Schatten über Yarivenna - Christiane Gref - E-Book

Schatten über Yarivenna E-Book

Christiane Gref

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Beschreibung

Bislang herrschte das Gleichgewicht auf der Welt Yarivenna. Doch damit ist es nun vorbei. 

Anku, ein 15-jähriger Junge aus reichem Elternhaus, kommt beinahe bei einem Anschlag auf die städtische Magierakademie ums Leben. Doch damit nicht genug. Er wird verdächtigt, maßgeblich daran beteiligt gewesen zu sein. Sogar Ankus Vater, der Heerführer der Stadt, glaubt an seine Schuld und will ihn zur Rechenschaft ziehen. Für Anku bricht nicht nur eine Welt zusammen, er muss auch um sein Leben fürchten. Mit der Hilfe des Diebes Verron flieht Anku aus der Stadt. Unterwegs erfahren die beiden, dass der Anschlag nur einer von zahlreichen Angriffen des bösartigen Magiers Escaldion war. Im Namen der dunklen Göttin Venna plant Escaldion, die Welt in Finsternis zu stürzen. Anku und Verron geraten in einen immer rasanteren Sog aus Intrigen und Kämpfen. Bald schon wissen sie nicht mehr, wer Freund und wer Feind ist.

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Christiane Gref

Schatten über Yarivenna

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Vorspann

Christiane Gref – Schatten über Yarivennat

1. eBook-Auflage – Dezember 2015

© Betts & Atterbery im vss-verlag, Frankfurt

[email protected]

Titelbild: © Denis Zaporozhtsev - Fotolia.com

Lektorat: Oliver Schmidt

 

 

 

 

 

 

Christiane Gref

 

Schatten über Yarivenna

Prolog

 

Das Stimmengemurmel aus den Studierstuben hörte sich wie das Summen eines Bienenstocks an. Hin und wieder war ein Lachen darunter, manchmal ein laut geäußerter Tadel. Weder die Studenten noch die Mentoren ahnten, was sich auf dem Gang vor den Räumen zusammenbraute. Ein winziges blaues Flämmchen leckte über die blank polierten Holzdielen der Magierakademie. Es wurde größer und wechselte seine Farbe in ein sattes Orange. Fauchend sog es alle Luft aus dem Gang, als besäße es Lungen. Aus dem Flämmchen wurde eine Flamme, daraus wiederum ein Feuer, und ehe sein Einatmen jemanden alarmieren konnte, war es zu einer riesigen lodernden Walze angewachsen, die sich in Bewegung setzte, um das Vernichtungswerk zu beginnen.

 

 

 

Kapitel 1

 

Anku saß an seinem Pult und schaute sehnsüchtig nach draußen. Das Wetter war viel zu schön, um seine Zeit in der Akademie zu vertrödeln. Aber er hatte es nicht anders gewollt und seine Eltern bezahlten viel Gold für das Studium. Mit dem Fuß angelte er nach dem Pergament mit dem Runenalphabet, das von seinem Pult gesegelt war, und zog es zu sich heran. Er bückte sich tief unter seine Schreibplatte und versuchte, es zwischen seine Finger zu bekommen. In diesem Moment wurde die Tür aus den Angeln gerissen, die Fenster zerbarsten mit einem hässlichen Knall. Eine Feuerwalze raste durch den Raum. Sie verschwand so schnell wieder, wie sie gekommen war.

Benommen krabbelte Anku unter dem hervor, was einst sein Schreibpult gewesen war und sah sich um. Die glühende Asche ringsum besaß die Konturen seiner Klassenkameraden. Der Mentor stand noch einen halben Herzschlag lang da, die Hand erhoben, um einem Schüler das Wort zu erteilen, dann zerfiel er zu Staub. Anku schrie auf und rannte hinaus auf den Gang. Glut knisterte unter seinen Schuhsohlen. In der gegenüberliegenden Stube, deren Tür ebenfalls fehlte, fand Anku weitere eingeäscherte Körper.

„Bei den Göttern, wie ist das möglich?“, flüsterte er immer wieder fassungslos.

Er schaute in jedem Zimmer nach, fand jedoch keine Überlebenden, nur klebrige Asche. Wie konnte es sein, dass er als Einziger verschont geblieben war? Tränenblind stolperte Anku aus der Akademie. Er ging rückwärts, den Blick unverwandt auf das Gebäude gerichtet. Er hatte Angst, dass die Feuerwalze hinter einem der versengten Fensterlöcher lauerte, um ihn als letztes Opfer einzufordern. Ein Bollwerk war die Akademie gewesen, das binnen weniger Herzschläge zu einem Massengrab geworden war. Die Außenfassade lag in Trümmern und bot einen noch erbärmlicheren Anblick als das Innere. Anku bemerkte, dass er noch immer das Runenalphabet in der Hand hielt. Er zerknüllte es und warf es in den Kanal.

Der Kanal war die größte und meist befahrene Wasserstraße Larins. Neben dem Plätschern des Wassers meinte Anku noch einen anderen Laut zu hören. Es klang wie ein Stöhnen. Anku folgte dem Geräusch. Magister Uron, einer seiner Mentoren, lag blutend unter einem Mauerstück. Erst als er abermals aufstöhnte, reagierte Anku. Er umfasste das Trümmerstück und versuchte es anzuheben. Ohne Erfolg. Dann tat er das Nächstliegende. Er schrie um Hilfe.

„Pscht“, machte Uron.

Anku runzelte die Stirn.

„Nicht. Es war … gewollt, das mit dem Feuer. Nimm das und bring dich in Sicherheit.“

Anku fühlte, wie etwas Ledernes in seine Hand gelegt wurde. Ungläubig starrte er auf den abgegriffenen Beutel, dann wieder auf Uron.

„Geh.“

„Aber, ich kann Euch nicht hier liegen lassen, Magister. Ihr werdet sterben.“

„Ich fürchte den Tod nicht. Ich fürchte mich vor dem Weiterleben.“

Der Meister schloss die Augen. Ein Rinnsal aus Blut lief zwischen seinen aufgerissenen Lippen hervor und versickerte in seinem Bart.

Anku stand auf und verharrte unschlüssig neben seinem Mentor. Zwischen den Trümmern bewegten sich Menschen. Sie benahmen sich angesichts der jüngst stattgefundenen Tragödie seltsam ruhig und stocherten mit langen Metallstäben in den Mauerresten. Anku sah, dass sie allesamt schwarze Rüstungen trugen. Es handelte sich definitiv nicht um Soldaten der Garde Larins. Anku fröstelte.

„He da“, sprach ihn einer der Männer an.

Anku ließ Urons Beutel in seiner Tasche verschwinden.

„Wer bist du?“

Zaghaft ging Anku einen Schritt zurück, blieb mit zitternden Knien stehen, denn hinter ihm befand sich bereits der Kanal. Der Mann kniff die Augen zusammen, setzte ihm nach und hob die Metallstange.

„Was wollt Ihr von mir?“, fragte Anku leise.

„Ich will immer noch wissen, wer du bist, Junge.“

Er stutzte, als er den eingeklemmten Magister erblickte. Sein Blick huschte zwischen Uron und Anku hin und her. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem schmalen Lächeln. Er zielte mit der Spitze seines Metallspießes nach Ankus Brust und holte aus. Anku warf sich zurück und landete im Wasser. Eiskalt brachen die Fluten über ihm zusammen. Die starke Strömung erfasste ihn und zog ihn fast augenblicklich zur Mitte des Kanals. Prustend tauchte Anku auf. Mehr paddelnd als schwimmend, gelangte er auf die andere Seite. Die Angst verlieh ihm ungeahnte Kraft. Er überwand die Kanalmauer und plumpste zu Boden. Sein Herz raste und Sterne tanzten vor seinen Augen. Als er wieder Luft bekam, spähte er zur anderen Seite hinüber. Dort sah er den Mann mit dem Metallspieß, der sich mit einem anderen Kerl unterhielt. Beide starrten ihn hasserfüllt an. Anku rannte fort, so schnell es seine durchnässte Kleidung zuließ. Er schlug den Weg nach Hause ein.

 

Die Hälfte der Strecke lag hinter ihm. Schluchzer schüttelten seinen Körper. Anku taumelte. Das Feuer, das rätselhafte Gespräch und schließlich die Flucht vor den unheimlichen Männern hatten seine Kraft aufgefressen. Das Feuer hatte niemanden verschonen sollen, so viel stand fest. Trotzig wischte Anku die Tränen mit dem Handrücken von seinen Wangen. Er dachte an Uron und den ledernen Beutel. Hinter einigen großen Fässern wähnte er sich geschützt.

Der Beutel war völlig durchweicht. Tabak befand sich darin. Anku zerrieb die krümelige Masse und barg einen kleinen Gegenstand. Es war eine Schreibfeder, alt und abgenutzt. Wie es schien bestand sie aus purem Gold. Der passende Griffel indes fehlte. Was sollte er mit dem Ding anstellen? Möglicherweise war sie ein Familienerbstück des Magisters. Seufzend packte er die Feder wieder in den Beutel zurück und entschied, nach Hause zu gehen, um seine Eltern über den Brand in der Akademie zu informieren.

 

Als Anku auf den neu gebauten Steg einbog, der zu seinem Haus führte, sah er vier Männer vor der Tür stehen. Sie trugen schwarze Rüstungen. Einer von ihnen klopfte lautstark und verlangte Einlass. Es waren genau die Männer, die in den Trümmern der Akademie umhergegangen waren. Schnell kauerte sich Anku hinter eine dicke Seilrolle und spähte zu den Kerlen. Ankus Mutter öffnete. Ohne zu zögern drängten die Männer sie ins Haus zurück und schlossen die Tür. Anku wagte sich aus der Deckung.

Ein Sims, einen Fuß breit, säumte das Haus. Auf diesem balancierte er entlang, bis er die rückwärtige Seite des Hauses erreicht hatte. Er zog sich am Fensterbrett hoch und erhaschte einen Blick in die Wohnstube. Seine Mutter kämpfte um ihre Selbstbeherrschung, Anku konnte die Zeichen nur zu gut deuten. Seine Mutter hielt sich gerade, aber die Hände krallte sie in den Stoff ihres Kleides, ihr Gesicht war weißer als der Bauch eines Fisches. Behutsam setzte Anku seine Füße zurück auf das Sims und war froh, dass das Fenster offen war, denn so konnte er jedes Wort hören, das im Haus gesprochen wurde.

„Rede, Weib. Wo ist dein Sohn?“

„Ich weiß es nicht. Ich schätze, in der Akademie.“

„Von dort kommen wir. Es gab einen Unfall. Außer deinem Sohn hat niemand das Unglück überlebt. Wir führten einige sehr aufschlussreiche Gespräche mit Bürgern dieser schönen Stadt. Dein Sohn hat sich verdächtig gemacht. Als er von uns angesprochen wurde, floh er. Außerdem hat er etwas gestohlen. Man hat ihn gesehen, wie er einen Gegenstand in seiner Tasche verschwinden ließ. Ob es sich dabei vielleicht um ein magisches Artefakt gehandelt hat? Du weißt, was in Yarivenna auf den Diebstahl solcher Dinge für eine Strafe steht, Weib?“

Anku ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten.

„Ein Unglück“, sagte seine Mutter kaum hörbar. „Geht es meinem Jungen gut? Ist er verletzt?“

„Als er gesehen wurde, ging es ihm hervorragend. Wir werden hier auf seine Rückkehr warten.“

Dann war es für einen Moment so still in der Kammer, dass sich das Plätschern des Kanals wie das Donnern der Meeresbrandung ausnahm. Als wäre nichts geschehen, rief seine Mutter nach der Küchenmagd und gab ihr Anweisungen, Essen für vier Personen mehr vorzubereiten. Anku hielt seine Mutter für eine großartige Schauspielerin. Gleich wie es um ihr Gemüt bestellt war, verlor sie nie die Fassung. Sie weinte immer erst später, wenn alles vorbei war.

Anku schlich zum Steg zurück. Keinen Herzschlag zu früh bog er um die Ecke des nächsten Gebäudes. Er sah, wie zwei der Männer an der Haustür Stellung bezogen. Anku war gezwungen, erneut zu fliehen. Mit dem Unterschied, dass er dieses Mal kein Ziel hatte.

 

 

Fünf Meilen vor der Stadtgrenze Larins inspizierte Escaldion sein Zelt. Er war zufrieden. Das Bett war weich und mit seidenen Kissen ausgestattet. Der dicke Mann gönnte sich einen Moment der Träumerei. Welche Weibsbilder seine Männer wohl aus der Stadt mitbringen würden? Es hieß, in Larin lebten die schönsten Frauen Yarivennas. Seine feisten Lippen schlossen sich zu einem genießerischen Schmatzen.

 

 

Anku lief unterdessen über den Markt, der im Zentrum der Stadt lag. Die Menschen, die sich zwischen den Ständen entlang schoben, nahmen ihm die Luft zum Atmen. Anku näherte sich dem Rand des großen Platzes. Plötzlich vernahm er ein Zischen aus einer dunklen Gasse. Ein unheimlicher Laut. Dann hörte er es wieder. Anku drehte sich um und spähte mit zusammengekniffenen Augen ins Dunkel. Er ging nur soweit, wie das Tageslicht in die Gasse reichte. Vieles hatte er schon über bestimmte Gegenden Larins gehört. Über die Räuber, die sich in den Tiefen der Hausdurchlässe aufhielten und arglose Passanten für ein paar Münzen ermordeten. Anku erschrak, als sich ein Mann aus dem Schatten löste. Überraschenderweise war der Fremde edel gekleidet. Zu einem weinroten Samtrock trug er schwarze Hosen. An seinem Gürtel erblickte Anku eine Dolchscheide aus gehämmertem Silber. Die Haare des Mannes waren sorgfältig nach hinten gekämmt und seine Hände wurden von fein gearbeiteten Wildlederhandschuhen bedeckt.

„Bist du nicht der Sohn von Raju und Laja?“, fragte ihn der Fremde.

„Warum wollt Ihr das wissen?“

„Weil du deinem Vater sehr ähnlich siehst, will ich meinen. Also bist du es oder nicht?“

„Und wenn ich es wäre?“

„Dann hätte ich eine Information.“

Anku überlegte. Der Marktplatz war in beruhigender Nähe, daher ging er das Risiko ein.

„Also schön, Ihr habt den gefunden, den Ihr sucht.“

„Du schwebst in großer Gefahr. Ich hörte, dass sie dich haben wollen.“

„Wen meint Ihr mit sie?“

„Die Schergen Escaldions.“

„Diese schwarzen Männer sind…?“

„Richtig, seine Soldaten“, unterbrach ihn der Fremde.

„Wer seid Ihr?“

„Ich bin der Neffe von Großmagister Uron. Mein Name ist Verron. Du darfst übrigens gerne die vertrauliche Anrede benutzen.“

„Wie geht es meinem Mentor? Ich fand ihn schwer verletzt nach dem Unglück an der Akademie.“

„Er ist tot.“

Ankus Herz schien zu gefrieren. Also hatte sich die schlimme Vermutung bestätigt. Die schwarzen Männer hatten seinen Magister einfach so sterben lassen.

 

Die beiden passten sich dem Tempo der übrigen Marktbesucher an und bewegten sich in einem gemütlichen Schlenderschritt vorwärts. Unvermittelt hielt Verron eine belegte Brotstange in der Hand, in die er gierig biss.

„Wo hast du die denn plötzlich her?“

„Gefunden“, nuschelte Verron und schluckte den großen Bissen in einem Stück herunter.

„Du bist ein Dieb!“

„Genau das und tue mir bitte den Gefallen, nicht so laut herum zu schreien.“

 

 

Escaldion wartete ungeduldig auf den Kundschafter, der den Auftrag erhalten hatte, sich in der Stadt umzusehen und Erkundigungen bei der Bevölkerung Larins einzuholen. Endlich erreichte der Bote das Lager. Bereits beim ersten Blick in das ausgezehrte Gesicht des Spions, beschlich Escaldion eine dunkle Vorahnung.

„Sprich!“

„Euer Vernichtungswerk hat ausgezeichnet funktioniert. Von der Akademie ist nichts übrig, außer Staub und Trümmern. Allerdings hat jemand überlebt. Wahrscheinlich schwänzte er gerade den Unterricht, als das Feuer durch die Räume strich.“

„Wer ist es?“

„Sein Name ist Anku y Nohla. Er ist ein niederrangiger Schüler, aber er kam unversehrt davon.“

„Findet den Jungen und bringt ihn zu mir. Setzt, wenn nötig, Gewalt ein.“

Gehorsam trabte der Kundschafter wieder in Richtung Larin davon. Escaldion rätselte, wer dieser Anku y Nohla sein könnte. Der Name sagte ihm nichts.

 

 

„Bist du hungrig? Du siehst aus, als könntest du einen Happen gebrauchen.“

Anku nickte. Kurz darauf hielt ihm Verron einen Dattelspieß unter die Nase, den Anku zaghaft entgegennahm.

„Hast du Skrupel, etwas Gestohlenes zu verzehren?“, fragte Verron.

„Meine Eltern lehrten mich schon von Klein auf, dass Stehlen nicht in Ordnung ist. Außerdem hast du das doch kaum nötig, oder? Wenn ich mir deine Kleidung so ansehe, dann musst du ein vermögender Mann sein.“

Verron lachte und hieb Anku auf die Schulter. Die Geste wirkte unbeholfen, da der Dieb ein Fingerbreit kleiner war als er.

„Diese Vorurteile immer. Ich zeige dir, dass es Spaß macht. Siehst du die Dame, die geradewegs auf uns zukommt? Sie trägt eine kostbare Gemme um den Hals. Gleich nicht mehr.“

Verron lief der Frau entgegen. Unmittelbar vor ihr blieb er stehen, schaute mit einem verdatterten Gesichtsausdruck in den Himmel und rief: „Bei den Göttern, das gibt es doch nicht!“

Die Frau sah ebenfalls nach oben zum Firmament. Blitzschnell zuckte Verrons Linke vor und hakte die Halskette auf. Anku fragte sich, wo der Dieb in der Eile die Kette verstaut hatte, denn seine zurückzuckenden Hände waren leer. Die Frau setzte kopfschüttelnd ihren Weg fort. Sie schien nichts bemerkt zu haben. Auch der Dieb lief weiter. Er hielt die Augen gesenkt und legte an Tempo zu. Zwei Soldaten schritten nun ebenfalls schneller aus und zogen ihre Schwerter.

„Verron, pass auf!“, rief Anku.

Der Dieb drehte sich um, erkannte die drohende Gefahr und verschwand in einer Seitengasse. Die Wachen blieben ihm auf den Fersen. Wenig später hatte Anku die Übersicht verloren. Sowohl der Dieb, als auch die Gardisten waren in der Menschenmenge verschwunden.

Die Garde, das ist es, dachte Anku und bog in die nächste Straße ab. Er musste zu seinem Vater. Nur er, als Anführer des Larinischen Heeres, konnte dafür sorgen, dass seine Mutter nicht mehr von diesen finsteren Söldnern belästigt wurde. Ob er überhaupt schon davon wusste? Anku begann zu rennen. Plötzlich vertraten ihm zwei Gardisten den Weg.

„Wohin willst du denn?“

„Ich muss zu Heerführer Raju y Nohla. Er ist mein Vater.“

„Wir werden dich sicher zur Garnison begleiten.“

„Das ist gut, dann wisst Ihr also von diesen Söldnern, die mittlerweile die Hälfte der Stadt belagern?“

„Von was redest du, Junge? Wir verhaften dich, weil du einen Diebstahl unterstützt hast. Der Verbrecher ist uns entwischt, aber dafür haben wir dich gefasst.“ Mit diesen Worten legte ihm der Gardist Handeisen an. Sie nahmen Anku in die Mitte und führten ihn ab. Alle auf der Straße gafften die Dreiergruppe an. Nach etwa einer halben Meile Fußmarsch erreichten sie den Garnisonsstützpunkt, in dem sich die Kerkerzellen befanden. Anku wurde in den Verhörraum gebracht, in dem er früher oft seinen Frühstücksfladen eingenommen hatte, wenn er seinen Vater besuchte. Das erste Mal in seinem Leben betrat er den Raum als Gefangener.

 

Schritte rissen ihn aus seinem Selbstmitleid. Er blickte hoch und sah durch das vergitterte Stück in der massiven Holztür zwei der dunklen Söldner, die zum Verwaltungstrakt unterwegs waren. Schnell duckte sich Anku und hoffte, dass ihn die Feinde nicht gesehen hatten.

Als er von einer Wache abgeholt wurde, blickte er sich nervös nach allen Seiten um. Von seinen Widersachern war nichts zu sehen. Anku wurde in das Amtszimmer seines Vaters gebracht. Raju y Nohla stand mit dem Rücken zur Tür und blickte aus dem Fenster zum Exerzierhof hinunter. Einer der Gardisten sagte: „Herr, Euer Sohn ist da.“

Ohne sich umzudrehen erwiderte Raju: „Nimm Platz, Sohn.“

 

Kapitel 2

Gehorsam setzte sich Anku auf den Stuhl und schluckte den Kloß im Hals herunter. Die Soldaten verließen den Raum. Da erst drehte sich Raju um. Anku sah, dass sein Vater geweint hatte. Doch seine Miene drückte nicht Trauer, sondern blanke Wut aus.

„Was hast du dir dabei gedacht?“, herrschte er Anku an.

„Raju-mo, ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche.“

„Das glaube ich dir gerne, doch wie soll ich dir dabei helfen?“

„Aber Laja-ma wird in unserem Haus von diesen Männern bedroht. Sie wollen ihr etwas antun, wenn...“

„Wir dich nicht ausliefern. Ja, so ist es, Anku.“ Raju lief aufgebracht im Zimmer umher.

„Was, bei den Göttern, hat das mit mir zu tun?“

Raju blieb vor ihm stehen. Langsam hob Anku den Blick. Als er aufstehen wollte, drückte der Heerführer ihn wieder auf den Stuhl zurück.

„Anku y Nohla, ich muss dich, im Namen des larinischen Gesetzes, verhaften. Du stehst im Verdacht, die Magierakademie angezündet zu haben. Nachweislich hast du mit einem Dieb zusammengearbeitet, der einer Bürgerin wertvolles Geschmeide gestohlen hat. Sobald meine Männer den Verbrecher gefasst haben, wird es ein Verhör geben. Für euch beide.“

„Raju-mo, ich habe aber...“

„Du wirst mich nicht mehr Raju-mo nennen. Ab sofort hast du mich mit Heerführer Raju zu titulieren, ist das klar? Das hier ist ein amtliches Gespräch!“

Anku nickte. Die Tränen in seinen Augen brannten wie Säure.

„Waren die widerlichen Söldner bei dir?“, nahm Anku den Faden wieder auf.

„Mein eigenes Fleisch und Blut arbeitet einem Dieb zu. Ich kann es immer noch nicht fassen. Von der Akademie ganz zu schweigen.“

„Du traust mir zu, meine Mentoren und Kameraden in Asche verwandelt zu haben?“

„Wenn du es warst, gib es zu. Die Wahrheit wird ohnehin ans Tageslicht kommen. Ich bitte dich, mache Laja und mich nicht unglücklich, indem du uns belügst.“

„Ich schwöre Raju-mo, bei allen lichten Göttern, dass ich nichts mit dem Unfall in der Akademie zu tun habe. Das mit dem Dieb war ein Zufall. Er sprach mich auf dem Markt an und teilte mir mit, dass die halbe Stadt nach mir sucht. Er sagte, wir seien in großer Gefahr. Bitte, Raju-mo, du musst mir glauben. Wir müssen Laja-ma beistehen und diese Kerle aus unserem Haus jagen.“

„Nichts dergleichen wird geschehen. Du bleibst in der Arrestzelle, mindestens für diese Nacht. Nur, weil du mein Sprössling bist, bedeutet das noch lange nicht, dass dir Sonderrechte eingeräumt werden.“

„Ja, Heerführer Raju.“

Die Arrestzelle war so ungemütlich, wie Anku sie sich vorgestellt hatte. Zwei Pritschen bildeten die einzige Einrichtung. Anku langweilte sich bald und verfluchte seine Hilflosigkeit.

Ein Lichtschein fiel auf seine Pritsche und kurz darauf wurde die Tür aufgeschlossen. Verron wurde in die Zelle gestoßen.

„Du?“, sagte Anku erstaunt.

„Ich kann dich doch nicht hier alleine schmoren lassen“, sagte der Dieb mit einem Grinsen und inspizierte mit Kennerblick die andere Pritsche. „Du musst noch viel über Gefängnisse lernen.“

„Das glaube ich nicht.“

„Siehst du dieses Bett hier? Wenn der Wärter mit seiner ekelhaft hellen Fackel kommt und in die Zellen leuchtet, hast du es in dieser Ecke noch schön dunkel. Deine Pritsche wird immer beleuchtet und das weckt dich zwangsläufig auf.“

Verron faltete sorgfältig seinen Gehrock zusammen und legte ihn ans Fußende. Mit der Hose verfuhr er ebenso.

„Außerdem nehmen die Wachen hier keine Rücksicht auf Lärm, also stecke dir zwei Zipfel Stoff in die Ohren. Gute Nacht, Anku, schlaf gut.“

Damit riss Verron ein Stück aus dem groben Jutesack, rollte zwei Kügelchen daraus und machte Anstalten, sie sich in die Ohren zu stopfen.

„Moment, du kannst doch nicht einfach schlafen.“

„Und was willst du sonst tun, mitten in der Nacht?“

„Erzähle mir, was passiert ist, nachdem die Wachen dich verfolgt haben.“

„Morgen. Jetzt bin ich zu müde.“

Kurz darauf erklangen Schnarchgeräusche aus Verrons Ecke. Anku hingegen fand keinen Schlaf.

Am nächsten Morgen, beide nagten an einem trockenen Stück Brot, sagte Verron in die Stille hinein: „Du wolltest wissen, was mir widerfahren ist. Ich will es dir erzählen. Also, nachdem ich der Dame, die ich im Übrigen sehr anziehend fand, den Halsschmuck gestohlen hatte, verfolgte mich die Stadtgarde. Es bereitete mir nicht die geringste Mühe, die Männer abzuhängen. Bei einem Freund versteckte ich mich. Als ich jedoch erfuhr, dass du erwischt wurdest und, dass dir nun meine Untat zur Last gelegt wird, stellte ich mich selbst.“

„Wirklich? Das hast du für mich getan?“

„Sei mit deiner Dankbarkeit nicht so eilig. Ich habe ihnen nicht gesagt, dass du unschuldig bist.“

„Warum nicht? Du bist der Einzige, der mich retten kann.“

„Das weiß ich, Anku.“

„Du musst es ihnen sagen, hörst du? Mein eigener Vater hält mich für einen Verbrecher. Er denkt, ich hätte die Akademie angezündet.“

„Genau darum geht es. Wie hat dein Vater reagiert?“

„Das geht dich nichts an!“

„Es geht um etwas sehr Großes, Anku. So groß, wie du es dir nicht ausmalen kannst.“ Verrons Stimme klang traurig, als er das sagte.

„Was meinst du damit?“

Bevor Verron eine Antwort geben konnte, wurde die Arrestzelle aufgesperrt und ein Wärter kam hinein.

„Anku y Nohla, ich soll dich zu deinem Vater bringen.“

Verron hob spöttisch die Augenbrauen.

Anku saß im Amtszimmer seines Vaters.

„Ich habe angeordnet, dass du unter häuslicher Bewachung stehst, bis alles geklärt ist.“

Ankus Gedanken rasten. Verron hatte ein ernstes Thema angeschnitten und sein Vater wusste es. Möglicherweise waren sie belauscht worden. Nun wurden sie getrennt und Anku wusste immer noch nicht, wer der Feind war, der Larin bedrohte.

„Geh jetzt.“

Anku erhob sich resigniert und verließ grußlos den Raum. Vor der Tür wurde er von zwei Wachen in Empfang genommen, die er kannte- Ziwut und Collja.

Wenigstens erspart er mir die Gesellschaft der Schwarzen Söldner, dachte Anku erleichtert.

„Dein Vater ist sehr zornig“, sprach Ziwut den Jungen an.

Anku zuckte mit den Schultern und schwieg. Der Gardist unternahm keinen weiteren Versuch, mit Anku ein Gespräch zu beginnen. Die Wachen führten ihn durch die Stadt. Plötzlich erhielt Ziwut einen Stoß, der ihn taumeln ließ. Collja zückte sofort sein Schwert, machte jedoch eine ratlose Miene, weil er den Angreifer nicht sah.

Kapitel 3

Mit einem Schrei fuhr er herum. Da war niemand. Unvermittelt erschien Verrons Gesicht in der Luft vor ihm. Nur das Gesicht. Verron schnitt Grimassen, schließlich lächelte er.

Der Dieb machte sich zur Gänze sichtbar und grinste noch breiter.

Anku sackte schwer gegen die Hauswand.

„Mir war zu langweilig in der Zelle, außerdem wollte ich wissen, was sie mit dir angestellt haben. Wusstest du, dass es im Gefängnis auch eine Folterkammer gibt? Sie liegt weit unten in den Eingeweiden des Gebäudes.“

„Mach so etwas nie wieder“, ächzte Anku.

„Es war einfach zu verlockend.“

„Natürlich weiß ich, dass es eine Folterkammer gibt. Mein Vater ist schließlich Heerführer von Larin.“

Verron wurde ernst. „Genau das ist unser Problem. Der Heerführer ist gekauft worden. Diese schwarzen Söldner haben ihm Gold gegeben, viel Gold.“

„Was denkst du eigentlich, wer du bist? Über meinen Vater schlecht zu reden, das dulde ich nicht.“

Anku kochte vor Wut und trat mit dem Fuß auf.

„Ich erkläre dir alles in Ruhe, aber zuerst müssen wir Larin verlassen.“

Escaldion hasste es, wenn er schlechte Nachrichten erhielt. Der Bote würde dafür büßen. Dieser Einfaltspinsel hatte es tatsächlich gewagt, ihm dreist ins Gesicht zu lächeln, als er die Botschaft verkündete: Anku y Nohla war entkommen. Wie es hieß, hatte er wohl einen Komplizen, einen unsichtbaren Helfer. Escaldion fieberte dem Moment entgegen, in dem die helle Magie auf Yarivenna ein für allemal gebrochen wurde.

Ein großer Schritt auf diesem Weg war der Heerführer von Larin. Im Gegensatz zu seinem Sprössling, besaß dieser Mann Benehmen. Außerdem steckte nicht ein Funken magisches Talent in ihm. Seine Frau, Laja, könnte zu einer Gefahr werden. Es war an der Zeit, sie und ihren Mann zu trennen. Escaldions Schergen war es gelungen, Raju zu überzeugen, dass sein Sohn die Akademie angezündet hatte. Die Saat der Zwietracht war aufgegangen. Raju y Nohla würde alles in seiner Macht stehende tun, um seinen besudelten Ruf rein zu waschen.

Escaldion griff nach Feder und Pergament und setzte eine persönliche Nachricht für den Heerführer auf.

Kapitel 4

Anku und Verron verließen Larin unbehelligt und wandten sich nach Südwesten. Am Horizont erhoben sich die Gipfel der Gebirgskette. Anku war noch nie so weit von seiner Heimatstadt entfernt gewesen. Und nun wünschte er sich mehr als alles andere, Raju damals begleitet zu haben, wenn er als Heerführer in andere Städte eingeladen wurde. Anku hatte jedes Mal mit einer anderen Ausrede abgelehnt, weil er zu feige gewesen war, zuzugeben, sich vor der Fremde zu fürchten.

Sie fanden eine Senke, die nach Norden hin von einer Baumgruppe abgeschirmt wurde. Da sie keine Verfolger entdecken konnten, gingen sie das Risiko ein, ein kleines Feuer zu entzünden. Der Dieb griff in eine seiner großen Manteltaschen und förderte einen Laib Brot zutage.

„Für drauf habe ich leider nichts“, sagte er.

Beide kauten erschöpft.

„Jetzt bin ich satt und gespannt auf deinen Bericht. Also warum hast du das von meinem Vater behauptet?“, wollte Anku wissen.

Akribisch wischte sich Verron Brotkrumen von seiner Hose.

„Ich muss ein kleines Stückchen weiter ausholen. Wie ich dir bereits sagte, war Uron mein Onkel. Wir wohnten im Ostviertel Larins. Die Unterkunft war äußerst bescheiden, obgleich sich Uron von seinem Lohn der Akademie eine weitaus bessere Bleibe hätte leisten können.“

„Das verstehe ich nicht“, warf Anku ein. „Wer bleibt denn freiwillig im Armenviertel?“

„Das ist doch jetzt egal. Vor drei Monden verschwanden die ersten Bürger des Ostviertels. Damit meine ich nicht, dass sie fortzogen oder Opfer von Messerstechereien wurden. Uron war immer sehr neugierig und wollte allem auf den Grund gehen. In der Tat enthüllte er ein schmutziges Geheimnis. Er erzählte mir, schwarze Söldner hätten die Leute verschleppt. Wer hinter diesem finsteren Plan steht, fand Uron leider nicht heraus. Eine Sache allerdings fiel ihm auf: Alle entführten Personen bargen magische Kraft in sich. Er nannte sie ‚von den Göttern gesegnet’ und sie übertrafen die meisten Schüler der Akademie um Längen, obgleich sie keinerlei Ausbildung erhielten.“

„Und was hat mein Vater damit zu tun? Er ist so magiebegabt wie ein toter Fisch.“

„Unterschätze die toten Fische nicht“, sagte Verron und hob mahnend den Zeigefinger.

„Nein, im Ernst. Zaubern kann Raju überhaupt nicht.“

„Aber er ist der Heerführer Larins. Seinem Wort folgen alle Soldaten. Wenn sie ihn beeinflussen, besitzen sie die Kontrolle über das gesamte Heer.“

Anku schwieg erschrocken, als er die Tragweite begriff.

„Und dann kommt noch hinzu, dass plötzlich die Akademie von einer Feuersbrunst verschlungen wird, die nur ein Magier mit sehr viel Potenzial erschaffen kann. Uron nahm all seine Kraft zusammen und webte einen Schutzzauber um dich.“

„Wieso ausgerechnet um mich?“

„Das weiß ich auch nicht, aber wir werden es herausfinden.“

„Und wie sollen wir das anstellen?“

„Gute Frage. Ich denke, das Klügste wäre, uns zu den Zwergen durchzuschlagen. Die Berge sollten uns für das Erste Sicherheit gewähren und dann schauen wir, ob sich die Lage in Larin wieder beruhigt und du in Ruhe mit deinem Vater reden kannst.“

„Eins noch“, sagte Anku in das Knacken des Lagerfeuers hinein.

Verron brummte.

„Wie ist es dir gelungen, dich unsichtbar zu machen? Für diesen Zauber muss man Jahre, wenn nicht Jahrzehnte üben.“

„Du vergisst, dass Uron mein Onkel war.“

Es war kein langsames Erwachen. Guglugetrappel weckte sie auf. Verron war zuerst auf den Beinen.

„Anku, steh auf, wir müssen sofort weg!“

Anku schlug die Augen auf und sah eine berittene Truppe, die geradewegs auf das Lager zugaloppierte.

„Da, in die Bäume“, rief Verron.

Anku erinnerte sich, dass Guglus in freiem Gelände schnell waren, doch vor allem, was sie überragte wie ein Dach, hatten sie Angst.

Verron und Anku griffen nach ihren Bündeln und hielten auf die Bäume zu. Die Soldaten auf den Rücken der Tiere schienen zu ahnen, was die beiden Flüchtlinge vorhatten und hieben ihre Stiefelabsätze in die zottigen Flanken ihrer Reittiere. Verron erreichte die Baumgrenze. Schnell riss er Anku hinter sich in ein Gebüsch. Gespannt verharrten sie. Die Guglus stiegen auf ihre Hintertatzen und stießen heisere Schreie aus. Geifer tropfte aus ihren Mäulern, die mit samtigen Fell bedeckt waren. Wer schon einmal von einem Guglu gebissen worden war, wusste, dass hinter den weichen Lefzen scharfe Reißzähne lauerten. Anku sah auf seinen Handrücken, der für immer das Andenken an ein Guglu trug.

Die Reiter teilten sich auf und begannen, die Baumgruppe zu umrunden.

„Raus hier“, sagte Verron.

Sie rannten zum westlichen Ende des Wäldchens und schlichen geduckt durch das hohe Gras.

„Zum Glück sind Guglus dumm. Sie werden uns nicht finden“, wisperte Anku.

Nachdem sie etwa fünf Meilen stramm marschiert waren, erreichten sie die ersten Ausläufer der Berge. Anku war schweigsam und hielt den Blick starr nach unten gerichtet.

„Was hast du?“, fragte Verron nach einer Weile.

„Hast du gesehen, welche Leute uns verfolgt haben?“

„Wir wurden verfolgt?“, sagte Verron hämisch. „Ich dachte wir rennen einfach aus purem Vergnügen durch dorniges Gestrüpp, das unsere Kleidung in Fetzen reißt.“

Anklagend schob er zwei Finger durch einen Riss in seinem Gehrock.

Anku seufzte. „Es war eine gemischte Kompanie, die zur Hälfte aus larinischen Soldaten und zur anderen aus Schwarzen Söldnern bestand.“

„Und?“

„Das heißt, mein Vater verdächtigt mich immer noch.“

„Was soll das heißen, entkommen?“, fuhr Escaldion seine Mannen an.

„Nun, Herr, die beiden sind uns einfach entwischt. Wir verfolgten sie auf Guglus und sie flohen in einen Wald.“

„Das heißt, wir haben keine anderen Reittiere als nur diese Guglus, sehe ich das richtig?“

„Ja, Herr, es konnte niemand damit rechnen, dass die ...“

„In Zukunft werden wir damit rechnen. Sollen die beiden sich meinetwegen von Larin fernhalten. Umso besser. Dann bleibt uns viel Zeit, in der Stadt für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Schickt die Fresser los und lasst sie in Vierergruppen durch die Straßen gehen. Teilt euch ebenfalls auf und sorgt für zahlreiche Festnahmen. Die Suche nach den Flüchtigen wird fortgesetzt. Wie weit ist die Verstärkung noch von uns entfernt?“

„Eine Tagesreise, Herr.“

„Gut. Die Hälfte der Männer wird euch in Larin unterstützen, die andere Hälfte sucht nach dem Jungen und dem Dieb.“

Escaldion rieb sich die feisten Hände. Die Fresser waren ein Geschenk seines Herrn gewesen. Die Kreaturen waren wolfsgroß und bewegten sich auf acht Beinen vorwärts. Normalen Menschen wurden sie nicht gefährlich, doch Magier litten, wenn sie auf diese Tiere stießen, denn die Fresser ernährten sich von ihrer magischen Energie.

Kapitel 5

Zwei Tage waren Verron und Anku seit dem Zwischenfall mit den Guglus unterwegs. Die Berge türmten sich immer höher vor ihnen auf. Schon die Ausläufer hatte ihre Kraftreserven angegriffen, jetzt sandte der Himmel ihnen auch noch Regen und scharfen Wind.

Anku hielt einen Moment inne und rieb sich die brennenden Augen. Zwischen den Fingern hindurch sah er die Umgebung im Nordosten. Langsam ließ er die Hände sinken.

Eine Hundertschaft berittener Männer war ihnen auf den Fersen. Ehe der Tag sich neigen würde, hätten die Reiter sie eingeholt. Auch Verron verharrte und sah missbilligend auf die schwarze Front, die unaufhaltsam näher kam. „Mein Freund, wenn wir uns nicht beeilen, dann zerreißen sie uns in Stücke. Sie haben Bestien dabei.“

Anku hatte schon viel über Bestien gehört, doch nie zuvor eine gesehen. Verron deutete mit dem Finger auf ein schwarzes Gewimmel, das sich zu Füßen der Guglus über den Boden bewegte.

„Ist es wahr, dass die Bestien ihre Opfer aussaugen?“

„Ja, ich fürchte, das ist es.“

„Warum tun sie den Guglus nichts?“

„Weil sie sich von Menschen ernähren, du Dummkopf.“

„Warum tun sie den Reitern nichts?“

„Das weiß ich doch nicht und jetzt beeil dich!“

Ankus Hemd klebte schweißnass an seinem Rücken. Die Angst lähmte ihn und seine Gliedmaßen zitterten unkontrolliert. Die Luft war dünn, denn sie befanden sich schon etwa eine Meile über dem Boden. Für die Guglus waren die steilen Pässe kein Problem. Sie stammten aus bergigen Regionen und waren hervorragende Kletterer. Mit ihren Tatzen fanden sie leicht Halt in Felsnischen und das Gewicht ihrer Reiter schränkten sie nur geringfügig ein. Unerbittlich holten sie auf. Anku konnte ihre Grunzgeräusche bereits hören und das, obgleich die Rotte gegen den Wind zog.

„Verron, ich schaffe es nicht mehr.“

Anku sank gegen einen mannshohen Steinbrocken und keuchte schwer.

„Reiß dich zusammen. Wenn sie uns erwischen, sind wir tot!“

„Ich bekomme keine Luft mehr.“

„Tragen kann ich dich nicht. Du bist viel größer als ich“, teilte ihm der Dieb gelassen mit.

Anku riss die Augen auf. „Du würdest mich also tatsächlich im Stich lassen?“

„Wenn du schlapp machst, ja.“

„Du bist ja ein toller Freund.“

„Ich behauptete nie, wir seien Freunde. Nenn es meinetwegen Reisegefährten.“

Anku wurde zornig. Er fühlte wie die Wut ihm neue Kraft verlieh. Trittsicher überwand er rutschige Passagen, sprang über Wasserrinnsale, die immer wieder den Weg kreuzten. Er ließ sich gewiss nicht von einem Dieb übertrumpfen. Seine Schritte wurden schneller und schneller. Bald hatte er Verron weit hinter sich gelassen. Wer trägt hier wen, Dieb, dachte er verbissen.

Verron hatte genau das erreicht, was er bezweckt hatte. Der Junge schaffte es aus eigener Kraft.

Den kleinen Kundschaftertrupp, der ihm auflauerte, bemerkte er erst, als es zu spät war. Ein starker Arm schlang sich um seinen Hals und riss ihn zurück. Noch bevor er den Mund zu einem Schrei öffnen konnte, fühlte er Metall an seiner Kehle.