscheinlich war es egal, wenn sie den Rumpf des neuen Boots zerkratzten, dachte Melker. Zumindest, solange Hugo seine Position als bester Libero bei den von seinem Vater trainierten Junioren von KB65 verteidigte. Hugo würde der nächste Zlatan Ibrahimović werden, das stand schon fest. Und mal abgesehen von Punktspielen oder Training konnte er tun und lassen, was er wollte. Auch die Noten waren nicht so wichtig, wenn man Fußballstar werden und Millionen verdienen würde. Bei Melkers Eltern sah es anders aus. Sie hatten beide an der Stockholm School of Economics studiert und fanden, dass es nichts Wichtigeres gab als gute Noten. Melkers Vater hatte irgendeinen bedeutenden Bürojob bei Hägglunds, wo sie Antriebssysteme herstellten, und seine Mutter arbeitete bei einer Bank. Sie wollte, dass er, sobald er in die Oberstufe kam, schon mal mit einem Sommerjob bei ihnen anfing. Aber wer zum Teufel wollte schon bei einer Bank arbeiten? Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als eingesperrt in einem staubigen Büro zu sitzen und alten blauhaarigen Omas zu erklären, wie Onlinebanking funktionierte.

Melker wollte Geologe werden. Seit er mit neun Jahren sein erstes Geologie-Kit bekommen hatte, faszinierte ihn die Wissenschaft von der Erde und den verschiedenen Gesteinsarten in allen Facetten – angefangen bei den Bildern von der Erde im Querschnitt bis hin zu den etwas abstruseren New-Age-Strömungen, die davon ausgingen, dass Kristalle besondere übersinnliche Eigenschaften besaßen. Über die Geologie war er per Zufall zum Geocaching gekommen. Als er einmal mit dem Boot rausgefahren war, um den berühmten Nordingrå-Granit – auch Rapakiwi genannt – anzusehen, war er zwei dänischen Geocachern begegnet. Sie hatten ihm erklärt, wie das Spiel funktionierte, und Melker war sofort begeistert gewesen. Hugo hatte sich angeschlossen, und nun waren sie seit beinahe zwei Jahren dabei. Mehrere ihrer Caches waren in schwedischen und ausländischen Geocaching-Foren erwähnt worden. Sie hatten einen gemeinsamen Account und nannten sich »Sons of Rock« – wobei sich eigentlich nur Melker für das Erdinnere interessierte. Zuletzt hatten sie eine Serie von Mystery Caches ausgelegt, und heute würden sie den Bonus Cache platzieren, den nur diejenigen, die ihren Spuren gefolgt waren, suchen konnten.

»Also, das hier wird echt episch.« Hugo sprang behände über die Reling, um festzumachen. Melker klappte den Außenbordmotor hoch, zog den Zündschlüssel ab und legte ihn mit dem Schwimmer aus Kork unter die Sitzbank. Schon seit Kindertagen fuhren die beiden zusammen Boot. Keiner musste mehr sagen, was wann gemacht werden sollte – es war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen.

Sie hoben die Wathosen und die Tasche mit der Plastikdose heraus. Der Cache enthielt das obligatorische Logbuch sowie einige Tauschgegenstände. Darunter waren Plastikfiguren aus Kinderüberraschungseiern, einige Aufkleber und Schlüsselringe. Vor allem Familien mit Kindern war es wichtig, Dinge in den Caches zu finden und zu tauschen. Manchmal passierte es zwar, dass Muggels – Leute, die nicht ins Geocaching eingeweiht waren – den Inhalt klauten, aber Melker und Hugo legten trotzdem immer etwas hinein. Allerdings war dieser Cache hier nicht gerade kinderfreundlich, denn schließlich musste man in eine wassergefüllte Erzgrube hineinwaten, um ihn zu finden.

Der alte Fischerort war menschenleer. Knapp fünfzig Meter waren es von den Klippen, an denen sie angelegt hatten, bis zum Eingang der Grube. Der Weg war von Gangart umgeben, der von den Mineralen befreiten Gesteinsmasse, die beim Erzabbau übrig bleibt. Melker schwitzte schon. Er bereute, dass er mit dem Anziehen der Neoprenhose nicht gewartet hatte, bis sie vor Ort waren.

Hugo gab ihm die Hand, und zusammen kletterten sie über den gezackten Felsblock, der den Eingang der Grube halb versperrte. Draußen gab es mehrere Warnschilder, die darauf hinwiesen, dass der Besuch der Grube auf eigene Gefahr geschah. Das sollte Geocacher abschrecken, doch die meisten waren ziemlich hart gesotten und bereit, einiges zu riskieren, um richtig gute Caches zu finden.

Nach nur einem Meter begann der flache, unterirdische See, und Melker und Hugo balancierten mit ausgestreckten Armen in das kalte Wasser hinein. Die Steine unter ihnen waren rutschig, doch das Wasser war kristallklar, und Melker konnte problemlos sehen, wohin er die Füße setzte. Bald wurden sie von der Dunkelheit der Grube verschluckt. Die Kälte drang durch die Wathose, und er schwitzte nicht mehr. In der Höhle hallte das Tropfen von Grundwasser wider. So schnell sie konnten, wateten sie in nördlicher Richtung in die Grube hinein. Zur Linken befand sich ein Steinpfeiler, der das sechzig Jahre alte Grubendach trug.

Bald erreichten sie die große Felsenhöhle, in der sie den Cache verstecken wollten. Ein Stück weiter hatte sich ein Kiesufer gebildet, doch von dort aus ging es steil bergab. Die Suche nach Erz hatte die Bergleute immer tiefer in die Grube hineingeführt, und ganz hinten in dem großen Hohlraum stand das Wasser so hoch, dass sie keinen Grund mehr unter den Füßen haben würden.

»Hier ist es gut«, flüsterte Hugo und zeigte auf einige große Steine, die aussahen, als seien sie von der Decke über ihnen heruntergekracht. Er kniete sich hin und grub ein wenig im Schotter, um die Plastikdose zwischen die Steine zu stecken. Melker versuchte, die Taschenlampe so zu halten, dass Hugo besser sehen konnte. In diesem Teil des Bergwerks war es dunkel, doch der davorliegende Raum wurde von der Sonne, deren Strahlen durch den Grubenschacht drangen, erhellt. Melker fuhr zusammen. Er meinte, einen Schatten am Eingang zu entdecken. Verdammt. Hatte sie doch jemand hineingehen sehen?

»Jetzt wackel mal nicht so mit der Lampe!«, schimpfte Hugo.

»Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen«, sagte Melker.

»Ach was. Jetzt, wo die Fabrikferien zu Ende sind, ist auf dieser Seite der Insel doch kein Schwein mehr.«

Hugo verschob einen kleineren Stein, um Platz für die Plastikdose zu schaffen. Melker hielt Ausschau nach dem Schatten am Eingang, konnte aber nichts erkennen. Seit er mit dem Geocaching begonnen hatte, war er schon in einer Menge Höhlen gewesen, aber diesmal hatte er ein ungutes Gefühl.

»Bist du bald fertig?«

»Was ist denn los? Hast du Angst im Dunkeln, oder was?«

Melker drehte sich wieder zum Eingang, und der Lichtkegel der Taschenlampe folgte.

Plötzlich ließ Hugo einen Stein fallen, den er in der Hand gehalten hatte.

»Mensch, was machst du? Was ist los?« Melker machte einen Schritt auf ihn zu.

»Gib mir die Taschenlampe!«, sagte Hugo.

»Jetzt entspann dich. Ich wollte nur nachschauen, ob da jemand ist.«

»Gib sie mir!«

Melker reichte ihm die Taschenlampe und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Komm runter, Mann. Was hast du?«

»Schau!«, sagte Hugo mit zitternder Stimme.

Melker stellte die Plastikdose mit dem Logbuch auf dem Kies ab und beugte sich vor, um zu sehen, wohin Hugo leuchtete.

»Ist das nicht …« Hugo lehnte sich zurück, ließ aber die Taschenlampe weiterhin zwischen den Steinen hindurchleuchten.

Als Melker schließlich sah, was dort lag, lief es ihm kalt den Rücken hinunter.

Freitag, der 21. August 2020

1.

Sofia hörte Astrid schreien. Anhaltend und durchdringend, lauter als jemals, doch dann verstummte sie mit einem Mal. Irgendwas stimmt nicht, dachte Sofia, meine Tochter ist in Gefahr – und im Traum hörte sie Schritte näher kommen. Jemand stand vor der Tür. Sie versuchte aufzuwachen, wollte die Decke wegschieben und zu Astrid laufen, doch es ging nicht. Sie war wie gelähmt, und die Arme klebten am Körper.

Sofia schlug die Augen auf und sah ihren Patenonkel Tord, der sich mit besorgter Miene über sie beugte. Sein Atem roch nach Kaffee. Auf dem Arm hielt er die kleine Astrid. Ihre Fäustchen krallten sich an seinem karierten Hemdkragen fest, als er Sofia am Arm rüttelte.

»Sofia, du träumst.«

Vorsichtig legte Tord das kleine Mädchen neben sie ins Bett. Sofia gähnte, zog die Kleine an sich und atmete den betörenden Duft ihres Kindes ein. Noch immer war Sofia voller Staunen darüber, dass sie schließlich, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, Mutter geworden war. Doch schon nach wenigen Sekunden begann Astrid zu arbeiten. Sie schob den Hintern hoch und bohrte ihr ganzes Gesicht in Sofias Brustkorb. Dann stemmte sie sich mit den Händen auf ihren Rippen ab und schaffte es, sich auf die Arme zu stützen. Mit ihrem zahnlosen Mund, in dem der Schnuller hing, grinste sie Sofia breit an, stolz darüber, sich hochgerappelt zu haben.

»Ja so was, mein kleiner Käfer. Willst du nicht ein bisschen mit Mama kuscheln?« Sie küsste Astrid auf die Stirn und versuchte, sich mit ihr auf dem Arm zu erheben. Doch obwohl seit der Geburt inzwischen sechs Monate vergangen waren, hatten die Bauchmuskeln noch nicht wieder zu ihrer alten Form zurückgefunden. Tord nahm ihr die Kleine ab, die sofort begann, die wettergegerbte Haut in seinem Gesicht mit ihren kleinen Händchen zu erkunden. Als könne sie nicht glauben, dass er echt war.

Seit Sofia abgestillt hatte, war Tord der Favorit ihrer Tochter. Ganz gleich, wie viel Sofia mit ihr schmuste, spielte, sie fütterte oder mit dem Kinderwagen spazieren fuhr, er war die große Liebe des kleinen Mädchens. Sobald sie ihn durch die Tür hereinkommen hörte, strahlte sie. In den wenigen Nächten, in denen er in seinem eigenen Haus schlief, dauerte es dreimal so lange, sie zum Schlafen zu bringen.

Trotzdem verspürte Sofia keinerlei Eifersucht darüber, dass ihre Tochter ihr so offensichtlich jemand anderen vorzog. Tord war wie ein Vater für Sofia gewesen, ohne ihn hätte sie die Zeit nach Astrids Geburt nie überstanden. Seit der dramatischen Nacht von Astrids Geburt war kein Tag vergangen, ohne dass Tord in Sofias Nähe gewesen wäre. Anfangs hatten sie zu dritt in dem großen Doppelbett im Obergeschoss geschlafen. Es gab ihr Sicherheit, ihren Patenonkel in der Nähe zu wissen, wenn sie mitten in der Nacht aus ihren Albträumen erwachte. Doch je mehr sie wieder ins Leben zurückkehrte, desto mehr Zeit alleine mit ihrer Tochter hatte er ihr gegeben. Dabei war er immer für sie da. Obwohl er es verabscheute, Ulvön zu verlassen, hatte er Sofia immer ohne Murren nach Örnsköldsvik zu Arztterminen oder zur Therapie begleitet. Dann hatte er den Kinderwagen mit Astrid Runde um Runde durch das Stadtzentrum geschoben, während er auf sie wartete. Danach tranken sie Kaffee in Lundbergs Konditorei und fuhren zum Supermarkt Willys hinauf, um ihre vorbestellten Einkäufe abzuholen, bevor sie die Fähre zurück nach Hause nahmen.

»Es gibt Kaffee«, sagte Tord. »Und gekochte Eier.« Sofia nickte, band das lange blonde Haar zu einem Pferdeschwanz und griff nach ihrem Morgenmantel. Während sie den Gürtel um die Taille schlang, ging sie zu Tord und Astrid, steckte die Nase in die Halsfalte der Kleinen und pustete, sodass ein lautes, pupsendes Geräusch ertönte. Ihre Tochter gluckste vor Lachen und warf den Kopf zurück gegen Tords Schulter. Allein dieser Freudenklang ließ Sofia dahinschmelzen. Auch wenn wahrscheinlich alle Eltern so dachten, war ihr Kind doch wirklich das schönste, das je geboren worden war. Die dunkelbraunen Augen waren groß und rund und schauten immer neugierig. Und um das rosige, babyspeckige Gesicht lockte sich braunes, beinahe schwarzes Haar.

Außer beim Zahnen war Astrid schnell mit allem. Schon im Alter von drei Monaten hatte sie sich das erste Mal auf den Bauch gedreht, und jetzt stand sie schon mit strammen Beinchen auf Mamas oder Tords Schoß, wenn man sie an den Händen hielt. Sofia graute schon vor dem Tag, an dem Astrid anfangen würde zu laufen. Sie hatte das Haus noch nicht kindersicher gemacht, und in ihrem Kopf spielten sich alle möglichen Albtraumszenarien ab. Warum hatte sie sich nicht früher darum gekümmert? Für die Wohnung auf dem Festland hatte Kaj bereits ein ganzes Arsenal an Kindersicherungen und Gittern gekauft.

Sofia hätte gerne gewusst, wie sie selbst als kleines Kind gewesen war. Doch sie konnte niemanden mehr fragen. Ihr Vater Sten hatte vor bald zwanzig Jahren den Kampf gegen den Krebs verloren, und ihre Mutter Claire … Ja, wo die war, wusste Sofia nicht, was allerdings nicht weiter schlimm war, denn auch als sie unter demselben Dach gewohnt hatten, war Claire für Sofia keine wirkliche Mutter gewesen. Seit sie Sofia vor vielen Jahren das Haus auf Ulvön und die Wohnung in Örnsköldsvik überlassen hatte, war der Kontakt abgebrochen. Vermutlich war sie zu ihrer Familie nach Frankreich zurückgekehrt, widmete sich dem Weintrinken und ihrer Porzellanfiguren-Sammlung, den beiden einzigen Dingen, die sie jemals interessiert hatten. Sofia war nie auf die Idee gekommen, sie besuchen zu wollen. Für sie waren schlicht beide Eltern tot.

Tord setzte Astrid wieder richtig auf seinen Arm.

»Margit sagt, dieses Jahr gibt es viele Pfifferlinge. Vielleicht können wir am Wochenende eine Tour machen? Auch Moltebeeren hat sie gesehen.«

»Ah ja?« Sofia begegnete Tords Blick und versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken.

»Ach, hör auf!«

Dass zwischen Tord und der Hebamme im Ruhestand, die Sofia und Astrid nach der dramatischen Geburt betreut hatte, eine gewisse Neigung entstanden war, ließ sich nicht übersehen. Seit Tord bei Sofia eingezogen war, machte sich Margit oft die Mühe, nach Astrid zu schauen, obwohl Sofia in Örnsköldsvik gut ärztlich versorgt war.

Tord ging zur Tür und warf ihr noch einen ernsten Blick zu, der keinen Widerspruch duldete.

»Um zehn Uhr fahren wir in die Stadt.«

Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Tord hatte das Zimmer bereits verlassen. Alles, was ihr gerade noch so fantastisch erschienen war, fiel innerhalb einer Sekunde zu einem Aschehaufen zusammen – doch sie wusste, sie musste diesen Schritt tun, um wieder arbeiten zu können. Und das wollte sie gerne, auch wenn ihre Chefin, Kriminalhauptkommissarin Vera Nordlund, meinte, es sei doch wohl ein wenig früh, nur ein halbes Jahr nach der Geburt schon wieder in den Dienst zurückzukehren. Doch Sofia vermisste ihre Arbeit – und Tord war da, der sich an den Nachmittagen um Astrid kümmern würde. Und vormittags wollte Sofia vorerst noch zu Hause bleiben. So war es mit allen besprochen. Denn: Wie sehr sie ihre Tochter auch liebte, ihre Arbeit als Polizistin war mehr als nur ein Job und wurde nicht weniger wichtig, weil sie ein Kind hatte. Sie wollte zurück, wollte etwas bewirken und für ihr Kind eine bessere Welt schaffen.

Wenn sie nur dafür nicht Kaj begegnen müsste.

2.

»Weißt du, in welcher Kiste mein Föhn steckt?«

Ida stand vornübergebeugt mitten im Wohnzimmer und frottierte ihr langes, nasses Haar mit einem rosa Handtuch. Sie war nackt, und die Wassertropfen glänzten auf ihrer sonnengebräunten Haut. Fredrik saß auf dem Sofa und wühlte in einem Karton mit der Aufschrift »Vermischtes«.

Sie hatten zuerst seine Wohnung ausgeräumt – was weniger als einen Tag gedauert hatte. Die meisten Möbel waren schon lange verkauft, sodass nur noch ein bisschen Geschirr im Küchenschrank einzupacken gewesen war sowie zwei kleine Fensterlampen seiner Großmutter, die er nie irgendwo neu anbringen würde, die ihm jedoch zu viel bedeuteten, um sie zurückzulassen. Dann waren da noch einige Kisten mit Winterkleidung, Fotoalben und allerlei Papieren auf dem Speicher. Alles Übrige war auf dem Recyclinghof gelandet. Fredrik wollte einen Neuanfang, er wollte nichts behalten, was ihn an sein früheres Leben erinnerte. Ida hingegen wollte alles aus ihrer Wohnung mitnehmen. Selbst gemachte Bettüberwürfe, kuschelige rosa Decken, einzelne Tassen und Gläser vom Flohmarkt, und vor allen Dingen den kirschroten Samtsessel, der so hässlich war, dass es wehtat. Doch er hatte nicht protestiert, sondern eins nach dem anderen eingepackt, ohne den Versuch zu unternehmen, sie zu überreden, etwas wegzuwerfen. Im letzten halben Jahr war sie durch die Hölle gegangen. Wenn es ihr ein Gefühl von Kontrolle und Stabilität vermittelte, allen möglichen Krimskrams zu behalten, war er der Letzte, der ihr dies abschlagen würde.

Fredriks zukünftige Schwiegereltern, Björn und Lotta Niemi, waren außer sich vor Glück gewesen, als sie von dem Umzug erfuhren – und dann auch noch nach Örnsköldsvik! Die Cousine von Idas Vater wohnte in der Stadt, die Familien standen einander sehr nahe und besuchten sich mehrmals im Jahr. Und ganz zufällig war dann auch ein Haus oben auf dem Varvsberg, in der Gegend, die Kusthöjden, »die Küstenhöhe« genannt wurde, aufgetaucht. Björn und Lotta hatten dieses toprenovierte Haus in Hanglage gekauft, mit Terrasse und Balkon auf jedem Stockwerk und einer fantastischen Aussicht über die Bucht von Örnsköldsvik. Das Haus würde umgebaut werden, sodass man das Untergeschoss irgendwann vermieten könnte, und Ida und Fredrik durften, solange sie wollten, in der oberen Wohnung wohnen.

Natürlich war Fredrik dankbar, doch so richtig gut fühlte es sich nicht an. Er hatte angeboten, die Stockholmer Wohnung seiner Großmutter in der Brahegata, in der er die letzten Jahre gewohnt hatte, zu verkaufen, anstatt sie zu vermieten, doch Björn und Lotta wollten davon nichts wissen. Sie waren glücklich über den Umzug, der für ihre Tochter ein Neubeginn sein sollte, und wollten die beiden unterstützen. Und auch wenn zwischen Örnsköldsvik und Övertorneå ganz im Norden noch immer über fünfhundert Kilometer lagen, würde es von ihnen zu ihrer Tochter doch nur noch halb so weit sein. So waren sie, obwohl Fredrik und Ida noch kaum eingezogen waren, schon unterwegs nach Süden zu ihrem ersten Besuch.

Auch Fredriks Ersatzeltern, Inga und Hans, hatten es für keine gute Idee gehalten, seine Zweizimmerwohnung zu verkaufen. Inga hatte vorsichtig angemerkt, sie sollten vielleicht zunächst einmal ausprobieren, wie es war zusammenzuwohnen, bevor er sich der einzigen Verbindung zu seiner Familie entledigte, die ihm noch geblieben war. Halbherzig hatte Fredrik zugestimmt, war jedoch überzeugt, dass ihn in Stockholm nichts mehr hielt. Seine Großmutter lebte schon lange nicht mehr, und die Wohnung auf Östermalm, in der sie zusammen gewohnt hatten, war nach ihrem Tod kein Zuhause mehr für ihn gewesen. An seine Mutter, seinen Vater und den kleinen Bruder Niklas versuchte er so wenig wie möglich zu denken, hatte er doch schreckliche Angst, jetzt, wo sich alles für ihn zum Besseren zu wenden schien, in all das Furchtbare zurückgesogen zu werden, was ihm die letzten Jahre schwer zugesetzt hatte.

Fredrik ließ den Blick über Idas Beine gleiten und verharrte auf ihren Schenkeln. Sie war so schön. Und während des knappen Jahres, das sie sich kannten, hatte sie nie versucht, ihn zu verändern. Sie hatte ihn nie ermahnt oder belehrt. Sie verstand ihn besser als er sich selbst.

Es war Idas Vorschlag gewesen umzuziehen, als er zum Fernstudium an der Polizeihochschule Umeå angenommen worden war. Alle praktischen Studieneinheiten würden auf dem Campus stattfinden, und es erschien logisch, sich dort eine Wohnung zu suchen. Doch als Ida ein Angebot für eine begehrte Stelle als Logopädin am Krankenhaus von Örnsköldsvik bekam, hatten sie neu überlegt. In Örnsköldsvik wohnte man viel billiger, und von dort bis nach Umeå war es auch nur eine Stunde mit dem Zug. Diese Entscheidung war Fredrik zunächst verrückt vorgekommen. Wie sollte er an einem Ort, an dem er beinahe sein Leben verloren hatte, einen Neuanfang machen können? In der Stadt, in der Sofia wohnte. Doch er war so voller Freude darüber gewesen, dass ihm ein Ausbildungsplatz als Polizist angeboten worden war, dass er diesen Gedanken weggeschoben hatte. Und tatsächlich hatte sich alles auf wunderbare Weise gelöst. Er war verliebt und würde heiraten, Ida hatte eine Stelle bekommen, die Großzügigkeit der Familie Niemi hatte ihnen einen Platz zum Wohnen ermöglicht, und sein Traum, Polizist zu werden, würde endlich in Erfüllung gehen.

Und dennoch dachte er manchmal an das Kind. Das kleine, neugeborene Kind, das er in jener eiskalten Nacht im März in seinem Arm gehalten hatte. Sofias Tochter. Sie war nach der Entbindung im Schock gewesen und hatte ihm die Kleine einfach rübergereicht, eingewickelt in ein weißes Frotteehandtuch. Sie hatte nichts gesagt, doch Fredrik hatte die Ähnlichkeit gesehen. Er hatte olivfarbene Haut. Er hatte dunkelbraunes Haar. Kaj nicht.

Als er Sofia später angerufen hatte, wollte sie über die Sache nicht mit ihm reden. Sie hatte erklärt, dass Kaj Marklund, ihr verheirateter Ex-Liebhaber, die Vaterschaft bereits offiziell anerkannt habe. Fredrik hatte protestiert, allerdings nicht so lautstark, wie er es hätte tun müssen. Zu dem Zeitpunkt war mit Ida alles so heikel, und er musste seine Diskussionen mit Sofia hinter ihrem Rücken führen. Als er so nicht weiterkam, hatte er schließlich Kaj angerufen, der, sobald er hörte, wer am Apparat war, bat, ihn nie wieder zu kontaktieren und auflegte. Kurze Zeit später war ein DIN-A4-Brief mit zwei Dokumenten auf seiner Fußmatte gelandet: eines, das zeigte, dass Kaj zum rechtsmedizinischen Vaterschaftstest gebeten worden war, und eines mit dem Testergebnis, bezeugt und unterschrieben. Die Untersuchung zeigte, dass Fredrik sich getäuscht hatte. Kaj war der biologische Vater des Kindes. Mehrere Wochen lang hatte er sich damit herumgeschlagen, diesen Bescheid zu akzeptieren. Einerseits war er erleichtert. Er wäre ohnehin nicht in der Lage gewesen, sich um ein Kind zu kümmern, schließlich hatte er gerade erst gelernt, für sich selbst zu sorgen. Andererseits war er tief enttäuscht.

Fredrik verscheuchte die Gedanken an Sofia und das Kind. Er war jetzt mit Ida zusammen, und das würde er weiterhin sein. Als ob sie seinen Blick im Nacken gespürt hätte, hörte sie auf, sich die Haare abzutrocknen, sah ihn über die Schulter an und lächelte.

»Hör mal, du Spanner! Ich brauche meinen Föhn. Gleich kommen meine Eltern.« Sie warf das lange dunkle Haar über den Kopf zurück, sodass es mit einem klatschenden Geräusch auf dem nackten Rücken landete. »Und wenn wir es noch schaffen wollen, Ordnung in dieses Chaos zu bringen, haben wir keine Zeit für irgendwelche Ablenkungen.«

»Ablenkungen? Wen bezichtigst du der Ablenkung?«

Er sprang vom Sofa auf, fasste sie um die Taille und zog sie an sich. Ida lachte und tat so, als versuche sie, sich loszureißen.

Als sie aufgehört hatte zu lachen, legte sie ihm die Arme um den Hals und schmiegte sich an ihn. Er spürte, wie sein Körper sogleich darauf antwortete.

»In Ordnung«, sagte sie und lächelte. »Eine kleine Pause können wir uns vielleicht gönnen.«

1959

Die Armbanduhr zeigt Viertel nach zwölf. Bald ist es Zeit für den Mittagsimbiss. Ich streiche mit dem Finger über das Zifferblatt und spüre die kleinen Kratzer, die sie mit den Jahren abbekommen hat. Für Ragna steht auf der Rückseite. Bertil hat die Uhr gekauft. Es war, als habe sie mich angezogen, aus der roten Schmuckkassette ganz hinten im Schrank. Eigentlich dürfte ich sie nicht tragen, doch ich glaube nicht, dass Bertil etwas gemerkt hat. Sie ist zu schön, um verborgen in einem Kästchen zu liegen. Ich ziehe die Pulloverärmel über die Knöchel und stecke dann die Hände in die Achselhöhlen. Wenn man windgeschützt sitzt, wärmt die Sonne schon, doch heute ist der Wind in den dichten Wald vorgedrungen und pfeift um das rostige Blechdach über dem Fördergerüst.

Eben erst sind wir drinnen im Bergwerk gewesen. Wir standen dort zusammengedrängt im Geruch von Staub und Holz und dem muffigen und strengen Dunst aus dem Grubenloch. Elf Personen, die in das über hundert Meter tiefe Bohrloch starrten, während ein Mann, dessen Namen ich nicht kenne, in einem großen Metalleimer nach unten gelassen wurde. Langsam verschwand der Laternenschein in den Berg hinab, und etwas später war das knatternde Geräusch einer Druckluft-Bohrmaschine zu hören. Direktor Erlandsson von Höganäs-Billesholm war aufgeregt. Als wäre der Grubenarbeiter zu einer bedeutenden Raumfahrtmission aufgebrochen. Als würden wir hier den reinsten Sputnik bewundern.

Alle auf der Insel sind selig über den Bergbau und preisen das an Vanadium reiche Erz, das Glanz und Reichtum bringen und den Fischern, deren Fang mit jedem Jahr kleiner wird, Arbeit geben soll. Die Wohltaten des Bergbaus scheinen unendlich. Ich finde, das Loch ähnelt in erster Linie einem dunklen Schlund direkt in die Hölle.

Sobald der Mann wieder oben angekommen ist, sollen wir alle den steilen Weg nach Kolkajen hinuntergehen und uns auf die nördliche Insel begeben, um dort etwas zu essen. Zwei Holzboote mit je einer Bank auf jeder Seite werden die Besucher zum Mittagsimbiss ins Hotel bringen. Vornehm wird es sein. Obwohl wir sonst nie das Hotel besuchen oder überhaupt etwas zu Mittag essen. Frühstück und Abendessen sind genug, pflegt Bertil zu sagen. Zu Mittag essen nur die feinen Leute.

Außer Direktor Erlandsson mit seiner Frau und seinen erwachsenen Kindern sind unsere Familie und zwei weitere Personen dabei. Der eine Mann stammt von hier, der andere arbeitet bei Höganäs-Billesholm. Als Ingenieur oder Geologe, glaube ich. Wir haben ein paar Worte gewechselt. Er ist nett, kommt aus Norrbotten. Während wir darauf warteten, in die Grube hineingehen zu dürfen, führte er mir verschiedene Vogelrufe vor, die er imitieren konnte. Das konnte er richtig gut.

Eigentlich weiß ich nicht, warum wir hier sind. Aber Bertil will uns wohl den Leuten aus Südschweden vorführen. Er besitzt nämlich sowohl Grund und Boden als auch eine tüchtige Familie. Dass sein erwachsener Sohn eigentlich völlig unbegabt für den Bergbau ist, erzählt Bertil natürlich nicht. Auch nicht, dass seine hübsche, junge Frau zu schwache Nerven hat, um den Haushalt zu führen. Wir sind die Versager, mit denen Bertil geschlagen ist und die ihm das Leben schwer machen. Er lässt keine Gelegenheit aus, uns daran zu erinnern. Mit Fäusten und mit Worten. Aber nie vor anderen. Vor Publikum treten wir als vorbildliche Familie auf, die unser einflussreiches Familienoberhaupt unterstützt, wenn Höganäs-Billesholm Gold aus seinem Boden schürfen will. Dass er selbst eigentlich ein Bauer in fünfter Generation ist, der nur das Glück hat, genau die Erdscholle zu besitzen, in der die Bergbaugesellschaft graben möchte, erwähnt er auch nicht. Das Land ist natürlich verkauft. Niemand auf der Insel besitzt die Mittel, um in die Maschinen und Werkzeuge investieren zu können, die benötigt werden, um ein Bergwerk zu eröffnen. Oder die aufbereiteten und zerkleinerten Erzstücke zur Verarbeitung aufs Festland zu schaffen.

Bertil spreizt sich wie ein Pfau und kriecht dann wieder förmlich vor Direktor Erlandsson. Auf beinahe komische Weise reibt er die dicken Finger aneinander. Als wäre er ein Schurke im Film, gierig und missgünstig, obwohl es uns besser geht als den meisten auf der Insel. Wir besitzen Land – sowohl auf dem Festland als auch auf den Inseln. Kostbares Land, von dem Bertil hofft, dass er darauf eines Tages ein eigenes Bergwerk eröffnen kann. Doch er ist kein Steiger, auch wenn er irgendwo in Südschweden einmal einen Kurs besuchen durfte. Meist steht er da und schaut zu, wie andere arbeiten. Auch vom Wald hat er profitiert, denn der Grubenbetrieb benötigt Holz für Stützpfeiler und Loren. Wenn mit dem Erzabbau alles funktioniert, wird Bertil einer der reichsten Männer der Insel werden. Trotzdem wird es nicht genug sein. Er wird immer mehr haben wollen. Schon der geringste Verdacht, irgendwo anders könnten ebenfalls Erzvorkommen entdeckt worden sein, bringt ihn auf.

Und dann kann nur der Alkohol Linderung bringen.

3.

Kaj stand am Köpmanholms-Kai bereit, als die M/F Ulvön anlegte. An seiner Seite stand Mette, in einen schreiend rosa Hosenanzug und eine geblümte Odd-Molly-Strickjacke gekleidet. Die hintere Beifahrertür ihres weißen Lexus’ stand bereits offen, als solle Astrid direkt auf den Rücksitz geladen und davongefahren werden.

Sofia saß auf dem Achterdeck, ihre Tochter auf dem Schoß. Bei dem Gedanken, sie Kaj und Mette für eine Kennenlernzeit zu übergeben – wie Mette es ausgedrückt hatte – zog sich ihr Magen zusammen. Nach der fürchterlichen Geburt, bei der sowohl Astrid als auch Sofia beinahe ums Leben gekommen waren, mochte sie das Kind nicht aus den Augen lassen. Der Einzige, dem sie ohne Weiteres erlaubte, sich um Astrid zu kümmern, war Tord. War sie mit ihrer Tochter allein, hatte sie die Kleine nur manchmal, wenn sie vor Müdigkeit völlig fertig gewesen war, in das Gitterbett gelegt. Doch es hatte immer damit geendet, dass sie ihre Tochter trotz aller Einwände der Hebamme wieder zu sich ins Bett geholt hatte.

Ihr tat alles weh bei dem Gedanken, sich von Astrid trennen zu müssen. Doch in Tränen auszubrechen und sich zu weigern, das Kind zu übergeben, war schließlich auch keine Lösung. Also, Schluss jetzt. Es ging doch nur um ein paar Tage. Am Montag nach der Arbeit würde sie Astrid wieder mit nach Hause nehmen, und Kaj und Mette würden in ihre Wohnung in Stockholm zurückkehren und erst am folgenden Donnerstag wiederkommen. Sie hatten abgesprochen, so anzufangen, und wenn Astrid etwas größer war, wochenweise zu wechseln. Kaj, der als Profiler arbeitete, war in den Teilruhestand gegangen, und Mette hatte für das kommende Jahr sämtliche Schauspielengagements abgelehnt. Sofia würde bis zum nächsten Jahr, wenn Astrid in die Krippe kam, in Teilzeit arbeiten.

Eine optimale Übereinkunft – auf dem Papier. Doch jetzt gerade fühlte sich der Plan einfach nur fürchterlich an. Wäre sie überhaupt auf die Idee gekommen, wieder zu arbeiten, wenn sie gewusst hätte, wie es sich anfühlen würde, Astrid wegzugeben? Beschämt musste sie einsehen, dass die Antwort Ja lautete. Polizistin zu sein, war für sie eine Berufung. Etwas, das sie brauchte, um als Mensch funktionieren zu können. Es gab ihr innere Ruhe und ein Gefühl von Kontrolle, das ihr die meiste Zeit ihrer Kindheit und Jugend gefehlt hatte.

Astrid bewegte sich in ihrem Arm. Sie drehte ihre Tochter zu sich und schaute in ihre dunklen Augen. Würde sie es verstehen und sich bei Kaj und Mette sicher und geborgen fühlen? Die beiden waren viele Male draußen auf der Insel gewesen, hatten Astrid jedoch nie über Nacht gehabt. Und wegen des Virus, der die Welt fest im Griff hatte, war es deutlich seltener gewesen und nicht wie ursprünglich geplant jedes zweite Wochenende. Wofür Sofia insgeheim dankbar war. Die erzwungene Einsamkeit, die Corona für viele bedeutet hatte, war für sie ein Segen gewesen. Niemand hatte erwartet, dass sie mit einem Neugeborenen im Land herumreisen würde, nur weil der Vater zufällig in einer anderen Stadt wohnte. Meist kamen Kaj und Mette zu ihr nach Ulvön und blieben den Tag über. Übernachten durften sie nicht, doch sie erlaubte ihnen, in der Dreizimmerwohnung an der Viktoriaesplanade zu wohnen, wenn sie in Örnsköldsvik waren. Das Arrangement hatte eine Reihe skeptischer Blicke zur Folge gehabt, doch sie kümmerte sich nicht darum, was andere dachten.

Anfangs war die Atmosphäre steif gewesen, und niemand hatte gewusst, wie sich verhalten. Doch bald hatte Mette das Kommando übernommen, Astrid verhätschelt und mit ihr gespielt, als sei sie eine Puppe. Und sie hatte immer Kleider dabei. Hässliche, rüschige rosa Kreationen, die sie Astrid unbedingt anziehen wollte, sobald sie zur Tür hereingekommen war. Da half es auch nichts zu sagen, dass das Kind frisch gewickelt und angezogen war. Sofia fragte sich, wie Astrid aussehen würde, wenn sie zurückkam.

Sie hängte sich die Wickeltasche um und gab Tord, der mit dem Kapitän sprach, ein Zeichen, dass sie an Land gehen würde. Sobald sie die Füße auf festen Boden setzte, war Kaj bei ihr und streckte seine Hände nach Astrid aus.

»Komm zu Papa, mein süßer, kleiner Spatz!«

Astrid sah ihn skeptisch an und kroch enger in Sofias Arme hinein.

»Vielleicht kannst du einen Moment warten«, begann Sofia, doch Kaj nahm Astrid und hob sie entschieden zu sich herüber.

»Kinder brauchen Klarheit und nicht so viel Gepimpel«, antwortete er und hob Astrid über seinen Kopf. »Oder, mein kleines Herzchen?«

Sofia stand wie versteinert und erwartete, dass ihre Tochter anfangen würde, laut zu brüllen, doch zu ihrem Erstaunen huschte der Kleinen ein Lächeln über das Gesicht. Kaj streichelte ihr über die dunklen Locken und nickte Sofia zu.

»Mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut gehen. Wir werden in die Stadt hinunterspazieren und ein Eis essen, dann schauen wir einen Zeichentrickfilm und haben es einfach nett miteinander.«

Sie wollte gleich sowohl gegen den Film als auch gegen das Eis protestieren, doch Mette kam ihr zuvor.

»Also Kaj, dir ist doch wohl klar, dass ein sechs Monate altes Baby nicht Eis essen und Fernsehen schauen soll?«

Doch Kaj hörte nicht zu. Er war schon ganz auf Astrid fixiert und ging, ohne zu antworten, zum Auto, um seine Tochter im Kindersitz festzuschnallen.

»Habt ihr milchfreien Brei gekauft?« Sofia eilte hinter Kaj her. »Manchmal verträgt sie den besser als den normalen. Wenn sie nicht schlafen kann, hilft es, ihr das Wolfslied von Ronja Räubertochter vorzusingen. Du weißt, das hier …« Sie begann, das Lied zu summen, aber Kaj war ganz damit beschäftigt, die Schnalle von Astrids Sicherheitsgurt zu schließen. Mette kam und legte ihr die Hand auf den Arm.

»Mach dir keine Sorgen, Sofia, es klappt schon alles. Ich verstehe, dass es für dich nicht einfach ist.«

Das tust du überhaupt nicht, du frigide, kinderlose Kuh, wollte Sofia ihr ins Gesicht schreien, doch stattdessen lächelte sie steif.

»Es ist nur, weil es das erste Mal ist, dass …«

Mette nahm sie in den Arm und hielt sie kräftig und lange fest, als wäre das etwas ganz Normales. Widerwillig umarmte Sofia sie zurück und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Sich vor Kaj und Mette hinzustellen und zu heulen, war das Letzte, was sie tun wollte.

Kaj war endlich fertig mit dem Anschnallgurt.

»Du rufst an, wenn etwas ist, ja?«, fragte sie.

Kaj drehte sich zu ihr.

»Glaubst du nicht, dass wir das schaffen?«

Doch, das glaubte sie. Kaj war ein vollkommen fähiger Mensch, und sie vertraute seinem Urteil blind, auch wenn die Vaterschaft ihn erstaunlich albern hatte werden lassen. Was Mette betraf, hatte sie nicht den geringsten Zweifel, dass sie es mit Astrid nur gut meinte. Astrid war wie eine eigene Tochter für sie, und Mette würde sie wenn nötig mit Leib und Leben verteidigen.

»Wir rufen jeden Abend an, damit ihr euch Gute Nacht sagen könnt«, sagte Mette und schaute Sofia mitleidig an. »Und du fängst doch am Montag sicher nicht vor neun Uhr an zu arbeiten, oder?«

Sofia nickte.

»Komm vorher vorbei, dann könnt ihr ein bisschen kuscheln. Wir sorgen für das Frühstück.«

In dieser Sekunde liebte sie Mette. Obwohl die Familienkonstellation mehr als unkonventionell war, hatte es zwischen ihr und der Ehefrau ihres Ex-Freundes nie irgendwelche Eifersucht gegeben. Kaj und Mette hatten die Übereinkunft einer offenen Ehe, und solange beide anständig damit umgingen, war es ihnen selbst überlassen, was sie nebenher noch veranstalteten. Mette war durch ihren Beruf als Schauspielerin im Lauf der Jahre vielen Männern und Frauen begegnet, ohne dass es ihre Beziehung beeinträchtigt hätte. Sofias Schwangerschaft jedoch hatte ihnen einen ziemlichen Schlag versetzt, obwohl Sofias und Kajs Verhältnis zu dem Zeitpunkt bereits vorbei gewesen war. Sofia hatte Kaj deutlich gemacht, dass sie überhaupt nichts von ihm erwartete, doch er hatte unverrückbar darauf bestanden, ein präsenter Vater zu sein – und so war es dann auch. Genau zur ersten Ultraschalluntersuchung hatten Mette und er durch intensive Paartherapie wieder zueinandergefunden, und Mette, die keine eigenen Kinder hatte, war mit ganzem Herzen in ihrer Rolle als Stiefmutter aufgegangen.

Sofia wandte sich um, als sie das metallische Kratzen der Laufplanke auf dem Kai hörte. Mit verkniffener Miene kam Tord auf sie zu. Er nickte Kaj zu, während er ein Snus-Päckchen zurechtdrückte und unter die Oberlippe schob. Kaj erwiderte das Kopfnicken in derselben höflichen, doch reservierten Art. Tord hatte Kaj nie gemocht, und das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Seit Astrids Geburt knirschte es noch deutlicher zwischen ihnen. Sofia wusste sehr wohl, weshalb. Tord war nicht dumm. Und auch wenn er nichts gesagt hatte, war ihr klar, dass er Bescheid wusste.

»Tord!« Andere hatten sich wegen der Ansteckungsgefahr angewöhnt, sich mit den Ellenbogen zu begrüßen, doch Mette umschlang den Alten stattdessen mit einer viel zu langen Umarmung. Unangenehm berührt schaute Tord über Mettes Schulter zu Sofia.

»Wie schön, dich wiederzusehen. Und ich muss dir wirklich danken für das, was du für Sofia und unsere kleine Astrid getan hast.«

Tord schob den Snus unter der Lippe wieder zurecht und nickte.

»Jo.« Der kurze norrländische Laut von zwischen den Zähnen eingesogener Luft musste als Antwort genügen.

Mette schien es nicht übel zu nehmen. Sie strahlte über das ganze Gesicht und hing noch immer an Tord, obwohl die Umarmung vorbei war. Unterschiedlicher als Mette Severin Marklund und Tord Grändberg konnten zwei Menschen nicht sein. Dennoch hatten sie eines gemeinsam: Sie scherten sich überhaupt nicht um irgendwelche Sitten und Gebräuche. Sie hatten ihre eigenen Schritte im sozialen Tanz kreiert, und diesen folgten sie, ob es den anderen gefiel oder nicht. Wie die Leute in ihrer Umgebung sie beurteilten, schien sie einen feuchten Kehricht zu kümmern.

Kaj schloss die Autotür und räusperte sich.

»Ja, wir sollten dann vielleicht mal los? Ihr fahrt wohl mit demselben Schiff zurück?« Er nickte mit dem Kopf zur Fähre hinüber.

Mette drückte noch einmal Tords Arm und fasste dann Sofias Hände.

»Es wird prima funktionieren. Mach dir keine Sorgen.«

4.

Gleich nachdem Sofia wieder in ihrem Haus in Norrbysbodarna auf Ulvön angekommen war, lief sie hinunter zum Anleger, um »das Pferd«, die Riva Ariston ihres Vaters, loszumachen. Schon jetzt vermisste sie Astrid so sehr, dass es in der Seele wehtat, und sie musste wieder aufs Meer hinaus, obwohl sie gerade von dort kamen. Das dunkel gebeizte italienische Motorboot war der Schatz ihres Vaters gewesen. Scherzhaft hatte er gesagt, es habe das Temperament eines jungen Füllens – bald sanft, bald widerspenstig, aber wenn es sich ins Zeug legte, schnell wie der Wind. Tord war unter dem Vorwand losgezogen, sich um die Zimmerpflanzen und die Post in seinem Zuhause zu kümmern, das er seit Astrids Geburt mehr oder weniger aufgegeben hatte. Sofia vermutete allerdings, dass er sich mit Margit traf. Diese Nacht würde die erste seit Langem sein, in der er nicht bei ihr im Haus übernachtete.

Sofia blinzelte in die starke Augustsonne hinein. Es war windstill, und die Luft schmeckte nach Salz. Nur das Motorengeräusch war zu hören, als das Boot die Wellen teilte. Vorhin, als sie mit der Fähre angekommen waren, hatten sich unten bei der Hafeneinfahrt von Ulvön die Boote gedrängt. Sonntag war der letzte Ferientag, und alle Sommerhausbesitzer würden Kühlschränke und Gefriertruhen leeren und einen letzten Abend auf der Insel genießen, bevor Schule und Arbeit wieder begannen. Den ganzen Küstenstreifen entlang würden auf den Bootsstegen Lichter entzündet werden. Das war eine schöne Tradition, die sie in den vergangenen Jahren kaum gepflegt hatte. Doch dieses Jahr hatte sie mehrere Packungen Fackeln gekauft und ein schönes Essen geplant. Tord würde Maränen räuchern, und sie hatte sein Lieblingseis besorgt.

Bei Marviksgrunnan, wohin Sofia unterwegs war, würde es trotzdem menschenleer sein. Die zwei Familien, die dort im frühen Sommer gewesen waren, kamen aus Südschweden und würden dieses Jahr nicht noch einmal den weiten Weg hinauf machen. Ulvön war klein genug, dass sich all diejenigen, die auf der nördlichen und südlichen Insel wohnten oder Ferien machten, kannten. Bei dem alten Fischerort Marviksgrunnan gab es insgesamt um die zehn Häuser. Es waren allesamt umgebaute Kochhäuser und Fischerhütten ohne ständige Bewohner.

Als sie sich Marviksgrunnan näherte, lag eine fast unheimliche Stille über dem Ort, was wohl an dem Gegensatz von sommerlichem Idyll und Menschenleere lag. Ein einzelnes, vergessenes Bettlaken hing wie eine verlassene Fahne zum Trocknen vor einem der rot gestrichenen Häuser.

Sofia schaute zur Fischerkapelle hinauf, dem schlichten, holzverkleideten Gebäude auf der Anhöhe oberhalb der engen Einfahrt zu der Reihe von Bootshäusern. Vor ungefähr zehn Jahren war die Kapelle renoviert worden, und jetzt leuchtete sie weiß mit einer senfgelben Tür. Sten hatte sich gewünscht, dass sein Trauergottesdienst dort stattfinden sollte. Als er noch ein Junge gewesen war, hatte es zu seinen Aufgaben gehört, sich um die Kapelle zu kümmern. Geduldig war er mit seinem einfachen Boot losgetuckert, um aufzuschließen, wenn Gottesdienste abgehalten wurden. Sorgfältig hatte er danach aufgeräumt und wieder abgeschlossen. Für seine Arbeit hatte er nicht viele Kronen bekommen, doch er hatte Sofia erzählt, dass er die Stille in der Kapelle immer geliebt hatte. Da sie sich nicht erinnern konnte, dass Sten jemals irgendein gesteigertes Interesse für das Spirituelle gezeigt hatte, nahm sie an, dass ihn eher die Natur bei Marviksgrunnan gereizt hatte. Das Göttliche in dem dunkelgrünen Wald und dem blauschwarzen Meer.

Claire hatte gegen Stens Wunsch protestiert und gefunden, der Trauergottesdienst solle in der alten Kapelle in Ulvöhamn abgehalten werden, doch er hatte sehr deutlich gemacht, wie er zu seiner letzten Ruhe geleitet werden wollte. Erst sollten die nächsten Angehörigen den Gottesdienst in Marviksgrunnan feiern, dann sollten sie mit Booten zum Steg unterhalb ihres Hauses in Norrbysbodarna fahren, um dort Surströmming und Schnaps zu sich zu nehmen. Bei der Zeremonie in der Kapelle sollten die Beatles und Bach gespielt werden, und später sollte dann die Asche zwischen der Insel Ronö und der Nordseite von Ulvön ins Meer gestreut werden. Und so war es dann auch geschehen – ohne den Surströmming. Zum Zeitpunkt von Stens Tod war alles vereist und an ein Fest am Steg nicht zu denken gewesen. Im darauffolgenden Sommer hatten Sofia und Tord seine Asche ins Wasser gestreut und danach mit O. P. Andersson-Aquavit angestoßen, während sie Surströmming mit Kartoffeln, Zwiebeln und saurer Sahne auf Knäckebrot bei Sonnenuntergang genossen. Das gehörte zu Sofias schönsten Erinnerungen. Claire war nicht dabei gewesen.

Sofia fuhr langsamer und steuerte auf die alten Kochhäuser unterhalb der Kapelle zu. Sie betrachtete das Kreuz auf dem Dachfirst, bis ihr plötzlich etwas auffiel. Unterhalb der Kapelle standen zwei Personen. Die eine hielt etwas auf ausgestreckten Händen vor sich hin. Irgendetwas war seltsam an ihnen. Als sie ihr Boot herankommen sahen, drehten sie um und liefen schnell in die andere Richtung. Sofia nahm Fahrt auf und fuhr um die Klippen herum, um anzulegen. An einem Metallhaken, der in einem flachen Felsen steckte, war ein modernes Motorboot festgemacht. Als die Personen, zwei Teenager, merkten, dass sie nicht vor ihr ins Boot gelangen würden, hob einer von ihnen die Hand und winkte etwas unbeholfen. Sofia legte an und sprang aus dem Boot. Die beiden kamen ihr über den treppenartigen Felsabsatz entgegen. Sofia fiel auf, dass sie Wathosen trugen. Einer der beiden hatte eine Sonnenbrille in die Haare gesteckt, der andere trug eine umgedrehte Kappe vor sich her, in der etwas lag. Sie konnten nicht älter sein als fünfzehn, sechzehn Jahre. Den Jungen mit der Sonnenbrille erkannte sie, seine Familie hatte ein Ferienhaus in Fjären.

»Hi, Jungs, was macht ihr hier?«

Der Junge mit der Kappe kam noch ein paar Schritte näher. Er war bleich im Gesicht.

»Wir wollten einen Cache verstecken, also, wir machen Geocaching.« Er sprach schnell, ohne ihrem Blick zu begegnen. »Also, eigentlich darf man natürlich nicht in die Grube hineingehen, aber wir dachten, also, es war ja niemand da …«

»Wart ihr in der Grube?«, unterbrach Sofia ihn.

Das erklärte die Wathosen. Die stillgelegte Erzgrube stand, seit sie sich erinnern konnte, voller Wasser. Sten hatte erzählt, dass die Bewohner der Ferienhäuser im Fischerort die Grube früher als Kühlraum benutzt hatten, aber sie wusste nicht, ob das stimmte. Heutzutage leitete man durch einen dicken Schlauch Frischwasser von dort zu den Ferienhütten.

»Ja, aber wir wollten keine Dummheiten machen«, sagte der Junge mit der Kappe, noch immer, ohne sie anzusehen. Sofia ging ein paar Schritte näher. Als er endlich ihrem Blick begegnete, waren seine Pupillen groß und die Augen rot. Sein Verhalten weckte die Polizistin in ihr. Hatten die beiden Drogen genommen?

»Was hast du in der Kappe?«

Widerwillig hielt er sie ihr entgegen, den schwarzen, breiten Schirm mit Daumen und Zeigefinger haltend, intensiv darauf bedacht, selbst nicht hineinzusehen.

Sofia wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund hatte sie angenommen, ein Vogeljunges würde darin liegen. Vielleicht weil sie als Kind selbst manchmal aus dem Nest verstoßene Vogeljunge aufgenommen hatte. Und selbst jetzt, als Erwachsene, hielt sie auf ihren Lauftouren an, wenn sie ein verletztes Tier entdeckte, wickelte es in einen Pullover oder eine Mütze und trug es nach Hause.

Doch auf dem Boden der schmutzigen, schwarz-weißen Kappe lag kein Vogeljunges.

Stattdessen lag dort etwas, das aussah wie eine abgehackte Hand.

5.

»Konntest du nicht wenigstens bis zu deinem ersten Arbeitstag warten, bevor du eine Ermittlung lostrittst?« Kriminalhauptkommissarin Vera Nordlund gluckste am anderen Ende der Leitung.

»Glaub mir, ich hätte mich sehr über ein ruhiges Wochenende gefreut.«

Das war nicht die ganze Wahrheit. Dieser unerwartete Schnellstart entzündete in Sofia etwas, doch das wollte sie Vera nicht verraten. Es kam ihr fast unanständig vor, sich so darüber zu freuen, wieder zu arbeiten.

Sofia hatte den Inhalt der Kappe fotografiert und die Bilder an Vera geschickt. Die Vernehmung der beiden Jugendlichen war kurz ausgefallen, doch soweit sie verstanden hatte, war ihr Plan gewesen, in der Grube eine Plastikdose mit einer Art Logbuch zu verstecken, als Teil der Schatzsuche beim Geocaching. Sofia wusste nicht so viel über dieses Spiel, hatte aber mitbekommen, dass es darum ging, mithilfe von GPS-Koordinaten verschiedene Dinge zu finden und zu loggen. Die Jungs waren an der Absperrung beim Grubeneingang vorbeigegangen und dann durch das knapp ein Meter tiefe Wasser an der linken Wand der Grube entlang gewatet, um zu der Höhle weiter innen zu kommen. Dort hatten sie angefangen, zwischen einigen heruntergefallenen Steinen nach einem guten Versteck zu graben und dabei die Reste einer menschlichen Hand gefunden.

»Wie auch immer«, fuhr Vera am Telefon fort. »Johan ist in einer Stunde bei dir draußen und beginnt mit der kriminaltechnischen Untersuchung. Rolf und Rodde sind ebenfalls unterwegs, nehmen aber ihr eigenes Boot.«

Die Hundestreife hatte den Ruf, ein fantastisches Team zu sein. Sofia hatte noch nicht mit ihnen gearbeitet, jedoch viel von ihnen gehört. Sie waren nicht allein deswegen berühmt, weil der Spürhund eine ausgesprochene Hilfe war, wenn nach Leichenflüssigkeit oder Blut gesucht wurde, sondern auch, weil der Hundeführer so etwas wie ein Star war. Er war Schauspieler gewesen und hatte nach einer langen Reihe von schwedischen und internationalen Filmerfolgen zum Polizisten umgesattelt.

»Hast du irgendeine Möglichkeit, behelfsmäßig abzusperren?«, fragte Vera.

Sofia ließ den Blick über den menschenleeren Fischerort schweifen. Das Boot der beiden Jungen lag noch neben ihrem an den Klippen, doch niemand war zu sehen. Seitdem sie an Land gekommen war, hatte es sich bewölkt, und die schöne Spätsommerwärme war von kaltem Meereswind abgelöst worden. Am Nachmittag würde es ein Unwetter geben, das war schon jetzt zu spüren. Vielleicht ein letztes Sommergewitter, bevor die Herbstkälte kam.

»Das ist nicht nötig, ein Ansturm von neugierigen Gaffern ist ziemlich unwahrscheinlich. Ich bleibe hier, bis Johan kommt, und werde dann noch einmal mit unseren Zeugen, Hugo und Melker, sprechen, danach wollte ich sie ziehen lassen. Die beiden Jungs scheinen mit dem Fund nichts zu tun zu haben, auch wenn es natürlich ein Fehler war, dass sie die Hand nicht liegen gelassen und die Polizei gerufen haben. Ich werde mit den Eltern darüber reden.«

Noch während Sofia sprach, ging sie zur Kapelle hinauf.

Vera brummte zustimmend.

»Dennoch verdammt seltsam. Was haben sie da drinnen gemacht?«

»Geocaching.«

»Und was ist das für eine beknackte Erfindung?«

Veras Ausdrucksweise war während Sofias Abwesenheit offensichtlich nicht milder geworden. Dahingegen hatte Sofia, als sie einmal mit Astrid zusammen die Wache besucht hatte, eine neue Fröhlichkeit bei ihrer Chefin wahrgenommen. Vor der Scheidung war Vera schroff und im Umgang vollkommen unmöglich gewesen. Jetzt erschien sie ruhiger, bedächtiger, auch wenn die Sprache noch immer farbkräftig war. Wie es mit Kicki Bjurvall lief, der Frau, der Vera nach ihrer Scheidung begegnet war, wagte Sofia nicht zu fragen. Im letzten Winter war die Rede davon gewesen, dass Kicki, im schlimmsten Fall dauerhaft, Sofias Platz im Ermittlerteam übernehmen würde, doch dann war sie stattdessen aushilfsweise durch einen Kollegen aus der Region Bergslagen vertreten worden. Er würde schon am Montag seinen Dienst beenden.

»Geocaching ist ein Spiel, bei dem man Hinweise und kleine Schätze versteckt, die andere mithilfe von Koordinaten suchen, so in der Art. Kannst du googeln.«

Vera schnaubte am anderen Ende der Leitung. »Wie geht es den Jungs denn jetzt?«, fragte sie mit einer Mischung aus Ärger und Besorgnis.

Sofia schob die Tür zur Kapelle auf. Sie hatte den beiden durchgefrorenen und leicht unter Schock stehenden Jugendlichen eine rot karierte Decke geliehen, die sie unter einer der Bänke im Boot gehabt hatte, und jetzt saßen sie darin eingewickelt dicht nebeneinander in der Kapelle.

»Sie haben einen Schreck bekommen, sind aber okay. Ich nehme die Kontaktdaten der Eltern auf und rufe sie an, dann können sie die beiden abholen. Eine der Familien hat ein Ferienhaus in Fjären, diesen Jungen kann ich im schlimmsten Fall auch selbst nach Hause fahren«, sagte sie zu Vera und zeigte an die Jungs gewendet zum Telefon. Die beiden nickten, und Sofia ging wieder nach draußen, ließ die Tür zur Kapelle jedoch offen stehen.

Die Kappe mit der abgetrennten Hand lag noch wie eine seltsame Opfergabe vor der Öffnung zum Kirchenraum. Ringfinger und kleiner Finger fehlten, doch die übrige Hand hielt durch die getrockneten Weichteile zusammen. Einige Knochenstücke hatten sich gelöst und lagen verstreut am Boden der Kappe wie schmale weiße Hölzchen. Das Handgelenk war intakt, und es war deutlich zu sehen, wo die Hand direkt am Übergang zum Arm vom restlichen Körper abgetrennt worden war.

»Und du übernimmst dann die Ermittlung, oder?«, fragte Vera jetzt.

Obwohl Sofia ihren Dienst offiziell noch nicht wieder angetreten hatte, war das keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Ich habe genug mit dieser Vergewaltigung in Svartby zu tun, Per ist noch im Urlaub, und Karim hat einen Fall von Körperverletzung, bei der eine höllische Menge von Zeugen zu vernehmen ist. Marie ist im Übrigen krankgeschrieben«, fügte Vera hinzu.

»Was hat sie denn?«

»Sie ist während des Urlaubs in der Plicht des Segelbootes gestürzt. Ein Bein ist gebrochen, und sie ist von der Leiste bis unten eingegipst.« Sofia konnte aus Veras Stimme eine gewisse Schadenfreude heraushören. Dass Maria Fransson und sie nicht besonders gut miteinander auskamen, war weithin bekannt. Vera war nicht begeistert davon, auf den zweiten Platz verwiesen zu werden, wenn die kleine und zutiefst gläubige Ermittlungsleiterin aus der Abteilung »Gewaltverbrechen« aus Sundsvall angefahren kam. Doch offenbar würden sie dieses Mal ohne sie auskommen müssen.

»Wie lange ist sie krankgeschrieben?«

»Mindestens sechs Wochen. Hast du den Dienstlaptop zu Hause?«

Sofia versuchte sich zu erinnern, wo er sein könnte, doch vor ihrem inneren Auge erschienen nur Wäscheberge aus Kinderkleidern auf dem Sofa, Breiflaschen in der Spüle und Chaos auf dem Küchentisch. Hatte sie überhaupt daran gedacht, den Computer mit nach Hause zu nehmen? Himmel, war sie wirklich so langsam im Kopf? Als wäre ihr Gehirn halbiert worden, seit sie in Elternzeit war.

»Ja, doch, irgendwo habe ich den Laptop.«

»Gut, schreib eine Meldung. Morgen Vormittag will ich eine Aktennotiz haben. Ich habe Eva gebeten, die Vermisstenanzeigen in der Region durchzuschauen. Je nachdem, was Rolf und Rodde finden, kommt vielleicht auch Fridell.«

»Für eine Hand?«

»Du weißt doch, wie sie ist«, antwortete Vera.

Gerichtsmedizinerin Caroline Fridell war erst kürzlich wieder an ihren Arbeitsplatz in der Gerichtsmedizin in Umeå zurückgekehrt, nachdem sie Mutter von Drillingen geworden war. Sofia war ihr früher schon ein paarmal begegnet. Im Unterschied zu ihr war Caroline sehr offen, was ihr Privatleben anging. Der halbe Landkreis wusste, dass die Drillinge durch künstliche Befruchtung zustande gekommen waren, nachdem sie und ihr Mann viele Jahre lang gegen ungewollte Kinderlosigkeit gekämpft hatten.

Sie beendeten das Gespräch, und Sofia ging wieder zu Hugo und Melker hinein, die beide noch mit gesenkten Blicken dasaßen.

Sie nahm die Kappe mit den Überresten und nickte in Richtung Grube.

»Mir ist klar, dass das hier ziemlich hart ist, aber meint ihr, dass einer von euch in der Lage wäre, uns zu zeigen, wo ihr die Hand gefunden habt?«

6.

Als Johan ankam, grollte bereits erster Donner. Kleine Regentropfen fielen, und ein milchig-weißer Nebel hatte sich über das Meer gelegt. Die Küstenwache, die der Polizei manchmal mit Fahrten zwischen den Inseln behilflich war, ließ Johan bei laufendem Motor an Land gehen und legte dann wieder ab. Normalerweise hatte Johan seine ältere Kollegin Yvonne dabei, doch sie war seit einer Woche mit Corona zu Hause. Sofia hatte versprochen, ihn zurück aufs Festland zu bringen, wenn sie irgendwann fertig waren. Je nachdem, was sie fanden, würde er sonst auch bleiben und in einem Hotel auf der Nordinsel übernachten.

Sofia ging zu den Felsen hinunter, um Johan zu helfen, die schweren Taschen mit der Ausrüstung zu tragen, doch er hielt die Hand hoch, um anzuzeigen, dass es nicht nötig sei. Er war wie immer sonnengebräunt und sah aus, als habe er, seit sie sich das letzte Mal begegnet waren, ordentlich trainiert. Die große und schlanke Surfer-Figur war durch einen beinahe lächerlich breiten Nacken auf ebenso breiten Schultern ersetzt worden. Das weiße Muschelarmband war verschwunden, aber den blonden Man-Bun im Nacken gab es noch. Er stellte die Taschen ab, umarmte sie fest und ließ den einen Arm um ihre Schultern liegen. Um so etwas wie Abstandsregeln kümmerte er sich offenbar nicht.

»Wahnsinn, cool, dich wiederzusehen, Sofia! Wie geht es dir? Du siehst superfit aus. Wo hast du denn die kleine Astrid gelassen, wenn du jetzt wieder arbeitest? Wie alt ist sie jetzt?« Die Fragen sprudelten nur so aus ihm hervor, während er die schweren Taschen hochhob, als wären sie aus Styropor. Er stiefelte los, den regennassen Weg hinauf zum Grubeneingang. Sofia musste auf dem rutschigen Wurzelholz beinahe rennen, um mit ihm Schritt zu halten.

»Ja, doch, danke, mir geht es gut. Und Astrid auch. Sie ist jetzt sechs Monate alt. Alles ist wunderbar.«

Johan drehte sich um und warf ihr über die Schulter einen amüsierten Blick zu.

»Es ist also gut, ja?«

Johan verwirrte sie immer ein wenig. Sein direktes Auftreten und die Selbstverständlichkeit, mit der er seinen Platz einnahm, war ihr vollkommen wesensfremd. Als habe er von vorneherein beschlossen, dass sie Freunde sein würden, auch wenn ihr nicht klar war, wie er darauf kam. Eigentlich wusste Sofia nicht viel über ihn, außer dass er viel reiste, surfte und sich eine Wohnung in einem der neu gebauten Mehrparteienhäuser unten am Hafen in Örnsköldsvik gekauft hatte. Offenbar wohnte er im selben Haus wie irgendein Spieler der örtlichen Eishockey-Mannschaft, dessen Namen sie vergessen hatte. Dass Johan sein Aussehen wichtig war, ließ sich auf den ersten Blick erraten, doch welchen Hintergrund er hatte, ob es Frau und Kinder gab, wusste sie nicht. Sie hatten gerade mal einen Monat zusammengearbeitet, bevor Astrid geboren wurde, doch er verhielt sich, als würden sie sich seit Jahren kennen.

Sie liefen an den Überresten einer ehemals zur Grube gehörigen Schmiede vorbei und trafen auf Melker, der unruhig vor dem Grubeneingang hin- und herlief und trotz der karierten Decke, die er noch um die Schultern trug, zu frieren schien. Während Sofia auf Johan gewartet hatte, waren Hugos Eltern schon gekommen, um ihren Sohn abzuholen, samt dem Motorboot, das die Jungen unerlaubterweise geliehen hatten. Sie hätte gerne noch mehr mit Hugo gesprochen, doch der Vater hatte das Gespräch schnell beendet. Er war sichtlich aufgebracht darüber gewesen, dass sich sein Sohn, statt sich auf ein – wie es klang – lebensentscheidendes Fußballspiel vorzubereiten, aufs Meer hinausbegeben hatte. Dass mit größter Wahrscheinlichkeit ein Mensch in der Grube sein Leben verloren hatte, schien ihn nicht zu kümmern.

Melkers Eltern hingegen waren offen entsetzt über das Vorgefallene, konnten jedoch trotzdem nicht kommen, um ihren Sohn abzuholen. Beide saßen in Besprechungen fest.

Ein Motorboot war zu hören, und Melker schaute hinunter zu dem breiten Aluminiumboot, das in langsamem Zickzack-Kurs in die Bucht einfuhr. Ein schwarzer Schäferhund lag auf dem Vorschiff und sah aus, als würde er bereits über die Wasseroberfläche Witterung aufnehmen. Der Hundeführer legte direkt neben Sofias Boot an und zog seinem Hund und sich selbst die Schwimmweste aus. Sobald er dem Hund Erlaubnis gegeben hatte, an Land zu gehen, lief dieser los, ihnen entgegen.

Johan stellte die Taschen wieder ab und umarmte sowohl Hund als auch Hundeführer mit derselben Begeisterung wie eben noch Sofia. Als seien sie alle zu einem geselligen Picknick gekommen und nicht, um nach weiteren Körperteilen in einem wassergefüllten Grubenloch zu suchen.

»Auf dem Weg hierher hat er nicht markiert«, sagte der Hundeführer und wies mit der Hand über die Bucht. »Weißt du genauer, wie tief es dort draußen ist, Sofia?«

»Zwischen vierzig und hundert Meter.«

Melker stellte sich zwischen sie und betrachtete den Hund, der über Johans Zärtlichkeitsbeweise in Ekstase geraten war.

»Darf ich ihn auch streicheln?«

Sofia legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter.

»Das ist Melker Wikman. Er und sein Freund haben die … Überreste gefunden.« Dann wies sie auf Hund und Hundeführer.

»Und das hier sind Rolf und Rodde. Sie werden mit dir und Johan in die Grube hineingehen, damit du genau zeigen kannst, wo ihr sie gefunden habt.«

Der Junge nickte. Angesichts des Hundes, der sofort begann, seine Hand zu lecken, schien er sich ein bisschen zu entspannen.

»Hallo, Rodde. Was bist du für ein feiner Kerl!«

Sofia grinste breit und begegnete dem Blick des Hundeführers.

»Rodde, das bin ich«, sagte er und streckte Melker, der peinlich berührt aufsah, die Hand entgegen.

»Ach so, ich dachte der Hund würde …« Die Wangen waren rot, und er traute sich nicht, dem Blick des Hundeführers zu begegnen.

Rodde lachte.

»Alles gut. Du bist nicht der Einzige, der findet, dass Rolf ein seltsamer Name für einen Hund ist.«

Melker lächelte vorsichtig und nahm seine Hand.

»Rodrigo Galvez heiße ich, aber alle nennen mich Rodde.« Er nickte zum Eingang der Grube hinüber.

»Führst du mich und zeigst mir, wo ihr die Hand gefunden habt?«

7.

Idas Eltern waren gerade erst angekommen, doch Fredrik war schon erschöpft. Björn Niemi saß zurückgelehnt auf dem Sofa, die Füße auf einem Umzugskarton, und gab einen nie versiegenden Strom von Fragen, ungebetenen Ratschlägen und Lebensweisheiten von sich. Auf seiner breiten Brust hatte er eine von Idas gehäkelten rosa Decken, und darauf thronte der fünfzehn Wochen alte Chihuahua mit Namen Bear. Während Björn redete, kraulte er das braune Fell. Der gesamte Hund passte in seine riesige Pranke. Fredrik verstand nicht, was die Niemis dazu gebracht hatte, sich so einen kleinen Hund anzuschaffen. Zu Idas Vater, dem man ansah, dass er in der Vergangenheit einmal geboxt hatte, würde ein großer Rottweiler oder ein Schäferhund sehr viel besser passen.

»Na, Fredrik. Wie fühlt man sich denn so vor Schulbeginn?« Der breite Dialekt klang Respekt einflößend und führte dazu, dass Fredrik sich klein fühlte.

»Ein bisschen nervös, muss ich zugeben.«

Lotta lächelte ihm zu, streckte die Hand aus und legte sie ihm aufs Knie.

»Du wirst das großartig machen, Fredrik. Wir sind sehr stolz auf dich, da kannst du sicher sein.«

Björn nickte zustimmend, sah jedoch nicht genauso begeistert aus. Ida hatte erzählt, dass ihr Vater gegenüber dem Staat und der Macht, die dieser über seine Mitbürger ausübte, nicht vollkommen positiv eingestellt war. Soweit Fredrik verstanden hatte, hing das mit den samischen Wurzeln der Familie zusammen.

»Dennoch seltsam. Im Fernstudium Polizist zu werden.« Björn lachte auf, und der kleine Hund auf seinem Brustkorb zuckte zusammen. »Schicken sie dir dann eine Pistole mit der Post nach Hause, und du musst in der Stadt herumrennen und Schießübungen machen?«