Schattenmensch - Jürgen Siegmann - E-Book
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Schattenmensch E-Book

Jürgen Siegmann

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Beschreibung

Köln, Sommer 2016: Der Libyer Tarek Bajari lebt in Köln als illegaler Flüchtling. Und er hat ein Problem. Ein renommierter Anwalt wird ermordet und ein Koffer voller Geld verschwindet. Und weil Tarek einem Freund helfen will, erwischt ihn die Polizei zur falschen Zeit am falschen Ort. Dem Tatort. Tarek muss fliehen und sich selbst auf die Suche nach dem Mörder machen, sonst ist er entweder tot, im Gefängnis oder abgeschoben. Erst etliche Tote später erkennt er, welch übermächtigen Gegnern er in die Quere gekommen ist. Denn Rechtsradikale in hohen gesellschaftlichen Positionen planen nichts Geringeres als den Sturz der Regierung. Für ein geplantes Attentat wollen sie Tarek als Sündenbock präsentieren. Die aufgeheizte Stimmung gegen Ausländer, Flüchtlinge und Muslime soll genutzt werden, um den Rechten zu Wahlerfolgen zu verhelfen. Um Tarek in die Finger zu bekommen, entführen sie seine Freundin Simone. Tarek muss sich entscheiden: Opfert er Simones Leben oder begibt er sich in die Hände der Verschwörer und damit in den wohl sicheren Tod? Ein Politthriller von Jürgen Siegmann - brisant und höchst aktuell!

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Seitenzahl: 346

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Jürgen Siegmann

Schattenmensch

Roman

EDITION 211

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

Copyright © 2017 by Edition 211, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage

Lektorat: Martina Kuscheck

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

E-Book: Mirjam Hecht

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-087-7

www.bookspot.de

Prolog

München, 26. September 1980

Irgendwann tut man alles zum letzten Mal.

Irgendwann küsst man ein letztes Mal.

Irgendwann liebt man ein letztes Mal.

Irgendwann lacht man ein letztes Mal.

Und irgendwann stirbt man ein erstes Mal.

Es war der Tag vor Elenas zwanzigstem Geburtstag. Und als sie beim Frühstück in ihrer kleinen Studentenbude saß, ahnte sie nicht, dass ihr nur noch wenige Stunden zu leben blieben.

Es war schon kurz vor zwölf und sie stellte rasch ihre Kaffeetasse in den Ausguss, zog ihre roten Schuhe an und eilte aus dem Haus. Sie musste sich sputen, um an die Uni zu kommen. Elena studierte Kunstgeschichte und verbrachte den Nachmittag in der Bibliothek, um eine Semesterarbeit vorzubereiten. Gegen 19:00 Uhr traf sie sich mit einer Freundin in einer Pizzeria, von wo aus sie sich um kurz vor 22:00 Uhr mit dem Fahrrad zur Theresienwiese aufmachte, um ihren Freund Ulrich abzuholen, der beim Oktoberfest einen Aushilfsjob als Bierzapfer ergattert hatte.

Elena kettete ihr Fahrrad am Bavariaring an einem Verkehrsschild an und überquerte die Straße in Richtung des Haupteingangs. In Kürze würden die Festzelte schließen und es kamen ihr viele Menschen entgegen, die den Platz verließen.

Es war die reinste Völkerwanderung an diesem Abend. Millionen von Besuchern kamen jedes Jahr aufs Oktoberfest. Und Elena begegneten Asiaten in Lederhosen, einem verliebten Pärchen, bei dem sie einige Brocken Italienisch aufschnappte, ein paar skandinavischen Männern, die sich singend in den Armen lagen, Eltern, die ihre übermüdeten Kinder im Arm hielten.

Elena blieb mitten im Gewühl stehen, aus Angst, Ulrich zu verpassen. Im Hintergrund leuchteten die bunten Lichter des Riesenrads und der anderen Fahrgeschäfte und aus den Bierzelten drang Blasmusik und begleitete die Menschen auf ihrem Nachhauseweg.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. 22:18 Uhr. Ulrich hatte offiziell um 22:15 Uhr Feierabend und musste jeden Moment auftauchen. Sie reckte den Kopf und hielt in der Menschenmenge nach ihm Ausschau. Und sobald sie ihn entdeckte, würde sie ihm entgegenfliegen, ihre Arme um seinen Hals schlingen und ihn küssen, auch wenn er nach Bier, Tabak und Schweiß stinken würde.

Mit Ulrich war alles so leicht. Wie eine kühle Brise an einem heißen Sommertag. Vom ersten Moment an hatten sie sich auch ohne Worte verstanden, und wenn sie zusammen waren, dann fühlte es sich einfach richtig an. Alles, was sie miteinander taten.

Sie drehte unbewusst eine Locke ihres dunkelbraunen Haares um den Finger, wie sie es oft tat, wenn sie an Ulrich dachte, und senkte den Blick auf ihre Schuhe. Er hatte sie ihr voriges Jahr zum Geburtstag geschenkt. Was würde er ihr wohl in diesem Jahr schenken?

Es war der letzte Gedanke in Elenas kurzem Leben. Nur wenige Meter neben ihr war in einem Abfallkorb eine Bombe deponiert worden, die in diesem Moment explodierte. Die gewaltige Explosion riss mehr als ein Dutzend Menschen in den Tod und auch Elena war auf der Stelle tot.

Die ungeheure Druckwelle erzeugte kaum Sachschaden, aber im Umkreis von mehr als 20 Metern lagen Tote und Verletzte und den herbeieilenden Helfern bot sich ein schreckliches Bild. Abgerissene Arme und Beine, verstümmelte Leichen und Menschen, die blutüberströmt umherirrten.

Später würden die Helfer einen von Elenas roten Schuhen finden. Der andere blieb auf ewig verschwunden.

1

Köln, August 2016

Einschlafen ist wie sterben. Der Unterschied besteht im Aufwachen. Und in letzter Zeit wünschte sich Maundu Odera immer öfter, nicht mehr aufzuwachen.

Einen Moment lang war er völlig orientierungslos. Über ihm der blaue Himmel. Genau wie zu Hause. Doch dann schreckte er hoch. Wie lange hatte er geschlafen?

Er hatte seinen schlaksigen Körper doch nur einen Augenblick auf den Rechen gestützt und die Augen geschlossen. Wieso lag er jetzt hier im Gras? Maundu wusste, dass er sofort rausfliegen würde, wenn der Anwalt ihn erwischte. Aber er bekam einfach zu wenig Schlaf.

Um drei Uhr morgens war er aufgestanden und hatte den ganzen Tag in dem Hotel in der Innenstadt geschuftet. Spülen, Schuhe putzen, Wäschesäcke schleppen. Zehn Stunden lang. Nach Feierabend waren ihm nur ein paar Minuten geblieben, um den Bus zu erwischen. Die Fahrt raus aus der Stadt war die erste Pause des Tages gewesen.

Von der Bushaltestelle musste Maundu noch einige Minuten in der brütenden Hitze laufen bis zum Anwesen des Anwalts, bei dem er zweimal in der Woche einen Job als Gärtner hatte.

Und dann half er noch an zwei Abenden in einem Restaurant aus. Doch das Geld, das er verdiente, reichte gerade, um nicht zu verhungern und seiner Familie jeden Monat eine kleine Summe zu schicken. Hatte er dafür seine Heimat verlassen und die lange Reise von Kenia nach Europa auf sich genommen?

Aber warum war er aufgewacht? Ängstlich wie ein gehetztes Tier sah Maundu sich um. Da war niemand. Mühsam rappelte er sich hoch. Irgendein Geräusch hatte ihn geweckt. Hinten beim Haus. Es war hier immer so unwirklich still, dass man jedes Türenschlagen wahrnahm. Diese Gärten der reichen Leute erinnerten ihn an Friedhöfe. Es gab dort kein Leben. Kein Lachen, kein Streiten, kein Kindergeschrei. Höchstens mal einen Hund, der bellte, und das Zwitschern der Vögel. Aber wenigstens gab es Arbeit für Menschen wie ihn. Mehr interessierte ihn nicht.

Das Anwesen zog sich in einem sanften Schwung einen kleinen Hügel hinauf und Maundu ging mit seinem Rechen zu der Rasenfläche oben beim Haus. Besser, wenn der Chef sah, dass er was tat für sein Geld, auch wenn es ein schlechter Witz war, was er hier verdiente. Aber er musste froh sein, dass es überhaupt Leute gab, die jemanden wie ihn beschäftigten. Menschen, die es eigentlich gar nicht gab. Die es nicht geben durfte. Die aber trotzdem da waren. Illegale. Schattenmenschen. Wie Maundu, der gezwungen war, ein unsichtbares Leben in Deutschland zu führen.

Es machte ihn nervös, wenn der Anwalt zu Hause war. Er hatte immer etwas an seiner Arbeit auszusetzen und noch nie ein freundliches Wort für ihn übrig gehabt. Aber zum Glück bekam Maundu ihn nur selten zu Gesicht. Meist war bloß seine Frau da, die viel Zeit telefonierend am Swimmingpool verbrachte.

Oft sonnte sie sich auch mit nackten Brüsten, während er den Rasen mähte. Aber nur, wenn der Anwalt nicht zu Hause war. Vielleicht wollte sie ihn provozieren oder sich über ihn lustig machen. Vielleicht existierte er für sie aber auch einfach nicht. Dieses schamlose Verhalten widersprach all seinen Moralvorstellungen. In Maundus Augen war diese Frau nichts anderes als eine Hure. Aber wenigstens hatte sie nie etwas an seiner Arbeit auszusetzen.

Im Moment war allerdings weder der Anwalt noch dessen Frau zu sehen. Sein kleines Schläfchen war also folgenlos geblieben. Die Terrassentür des Hauses stand offen und die weiße Gardine bewegte sich leicht im Wind. Maundu harkte gewissenhaft die letzten Grasreste zusammen, die nach dem Mähen zurückgeblieben waren. Wer wusste schon, ob er vom Haus aus beobachtet wurde? Dann hörte er sie. Erst ihn, kurz darauf auch sie. Die beiden hatten Sex. Sehr gut, so waren sie eine Weile beschäftigt. Maundu verschwand wieder in den schattigen Teil des Gartens, um in aller Ruhe eine Hecke beim Eingang zu beschneiden.

Nach wenigen Minuten fielen ihm erneut die Augen zu. Eine Stunde musste er noch durchhalten. Im Bus würde er ein wenig schlafen können. Da hörte er den lauten Gong der Türklingel. Sofort legte Maundu einen Zacken zu. Und im nächsten Augenblick kam auch schon der Anwalt den Weg herunter, um seinen Besuch persönlich in Empfang zu nehmen. Die Männer begrüßten sich und gingen den Weg hinauf, ohne den Gärtner auch nur eines Blickes zu würdigen.

Als er beinahe mit seiner Hecke fertig war, hörte Maundu Schreie vom Haus her. Er wandte den Kopf und da stürmte der Anwalt auch schon mit hochrotem Kopf auf ihn zu. Sofort wusste er, dass ihm Ärger bevorstand, auch wenn er keinen Schimmer hatte, warum.

Kaum hatte der Anwalt ihn erreicht, brüllte er los. Maundu verstand kein Wort und guckte ihn nur verständnislos an. Obwohl sein Gegenüber einen Kopf kleiner als Maundu war, packte der ihn am T-Shirt und schüttelte ihn. Wenn die verdammten Deutschen ruhig und langsam sprachen, kapierte er inzwischen einiges. Aber das taten sie ja nie.

Der Anwalt war wütend, das war unübersehbar. In einer solchen Verfassung hatte er ihn noch nie erlebt. Er tobte. Er brüllte. Und seine Arme wedelten wie die eines verrückt gewordenen Mganga, eines mächtigen Zauberers. Ganz nah sah er das Gesicht des älteren Mannes vor seinem. Die roten Äderchen auf der Nase, die Tränensäcke unter den Augen. Was wollte der Anwalt von ihm? Warum bedrängte er ihn? Was hatte ihn so wütend werden lassen?

Maundu hob die Arme und sprach beschwichtigend in Kisuaheli auf ihn ein. Doch der Anwalt schrie immer weiter. Schnell. Laut. Aggressiv. »Koffer« war eines der Worte, das er aus dem Wortschwall heraushören konnte. »Geld« ein anderes. Aber er wusste beim besten Willen nicht, von welchem Koffer und von welchem Geld hier die Rede war. Also verhielt er sich ruhig und hoffte, dass der Anwalt bald fertig war.

Dass Maundu nur dastand und den Anwalt teilnahmslos anstarrte, machte diesen aber nur noch wütender. Ein Schlag auf die Brust. Maundu wich verängstigt zurück, bis er die Hecke in seinem Rücken spürte. Er könnte diesen alten Mann mit einem Hieb niederstrecken, aber er wusste, dass alle weißen Männer eine Macht hatten, die weit über ihre körperlichen Kräfte hinausgingen.

Verzweifelt versuchte er, den Anwalt zu beschwichtigen. Doch er musste hilflos mit ansehen, wie der Mann immer wütender wurde. Er schrie und schubste ihn erneut. Er sah den Zorn in den Augen des weißen Mannes. Aber er sah noch etwas anderes. Angst. Und das verstand Maundu überhaupt nicht.

»Geld! Geld! Geld!«

Immer wieder schrie der Anwalt dieses Wort. Glaubte er, dass Maundu irgendwelches Geld genommen hatte? Warum sollte er so verrückt sein? Aber natürlich war es der schwarze Mann, der als Erster verdächtigt wurde.

Maundu hatte nichts getan, doch außer ihm war hier niemand weit und breit. Wer hätte denn irgendwelches Geld stehlen sollen? Und wo überhaupt? Im Haus? Er war doch nicht mal in die Nähe des Hauses gekommen und der Anwalt und seine Frau waren die ganze Zeit zu Hause gewesen.

Maundu kapierte immer weniger. Aber eines war ihm klar. Er steckte in der Klemme. Wenn der Anwalt glaubte, dass er etwas gestohlen hatte, spielte es keine Rolle, ob er es tatsächlich getan hatte. Das Ergebnis wäre das Gleiche.

Wenn der die Polizei rief, wäre es Maundus kleinstes Problem, dass ihm niemand glauben würde. Wenn die Polizisten kamen, drohte ihm die Abschiebung, egal, ob er etwas verbrochen hatte oder nicht.

Wieder und wieder stieß ihn der Anwalt vor die Brust und brüllte dabei: »Wo ist mein Geld?« Und dann hörte Maundu in dem Wortschwall etwas heraus, das jeder afrikanische Einwanderer schnell lernte: »Dreckiger Neger.«

Unvermittelt schlug er zu und sofort wurde es himmlisch still. Der Anwalt sackte stöhnend zu Boden. Blut lief aus seiner Nase und besudelte sein weißes Hemd. Maundu trat ihm in den Bauch. Das war für den dreckigen Neger.

Als er merkte, dass der Anwalt sich nicht mehr rührte, hielt Maundu erschrocken inne. Hatte er ihn umgebracht? Maundu stupste den Anwalt mit der Fußspitze an. Der stöhnte leise, rührte sich aber immer noch nicht. Gott sei Dank, er lebte! Erst jetzt wurde Maundu klar, was er getan hatte. Wenn der Anwalt wieder bei Bewusstsein war, würde er die Polizei rufen. Polizei bedeutete Abschiebung. Er musste weg von hier. Sofort! Ohne sich noch einmal nach dem Anwalt umzusehen, rannte Maundu los.

Die Straße lag einsam in der Hitze des späten Nachmittags. Links und rechts hohe Mauern, Hecken, massive Eisentore, Videokameras. Maundu lief so schnell er konnte in seinen alten Schuhen, die ihm eine Nummer zu groß waren. Zurück in Richtung Hauptstraße, einen anderen Weg gab es sowieso nicht. Dort unten war die Bushaltestelle. Wenn er erst im Bus saß, würde alles gut werden. Dann konnte ihn der Anwalt nicht mehr finden. Er wusste ja nicht mal Maundus vollen Namen, er war immer nur der Gärtner gewesen.

Die Straße lag still vor ihm. Nur das Zirpen der Grillen und das Platschen seiner Sohlen auf dem Asphalt waren zu hören. Bis er hinter sich das Aufheulen eines Automotors hört. Maundu lief schneller. Hier konnte man nirgends abbiegen oder sich verstecken.

Er lief so schnell er konnte. Das Auto war noch nicht zu sehen, aber der Motorenlärm kam immer näher. Und er wusste, dass er keine Chance hatte, zu entkommen. Er spürte, dass dieses Auto nicht zufällig die Straße entlangfuhr.

Seine Lunge schmerzte und der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Verzweifelt blickte er sich um. Und da war es. Groß, schwarz und aggressiv. Der silberne Kühler wie ein aufgerissenes Maul. Die Scheinwerfer wie Augen. Dieser Wagen machte Jagd auf ihn. Wie ein Tier. Groß, wild und ausgehungert. An den Fahrer verschwendete er keinen Gedanken, es war dieses dunkle Raubtier, das ihm Todesangst bereitete.

Er wusste, dass das Tier ihn gesehen, ihn gewittert hatte. Der Motor heulte auf. Wie das Fauchen einer Raubkatze. Das Tier machte einen Sprung nach vorne und raste auf ihn zu.

Lauf schneller!, schoss es Maundu durch den Kopf. Achte nicht auf die Schmerzen. Renn!

Da vorn, die nächste Kurve auf der engen Straße. Nur noch wenige Meter. Er musste diese Kurve erreichen, weiter konnte er im Moment nicht denken. Maundu schleuderte seine Schuhe von sich und rannte so schnell ihn seine Füße trugen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

Doch das Tier kam unbarmherzig näher. Völlig mühelos. Die Kurve … nur noch drei Meter, noch zwei. Er hört das Brüllen des Motors in seinem Rücken. Das Raubtier war direkt hinter ihm, bereit zum Sprung. Noch ein Meter … die Kurve … geschafft! Die Straße machte hier eine scharfe Wendung und das verschaffte ihm ein paar Sekunden. Aber Maundu kannte den Weg und wusste, dass es noch weit war bis zur rettenden Kreuzung. Viel zu weit. Dennoch rannte er einfach weiter.

Er kam um die Kurve und plötzlich tauchte vor ihm dieser weiße Lieferwagen auf. Es war viel zu eng für zwei Wagen, was meist kein Problem war, weil es kaum Verkehr gab. Aber wenn sich doch einmal zwei Wagen trafen, musste einer von beiden bis zur nächsten Einfahrt zurücksetzen. Der Mann in dem Lieferwagen schien sich hier aber nicht auszukennen und Maundu hörte, wie er eine Vollbremsung machte, um eine Kollision zu vermeiden.

Maundu drückte sich auf dem schmalen Fußweg an dem Transporter vorbei und drehte sich kurz um. Er sah, wie sich die Augen des Fahrers weiteten und wie er fluchte. Und er hörte, wie im Inneren des Wagens bei der Bremsung etwas mit lautem Geschepper zu Bruch ging.

Panisch schaute sich Maundu um. Sein Verfolger hatte mitten in der Kurve gestoppt. Einen winzigen Moment lang schien die Zeit eingefroren zu sein. Alles war in der Schwebe. Dann öffnete sich die Tür des Geländewagens.

Ohne wirklich zu wissen, was er tat, setzte Maundu einen Fuß auf das Hinterrad des weißen Lieferwagens. Er drückte sich hoch und bekam den Rand der anliegenden Grundstücksmauer zu fassen. Ein unglaublicher Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, als die Glasscherben auf der Mauerkrone sich in seine Hände bohrten. Aber er ließ nicht los. Mit letzter Kraft zog er sich nach oben. Die Glassplitter hatten sich tief in beide Hände gebohrt, aber er ignorierte die Schmerzen und fiel auf der anderen Seite der Mauer in ein Blumenbeet.

Nur noch gedämpft vernahm er das wütende Geschrei des Lieferwagenfahrers. Motorengeräusche. Der Geländewagen setzte zurück. Einen kurzen Moment lang fühlte Maundu sich in Sicherheit. Bis er das Knurren eines großen Hundes hörte. Eben, auf der Straße, da war er panisch gewesen. Vor lauter Angst nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch jetzt beim Anblick dieser grauen Dogge überkam ihn eine tiefe Ruhe. Mit Hunden kam Maundu schon immer besser klar als mit Menschen. Sie waren die harmloseren Raubtiere. Ganz langsam erhob er sich und ging beschwichtigend auf den Hund zu. Maundu murmelte beruhigende Worte in seiner Muttersprache. Er wusste, dass er sich diese Zeit nehmen musste, sonst würde ihn der Hund zerfleischen. Zum Glück konnte man sich darauf verlassen, dass die Hunde reicher Leute gut genährt waren. Er fasste in die Tasche seiner Hose und holte das halbe Brötchen heraus, dass er sich für den Nachhauseweg aufgehoben hatte. Er streckte dem Hund die Hand entgegen. Der schnuppert kurz und schon verschwand das Brot in seinem Maul. Vorsichtig kraulte Maundu das Riesenvieh hinter den Ohren. Der Hund ließ ihn gewähren.

Maundu schaute sich wachsam um, ob jemand etwas von seinem Eindringen bemerkt hatte, aber der Garten lag verlassen vor ihm. Noch einmal tätschelte er den Hund, dann schlich er sich vorsichtig die Mauer entlang. Der Hund folgte ihm, bellte aber nicht. Das Grundstück schien riesig zu sein, aber schließlich kam er zu einer niedrigen Hecke, die die Grenze zum Nachbargrundstück markierte. Untereinander waren die Gärten durch kleine Zäunchen oder Gebüsche getrennt. Nur zur Außenwelt schotteten sich die Reichen mit massiven Mauern ab.

Er vergewisserte sich, dass auch beim Nachbarn niemand zu sehen war und schlüpfte durch die Hecke. Hoffend, dass nicht gleich der nächste Hund angerannt kam. Aber der wäre längst da gewesen.

Die Dogge blieb auf ihrer Seite und blickte ihm unschlüssig hinterher. Doch plötzlich spitzte der Hund die Ohren und begann zu knurren. Geräusche von dort, wo Maundu über die Mauer geklettert war. Der Hund raste los und Maundu machte, dass er wegkam.

So schnell er konnte lief er im Schutz einiger Bäume entlang der Mauer, ohne sich auch nur einmal umzuwenden. Hinter sich das Fluchen eines Mannes. Bellen. Wahrscheinlich hatte sein Verfolger versucht, den gleichen Weg zu nehmen, beim Anblick des Hundes aber aufgegeben. Maundu war inzwischen an der Ecke des nächsten Grundstücks angekommen und lauschte. Ein Moment der Stille, dann hörte er, wie der Geländewagen angelassen wurde und sich langsam entfernte. Höchste Zeit für Maundu, zu verschwinden.

2

Der Wecker klingelte und wie jeden Morgen brauchte Tarek Bajari eine kleine Ewigkeit, um zu realisieren, wo er war. Wie jede Nacht im Sommer träumte er den gleichen Traum. Nur im Sommer, wenn die brütende Hitze, die über der Stadt lag, ihn so schmerzlich an sein Daheim erinnerte.

Im Traum war er ein kleiner Junge und schlief in seinem Zimmer in der Villa am Stadtrand von Tripolis. Vom Meer wehte ein angenehm kühler Wind herüber und bewegte sanft die weißen Vorhänge. Er war bereits wach, hatte aber die Augen noch geschlossen und lauschte dem Wind, der durch die Blätter des großen Gummibaums vor seinem Fenster strich. Gleich würde seine Mutter das Zimmer betreten, ihn sachte an der Schulter berühren und ihn ermahnen, dass es Zeit sei, aufzustehen, wenn er nicht zu spät zur Schule kommen wolle.

Er liebte und fürchtete diesen Traum gleichermaßen. Denn außer seinen Erinnerungen war ihm nichts geblieben von der Heimat. Je mehr diese im Laufe der Jahre verblassten, desto kraftvoller wurden die Bilder in seinen Träumen.

Doch auch an diesem Morgen würde er seine Mutter nicht zu Gesicht bekommen. Denn immer, wenn in seinem Traum der Moment kam, in dem sie das Zimmer betrat, klingelte sein Wecker, der ihn schmerzhaft zurück in die Wirklichkeit holte. Und das Rauschen des Gummibaums verwandelte sich in den Lärm der nahen Hauptverkehrsstraße, die ins Zentrum Kölns führte.

Er stellte den Wecker ab und öffnete die Augen. Vor dem Fenster zeigten sich bereits die ersten Lichtstrahlen des neuen Tages, der die Stadt mit Temperaturen weit über 30 Grad lähmen würde.

Der Wecker seines Nachbarn klingelte ebenfalls und Tarek hörte ihn wie jeden Morgen fluchen. Die Wände der Wohnungen waren so dünn, dass sie sich eigentlich auch einen Wecker teilen könnten. Seine beiden Mitbewohner, die er nur selten zu Gesicht bekam, schliefen noch, sodass er das winzige Badezimmer für sich hatte.

Zu dritt wohnten sie in dieser kleinen Hochhauswohnung am Stadtrand. Tarek aus Libyen, Mohamed aus Marokko und Khaled, der Ägypter, der als Einziger eine offizielle Aufenthaltsgenehmigung besaß und deshalb diese Wohnung gemietet hatte. Und aus dem gleichen Grund zahlten Tarek und Mohamed auch die komplette Miete und waren für sämtliche häuslichen Arbeiten zuständig. Nicht die Basis für eine große Freundschaft, aber dafür funktionierte das Zusammenleben der drei Männer erstaunlich gut.

Keine halbe Stunde später stand Tarek bereits an der Bushaltestelle. Hinter sich die triste Hochhaussiedlung Kölnberg, gebaut aus Beton und geplatzten Träumen. Wer hier wohnte, für den war das Leben ganz sicher kein Zuckerschlecken. Auf der anderen Straßenseite, zwischen der vierspurigen Straße, die in die Innenstadt führte und einem Aldi-Supermarkt, hatten sie vor ein paar Tagen einige Holztafeln aufgestellt. Seit gestern reihten sich dort die Konterfeis von Politikern aneinander, die mit ihrem falschen Lächeln für Tarek alle gleich aussahen. Er interessierte sich nicht für Politik. Warum auch? Wählen durfte er sowieso nicht. Und keiner von diesen Männern, die da um sein Vertrauen warben, würde je etwas für ihn tun.

Eine weitere halbe Stunde später betrat Tarek das vornehme Hotel in der Nähe des Kölner Doms unauffällig durch den Hintereingang. Hier arbeitete er seit fast einem Jahr für einen lächerlichen Lohn sechs Tage in der Woche. Illegal natürlich.

Aus ständiger Angst vor der Abschiebung nach Libyen versuchte Tarek, so unsichtbar wie möglich zu leben. Und genauso arbeitete er auch in diesem Hotel. Er hatte hier schon jede erdenkliche Arbeit gemacht. Koffer geschleppt, Zimmer geputzt und Duschen repariert. Aber mit einem der Gäste war er noch nie in Kontakt gekommen.

An diesem Morgen war eines der Zimmermädchen nicht zur Arbeit erschienen, was bedeutete, dass sie sich einen neuen Job suchen konnte. Denn Krankheit oder Urlaub waren Vokabeln, die Tareks Arbeitgeber ebenso wenig kannte wie er selbst.

Also war er an diesem Vormittag nach seiner Arbeit in der Küche für sie eingesprungen und durfte nun das blaue Jäckchen des Zimmerservice tragen. Darin sah er aus wie die Bediensteten, die ihm in seiner Kindheit jeden Wunsch von den Augen abgelesen hatten. Aber er war sich nicht zu schade dafür, nun selbst in so einer Jacke herumzulaufen. Seinen Stolz hatte er schon vor langer Zeit irgendwo auf der langen Überfahrt nach Europa verloren. Aber die Erinnerungen, die dieses Kleidungsstück weckte, schmerzten stets aufs Neue. Damals wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, dass er zu den Privilegierten gehörte. Heute wusste er, dass zum luxuriösen Leben der einen immer die harte Arbeit der anderen nötig war.

Er war inzwischen mit seinem Wagen voller Handtücher und Putzmittel im letzten Zimmer seines Flurs im dritten Stock angekommen. Tarek staubsaugte den Fußboden, machte das Bett, putzte das Waschbecken und leerte den Mülleimer. Als das Zimmer fertig war, warf er einen raschen Blick auf den Flur hinaus, dann lehnte er die Tür an und schaute sich die Gegenstände auf dem kleinen Mahagonischreibtisch an, die dem Gast gehörten. Ein goldenes Feuerzeug, Zigaretten, ein französisches Buch und ein Bündel Geldscheine, das von einer silbernen Geldklammer zusammengehalten wurde. Tarek schätzte, dass es mehr war als er im ganzen Jahr verdiente, aber er war nicht so dumm, im Hotel zu klauen. Wenn ein Gast sich beschwerte, konnte er sich eine neue Arbeit suchen, egal, ob er wirklich etwas eingesteckt hatte oder nicht.

Sanft strich er mit den Fingern über die Gegenstände, die vor ihm ausgebreitet lagen, und versuchte, sich das Leben vorzustellen, das sie repräsentierten. Wenn er in den Zimmern der Gäste war, malte er sich immer aus, was das für Menschen waren, die hier vorübergehend wohnten. Was arbeiteten sie? Wo kamen sie her? Was machten sie in Köln? Waren sie verheiratet? Jung oder alt? Glücklich oder unglücklich? Groß? Klein? Dick? Dünn?

Er erstellte ein Profil der Person, schlüpfte im Geiste in deren Rolle und stellte sich vor, wie es wäre, dieses Leben zu leben. Ein kleiner, sentimentaler Luxus, den er sich gestattete. Noch einmal vergewisserte er sich, dass sich niemand auf dem Flur befand, ging zum Schrank, öffnete die Türen und durchsuchte mit flinken Fingern die Taschen der beiden Anzüge, die dort hingen. In der Innentasche des zweiten wurde er fündig. Er hielt ein silbernes Etui in der Hand, aber das interessierte ihn überhaupt nicht. Rasch warf er einen Blick auf die Visitenkarten, die sich darin befanden. Ein Anwalt aus Paris! Perfekt. Zwei der Visitenkarten verschwanden in seiner Tasche, dann steckte er das Etui zurück in den Anzug und schloss die Tür des Schrankes. Keine Sekunde zu früh. Denn in diesem Moment öffnete sich die Tür des Zimmers.

»Verdammt, Maundu. Was hast du denn hier zu suchen?«, fluchte Tarek, dem das Herz fast stehen geblieben wäre, als die Tür aufging. Einen Moment lang hatte er geglaubt, es wäre der Anwalt, dessen Visitenkarten er gerade eingesteckt hatte. Maundu und er hatten fast am gleichen Tag mit ihrer Arbeit in dem Hotel begonnen und in dieser Zeit war beinahe so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Soweit das möglich war bei all den Sprachproblemen und kulturellen Gräben.

Tarek wusste sofort, dass Ärger in der Luft lag, als er Maundus Gesichtsausdruck sah. Der schloss die Tür hinter sich und schaute unschlüssig umher. »Ich Problem. Groß Problem. Du mir helfen.«

»Halt!« Tarek hob abwehrend die Hand. »Ich will davon nichts wissen, Maundu. Was auch immer du für Ärger hast, ich will da nicht mit reingezogen werden.« Wie ein Blitz die Dunkelheit erhellte, tauchte vor seinen Augen ein Bild auf und verschwand gleich wieder.

Die Hitze flimmerte in der Ferne über der Wüste. Das Einzige, was die Einöde hier unterbrach, war ein Grenzposten im Niemandsland. Vor ihm stand ein Wagen und die zwei Minuten, die die Grenzer brauchten, um ihn abzufertigen, waren die längsten seines Lebens gewesen. Er hatte die Hand an der Pistole im Seitenfach und fürchtete, dass man ihm seine Nervosität schon von Weitem ansah. Aber die Libyer warfen nur einen gelangweilten Blick ins Wageninnere, dann winkten sie ihn durch. Und als der Beamte auf der tunesischen Seite einen Stempel in seinen gefälschten Pass drückte und ihn weiterfahren ließ, hatte er sich geschworen, nie wieder seine Nase in fremde Angelegenheiten zu stecken.

Das Bild verschwand. Maundu leider nicht.

»Bitte.« Maundu hob den Blick und sah ihn flehend an.

»Verdammt, Maundu, was auch immer du für ein Problem hast, ich kann dir dabei nicht helfen. Ich bin genauso illegal in diesem Land wie du. Wenn du Ärger hast, tut mir das leid für dich. Aber zieh mich da nicht mit hinein.«

»Du mir helfen. Ich sonst tot.« Wie zum Beweis hob Maundu seine Hände und zeigte die blutverschmierten Verbände.

»Ach, verdammt!« Tarek schlug wütend gegen die Schranktür. »Also gut, erzähl schon. Was ist passiert?«

Und Maundu erzählte ihm die ganze Geschichte. Wirr, unzusammenhängend und mit den wenigen Brocken Deutsch, die er sprach. Aber am Ende hatte Tarek halbwegs verstanden, was vorgefallen war. Hoffte er zumindest. Denn das alles klang völlig absurd. Sollte wirklich jemand versucht haben, Maundu umzubringen? Dass ihn ein großer Geländewagen verfolgt hatte, glaubte Tarek ja noch. Aber dass der Fahrer ihn umbringen wollte, war wohl eher Maundus überdrehter Fantasie entsprungen. Wahrscheinlich nur ein arrogantes Arschloch, das es spaßig fand, einen Schwarzen ein wenig durch die Straßen zu jagen. Und von was für einem Koffer hatte Maundu geredet? Diese ganze Geschichte ergab keinen Sinn. Dass Maundu den Anwalt geschlagen hatte, war das Einzige, was sicher zu sein schien.

Doch am Ende hatte Tarek sich überreden lassen, beim Haus des Anwalts vorbeizuschauen. Maundu war vor Angst völlig aus dem Häuschen gewesen. Nicht nur wegen des Wagens, der ihn verfolgt hatte, sondern vor allem, weil er fürchtete, den Anwalt getötet zu haben.

3

Tarek war nach der Arbeit extra noch nach Hause gegangen, um seinen Anzug anzuziehen. Seinen einzigen, den er pflegte, wie sonst nichts von den wenigen Dingen, die er besaß. Den Anzug, der nur zu besonderen Gelegenheiten angezogen wurde. Denn er wusste, wie sehr die Deutschen sich von Äußerlichkeiten beeindrucken ließen.

Sein volles schwarzes Haar trug er kurz geschnitten, trotzdem war es nur schwer zu bändigen. Tarek war nur 1,70 Meter groß, schlank und schmächtig und sein Anzug sah aus, als wäre er eine Nummer zu groß für ihn. Wenn er darin herumstand, wirkte er immer etwas linkisch, aber sobald er sich bewegte, zeigte Tarek eine lässige Eleganz, die bei Frauen gut ankam und Männer dazu brachte, ihn zu unterschätzen.

Doch nun klebte Tarek das Hemd auf dem Rücken und der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er um die letzte Ecke bog. Und seine Eleganz war in der Sommerhitze mit jedem Schritt wie ein Eiswürfel geschmolzen. Ihm war klar, dass er so niemanden täuschen konnte. Absolut jeder, der etwas auf sich hielt, würde in diesem Viertel mit dem Auto vorfahren.

Das da vorne musste das Anwesen des Anwalts sein. Jetzt, wo er sein Ziel erreicht hatte, fragte Tarek sich, wie es weitergehen sollte. Das Haus, das er zwischen den Hecken erkennen konnte, lag still da wie die ganze Nachbarschaft. Zumindest war ihm längst klar, dass Maundu den Anwalt nicht umgebracht hatte, sonst würde es hier von Polizei nur so wimmeln.

Er erreichte das große metallene Tor, das die Zufahrt versperrte. Daneben eine Tür. Tarek vergewisserte sich auf dem Klingelschild, dass hier der Anwalt wohnte. Und nun? Sollte er versuchen, mit ihm zu reden? Worüber? Seinen Job war Maundu in jedem Fall los, nachdem er ihn geschlagen hatte.

Tarek verfluchte sich zum wiederholten Mal, dass er sich in diese Sache hatte hineinziehen lassen. Es gab hier nichts für ihn zu tun. Aber dann sah er, dass die Tür einen Spaltbreit offenstand. Ein vorsichtiger Blick die Straße hinunter und schon war er im Garten. Er hatte nicht den weiten Weg gemacht, bloß um das Klingelschild zu lesen. Jetzt konnte er sich ebenso gut ein wenig umsehen. Und von Maundu wusste er, dass es hier keinen Hund gab.

Tarek trat rasch aus der Einfahrt einige Meter zur Seite in den Schutz einer kleinen Baumgruppe. In der Abenddämmerung war er in ihrem Schatten schon fast unsichtbar. Er stand still da und lauschte. Irgendwo in der Nachbarschaft lief ein Fernseher. In der Ferne hörte er ein Motorrad. Nur wenige Meter vor ihm lag eine Harke auf dem Rasen und in der angrenzenden Hecke waren einige Zweige abgebrochen. Das musste die Stelle sein, wo es zu dem Streit zwischen dem Anwalt und Maundu gekommen war. Es ging ihn nichts an, was hier passiert war. Aber dennoch fragte er sich, was den Anwalt veranlasst haben könnte, so wütend auf Maundu zu sein. Glaubte er wirklich, dass Maundu ihm Geld geklaut hatte, während er sich im Haus aufhielt?

Dies wäre der Moment gewesen, an dem Tarek sich noch hätte davonmachen können. Stattdessen schlich er den Weg zum Haus entlang. Seine Neugier hatte die Oberhand gewonnen. Er hatte das Haus fast erreicht, als der Eingangsbereich plötzlich in helles Licht getaucht wurde. Tarek machte erschrocken einen Satz rückwärts, bevor er erkannte, dass bloß ein Bewegungsmelder das Licht eingeschaltet hatte. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, sah er, dass auch die Haustür nur angelehnt war. Vielleicht wollte nur jemand nach der Hitze des Tages im Haus für etwas Durchzug sorgen, aber so recht glaubte Tarek nicht daran. Hier lag eindeutig der unangenehme Geruch von Ärger in der Luft. Instinktiv wusste er, dass es nur eine vernünftige Option gab. Nämlich sofort zu verschwinden. Er war ohnehin schon viel zu weit gegangen. Stattdessen sollte er sich an einem kühlen Ort ein noch kühleres Getränk spendieren und vergessen, dass er jemals hier gewesen war.

Die Außenbeleuchtung ging wieder aus und Tarek war hin- und hergerissen zwischen Vernunft und Neugier. Sein Kopf wollte nach Hause, doch seine Hand wanderte langsam zum Türgriff.

Plötzlich wurde die Tür von innen aufgerissen. Eine Frau rannte ihn beinahe über den Haufen und stieß einen überraschten Schrei aus, als sie ihn erblickte.

Tarek hob beschwichtigend die Arme. »Entschuldigen Sie bitte vielmals. Ich wollte gerade klingeln. Das Gartentor stand offen und da …«

Er beendete den Satz nicht und zog stattdessen die Visitenkarte heraus, die er am Morgen im Hotel eingesteckt hatte. »Ich habe eine Verabredung mit Ihrem Mann.« Mit einem raschen Blick taxierte er die Frau, die schnell ihre Fassung zurückgewonnen hatte. Sie war groß und blond, trug einen eleganten beigefarbenen Hosenanzug und besaß diese gewisse Ausstrahlung von Geld und Macht, die er nur zu gut kannte. Er hatte sie selbst einmal besessen. In einem früheren Leben.

»Mein Gott, Sie haben mich zu Tode erschreckt.« Sie musterte ihn misstrauisch, würdigte seine Visitenkarte aber keines Blickes. »Entschuldigen Sie, aber ich bin furchtbar in Eile. Gehen Sie einfach rein, mein Mann ist im Wohnzimmer. Immer geradeaus. Die große Glastür.« Und mit diesen Worten eilte sie auch schon zum Gartentor.

Bevor die Frau sich noch einmal umdrehen konnte, betrat Tarek das Haus. Dies war die Eingangshalle einer Welt, zu der er vor langer Zeit die Eintrittskarte verlegt hatte. Die Welt der Schönen und Reichen. Wieder war es die Neugier, die ihn vorwärtstrieb, obwohl alle Alarmglocken in seinem Kopf schrillten.

Auf Zehenspitzen bewegte er sich den Flur entlang. Es war vollkommen still und sein eigener Atem kam ihm mit einem Mal furchtbar laut vor. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, wenn er jetzt dem Anwalt begegnete. Auch die dritte Tür an diesem Abend war bloß angelehnt. Tarek betrachtete das als Aufforderung zum Eintreten. Vorsichtig drückte er sie auf, steckt den Kopf ins Zimmer und sagte leise »Hallo«.

Nichts.

Die schweren Vorhänge waren zugezogen und er musste erst den Lichtschalter betätigen, bevor er die Gewissheit hatte, in etwas Unangenehmes hineingeraten zu sein. Auf den ersten Blick sah alles normal aus, bis auf die leere Rotweinflasche, die auf dem marmornen Fußboden des sorgsam aufgeräumten Zimmers seltsam deplatziert wirkte. Die zwei Füße, die hinter dem riesigen weißen Sofa hervorschauten, sahen auf den zweiten Blick aber noch viel seltsamer aus.

Man musste kein Arzt sein, um zu erkennen, dass der Mann, der dort lag, tot war. Nach Maundus Beschreibung war das der Anwalt. Sein einst weißes Hemd war blutgetränkt und neben ihm auf dem Boden lag ein großes Küchenmesser mit blutverschmierter Klinge. Wider besseres Wissen ging Tarek in die Hocke, um den Puls des Mannes zu fühlen. Aber da war nichts. Er zählte mindestens fünf Stiche im Bauch- und Brustbereich. Man konnte nur entweder einen Puls oder solche Wunden haben, aber auf keinen Fall beides. Darauf achtend, nicht in das Blut auf dem Boden zu treten, erhob er sich.

Die Haut des Opfers war noch warm, der Täter konnte also nicht weit sein. Oder womöglich die Täterin. War er hier in ein Ehedrama geplatzt? Hatte die Frau, der er an der Tür begegnet war, Blut an der Kleidung gehabt? Aber egal, was hier passiert war, er musste schleunigst verschwinden, wenn er nicht der perfekte Sündenbock werden wollte.

Geräuschlos huschte Tarek zur Tür und schaltete das Licht aus. Die Dunkelheit legte sich wie ein schützender Umhang um ihn. Auf dem Weg nach draußen wischte er die Türklinken und Schalter ab und überlegte fieberhaft, ob er noch irgendetwas anderes angefasst hatte.

Die Ehefrau hatte ihn gesehen und würde der Polizei mit Sicherheit von ihm erzählen. Vor allem, wenn sie selbst die Mörderin war. Aber konnte sie ihn nach der kurzen Begegnung auch beschreiben? Aber das war derzeit seine kleinste Sorge. Jetzt musste er erst einmal weg von hier. Und in Ruhe überlegen, was er als Nächstes tun sollte. Die Polizei würde er bestimmt nicht verständigen, denn das war nicht mehr nötig.

Von der Straße her war eine Sirene zu hören. Tarek lief zurück ins Wohnzimmer und lugte durch die Vorhänge nach draußen. Zwei Uniformierte kamen den Weg hinauf. Die Waffen in der Hand schlichen sie langsam vorwärts. Blitzschnell fasste er einen Entschluss. Die beiden würden sich genau wie er vorsichtig ins Haus tasten und ihm so die Sekunden verschaffen, die er brauchte. Als sie aus seinem Blickwinkel verschwunden waren, öffnete er die Terrassentür einen Spaltbreit und schlüpfte hinaus. Der Rasen verschluckte das Geräusch seiner Schritte, als er durch den Garten zum Eingangstor lief. In Gedanken war er schon bei der Frage, wie er zu Fuß unbemerkt von hier wegkommen konnte. Er wusste, dass er erst in Sicherheit war, wenn er die Hauptstraße erreicht hatte. Aber das war zu weit vorausgedacht.

Er schlüpfte durch das Tor nach draußen, aber weiter kam er nicht. Tarek erstarrte, als er den Lauf einer Pistole am Hinterkopf spürte und eine Stimme hörte, die schon jede Menge Alkohol und Nikotin abbekommen hatte.

»Leg dich flach auf den Boden. Und atme erst wieder, wenn ich es dir sage.«

Ganz langsam kam Tarek dem Befehl nach, legte sich auf die staubige Straße und versuchte, nicht daran zu denken, was er seinem Anzug damit antat. Er verfluchte sich für seine Blödheit. Wieso hatte er sich in diese Sache hineinziehen lassen? Ein Knie presste sich in seinen Rücken und er konnte den Ärmel einer Polizeiuniform erkennen, als er nach Waffen abgetastet wurde.

Als der Polizist nichts fand, erhob er sich ächzend und fragte: »Wo ist deine Knarre, Arschloch?«

Tarek wusste, dass er nicht für den diplomatischen Dienst geschaffen war. Und er hatte an diesem Tag schon alles falsch gemacht, was falsch zu machen war. Da wollte er jetzt nicht mit dieser Tradition brechen und sagte: »Die habe ich heute Mittag bei deiner Frau vergessen.«

Die Antwort kam sofort. Eine Hand packte ihn an den Haaren, hob seinen Kopf an und knallte ihn auf den rauen Asphalt. »Mach nur weiter so«, knurrte ihm der Mann ins Ohr. »Auf Klugscheißer wie dich haben wir gerade noch gewartet. Also, noch mal, wo ist deine Waffe?«

Tarek beschloss, dass es die Sache nicht wert sei und antwortete ganz brav: »Ich habe keine.«

Offensichtlich gab sich der Polizist damit zufrieden, denn er grunzte nur und drehte Tarek die Arme auf den Rücken. Ein Paar Handschellen klickten. Und als kleinen Bonus bekam er noch einen Tritt in die Rippen. Der Mann griff ihm erneut in die Haare und zog ihn auf die Beine. Trotz der Fesseln nahm der Polizist ihn in einen schmerzhaften Polizeigriff und trieb ihn voran.

Tarek konzentrierte sich darauf, nicht das Gleichgewicht zu verlieren und sah nur ein Paar auf Hochglanz polierte schwarze Schuhe, als er wie ein Stück Vieh zurück zum Haus getrieben wurde.

Vom Wohnzimmer her hörte man die aufgeregten Stimmen der beiden Polizisten, die Tarek im Garten gesehen hatte. Beim Eintreten ließ der Mann ihn endlich los. Zum ersten Mal sah Tarek sein wettergegerbtes Gesicht, das zufrieden lächelte, als er den anderen erzählte, wie er ihn geschnappt hatte. Doch dann entdeckte der Polizist die Beine hinter dem Sofa und verstummte mitten im Satz. Die Blicke aller drei Polizisten hefteten sich auf Tarek und ohne dass jemand auch nur ein Wort sagte, wusste er, was sie in ihm sahen: den Mörder des Anwalts.

Der Alte ging um das Sofa herum und als er sich bückte, war er für einen Moment aus Tareks Blickfeld verschwunden. »Komm, mach dir das Leben nicht unnötig schwer und leg ein Geständnis ab«, sagte er in väterlichem Ton, als er wieder hochkam.

»Ich muss Sie enttäuschen, ich war es nicht.«

Die Augen des Polizisten verengten sich und er verpasste Tarek eine Ohrfeige. »Lüg uns nicht an, Bürschchen. Wir haben dich doch auf frischer Tat ertappt. Haben wir dich dabei gestört, als du die Bude hier ausräumen wolltest?«

»Ich weiß, wie das hier aussieht«, erwiderte Tarek. »Aber der Mann war schon tot, als ich das Haus betrat.«

»Du bist anscheinend noch blöder als du aussiehst«, schnauzte ihn der Alte an und verpasste ihm eine zweite Ohrfeige. Der Polizist hatte die Hand bereits zum nächsten Schlag erhoben, als die schneidende Stimme einer Frau Tarek vor der dritten Ohrfeige bewahrte.

»Was geht hier vor sich?«

»Wir haben den Kerl am Tatort erwischt. Er hat sich mit Gewalt seiner Verhaftung widersetzt«, mischte sich einer der beiden Polizisten ein, die bislang geschwiegen hatten.

Ohne jemanden eines Blickes zu würdigen, ging die Kommissarin durch den Raum, bis auch sie die Leiche entdeckte. »Und deshalb glaubt ihr, an einem Tatort alle Spuren zertrampeln zu können? Raus hier. Alle, und zwar sofort!«

Schleunigst verließen die Uniformierten das Wohnzimmer und brachten Tarek in die Küche, wo er sich auf eine Bank setzen musste, während die drei Polizisten stehen blieben. Einige Minuten verstrichen, ohne dass jemand etwas sagte oder tat.

Irgendwann kam die Kommissarin herein und richtete ihren Blick auf Tarek. Der hielt ihm stand, bis sie es war, die zu Boden schaute.

Eine schöne Frau, dachte Tarek. Und eine starke Frau.

»Nehmen Sie ihm die Handschellen ab«, sagte sie zu dem Polizisten, der ihn festgenommen hatte.

»Der Kerl ist gefährlich«, murrte der Alte.

»Ich sagte, dass Sie ihm die Handschellen abnehmen sollen.«

Brummend tat er wie geheißen. Tarek, der dazu aufgestanden war, rieb sich die schmerzenden Handgelenke und wischte sich den Staub von seinem Anzug.

»Haben Sie ihn durchsucht?«

»Nur bei der Verhaftung nach Waffen abgetastet.«

Die Kommissarin nickte in Tareks Richtung und der Polizist durchwühlte dessen Taschen. Was er zutage förderte, legte er auf den Tisch. Ein paar Euro. Ein Feuerzeug und eine zerknautschte Packung Zigaretten. Die Visitenkarte des Franzosen, die Tarek aus dem Hotel mitgenommen hatte, übersah er.

»Setzen Sie sich«, sagte die Kommissarin und nahm sich eine von Tareks Zigaretten, bot ihm aber auch eine an und gab ihm Feuer. Ihre Blicke trafen sich.