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SS-Männer und ihre Kinder Die einen verherrlichten Krieg und Soldatentum, die anderen verstummten – nicht ohne Folgen auf das Familienleben der Nachkriegsgeneration in Südtirol und in Deutschland. Wie prägend ist der lange Schatten des Krieges für die Nachkommen? In Gesprächen mit Söhnen, Töchtern und Enkeln von Angehörigen der Waffen-SS werden die erlittenen Verletzungen, die Erfahrungen mit Gewalt und die noch immer aktuellen Spuren der Geschichte sichtbar. •Einführung in das Thema Traumata und Erinnerung •acht Täterbiografien sowie tiefgreifende Dialoge mit den Nachkommen •Fokus: Waffen-SS
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Seitenzahl: 358
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Thomas Casagrande
Unsere Väter in der Waffen-SS
Thomas Casagrande
Unsere Väter in der Waffen-SS
Mit einem Vorwort von Jochen Böhler und
einem Nachwort von Ofra Bloch
Gedruckt mit Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung Deutsche Kultur
© Edition Raetia, Bozen 2024
Projektleitung: Thomas Kager
Korrektur: Helene Dorner, Katharina Preindl
Übersetzung des Epilogs von Ofra Bloch: Claudia Amor
Umschlaggestaltung: Philipp Putzer, www.farbfabrik.it
Umschlagfoto: Peter Sieder mit Sohn Martin; Archiv Martin Sieder
Druckvorstufe: Typoplus, Frangart
Druck: Tezzele by Esperia, Lavis
ISBN 978-88-7283-923-2
ISBN E-Book 978-88-7283-954-6
Unseren Gesamtkatalog finden Sie unter www.raetia.com.
Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an [email protected].
Jochen Böhler: Prolog
„The past is never dead. It isn’t even past.“
Eine kurze geschichtliche Einführung
Volksdeutsche
Südtirol
Waffen-SS
Invalide, zerschossen, interniert SS-Untersturmführer Werner Wohlgemuth
„Ich erinnere mich an das bedrückende Klima zu Hause.“ Astrid Wohlgemuth, Tochter
Für den Endsieg und gegen die feigen Hunde in der Heimat SS-Sturmmann Gottfried Frizzi
„Ich fragte mich, ob er ein normaler Soldat oder was anderes gewesen ist.“ Siegfried Frizzi, Sohn
Mit achtzehn in der Partisanenbekämpfung SS-Schütze Peter Sieder
„Ich mache meinem Vater Vorwürfe, dass er sein Kriegstrauma an uns ausgelassen hat.“ Martin Sieder, Sohn
Person des öffentlichen Lebens, aber kein Wort über die Vergangenheit SS-Hauptsturmführer Karl Nicolussi-Leck
„War ich davor stolz auf ihn, habe ich dann fast Scham empfunden.“ Arno Senoner, Enkel
„Großvater wird halt auf den Kampfring und die SS beschränkt.“ Michael Senoner, Enkel
„Es ist gut möglich, dass mein Großvater Eichmann persönlich gekannt hat.“ Peter Senoner, Enkel
Beteiligt an der Jagd nach den Heydrich-Attentätern SS-Oberscharführer Eduard Ladurner
„Ich wünsche mir, dass es diese schlimmen Dinge bei ihm nicht gab.“ Klaus Ladurner, Sohn, und Franziska Ladurner, Enkelin
Im Zentrum des Mordens entlang der „Straße der SS“ SS-Untersturmführer Martin Trojer
„Mit ihm zu leben, war katastrophal, wie ein Gefängnis.“ Giulia Trojer, Tochter
Rufach-Schüler, Freiwilliger und Obmann des Frontkämpferverbandes SS-Sturmmann Hans Steiner
„Vater hat meinem jüngsten Bruder den Deutschen Gruß beigebracht.“ Franz Steiner, Sohn
„Letztlich sind alle normale Soldaten gewesen.“ Martin Robatscher, Enkel
Noch in den 80ern besorgt, in Italien als SS-Mann wiedererkannt zu werden SS-Untersturmführer Otto Casagrande
„Hätten wir damals gelebt, wäre ich bei der Waffen-SS und du bei den Partisanen gewesen.“ Roland Casagrande, Sohn
Mein Vater und ich
Schatten
Ofra Bloch: Epilog
Anmerkungen
Prolog
Hauptteil
Anhang
Interviewfragen
Tabelle der Dienstgrade
Abkürzungsverzeichnis
Verzeichnis der Archive
Bildnachweis
Danksagung
Liebe Leserinnen und Leser,
dies ist ein mutiges Buch. Es brauchte Mut, es zu verfassen, es brauchte Mut, dazu beizutragen – und es braucht Mut, es in die Hand zu nehmen, sich auf seinen Inhalt einzulassen und sich mit ihm vertraut zu machen.
Ich möchte Sie daher schon gleich zu Beginn dazu einladen, sich nicht Bange machen zu lassen und weiterzulesen. Wie es Thomas Casagrande in seiner Einführung und Ofra Bloch in ihrem Epilog auf den Punkt bringen: Grundsätzlich muss am Anfang die Frage stehen, ob es legitim ist und was für einen Wert es hat, sich mit den Erinnerungen der nachfolgenden Generationen an die Biografien von SS-Männern zu beschäftigen. Die SS wurde in den Nürnberger Prozessen zu Recht zur verbrecherischen Organisation erklärt, weil sie für die furchtbarsten Verbrechen der deutschen Besatzung in ganz Europa und den Holocaust verantwortlich war. Und die Waffen-SS, deren Mitglieder in diesem Buch indirekt zu Wort kommen, hat ganz maßgeblich mitgemordet. Jeder, der in der Waffen-SS gedient hat, ob aus Enthusiasmus, Pflichtgefühl, Mitläufertum, freiwillig oder unfreiwillig, war Teil einer mörderischen Institution, die Millionen von unschuldigen Menschen umgebracht hat, und das muss auch, wie Thomas schreibt, jedem Waffen-SS-Mann damals zumindest im Ansatz bewusst gewesen sein – nicht erst im Nachhinein, wie viele später behaupteten.
Wir sind es gewohnt, die Geschichten der Eltern und Großeltern, die unter deutscher Besatzung und im Holocaust verfolgt und ermordet wurden, durch ihre Kinder und Enkelkinder zu hören. Die Geschichten der Täter interessieren die Opfer und ihre Kinder und Enkelkinder dabei in der Regel nicht, und das ist völlig verständlich. Warum ist es dennoch wichtig, der zweiten und dritten Generation der Täter zuzuhören?
Die Antwort fällt nicht leicht. Ihr erster Teil ist ein Disclaimer, er lautet: Ich möchte sicher nicht jeder Stimme zuhören, die sich mit den Taten der Väter in der Waffen-SS auseinandersetzt. Ofra Bloch zeigt sich völlig zu Recht fassungslos darüber, dass noch in den späten 1990er-Jahren Kameradschaftstreffen der Waffen-SS in Deutschland, Österreich und anderswo in Europa stattgefunden haben. Und es ist noch erschreckender, dass die Zelebrierung der Waffen-SS auf europäischer Ebene offenbar nicht einmal abbricht, wenn die letzten Veteranen nicht mehr da sind. Es gibt aktuell viele Orte in Europa, wo die Waffen-SS und ihre Taten jährlich öffentlich und ohne staatliche Intervention gefeiert werden. Das sind Stimmen, gegen die es mutig aufzustehen gilt.
Die Grundvoraussetzung für eine Auseinandersetzung mit Vätern und Großvätern in der Waffen-SS ist daher für mich, dass wir uns von Relativierungen freimachen: Die Waffen-SS, deren Mitglieder unter anderem die Wachmannschaften der Vernichtungslager des Holocaust stellten, hat Millionen unschuldiger Menschen – Männer, Frauen und Kinder – ermordet. Das ist ihr einziger Platz in der Geschichte, auch wenn Ewiggestrige – wie etwa prominente Mitglieder der Freiheitlichen Partei in Österreich – noch heute gerne anderes behaupten. Von diesem Punkt müssen wir ausgehen, wenn wir weiterlesen.
Doch das erklärt noch nicht, warum wir weiterlesen sollten. Und daher lautet der zweite Teil meiner Antwort: Weil es hier in erster Linie gar nicht um Männer in der Waffen-SS geht. Dieses Buch handelt vielmehr davon, was deren Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation und Teilnahme an Holocaust und Vernichtungskrieg mit ihren Familien nach dem Krieg gemacht hat. Das nachzulesen, ist in weiten Teilen erschütternd, es ist nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu und daher auch ein nahezu unerforschtes Feld, in das dieses Buch wie ein Scheinwerfer hineinleuchtet und von dem es kleine Parzellen durch das Prisma der Kinder- und Enkelkinder-Erinnerungen erhellt.
Wie wichtig dieses Thema ist, wird deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, dass nicht nur knapp eine Million Männer in der Waffen-SS gedient haben, sondern auch 18 Millionen Männer in der Wehrmacht. Wie wir heute wissen, hat die Wehrmacht selber von Beginn des Zweiten Weltkrieges an vor allem in Ost- und Südosteuropa Massenmorde an der dortigen Zivilbevölkerung begangen und die Waffen-SS, Einsatzgruppen und Polizeibataillone beim Massenmord unterstützt. Gerade die in diesem Buch aufscheinenden Erinnerungen an Kriegsverbrechen, die unter dem Deckmantel der Partisanenbekämpfung begangen wurden, hätten so auch von Wehrmachtssoldaten erzählt werden können. Das heißt im Klartext: Die hier nachzulesenden Erfahrungen und inneren Zerrissenheiten der zweiten und dritten Generation auf der Täterseite müssten so oder ähnlich eigentlich in unzähligen deutschen und österreichischen Familiengeschichte nach 1945 wiederzufinden sein – und wenn wir die ausländischen Verbände der Waffen-SS und der Wehrmacht hinzuziehen, auch in vielen, vielen Familiengeschichten außerhalb Deutschlands und Österreichs.
Das Thema dieses Buches ist also ein europäisches. Und zwischen den Zeilen seiner düsteren, oftmals kaum zu ertragenden Passagen liegt damit auch eine Chance: Wenn wir das absolute Böse und seine zerstörerische Kraft erkennen und benennen, dann kann sich daraus ein Konsens entwickeln, der die nachfolgenden Generationen auf der Opferseite mit denen auf der Täterseite verbindet und unsere Zivilgesellschaften dazu befähigt, sich zu wappnen, resistent zu werden, den Anfängen zu wehren und zu verhindern, dass sich das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit noch einmal wiederholt.
In seiner Erzählung „Die Sonnenblume“ schilderte der Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal, der sein ganzes Leben nach 1945 der Ermittlung von Naziverbrechern widmete, Folgendes: Ein junger SS-Mann, der im Lazarett in Lemberg 1942 im Sterben liegt, beichtet Wiesenthal seine Teilnahme an der Ermordung von Jüdinnen und Juden in Odessa – Männern, Frauen, alten Leuten und Kindern – und bittet ihn um Vergebung. Wiesenthal verschließt sich dieser Bitte.1 Ein wichtiges Zitat von ihm aus der Nachkriegszeit lautet: „Wir, die Überlebenden, sind nicht nur den Toten verpflichtet, sondern auch den kommenden Generationen: Wir müssen unsere Erfahrungen an sie weitergeben, damit sie daraus lernen können. Information ist Abwehr.“2
Ich bin mir sicher: Den Kindern oder Enkelkindern des SS-Mannes in Lemberg, die dazu bereit gewesen wären, sich mit der Teilnahme ihres Vaters oder Großvaters an diesem Verbrechen auseinanderzusetzen, hätte der 2005 verstorbene Simon Wiesenthal aufmerksam und mit Empathie zugehört, um auf seine unverwechselbare lebhafte Art mit ihnen darüber zu diskutieren.
Die in diesem Buch geteilten, sehr privaten Erinnerungen der Nachkommen von Waffen-SS-Männern, denen für ihre Offenheit Respekt und Dank gebührt, geben uns die einmalige Chance, uns auf einen solchen Dialog einzulassen – und vielleicht auch unsere eigenen Familiengeschichten in ihrem Lichte neu zu lesen.
Jochen Böhler
Vienna Wiesenthal Institute for Holocaust Studies (VWI)
Seit dem Erscheinen meines Buches über die „Südtiroler in der Waffen-SS“ bei Edition Raetia 2015 habe ich Vorträge zu diesem Thema in Bibliotheken, Universitäten und Schulen gehalten. Anfangs sprach ich im Allgemeinen zur Geschichte der Waffen-SS in Südtirol und erzählte von meinem Vater Otto Casagrande als Beispiel für eine Südtiroler SS-Biografie. Mit der Zeit veränderte sich der Fokus. Ich sprach nun hauptsächlich vor Maturaklassen, und bei der Vorbereitung eines Vortrags an der Wirtschaftsfachoberschule „Franz Kafka“ in Meran schlug die Professorin Carmen Steiner vor, mich ganz auf die Biografie meines Vaters zu konzentrieren. Sie war der Meinung, dass sich ihre Schülerinnen und Schüler besonders für das Beispiel meines Vaters interessieren würden. Wie recht sie hatte!
Bald stand auch an den anderen Schulen die Geschichte meines Vaters im Mittelpunkt meiner Vorträge. Mit seiner Person konnte ich Südtiroler Geschichte greifbar machen und exemplarisch seine Entwicklung vom jugendlichen Aktivisten bis hin zum SS-Untersturmführer aufzeigen. Die Aufmerksamkeit war groß und ich kam mit den Maturaklassen in intensive Diskussionen, bei denen mir zunehmend eine weitere Veränderung bewusst wurde. Die Fragen und Anmerkungen zu Details der Geschichte, zum Zweiten Weltkrieg im Allgemeinen und zum Werdegang meines Vaters im Besonderen machten regelmäßig den kleineren Teil der spannenden Gespräche aus. Am meisten schien die Schülerinnen und Schüler mein Umgang mit dem Thema zu interessieren. Sie wollten wissen, wie das Zusammenleben mit meinem Vater war. Wie ich über ihn dachte, welche Gefühle seine Geschichte in mir auslöste, welche Konsequenzen und Schlüsse ich aus seiner Geschichte zog.
Als besonders intensiv habe ich die Gespräche vom März 2023 in Erinnerung. Sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch ich gingen nach der pandemiebedingten langen Pause sehr motiviert in die Gespräche und mir wurde klar, wie wichtig die Gespräche auch für mich geworden waren. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wurde mir wieder bewusst, dass es die Geschichte meines Vaters, mein Verhältnis zu ihm – also unser beider Geschichte – war, die mich zu meinen SS-Forschungen, zu meiner wissenschaftlichen Arbeit gebracht hatten. Als ich im Rahmen einer SS-Historiker-Tagung in Dresden 2010 einen Vortrag über die Volksdeutschen in Jugoslawien und die 7. SS-Division „Prinz Eugen“, mein Dissertationsthema, hielt, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich der einzige Vortragende war, der einen engen familiären Bezug zum Forschungsgegenstand hatte, und ich mich damit von den anderen Historikerinnen und Historikern unterschied. Endgültig deutlich machte dies Franziska Zaugg 2016 in ihrer Rezension zu meinem Buch „Südtiroler in der Waffen-SS“. Sie bringt diesen Zusammenhang so klar auf den Punkt, dass sie hier zitiert werden soll:
„Thomas Casagrandes neueste Publikation lässt Historiker zuerst einmal die Stirn runzeln. Es ist in der Gilde der Geschichtswissenschaftler nicht üblich, sich so offen und so nah an seinem Thema zu präsentieren. Denn die Recherchen, überhaupt seine Auseinandersetzung mit der Waffen-SS, verdankt Casagrande der Vergangenheit seines Vaters. Sein Bekenntnis, auch Persönliches und Familiengeschichtliches aufarbeiten zu wollen, provoziert ein doppelt kritisches Lesen. […] Am Ende des Buches angekommen, ist der Leser positiv überrascht: Casagrande gelingt es in dieser mikrogeschichtlichen Studie nicht nur, die notwendige Distanz zu wahren, sondern wichtige Details herauszuarbeiten, die nicht nur für die Südtiroler Bevölkerung und die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit von Belang sind. […] Gleichzeitig ist es ein Aufruf, sich der Vergangenheit zu stellen und die Vielfalt von Handlungsoptionen, aber auch Handlungszwängen ehemaliger Soldaten der Waffen-SS wahrzunehmen.“1
Franziska Zaugg führt mich mit diesen Worten auf den Kern meiner Auseinandersetzung zurück. Meine Arbeiten zur Geschichte der Volksdeutschen in der Waffen-SS folgen nicht wissenschaftlicher Neugierde oder gar dem Zufall eines frei gewählten wissenschaftlichen Themas. Sie entspringen meiner innersten Beschäftigung damit. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch meine Begegnung mit Ofra Bloch, die für das vorliegende Buch den Epilog geschrieben hat. Ofra Bloch ist gebürtige Israelin und lebt in New York City. Sie interviewte mich für ihren Dokumentarfilm „Afterward“.2 Im Interview ging es um mich als Sohn eines SS-Untersturmführers und nicht um mich als Wissenschaftler, der zur Geschichte der Volksdeutschen in der Waffen-SS forscht. Dies führte anfangs zu einigen Missverständnissen, gar Ärgernissen meinerseits. Ich wollte über die Waffen-SS referieren, und sie interessierte sich für meine persönliche Geschichte. Auch als ich dann im November 2018 in New York City an der Filmpremiere und den anschließenden „Questions & Answers“ teilnahm, war es meine Auseinandersetzung mit meinem Vater, die im Mittelpunkt stand, und nicht meine Expertise als Wissenschaftler. Unvergesslich bleibt mir die Rückmeldung von zwei jüdischen Ehepaaren, die mich auf dem Nachhauseweg ansprachen und sich bei mir für meine Offenheit und für meine Bereitschaft bedankten, mich der Geschichte zu stellen.
Mit dem vorliegenden Buch schließt sich nun der Kreis. Ich kehre an den Beginn meiner Auseinandersetzung zurück. Aber ich mache es nicht allein. Die in diesem Buch zu Wort kommenden Frauen und Männer haben gemeinsam, dass ihre Väter und Großväter bei der Waffen-SS waren. Als Erster ist mein Bruder Roland Casagrande zu nennen. Den meisten anderen Teilnehmern bin ich durch mein Buch zu den Südtirolern in der Waffen-SS begegnet. Manche habe ich noch während der damaligen Recherche kennengelernt, andere haben sich an mich gewandt, nachdem mein Buch erschienen war, weil sie schon seit Längerem auf der Suche nach Informationen zu ihren Vätern waren, gar schon selbst sehr intensiv recherchiert und so weit wie möglich Material gesammelt hatten: Siegfried Frizzi, Klaus Ladurner, Martin Sieder und Giulia Trojer. Über die Jahre ist zwischen uns ein Vertrauensverhältnis entstanden.
Mit Franz Steiner verbindet mich eine enge Freundschaft. Unsere Väter kannten sich seit der Jugend und stammten aus demselben Ort, Neumarkt in Südtirol. Auch die Väter der oben genannten Personen waren Südtiroler. Aber die dem Buch zugrunde liegende Auseinandersetzung mit Vätern, die in der Waffen-SS waren, und die damit verbundene Problematik der transgenerationalen Vermittlung, der Weitergabe von Traumata, von Vorurteilen und Verhaltensweisen, sind nicht alleine ein Südtiroler Thema. Gut neunhunderttausend Männer aus allen Ländern Europas dienten in der Waffen-SS am Ende des Krieges, von denen knapp die Hälfte aus dem Großdeutschen Reich stammte. Stellvertretend ist deswegen die Geschichte von Astrid Wohlgemuth ein wichtiger Bestandteil des Buches. Ich habe sie über einen gemeinsamen Freund kennengelernt, der sie auf meine Forschungen aufmerksam machte.
Auch Enkelkinder werden gehört. Franziska Ladurner nahm voller Spannung und Interesse an den Gesprächen zwischen mir und ihrem Vater Klaus über ihren Großvater Eduard Ladurner teil. Martin Robatscher ist der Neffe von Franz Steiner und forscht intensiv zur Geschichte seines Großvaters Hans Steiner, sodass mich auch mit ihm eine persönliche Beziehung verbindet. Die Brüder Arno, Michael und Peter Senoner sind die Enkel von Karl Nicolussi-Leck. Ich lernte sie erst während der Recherche zu diesem Buch kennen. Ihr Großvater war nicht nur ein Südtiroler NS-Aktivist und Ritterkreuzträger der Waffen-SS, sondern auch nach dem Krieg eine bekannte Person des öffentlichen Lebens und oft Gegenstand von kritischen Untersuchungen zum Werdegang von Nationalsozialisten und SS-Männern nach dem Krieg.
Dass die hier genannten Personen bereit waren, unter ihren Echtnamen über sich und die Geschichte ihrer Väter und Großväter nachzudenken und zu sprechen, ist nicht selbstverständlich. Die meisten Gespräche mit Kindern von NS- oder SS-Mitgliedern wurden anonymisiert veröffentlicht.3 Darüber hinaus habe ich über die Jahre eine Reihe von Kindern von Mitgliedern der Waffen-SS und auch von Wehrmachtssoldaten kennengelernt. Die meisten wussten nichts über den Kriegseinsatz des Vaters. In der Regel bot ich an, während meiner regelmäßigen Archivbesuche nach ihren Vätern zu forschen. Meist bestand kein Interesse an einem kritischen Recherchieren und Nachfragen und mein Angebot wurde dankend abgelehnt. Auch die Geschwister der in diesem Buch zur Sprache kommenden Frauen und Männer hatten kein Interesse an einem Gespräch über ihre Väter.
Geschichtserzählung spiegelt hauptsächlich die der jeweiligen Zeit zugrunde liegenden Machtverhältnisse wider. Das gilt grundsätzlich, aber eben auch für den Nationalsozialismus im Allgemeinen und die Waffen-SS im Besonderen. Es sind die Entscheidungsträger, die meistens im Mittelpunkt der biografischen Aufarbeitung stehen. Der Blick auf die, die ihnen folgten, ist oft ein kollektiver, ein summarischer. Selten sind sie einzeln – mit ihren jeweiligen individuellen Gefühlen, Motivationen, Absichten – im Fokus.
Wie weit ging aber ihre Identifizierung mit den Zielen der „Bewegung“? Waren sie nur unschuldig Verführte oder lebten sie die gleichen Macht- und Größenfantasien wie ihre „Führer“, waren sie vom gleichen Hass durchdrungen, nur auf einer anderen Hierarchieebene? Berühmt wurden die Worte von Robert H. Jackson, US-Chefankläger im Nürnberger Prozess, gegen die Hauptkriegsverbrecher in seiner zweiten Anklagerede vom 28. Februar 1946:
„Tausend kleine Führer diktierten, tausend Nachahmer Görings stolzierten umher, tausend Schirachs hetzten die Jugend auf, tausend Sauckels ließen Sklaven arbeiten, tausend Streichers und Rosenbergs schürten den Hass, tausend Kaltenbrunners und Franks folterten und töteten, tausend Schachts, Speers und Funks verwalteten, unterstützten und finanzierten die Bewegung.“4
Das ist überzeugend ausgedrückt. Aber bis zu welchem Punkt gilt diese Analyse, wenn man auf die Masse der Menschen blickt? Die Waffen-SS wurde nach dem Krieg verboten und in Nürnberg zu einer verbrecherischen Organisation erklärt. Waffen-SS steht für den Holocaust, für die Wachmannschaften der KZs, für den bedingungslosen Kriegseinsatz für „Führer, Volk und Vaterland“. „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“, stand in Dachau angeschrieben, und der Spruch „Meine Ehre heißt Treue“ zierte das Koppelschloss der Waffen-SS.
Wie viel davon war nicht nur in den Köpfen, den Gefühlen und den Taten der höheren SS-Führer, sondern auch in den Männern aus den unteren Diensträngen der Waffen-SS? Wie weit reichte ihre Identifikation? Welche Spuren hinterließ die SS-Mitgliedschaft in ihren Mitgliedern? Wie gingen sie mit ihrer Geschichte um? Wie ein SS-Mann sinngemäß einmal sagte, streift man die SS-Uniform nicht so leicht ab.
Was bereits über die Geschichtserzählung gesagt wurde, gilt auch für die Auseinandersetzung von Kindern von Nazi-Tätern mit ihren Vätern. Das Interesse der Öffentlichkeit an diesbezüglichen Zeugnissen der Kinder von Entscheidungsträgern war groß. Besondere Aufmerksamkeit erregte 1987 Niklas Frank, geboren 1939, mit seiner Auseinandersetzung über seinen Vater Hans Frank, der Generalgouverneur von Polen war und in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher hingerichtet wurde. In den folgenden Jahren sind weitere Bücher von Kindern prominenter Nationalsozialisten über ihre Väter erschienen. Darunter auch die Auseinandersetzung von Kurt Meyer junior mit seinem Vater Kurt Meyer, genannt „Panzermeyer“, Jahrgang 1910, Generalmajor der Waffen-SS.5 Sein Vater wurde nach dem Krieg wegen Kriegsverbrechen zuerst zum Tode, dann zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Nach acht Jahren wurde er begnadigt. Neben den autobiografischen Auseinandersetzungen der Kinder erschienen im gleichen Zeitraum Bücher wie u. a. von dem Psychologieprofessor Dan Bar-On „Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von NS-Tätern“.6 Dan Bar-On hatte neben seiner Auseinandersetzung mit den Kindern von NS-Tätern auch zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata von Holocaustüberlebenden gearbeitet. Zur Beschäftigung mit den Kindern von NS-Tätern passt ein Hinweis der Psychoanalytikerin Anita Eckstaedt. Sie zitiert in Bezug auf das Schweigen der Tätergeneration Wolfang Koeppen mit den Worten: „Man musste für die Sünden der Eltern büßen.“7 Inzwischen häufen sich die Berichte über die Versuche von Enkelkindern, die Geschichte ihrer NS-Vorfahren aufzuarbeiten. „Der Spiegel“ griff regelmäßig das Thema auf und titelte unter anderem: „Warum die Nazizeit tiefe Furchen in den Familien zieht“, und in der „Zeit“ vom 25. Juli 2024 schrieb Matthias Lohre unter der Überschrift „Deutsche Geister. War Opa doch ein Nazi?“ über den Versuch der Deutschen, in den Archiven etwas über die NS-Zeit ihrer Eltern und Großeltern zu erfahren.8
Das Buch „Schatten – Unsere Väter in der Waffen-SS“ stellt sich in diese Tradition. Anders aber als bei prominenten NS-Tätern fällt ein Urteil nicht leicht. Während etwa Niklas Frank nicht anders konnte, als sich damit zu konfrontieren, dass sein Vater als „Schlächter von Polen“ ein Massenmörder war, sind es die Unsicherheit und Ambivalenz, die die Auseinandersetzungen in diesem Buch bestimmen.
„The past is never dead. It isn’t even past.“ Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist noch nicht einmal vergangen.9
So lautet eines von William Faulkners bekanntesten Zitaten. Für die in diesem Buch zu Wort kommenden Töchter und Söhne der Waffen-SS-Männer ist Faulkners Satz in ihren Fragen und Nachforschungen schon wahr geworden: Die Vergangenheit ist nicht vergangen. Sie haben sich auf Spurensuche begeben. Was bleibt in ihnen von der Auseinandersetzung, von der Verdrängung, der Leugnung oder auch dem Eingeständnis ihrer Väter, an der mörderischen Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges und der Waffen-SS teilgehabt zu haben, die nach dem Krieg von ihren Vätern gelebt und von ihnen miterlebt wurden?
Die in diesem Buch besprochenen SS-Männer stammen alle aus den jüngeren Kriegsjahrgängen. Der älteste war Jahrgang 1917 und der jüngste Jahrgang 1926. Vier erreichten im Laufe des Krieges die SS-Führerränge, die anderen verblieben in den Unteroffiziers- und Mannschaftsdiensträngen. Die hier genannten Männer decken eine Vielfalt sich zum Teil überschneidender möglicher Biografien in der Waffen-SS ab. Da sind die „einfachen SS-Soldaten“ Gottfried Frizzi und Hans Steiner. Wir haben Eduard Ladurner, der hauptsächlich, und Peter Sieder, der ausschließlich Partisanen und Zivilisten bekämpfte. Es gibt die frühen NS-Aktivisten und SS-Offiziere Karl Nicolussi-Leck, Otto Casagrande, Werner Wohlgemuth und Martin Trojer. Letzterer stand im Zentrum der Ermordung der Juden in Polen und der Ukraine. In Anbetracht der Ergebnisse der Geschichtsforschung muss man davon ausgehen, dass bis zu einem gewissen Grad jeder einzelne SS-Mann zumindest Kenntnis von den Mordtaten hatte und dass Antisemitismus zentraler Bestandteil der SS-Ideologie war. Daher ist die Aussage berechtigt, dass jeder SS-Mann mit seiner SS-Mitgliedschaft, seinem Tun und Denken eine Mitverantwortung für den Holocaust trägt, selbst wenn er persönlich nicht direkt am massenhaften Morden mitwirkte. Aber wo verlief die Grenze zwischen den SS-Frontsoldaten, den „Soldaten wie andere auch“,10 und den SS-Mördern in den Vernichtungslagern oder in den Einsatzkommandos?
Diese Frage und die hier angedachte Unterscheidung ist für uns Kinder der Täter wichtig. Gleichzeitig ist sie für die Kinder der Opfer schmerzlich. Auch der zum Teil nüchterne Ton, mit dem wir in diesem Buch über die Waffen-SS sprechen, muss für die Opfer verletzend klingen. Ich bin mir dessen bewusst und will mich vorab für daraus resultierende Kränkungen entschuldigen. Doch nur so scheint mir ein Blick in den Alltag und die Normalität des Lebens der Waffen-SS-Väter nach dem Krieg und in den Alltag von uns Kindern möglich. Die Idee des Buches war, den Kindern von SS-Männern zuzuhören, die nicht bereits als Mörder identifiziert wurden, und den Schatten zu zeigen, der trotzdem auf die eine oder andere Weise auf ihr Leben geworfen wurde. War der Vater an Mordtaten der Waffen-SS beteiligt? Diente er in einem Konzentrations- oder gar Vernichtungslager? Oder war er, außer für seinen Fronteinsatz in der Waffen-SS, von weiteren Vorwürfen zu entlasten? Das wissen zu wollen, ohne sich der Antwort sicher zu sein, zeichnet die hier zu Wort kommenden Menschen aus.
Das Buch enthält neben Kurzbiografien der Väter die mit den Kindern und Enkelkindern geführten Gespräche. Die Kurzbiografien beruhen auf Dokumenten aus Archiven und aus Privatbesitz. Nicht immer war es möglich, detaillierte Informationen über die Handlungen der Väter während der Zeit des Nationalsozialismus zu finden. Die Kurzbiografien nähern sich den Vätern so weit an, wie es das Material zulässt. Manchmal ist ein Blick auf die Väter nur indirekt möglich, durch die Details, die über ihre Vorgesetzten und die Einheiten bekannt sind, in denen sie dienten. Dann wieder gibt es eine Fülle von Archivmaterial oder eine große Anzahl Feldpostbriefe, sodass ein präziserer Blick möglich ist. Nicht belegte persönliche Erinnerungen an die Zeit bei der Waffen-SS, von den Vätern erzählt und von den Kindern in der jeweiligen Familiengeschichte bewahrt, werden in den Kurzbiografien nicht berücksichtigt. Sie bekommen ihren Platz in den Interviews. Zur Vorbereitung der Interviews führte ich mit allen Beteiligten Vorgespräche. In einem zweiten Schritt erhielten alle noch vor den Interviews die von mir recherchierten Kurzbiografien, die für die jeweiligen Töchter, Söhne und Enkel durchaus einen unterschiedlichen Stellenwert hatten. Manchmal fassten die Kurzbiografien ausschließlich ihnen Bekanntes zusammen, manchmal enthielten sie interessante Neuigkeiten oder gar Überraschungen. Den Fragenkatalog,11 auf dessen Grundlage die Interviews geführt wurden, verschickte ich ebenfalls im Vorfeld. Es war mir wichtig, Vertrauen zu schaffen und den Prozess transparent zu machen. Durch meine eigene Auseinandersetzung mit der Geschichte meines Vaters weiß ich, dass ein kritisches Hinterfragen ein lebenslanger Prozess ist, der nicht erzwungen werden kann. Es ging mir darum, den Nachkommen bei dem, was sie bereit waren über sich und ihre Väter und Großväter zu sagen, zuzuhören, ohne sie unter Druck zu setzen. Der Psychoanalytiker Tilmann Moser, ein Schüler von Alexander und Margarete Mitscherlich, verwies in seiner Kritik an deren Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ darauf, dass jedem Psychoanalytiker bewusst sein sollte, dass Vorwürfe das Gegenüber zum Schweigen, bestenfalls zur Wahrheit verzerrenden Abwehr provozieren.12 So sind in diesem Buch individuelle Porträts entstanden, bei denen der Blick der Nachkommen auf ihre Väter ganz unterschiedliche Emotionen, Einschätzungen und Positionen einbezieht.
Ich möchte am Ende dieser Einführung die Frage aufgreifen, warum dieses Buch zum jetzigen Zeitpunkt erscheint, fast achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, warum wir immer wieder eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit führen müssen. Das Zitat von William Faulkner enthält den Kern der Antwort in aller Kürze und Präzision. Ergänzend soll aber noch der schon genannte Psychologe Dan Bar-On zu Wort kommen:
„Einige Leute fragen vielleicht, warum sich mit den ungelösten Angelegenheiten der Vergangenheit beschäftigen, wenn die Gegenwart uns so viele dringliche neue Fragen aufgibt? Wir müssen lernen, beides zu bewältigen […]. Denn wenn wir uns nur auf das eine ohne das andere konzentrieren, werden wir die Welt, in der wir leben, nicht verstehen können und nicht begreifen, woher wir kamen und wohin wir uns bewegen.“13
Ein weiteres Zitat, das mir sofort gefiel und aus meiner Sicht gut zum Thema passt, findet sich in einem Buch über die Brüder Himmler von Tzvetan Todorov:
„Wenn wir an ihrer Stelle gewesen wären, hätten wir wie sie werden können.“14
So soll denn auch dieses Buch allen Mut machen, sich mit der eigenen Geschichte und der Geschichte der Eltern sowie deren Einbindung in den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg zu befassen.
Was für die damalige Zeit gilt, ist grundsätzlich richtig: Nur der kritische Blick auf die Verwerfungen und Spuren der Geschichte in uns kann uns befreien und uns helfen, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen.
Thomas Casagrande
Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg 1918 kam es zur Zerschlagung der Kaiserreiche Deutschlands und Österreich-Ungarns und damit verbunden zu einer Reihe von Gebietsabtretungen und Staatsgründungen. Für nennenswerte Teile der deutschsprachigen Bevölkerung Europas änderte sich damit der nationale Status. Gehörten sie vorher sprachlich und kulturell zu den dominierenden Bevölkerungsteilen in den Kaiserreichen, wurden sie nun zu Minderheiten in den jeweiligen Nationalstaaten. Insbesondere nach der NS-Machtergreifung 1933 in Deutschland und der Gründung des Großdeutschen Reichs 1938 wurde für diese deutschsprachigen Minderheiten der Begriff „Volksdeutsche“ gebräuchlich: nach Sprache und Kultur zum „deutschen Volkstum“ gehörend, aber außerhalb des „Reichs“ lebend. Von Beginn an war ihr Verhältnis zu den anderssprachigen Bevölkerungsgruppen von Spannungen geprägt. Während die Volksdeutschen bemüht waren, ihre sprachliche und kulturelle Eigenheit zu bewahren, versuchten die jeweiligen nationalen Mehrheiten diese zu beschneiden und manchmal bis hin zur Zwangsassimilierung zu unterdrücken. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten im Deutschen Reich waren in allen deutschsprachigen Gebieten Europas Gruppierungen der sogenannten Erneuerer entstanden, die sich ausschließlich am Deutschen Reich orientierten, wobei die SS immer mehr deren Organisation übernahm. Die Erneuerer setzten ganz auf die vom Deutschen Reich ausgerufene „Heim ins Reich“-Politik. Die ersten Erfolge wie der Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland schürten Hoffnungen. Als im März 1938 mit Österreich, umbenannt in Ostmark, das Großdeutsche Reich begründet und dann im September desselben Jahres das Sudetenland annektiert wurde, waren nicht nur die „nationalsozialistischen“ Organisationen, sondern auch die Volksdeutschen mehrheitlich von ihrem Sieg überzeugt. Entweder würde ihre jeweilige Heimat bald folgen und Großdeutschland angeschlossen oder sie würden aufgrund der Stärke des Großdeutschen Reichs einen privilegierten Status in den verschiedenen Nationalstaaten erhalten. Diejenigen Volksdeutschen, die in den Nationalstaaten verblieben, wurden auch weiterhin als dortige Staatsbürger geführt, während alle Volksdeutschen, die ins Reich umsiedelten, die reichsdeutsche Staatsbürgerschaft erhielten. Für diesen Prozess verantwortlich war der Reichsführer-SS Heinrich Himmler, der ab Oktober 1939 gleichzeitig zum Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums ernannt wurde. Damit wurden die Belange der Volksdeutschen endgültig mit dem Interesse der SS verwoben. Dies führte über die Jahre zu einem überproportionalen Einsatz der europäischen Volksdeutschen in der Waffen-SS und ihrem bedingungslosen Schulterschluss mit der nationalsozialistischen Kriegs- und Besatzungspolitik.
Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg fand eine millionenfache Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen aus ihrer Heimat statt. Die wenigen Volksdeutschen, die als Minderheiten in den jeweiligen Nationalstaaten verblieben, wurden sprachlich und kulturell marginalisiert, mit einer Ausnahme.
Auch Südtirol gehörte zu den Gebieten, die Österreich 1919 abtreten musste. Mit dem Aufstieg Mussolinis und des Faschismus in den 1920er-Jahren begann eine massive Einwanderungspolitik und eine damit verbundene (Zwangs-)Italianisierung Südtirols bis hin zur Auflösung der deutschsprachigen Schulen und der Verwaltung. Der sich dagegen formierende Widerstand der deutschsprachigen Südtiroler reichte vom Aufbau illegaler deutscher Schulen, der sogenannten Katakombenschulen, bis hin zu geheimen politischen Vereinen wie der Südtiroler Heimatfront, später in Völkischer Kampfring Südtirols (VKS) umbenannt. Die Südtiroler unterschätzten die Bedeutung Mussolinis für die nationalsozialistische Politik. Ihre Hoffnung auf eine Angliederung an das Großdeutsche Reich wurde enttäuscht und sie wurden vor die Wahl gestellt, für Deutschland zu optieren oder italienische Staatsbürger zu bleiben, mit allen damit verbundenen Pflichten als Vollbürger gegenüber dem italienischen Staat. Im Zuge dieser sogenannten Option entschieden sich sechsundachtzig Prozent der zweihundertfünfzigtausend Südtiroler für Deutschland, von denen über siebzigtausend ihre Heimat tatsächlich verließen. Obwohl Südtiroler aller Schichten, Besitzverhältnisse und Altersgruppen für Deutschland optierten, lässt sich doch die Aussage treffen, dass sich anteilsmäßig mehr Besitzende und Wohlhabende für das „Dableiben“ entschieden und umgekehrt mehr mittellose und ärmere Südtiroler Optanten waren. Auch für die Südtiroler im wehrpflichtigen Alter war die Option besonders attraktiv, stellte sie doch eine Möglichkeit dar, dem italienischen Militärdienst zu entgehen und stattdessen in der deutschen Wehrmacht oder in der Waffen-SS zu dienen. Darüber hinaus schien der endgültige Erfolg des Deutschen Reichs nach den Siegen über Polen 1939 und den Niederlagen Frankreichs und der britischen Streitkräfte 1940 nur eine Frage der Zeit, sodass manche jungen Männer förmlich auf ihren Kriegseinsatz drängten.
Anders als der Kriegsverlauf, der 1943 nach den Niederlagen an der Ostfront und in Afrika – aus deutscher Sicht – eine schlechte Entwicklung genommen hatte, brachte das Jahr 1943 – aus Südtiroler Sicht – eine durchaus positive Wendung. Mit dem italienisch-amerikanischen Waffenstillstand und der Absetzung Mussolinis begann die Besetzung Italiens und damit auch Südtirols durch die deutsche Wehrmacht. Für viele Südtiroler war dieser 8. September 1943 der langersehnte Tag der Befreiung. Für die Juden Italiens und Südtirols bedeutete die deutsche Besatzung den Beginn des Holocaust und die Deportation in die Vernichtungslager. Bis 1943 hatten die italienischen Faschisten die jüdischen Gemeinden massiv bedrängt, aber nicht ausgelöscht. Mit dem Einmarsch von Wehrmacht und Waffen-SS begann die Jagd auf die wenigen Juden Südtirols und auf die dorthin aus anderen Gebieten Europas geflüchteten Juden, an der sich auch der Südtiroler Ordnungsdienst (SOD) beteiligte.
Als sich 1945 die letzte Hoffnung überzeugter Nationalsozialisten kurzzeitig auf das Phantasma einer Verteidigungsstellung in den Alpen, der sogenannten Alpenfestung, konzentrierte, war wiederum Südtirol im Gespräch. Aber auch jenseits der nicht realisierten Endkampffantasien bekam Südtirol 1945 entscheidende Bedeutung für auf der Flucht befindliche Nationalsozialisten. Es gab in Südtirol nach wie vor eine loyale deutschsprachige Bevölkerung, und auch viele Südtiroler, die in der Waffen-SS gedient hatten oder beim VKS aktiv gewesen waren, blieben vorerst in ihrer Heimat und waren so Ansprechpartner und Helfer der gesuchten Nationalsozialisten. Mit den sich dann langsam etablierenden Fluchtwegen über Rom nach Lateinamerika wurde Südtirol zur entscheidenden Transitstrecke.
1948 gab es dann die Möglichkeit einer Rückoption, sodass die meisten Südtiroler, die für Deutschland optiert hatten, nun legal in ihrer Heimat bleiben bzw. dorthin zurückkehren konnten. Ausgenommen waren Offiziere der Waffen-SS, Führungskräfte des SOD sowie Mitglieder der Gestapo und des Sicherheitsdienstes (SD). Das Verhältnis der Südtiroler zum italienischen Staat blieb auch weiterhin angespannt. Es kam in den 1960er-Jahren zu Bombenanschlägen Südtiroler Separatisten verbunden mit harten Reaktionen der italienischen Staatsmacht. Gleichzeitig wurde Südtirol zu einem beliebten Reiseziel hauptsächlich von national gesinnten Deutschen und Österreichern, oft auch um den „deutschen Süd“ des Deutschlands „von dem Belt bis an die Etsch“ – so in der ersten Strophe des „Deutschlandliedes“ von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben – als einziges intaktes „volksdeutsches“ Siedlungsgebiet zu unterstützen. Erst nach dem Autonomiestatut von 1972, bei dem der um Ausgleich bemühte langjährige Landeshauptmann Südtirols Silvius Magnago eine zentrale Rolle spielte, verbesserte sich die Situation der Südtiroler entscheidend. Heute hat Südtirol das höchste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Italien.
Mitte der 1920er-Jahre hatte die „Schutzstaffel“, wie die SS eigentlich hieß, als Leibwache Adolf Hitlers und Teil der Sturmabteilung (SA) angefangen. Als 1934 Adolf Hitler die SA-Spitze entmachten und liquidieren ließ, führte Einheiten der SS-Leibstandarte „Adolf Hitler“ die Ermordungen durch. Unter dem Reichsführer-SS Heinrich Himmler wurden die paramilitärischen Einheiten der SS, ab 1939 unter dem Begriff „Waffen-SS“ zusammengefasst, zu einer mächtigen Säule des NS-Staates. Neben der Waffen-SS existierte noch die Allgemeine-SS, die jedoch keine vergleichbare Bedeutung für den Krieg und den Holocaust hatte. Im Unterschied zur Waffen-SS waren deren Mitglieder bis auf die SS-Führer keine Berufssoldaten, sondern Zivilisten, die in ihrer Freizeit unentgeltlich Dienst taten. Insgesamt dienten mehr Mitglieder der Allgemeinen-SS in der Wehrmacht als in der Waffen-SS.
Kurz nach dem Überfall auf Polen, bei dem insbesondere die Einheiten der Waffen-SS zahlreiche Massaker an der polnischen und jüdischen Zivilbevölkerung verübten, wurden erste eigenständige Waffen-SS-Divisionen aufgestellt. Im weiteren Verlauf des Krieges kämpften die Waffen-SS-Divisionen auf allen europäischen Kriegsschauplätzen, wobei ihnen insgesamt mehr Massaker an der Zivilbevölkerung – darunter auch an Frauen und Kindern – sowie an Kriegsgefangenen als den Wehrmachtsdivisionen nachgewiesen wurden. Als Beispiele sollen hier die 1. SS-Division „Leibstandarte Adolf Hitler“ in Italien 1943 und die 2. SS-Division „Das Reich“ in Frankreich 1944 genannt werden. Darüber hinaus gehörten die Waffen-SS und die Konzentrations- und Vernichtungslager zusammen. Die 3. SS-Division „Totenkopf“ wurde aus den Wachmannschaften des Konzentrationslagers Dachau gegründet. Ihr Divisionskommandant wurde der langjährige Inspekteur des Konzentrationslagersystems SS-Obergruppenführer Theodor Eicke. Aber auch zwischen den anderen SS-Divisionen und dem Lagersystem gab es einen regelmäßigen Austausch. Wachmannschaften und Offiziere der Vernichtungslager waren Waffen-SS-Mitglieder und hatten Waffen-SS-Dienstränge.
Da die Waffen-SS bei der Rekrutierung innerhalb des Deutschen Reichs der Wehrmacht den Vortritt lassen musste, richtete sich ihr Blick mit Beginn des Krieges zunehmend auf die Volksdeutschen. Dies führte dazu, dass bis Ende des Krieges ungefähr ein Drittel der Soldaten der Waffen-SS Volksdeutsche waren. An dieser Stelle soll darauf verwiesen werden, dass für die ins Reich eingebürgerten Volksdeutschen ebenso wie für Mitglieder der Waffen-SS, die aus dem „Altreich“ stammten, die Möglichkeit bestand, sich zwischen dem Dienst in der Wehrmacht und dem Dienst in der Waffen-SS zu entscheiden. Im Verlauf des Krieges erodierte allerdings das Prinzip der Freiwilligkeit und es kam durchaus auch hier zu manchen Zwangsrekrutierungen für die Waffen-SS. Für andere Volksdeutsche, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit bekamen, bestand diese Wahlmöglichkeit grundsätzlich nicht. Sie konnten bestenfalls zwischen dem Dienst in der mit dem Deutschen Reich verbündeten jeweiligen nationalen Armee oder der Waffen-SS wählen oder wurden wie in Jugoslawien indirekt sogar für die Waffen-SS verpflichtet.
Nach der deutschen Niederlage 1945 wurden in ganz Europa die Soldaten der Waffen-SS als fanatische Kämpfer des NS-Regimes und Mittäter des Holocaust identifiziert und verfolgt. Die Angst der SS-Männer, durch die an der Innenseite des linken Oberarms eintätowierte Blutgruppe erkannt zu werden, führte zu einer Reihe von Selbstverstümmelungen, und wenn irgend möglich, versuchten sie aus dem Einflussbereich der sowjetischen Roten Armee zu entkommen oder sich erst gar nicht als Männer der Waffen-SS zu erkennen zu geben. Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde die Waffen-SS zu einer verbrecherischen Organisation erklärt und verboten. Mitglieder der Waffen-SS wurden in besonders scharf bewachten Teilen der Kriegsgefangenlager interniert und überall in Europa wurden Todesurteile gegen Offiziere der Waffen-SS aus den Konzentrationslagern vollstreckt. Auch in der amerikanisch besetzten Zone wurden in den Nürnberger Folgeprozessen einige Befehlshaber der Waffen-SS zum Tode verurteilt.
Bereits 1946 wurde in den Westzonen das sogenannte Spruchkammerverfahren eröffnet, in dem deutsche Laiengerichte – unterhalb der Ebene der Strafprozesse, die von den Alliierten durchgeführt wurden – die politische Säuberung in den drei Westzonen verwalteten und Strafen und Berufsverbote gegen Verurteilte, darunter auch viele Mitglieder der Waffen-SS, verhängten. Mit der zunehmenden Spannung zwischen Ost und West und dem beginnenden Kalten Krieg trat die Verfolgung von NS- und SS-Tätern in den Hintergrund. Als im Januar 1951 der spätere Präsident der USA Dwight D. Eisenhower seine berühmte Ehrenerklärung für die deutschen Soldaten abgab, derzufolge sie genauso tapfer und ehrenhaft wie die alliierten Soldaten gekämpft hätten, wurden bald auch die Waffen-SS-Soldaten rehabilitiert. Nachdem auch Bundeskanzler Konrad Adenauer von der CDU und Oppositionsführer Kurt Schumacher von der SPD eine entsprechende Ehrenerklärung abgegeben hatten, blieb die Organisation zwar verboten, aber dem einzelnen Mitglied der Waffen-SS wurde es selbst überlassen, ob es sich schuldig fühlte oder nicht. Kurz darauf, Ende 1951, gründete sich die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS e. V.“ (HIAG) als Traditionsverband. Bald fanden öffentliche SS-Veteranentreffen statt, und den ehemaligen SS-Männern standen wieder Karrierewege bis in die Spitzen von Polizei, Militär, Verwaltung und Wirtschaft der Bundesrepublik offen. Allerdings finden bis in die Gegenwart in Deutschland noch einzelne Prozesse gegen Mitglieder der Waffen-SS statt, die in den Vernichtungslagern zur Wachmannschaft gehört hatten.
Was mit einer gelungenen Schulkarriere und dem ersten motortechnischen Lehrgang in Friedenszeiten begann, setzte sich über die Kriegsjahre fort. Kein Studium, aber ein kriegstechnischer Lehrgang folgte auf den nächsten. Unterbrochen von Verwundungen an der Front folgte Schulung auf Schulung. Wozu? Um das moderne Kriegshandwerk der Panzertruppe zu lernen, SS-Panzerführer in der 9. SS-Division „Hohenstaufen“ zu werden. Nach Einsätzen an der Ost- und Westfront beendete die letzte Verwundung alles. Invalide, zerschossen, interniert, die Heimat Danzig verloren.
Werner Wohlgemuth wurde am 27. November 1920 als erster Sohn von Alexander und Antoine Wohlgemuth in Zoppot bei Danzig geboren. Seine Eltern arbeiteten im Gastbetrieb. Sein Vater als Oberkellner, seine Mutter war Wirtschafterin. Kurz vor seiner Geburt war aus der Region um Danzig der sogenannte entmilitarisierte und unter Völkerbundmandat stehende Freistaat Danzig entstanden. Eine deutsche Insel in dem seit dem Versailler Vertrag vom Deutschen Reich an Polen abgetretenen Westpreußen. Die Stimmung in Danzig war antipolnisch und deutschnational. Nach dem Wahlsieg der NSDAP 1933 und der sogenannten Machtergreifung wurde Danzig zu einer nationalsozialistischen Bastion in Polen. Werner Wohlgemuth befand sich auf der Mittelschule in Zoppot, als er 1934 in die Hitlerjugend eintrat, dem Vorbild seines Vaters folgend, der bereits NSDAP-„Parteigenosse“ war.16 Werner Wohlgemuths Jugend war von schulischem Erfolg und strikter Einbindung in die nationalsozialistische Bewegung geprägt. 1936 wurde er Mitglied im Reichskolonialbund. Beim Deutschen Jungvolk, der der Hitlerjugend angehörenden Organisation der Zehn- bis Vierzehnjährigen, wurde Werner Wohlgemuth in der nationalsozialistischen Ausbildung der Kinder aktiv. 1937 beförderte man ihn zum Oberjungzugführer. Im Rahmen seiner Tätigkeit im Deutschen Jungvolk betreute er Jugendgruppen auf Landfahrten und nahm mit ihnen an verschiedenen motorsportlichen Veranstaltungen teil. Immer noch 1937 besuchte er einen motorsporttechnischen Lehrgang. Im selben Jahr wechselte er auf die Oberrealschule zu St. Petri und Pauli in Danzig, wo er 1939 sein Abitur machte. Zu diesem Zeitpunkt herrschte in Danzig bereits Vorkriegsstimmung. Paramilitärische deutsche Verbände wie die Einwohnerwehr „Danzig“ waren bereits 1933 aufgestellt worden.17 Die SS-Heimwehr „Danzig“ wurde 1939 auf Befehl des Reichsführers-SS Heinrich Himmler vom damaligen Inspekteur der Konzentrationslager SS-Obergruppenführer Theodor Eicke als sogenannter deutscher Selbstschutz gegen Polen gegründet.18 Eicke hatte zuvor das deutsche Konzentrationslagersystem organisiert und die SS-Totenkopfstandarten aus den Wachmannschaften gebildet. Neben der SS-Heimwehr „Danzig“ wurde der SS-Sturmbann „Eimann“ aus Danziger SS-Mitgliedern aufgestellt. In der Mehrheit bestand die SS-Heimwehr „Danzig“, in die bald auch die Einwohnerwehr „Danzig“ integriert wurde, aus Männern der SS-Totenkopfsturmbanne aus dem Deutschen Reich. Getarnt als Mitglieder einer Sportveranstaltung, waren sie im Sommer 1939 zu Hunderten illegal nach Danzig eingeschleust worden. Die Erstürmung der Danziger polnischen Post durch die Heimwehr am frühen Morgen des 1. September 1939 war eine der ersten Kriegshandlungen des Zweiten Weltkrieges. Werner Wohlgemuth wurde zum Staffelanwärter ernannt und wie alle Danziger Aktivisten mit der Ehrennadel der SS-Heimwehr „Danzig“ für seinen Einsatz in den Kämpfen ausgezeichnet. Neben den SS-Totenkopfstandarten „Brandenburg“, „Thüringen“ und „Oberbayern“ nahmen auch die Danziger SS-Totenkopf-Formationen am anschließenden Polenfeldzug teil. In Polen verübten die verschiedenen SS-Totenkopf-Formationen im Rücken der Deutschen Armee bei sogenannten Säuberungs- und Sicherungsmaßnahmen eine Reihe von Massenmorden an Tausenden polnischen und jüdischen Zivilisten. Auch den Danziger SS-Verbänden können bestimmte Verbrechen zugeordnet werden. So war die SS-Heimwehr „Danzig“ für die Erschießung von dreiunddreißig polnischen Zivilisten am 8. September 1939 verantwortlich. Der SS-Sturmbann „Eimann“ ermordete nach dem 13. September eine unbestimmte Zahl Juden im früheren polnischen Korridor.19 Anfang Oktober wurden die genannten SS-Totenkopfverbände aus Polen abgezogen und nach Dachau verlegt, wo sie den Kern der neu zu bildenden 3. SS-Division „Totenkopf“ stellten. Das Konzentrationslager Dachau wurde während der Aufstellung der Division geleert, die Häftlinge verteilte man auf andere Konzentrationslager. Nur etwa hundert Häftlinge blieben zurück, um notwendige Arbeiten
Werner Wohlgemuth im Lazarett in Reims, 1944
zu verrichten.20 Im November 1939 nahm Werner Wohlgemuth an einem SS-Unterführerlehrgang in Dachau teil. Auch innerhalb der SS-Division „Totenkopf“ blieb die SS-Heimwehr „Danzig“ dicht zusammen. So war in Dachau der direkte Vorgesetzte von Werner Wohlgemuth der SS-Standartenführer Hans Friedemann Goetze, den er bereits aus seiner Zeit in Danzig kannte. Im Anschluss an die Ausbildungszeit in Dachau wurde die Division in den Raum Ludwigsburg/Heilbronn verlegt. In den folgenden Monaten wurde die Totenkopf-Division weiter ausgebildet und ausgerüstet, wobei Werner Wohlgemuth der 2. Kompanie des 3. Regiments der Division zugeteilt wurde. Regimentskommandeur war wiederum SS-Standartenführer Goetze. Nach der Invasion in den Niederlanden und Belgien fand der erste echte Kampfeinsatz der Division am 19. Mai 1940 statt. In den folgenden Tagen fiel die Totenkopf-Division sowohl durch die von ihrem Divisionskommandeur Eicke verlangte rücksichtslose, gar selbstmörderische Kampfweise als auch durch die Ermordung von französischen Zivilisten und britischen Kriegsgefangenen auf. Das erste belegte Massaker an französischen Zivilisten durch die SS-Division „Totenkopf“ fand im Raum Arras zwischen dem 20. und 25. Mai statt. In den darauffolgenden Tagen gab es bei Le Paradis harte Gefechte mit der britischen Armee, bei der die SS-Division „Totenkopf“ schwere Verluste erlitt. Am 27. Mai fiel der Kommandeur des 3. Regiments SS-Standartenführer Goetze, vormals Führer der SS-Heimwehr „Danzig“, bei Le Paradis, und auch Werner Wohlgemuth wurde verwundet. Im Anschluss an das Gefecht ermordeten Angehörige des 2. Regiments „Totenkopf“ unter Führung des SS-Obersturmführers Fritz Knöchlein neunundneunzig britische Gefangene. Niels Weise geht davon aus, dass der Tod Goetzes wahrscheinlich ein Auslöser für das Massaker war.21 Der Zusammenhang zwischen Verlusten von „geschätzten Truppenführern“ und „beliebten Kameraden“ und anschließenden Ermordungen von Zivilisten und gefangenen gegnerischen Soldaten zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Kriege.22