Schattenschwarz - Torsten Scheib - E-Book

Schattenschwarz E-Book

Torsten Scheib

0,0

Beschreibung

Schwarz.Schwärzer.Schattenschwarz.Ein Ort, auf keiner Landkarte verzeichnet. Abgeschottet, obskur, unmenschlich. Bevölkert von Dingen und Geschöpfen, die die Sonne scheuen und die der menschliche Verstand ausblendet. Doch nichts und niemand bleibt für alle Zeiten verborgen. Diese 13 Erzählungen wollen einige Schicksale aus jenem Territorium ergründen. Nichts ist mehr wie zuvor.Begegnen Sie Krabbelviechern, resignierten Kriegern und Muschelmädchen. Erfahren Sie Wahn, Rache, Verzweiflung, das Ende der Welt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 370

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Torsten ScheibSCHATTENSCHWARZ

In dieser Reihe bisher erschienen

01 Geisterstunden vor Halloween von Stefan Melneczuk

02 Drachen! Drachen! von Frank G. Gerigk & Petra Hartmann (Hrsg.) 

03 Schattenland von Stefan Melneczuk

04 Der Struwwelpeter-Code von Markus K. Korb05 Die weißen Hände von Mark Samuels06 Bio Punk‘d von Andreas Zwengel

07 Xenophobia von Markus K. Korb08 Nachtprotokolle von Anke Laufer09 Reiche Ernte von Matthias Bauer

10 Das Tor von Matthias Bauer

11 Fantastic Pulp 1 von Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)

12 Wenn die Welt klein wird und bedrohlich von Felix Woitkowski (Hrsg.)

13 Geisterstunden von Stefan Melneczuk

14 Fantastic Pulp 2 von Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)

15 Cosmogenesis von Jörg Kleudgen

16 Haschisch von Oscar A. H. Schmitz

17 Spuk des Alltags von Alexander M. Frey

18 Schattenschwarz von Torsten Scheib19 Der König von Mallorca von Michael Tillmann

Torsten Scheib

Schattenschwarz

Erzählungen

Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mario HeyerUmschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-323-0Dieses Buch ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Meinen Eltern gewidmet.

„Follow me, follow me

As I trip the darkness

One more time ...“

Lacuna Coil, Trip The Darkness (2011)

Vorwort

2004 begegnete ich dem Namen Torsten Scheib zum ersten Mal. Wir waren beide in der Fantasy-Anthologie Avalon 1des Lacrima-Verlages vertreten. Vieles daran ist bemerkenswert. Den Lacrima-Verlag gibt es nicht mehr, Torsten Scheib dagegen ist immer noch aktiv und hat sich einen Platz im Herzen einiger Leser erobert. Dass es sich bei der Geschichte Der Wald um eine Fantasy-Geschichte handelt, zeigt auch, wie abwechslungsreich das Oeuvre des Autors ist, auch wenn er sich vornehmlich im Genre Horror und unheimlicher Phantastik tummelt. Jedoch auch dort zeigen seine Geschichten eine ausgeprägte inhaltliche und thematische Bandbreite, wie man an der vorliegenden Sammlung erkennen kann. Torsten Scheib macht vor Genregrenzen keinen Halt, sondern reißt sie regelmäßig ein.

Als ich 2007 den ersten Band für Zwielicht plante, war die erste Geschichte, die fest eingeplant war, ­Götterdämmerung von Torsten Scheib. Den Lesern gefiel sie dermaßen gut, dass sie den 2. Platz beim Vincent-­Preis 2009 erreichte. Schon 2008 war er mit Gute Ansätze nominiert, Motten erreichte 2010 ebenfalls den 2. Platz und Illusionen 2013 Platz 3. Man war schon geneigt, ihm den Titel Vizekusen zuzuschreiben, aber beim Vincent-­Preis 2017 war es soweit. Nicht eine seiner Kurzgeschichten, sondern sein Roman Götterschlacht, gewann den Vincent-Preis 2017. Götterschlacht ist die ­Fortsetzung von Götterdämmerung und eine weitere Geschichte zu diesem Ideenkomplex ist Im Apogäum, die in vorliegender Sammlung zu finden ist und meine Ausgangsaussage, dass Torsten Scheib vor Genregrenzen kein Halt macht, eindrucksvoll beweist.

Wer aber jetzt denkt, Torsten Scheib sei lediglich ein wandelbarer Autor, der liegt falsch. Und wer glaubt, auf Grund seiner Literaturpreisnominierungen, er sei einer aus dem Elfenbeinturm, hat ebenfalls eine falsche Einschätzung abgegeben. So nahbar wie Torsten Scheib auf Cons wie in Marburg und Dreieich ist, so nahbar sind seine Geschichten. Kein hochgeistige Philosophie, keine literarischen Experimente für einen erlauchten Kreis, sondern Geschichten aus der Mitte des Lebens. Scheibs Protagonisten sind normale Menschen, die sich mit ungeheuerlichen Ereignissen konfrontiert sehen und sie mit ihren beschränkten Mitteln überstehen müssen. Seine Geschichten zeigen einen tiefen Glauben an das Gute, vermitteln Humanität und sind ein guter Grad­messer, was die Menschen denken und fühlen, welche Sorgen sie bewegen und geben Hoffnung darüber, dass die Welt nicht so schlecht ist, wie es uns die Schlagzeilen der Medien glauben machen wollen. Scheibs Protagonisten stemmen sich gegen die Schlechtigkeiten und unwillkürlich fiebert man mit ihnen mit.

Vorliegende Sammlung zeigt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Werk eines talentierten, aber bodenständigen, eines abwechslungsreichen, aber ­wiederzuerkennenden Autors, der mit seinen Geschichten ein kleines Licht zündet, um der Welt Freude zu bereiten. Genießen Sie die Geschichten – und vielleicht gieren Sie ja nach der Lektüre nach mehr. Sie wären nicht alleine hiermit.

Michael Schmidt, Lahnstein

Eine kleine Anmerkung: Manche Stellen und Passagen wurden leicht abgeändert.

Der Autor

Das Muschelmädchen

„Hilfe … Hilfe …“

Karsten Röhm trifft der Schlag. Die Serviette entgleitet seinen Fingern, driftet geräuschfrei auf seinen Schoß. Diese Stimme – sie ist so ... so ...

„Hilfe … Hilfe …“

... gleichermaßen filigran wie Furcht einflößend. Ihm fällt das delikate Zupfen einer Violinsaite ein; gepaart mit einer immer dünner werdenden Nadel aus kaltem Stahl, die man gnadenlos in einen Hinterkopf treibt.

Hektische Standortbestimmung. Haben die anderen Gäste auch etwas vernommen? Falls dem so ist, lässt es sich niemand anmerken. Man speist, lacht, plaudert.

„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“

Nicht viel, und Karsten hätte aufgeschrien. Stattdessen fährt er zusammen und der Kellner rückt ab.

„Ich ...“ Er weiß nicht, was er antworten soll. Prompt schießt ihm das Blut in die Wangen. Als er schluckt, schmeckt er die würzig-fischigen Miesmuscheln. Ihm bricht der Schweiß aus. Sein Blick schweift umher. Bemerkt die Muschel auf seinem Teller – und das Ding darin. Seine Augen weiten sich. Schwindel wie Furcht vereinigen sich zu einer höchst brisanten Kombination. Reflexartig knallt er die Hände auf den Tisch und stemmt sich ab. Das schrille Kreischen der Stuhlbeine sorgt dafür, dass er binnen eines Wimpernschlags die ­Aufmerksamkeit aller Anwesenden hat. Er kann sie spüren. Jeden ­Einzelnen.

„S-S-Sehen Sie das?“

Sein zitternder Finger deutet auf die Muschel. Karsten erschrickt ein zweites Mal.

„Hilfe …“

Der Kellner schenkt ihm einen fragenden Ausdruck. Man merkt: Es fällt ihm schwer, die Ruhe zu bewahren.

„Hören Sie es nicht?“

„Bitte um Verzeihung, aber ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“ Die Stimme des Mannes klingt gefasst. Mit einem unterschwelligen Hauch leichter Panik. „Sind die Muscheln schlecht?“

Er beugt sich vor. Fächert. Inspiziert die aufgeklappten Schalen. Bis auf ein paar Furchen auf der Stirn – keine Regung. Warum? WARUM?

Bildet er sich das alles nur ein? Unmöglich. Die fili­grane Stimme existiert und mit ihr auch ... auch ...

Räuspernd hebt Karsten die Serviette auf. Säubert seinen Mund. „Nein, nein, ganz im Gegenteil“, antwortet er. „Sie sind ausgezeichnet. Es ist einfach ... ich bin wohl etwas überdreht, schätze ich. Stress und Schlafmangel. Ganz schlechte Kombination. Bitte entschuldigen Sie.“

Überdreht? Was für eine beschissene Ausrede ist denn das? Besseres ist ihm einfach nicht eingefallen. Soll der Kellner – sollen alle – doch denken, was sie wollen. Wobei: Die Sache mit dem Stress und dem Schlafmangel stimmt eindeutig. Deswegen hat er ja den ­Nordsee-Urlaub angetreten. Unter anderem.

Damit scheint die Sache erledigt. Die Gäste wenden sich wieder ihren Gerichten zu, der Kellner zieht sich dezent zurück.

Diesmal ist er derjenige, der zusammenzuckt, als Karsten die Hand auf seinen Arm legt.

„Eine kleine Bitte hätte ich noch“, murmelt dieser kleinlaut. „Wäre es möglich, ein kleines Plastiktütchen zu kriegen? Oder eventuell einen Frischhaltebeutel?“

„Natürlich“, entgegnet der Kellner.

Karsten bedankt sich höflich und wendet sich wieder seinen Muscheln zu. Der Kellner stapft kopfschüttelnd und augenrollend von dannen.

So leise wie möglich schiebt Karsten seinen Stuhl wieder zurück an den Tisch. Jeder Herzschlag ist ein Fausthieb. Er versucht, Normalität vorzutäuschen. Mit dem Löffel greift er nach der nächsten Muschel. Tut so, als würde er weiter essen. Keine leichte Aufgabe. Jedes Mal, wenn er sich absichern möchte, wenden sich die Gäste gerade ab.

Vorsichtig lässt er die Muschel auf den Teller gleiten; darum bemüht, dass weder sie noch das Besteck in Berührung mit dem Ding kommen. Als wäre sie kontaminiert. Karsten weiß, wie lächerlich das Ganze ist – und dass er seinen Augen und Ohren trauen kann. Dies ist kein Hirngespinst, verdammt!

„Bitte … Hilfe …!“

Hören sich so Halluzinationen an? Wie verzweifelte Hilferufe?

Nein. Auf keinen Fall. Und das Ding in der Muschel – es existiert. Warum nur er es sehen und hören kann, verschließt sich seinem Verstand, doch ist er gewillt, das Problem zu lösen. Hinter diesem Rätsel, diesem bizarren Mysterium, muss sich einfach eine rationale Antwort verbergen. Wie bei allem anderen auch.

Der Kellner ist zurück. Legt einen transparenten Frischhaltebeutel auf den Tisch. Karsten bittet nach der Rechnung und zahlt schnell. Wartet noch einen Moment. Als die Luft rein ist, hebt er die Muschel vom Teller und in den Beutel. Er hat einen Druckverschluss. Das Wehklagen verstummt, als er ihn versiegelt. Gut.

Er kann wieder die arrogante Neugier der anderen spüren, als er das Restaurant verlässt. Die trockene Wärme wird vom klammen Nordseewind abgelöst. Er ist allein. Im bleichen Licht der Reklameleuchte holt er den Beutel hervor. Betrachtet ihn eingehender. Es.

Sie.

Den winzigen Körper einer nackten Frau.

Die Realität ist zu einem vagen Konstrukt verkommen. Unwirklich. Waten durch dichten Nebel. Karsten erinnert sich nicht, wie er seine Pension erreicht hat. Die Begrüßung der Betreiberin, die hinter dem kleinen Empfangs­tisch Kreuzworträtsel löst, bekommt er nur nebenbei mit. Er schwebt die Treppen hinauf. Erst, nachdem er die Zimmertür hinter sich geschlossen hat, kehrt seine Umgebung zu Form und Kontur zurück.

Ungeduldig zerrt er den Beutel aus seiner Manteltasche, öffnet ihn – und wird von einem Schrei begrüßt, der ihm bis ins Mark fährt. Seine Züge werden zu einer Fratze. Er lässt den Beutel fallen, presst die Hände gegen die Ohren. Zu spät bemerkt er seinen Fehler. Die Muschel ist auf den abgewetzten Läufer neben dem Bett gefallen. Die kleine Bewohnerin darin ringt mit ihren Schmerzen. Erst jetzt fallen Karsten die grauen und hellbraunen Stränge auf, welche die winzige Kreatur festhalten.

So kann er sie nicht liegen lassen.

Auch wenn sich alles in ihm sträubt: er hebt die Muschel auf, rennt ins Badezimmer. Legt die Muschel ins Waschbecken. Verschließt den Ausguss. Öffnet den Wasserhahn. Kaltes Wasser.

Die Schreie hören auf. Erleichtert lässt sich Karsten auf dem Badewannenrand nieder. Genießt die Friedlichkeit. Irgendwann steht er schließlich auf, macht Licht. Auf Zehenspitzen schleicht er ans Becken. Lugt hinein. Das Mädchen in der Muschel hat sich wieder beruhigt. Fast scheint es, als schlummere sie. Der Schlummer der Erschöpfung. Ihm fällt Botticelli ein. Die Geburt der Venus. Die winzige Gestalt im Becken hat eine frappierende Ähnlichkeit mit der Göttin auf dem Gemälde. Sieht man mal davon ab, dass ihr Schädel kahl und ihre Behausung eine Mies- und keine Jakobsmuschel ist. Ansonsten ist sie praktisch perfekt. Jede Proportion ist makellos. Vollkommen. Es ist ein delikater Moment ungezwungener Intimität, der ein jähes Ende findet, als Karsten das drängende Pochen seiner Erektion bemerkt, die sich ungeduldig von innen gegen seine Cordhose zwängt.

Vielleicht ist es besser, wenn er es für heute damit bewenden lässt. Morgen ist auch noch ein Tag. Es ist einiges auf ihn niedergeprasselt und das in ziemlich kurzer Zeit. Da verliert man durchaus den Unterschied zwischen oben und unten. Und außerdem ist er hundemüde. Karstens Glieder sind bleischwer, als er sich vom Becken entfernt und das Badezimmer verlässt.

Er hält inne, als jemand gegen die Zimmertür klopft.

„Herr Röhm? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Es ist Frau Eriksen, die mit ihrem Mann die Pension betreibt. Sie klingt besorgt.

„Alles gut“, entgegnet Karsten, während er sich die Augen reibt. Gott, er braucht wirklich etwas Schlaf. „Warum fragen Sie?“

„Nun ja ich ... Sie sind vorhin so überstürmt nach oben gerannt, da dachte ich ...“

„Mir geht es bestens. Danke der Nachfrage. Und eine gute Nacht.“

Schlurfend setzt Karsten seinen Weg fort.

„Gute Nacht, Herr Röhm.“ Frau Eriksens Antwort kommt verzögert; wirkt überrascht. Unsicher.

Seufzend plumpst Karsten auf die Bettkante. Zieht sich aus. Aus irgendeinem Grund ist er davon überzeugt, heute Nacht kein Auge zuzubekommen. Trotz dieser Bleischwere.

Als er im Bett liegt, starrt er zur Decke. In der Ferne rauschen die Wellen der Nordsee. Die mit salziger Würze getränkte Nachtluft wabert durch das aufgeklappte Fenster.

Keine zwei Minuten, und Karsten schlummert tief und fest.

„Hilfe … Hilfe …“

Ausgestreckte Arme wenden sich einem grauen, wolkenlosen Himmel zu. Das Atmen wird schwerer. Unsichtbare Tentakel schmiegen sich um den Brustkorb. Ziehen sich fester zusammen.

„Hilfe!“

Die Stimme überschlägt sich. Seine Stimme. Er blickt nach unten. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass es seine Schreie sind; sein Körper, der …

„Mein Gott!“

Blanke Panik zertrampelt seinen Verstand, als ihm die Aussichtslosigkeit seiner Lage klar wird. Die Hälfte seines Körpers ist bereits im Treibsand verschwunden ... Sekunde. Treibsand? Aber wie …

Spielt keine Rolle. Er muss hier raus. Das ist das einzige, was zählt. Verzweifelt wendet er sich dem Rand der Grube zu. Eine Bewegung, die der Sand dankbar annimmt und Karsten die nächsten Zentimeter sinken lässt. Sein Schrecken schraubt sich in ungeahnte Sphären, als er die Gesichter erblickt, die keinen Armwurf entfernt seinen Kampf verfolgen. Er kennt sie alle. Ausnahmslos. Es sind Freunde und Kollegen, Verwandte. Ein Sammelsurium von früher und heute. Und sie lachen sich die Ärsche ab. Ihre Zeigefinger deuten in seine ­Richtung. ­Schulterklopfen, ­Tränenwegwischen. Das Gelächter brennt sich in seine Gehörgänge wie Säure.

Auf der anderen Seite stehen sein Chef. Seine Ex. Seine Mutter. Verbunden durch höhnisches Gelächter.

Sie wollen ihn sterben sehen.

Er strampelt mit den Füßen. Versucht, den Sand beiseite zu schieben. Zwecklos. Immer schneller verschwindet sein Körper ... dann der Hals ... und zuletzt ...

„Hilfe … Ich ersticke …“

Die Bettfedern quietschen, als er sich aufrichtet. Kerzengerade hockt Karsten im Bett und weiß nicht, wo er ist. Nur sehr langsam schwappt die Traumwelt zurück in ihre dunklen Gestade. Eines bleibt.

„Hilfe … Hilfe …“

Die Stimme ist in seinem Kopf. Das war sie schon die ganze Zeit. Erst jetzt wird ihm das klar. Kein Wunder, dass niemand sonst sie gehört hat. Doch was ist mit dem Mädchen selbst; mit ihrer graziösen Erscheinung, so winzig, so makellos? Sie kann doch unmöglich ein Hirngespinst sein!

Er wirft die Decke beiseite. Tappt ins Badezimmer, aus dem Eigenartiges zu ihm dringt. Das Licht über dem Waschbecken erwacht – und Karsten erstarrt.

Dicke, fette Tropfen schießen über den Rand, begleitet von den untrüglichen Klängen, die spritzende Feuchtigkeit mit sich bringt. Er stürmt zum Becken und kann nicht glauben, was er dort sieht. Inmitten des Wassers – das einen ungesunden Braunton angenommen hat – hüpft und zuckt die Muschel, als stünde sie unter Strom, ringt das Muschelmädchen mit den Strängen und Fasern, die sie mit den beiden Schalenhälften verbindet.

Und die ganze Zeit über - ihre Stimme:

„Hilfe … Hilfe … Hilfe … Hilfe …“

Karsten ist unsicher. Weiß nicht, was zu machen ist. Ihr helfen, klar. Bloß wie? Frisches Wasser?

Gute Idee. Seine zitternden Finger kippen den Hebel der Armatur. Warmes Wasser schießt ins Becken.

„Nein! Nicht!“

Ihm kommt es vor, als würde ein Sägeblatt in sein Gehirn getrieben. Umgehend stellt Karsten das Wasser wieder ab. Die Muschel hüpft noch immer.

„Muss wieder zurück ... muss wieder zurück ...“

Zurück? Zurück? Wohin denn zurück?

Er will die Frage gerade aussprechen, als eine dicke rote Träne nach unten fällt. Dann noch eine, und noch eine. Zitternd suchen Karstens Finger die Quelle. Blut quillt über den Handrücken. Rinnt den Unterarm entlang.

Ausgerechnet jetzt! Er hat diese verdammten Anfälle von Nasenbluten schon seit einiger Zeit. Das war schon auf der Hinfahrt reichlich peinlich, als er die Sauerei im Zugabteil hinterlassen hatte. Er sollte wirklich was dagegen unternehmen. Die Ader vereisen lassen zum Beispiel.

Er schnäuzt in das erstbeste Handtuch, wischt das Rot weg. Jetzt geht‘s wieder einigermaßen.

„Bring mich zurück ... bitte ... bring mich zurück ...“

Diesmal spricht er es aus: „Wohin zurück? Was meinst du?“

„Das Meer …“ Die Stimme in seinem Kopf ist jetzt nicht mal mehr ein Hauch; sie ist eine vage Andeutung. Die Bewegungen der Muscheln werden immer schwächer.

Das Meer! Natürlich! Warum ist er nicht sofort darauf gekommen!

„Halte durch!“, wendet er sich an das Muschelmädchen. „Alles wird gut; ich verspreche es!“

Karsten kommt sich ein wenig wie ein Verbrecher vor, als er sich aus der Pension schleicht. Die Eingangstür ist abgeschlossen, allerdings steckt noch der Schlüssel. Behutsam und äußerst vorsichtig dreht er ihn nach links. Jedes noch so leise Knacken verschafft ihm eine Gänsehaut. Seine Züge verzerren sich, als die Tür ein Quietschen von sich gibt.

Doch er schafft es. Schnell drückt er die Tür wieder ins Schloss und setzt sich in Bewegung. Immer wieder hebt er den Beutel an, um nach dem Muschelmädchen zu sehen. Die Zeit drängt.

Die Straßen sind um diese Uhrzeit verwaist. Das Katzen­kopfpflaster schimmert schleimig im Licht des sich allmählich zurückziehenden Mondes.

Er folgt dem Rauschen der Nordsee, seinem akustischen Leitstern. Zu seiner Zufriedenheit wird es immer stärker und schon bald sieht sich Karsten einem Steg gegenüber. Ein Kutter ist dort vertäut. Mehrere Gestalten irren übers Deck. Keiner beachtet ihn.

Karsten hebt erneut den Beutel – und lässt ihn rasch hinter seinem Rücken verschwinden, als ...

„Moin!“

„Ähm ... ja, guten Morgen“, entgegnet er nervös.

Die Schritte des Mannes hallen polternd von der Planke, die er gerade überschreitet. Er trägt Gummi­stiefel, grellgelbe Watthosen, die obligatorische Wollmütze. Schwer zu sagen, wie alt er ist.

„Büschen früh für einen Spaziergang“, bemerkt der Fischer beiläufig, während er einen Krabbenkorb aufhebt.

„Stimmt“, gibt ihm Karsten recht. „Ich konnte nicht schlafen.“

„Jou, dat kenn’ ich“, entgegnet der Mann. „Da ist ein Spaziergang wirklich dat beste Heilmittel.“

Karsten nickt zustimmend, schüchtern.

„Sie sind nicht von hier. Hab‘ doch Recht, oder?“

„Ertappt“, antwortet Karsten und hebt die Schultern.

„Schon lange hier?“

„Erst angekommen.“ Kann der Knilch nicht endlich den Korb nehmen und fertig?

Kann er nicht.

„Und ... gefällt‘s Ihnen bei uns?“

Karsten nickt. Eine Geste, die mindestens genauso übertrieben wirkt wie sein viel zu breites Grinsen. „Super“, haspelt er. „Ganz toll.“

Der Fischer nimmt es gleichgültig zur Kenntnis. Offenbar sind ihm verrückte Städter nicht fremd. „Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Aufenthalt“, murmelt er und kehrt auf den Kutter zurück.

Karsten bleibt noch ein Weilchen stehen. Bis der Kerl abgetaucht ist. Es ist ein sonderbarer Moment; schwer zu beschreiben. Irgendwie …

Die gellenden Schreie des Muschelmädchens reißen ihn aus der Trance. Der Beutel zuckt in seiner Hand, die Muschel zwängt sich gegen das ihr verordnete Gefängnis. Karsten nimmt die Beine in die Hand. So schnell er kann lässt er den Pier und die Strandpromenade hinter sich. Rote Backsteine und Reetdächer werden von sanft ansteigenden Dünen und spärlicher Vegetation abgelöst. Mit jedem Schritt, dem er sich seinem Ziel nähert, schlägt ihm der Wind vehementer ins Gesicht. Tausend winzig kleine Nadeln malträtieren jede freie Stelle seines Körpers. Kälte und Taubheit breiten sich über seinem Gesicht aus. Den Schreien gesellt sich ein konstantes Zischen hinzu.

Er bringt die letzte Düne hinter sich, als es passiert. Der weiche Sand gibt unter ihm nach. Karsten verliert das Gleichgewicht. In den Sekunden seines Sturzes stellt er sich auf den Schmerz ein – und behält den Beutel im Auge. Ganz gleich, was auch passieren mag: er darf ihn nicht verlieren.

Der Sturz ist weich, abgesehen von einem spitzen Stein, der sich gegen seine Brust zwängt. Die Luft entweicht aus Karstens Lungen, Tränen quellen aus den Augenwinkeln. Aber zumindest hat er den Beutel …

„Nein!“

Der Schock ist stärker als das Stechen auf der Brust. Er sieht den Beutel, dem sich ein dunkler Fleck anschließt. Im Zentrum der ausgelaufenen Flüssigkeit: die Muschel. Unablässig schnappen die beiden Hälften zusammen. Wie ein Ertrinkender, der nach Luft ringt. Sofort setzt bei ihm der pure Instinkt ein. Er hebt die Muschel auf. Verstaut sie zwischen seinen Handflächen. Noch immer schnappt sie in einem fort, bekommt das weiche Fleisch seines rechten Handtellers zu fassen. Karsten muss sich zusammenreißen. Am liebsten würde er entsprechend antworten. Doch dafür ist keine Zeit ... keine Zeit ...

Er blendet alles aus. Die Umgebung, die Schreie des Muschelmädchens, die Schmerzen, die Glut in seinen Lungen. Jetzt gibt es nur noch sein pochendes Herz und seinen rasselnden Atem. Die Welt verwischt immer stärker. Wird zu einem Rorschach-Klecks. Ohne formelle Genauigkeit. Vage, ohne Evidenz. Erst als sich die schneidende Kälte um Füße und Knöchel schmiegt, kehrt Karsten aus der Schattenwelt zurück.

Das Muschelmädchen schreit nicht mehr. Ist sie …?

Vorsichtig klappt er beide Hände auf. Die ersten Strahlen der am Horizont dämmernden Sonne überziehen die winzige Gestalt mit einem goldenen Schimmer. Schwerfällig wendet das Mädchen ihr Antlitz in seine Richtung. Karsten erkennt die Agonie in ihren Zügen. Selbst in ihren stecknadelkopfgroßen Augen hat sie sich ausgebreitet. Ihm zieht sich der Magen zusammen.

„… weiter …“ Die Stimme in seinem Kopf ist kaum mehr als eine Andeutung. Mehr Schein als alles andere.

„… weiter …“

Und er läuft weiter. Immer gerade aus, die Hände mit der Muschel von sich gestreckt. Seine Schuhe graben sich in den Schlick. Eisiges Wasser tränkt seine Hose. Völlig außer Atem bleibt er schließlich stehen. Keuchend blickt Karsten zurück – und erschreckt. Der Strand liegt mindestens einen halben Kilometer hinter ihm. Er befindet sich mitten auf der offenen Nordsee. Fragend starrt er die Muschel an. Hellrote Rinnsale laufen aus seiner Nase.

„Und was jetzt?“ Seine Stimme überschlägt sich.

„Musst … weiter …“, hallt es leise durch seinen Schädel. „Mein Volk ... dort draußen ... es erwartet mich ...“

„Wo genau?“, platzt es aus Karsten hervor.

„Musst … weiter … hab keine Angst …“

Er will weitergehen. Will keine Furcht haben. Nicht mehr.

Doch seine Füße stecken fest. So sehr er sich auch windet, er bekommt sie nicht frei.

Und die Flut kommt. Immer schneller steigt das Wasser.

„Bitte – hilf mir!“ Er wendet sich verzweifelt an das Muschelmädchen. Ein feiner roter Sprühregen begleitet die Worte.

Doch das Muschelmädchen schweigt.

An ihre Stelle treten andere Stimmen. Er kann die Worte nicht verstehen. Aber sie klingen besorgt. Er wendet sich wieder dem Ufer zu und macht mehrere Gestalten aus, die ihm zuwinken. Sie können ihm nicht folgen. Nicht mehr. Die Flut ist längst zu stark geworden. Sie würden jämmerlich ersaufen.

So wie er.

Eigentlich hätte ihn die Erkenntnis treffen müssen wie ein Blitzschlag. Denkste. Fehlanzeige. Gefasst akzeptiert Karsten das Unabwendbare. Vielleicht war genau dies der Grund seiner Reise gewesen, hatte er sich die ganze Zeit über geweigert, den Tatsachen ins Auge zu blicken.

Doch was ist dann mit dem Muschelmädchen?

Der brennende Tränenschleier trübt sein Seh­vermögen, als er zur Muschel blickt. Er will ihn davonblinzeln, macht es aber nur noch schlimmer. Alles ist verzerrt. Auch die Muschel und das … das … Ding … darin …

Sofern es überhaupt eins gegeben hatte.

Er will es gar nicht wissen. Nicht mehr. Es spielt keine Rolle mehr. Wahrheit und Illusion sind unbedeutend geworden.

Jetzt zählt nur eines.

Er begrüßt die Sonne und wartet darauf, dass ihn die Flut unter sich begräbt.

Epilog

„Bereits, als der Typ rein gekommen is’ hab ich gewusst – bei dem sitzt `ne Schraube locker.“ Jetzt markiert Vincent den starken Mann. Doch damals, als er den Mann aus Heidelberg bedient hatte ... Nur seine Frau weiß von den Alpträumen. Gemeinsam mit den anderen Nikotinsüchtigen steht er neben den Containern am Lieferanteneingang vom Alten Huus und frönt seinem Laster. In den letzten Tagen herrschte ziemlich viel Aufruhr im Ort. Polizei, Rechtsmediziner, die Presse. Sogar Reporter der Regionalnachrichten waren da gewesen.

Die anderen lachen mit dem Kellner. Ein aufgesetztes Schaulachen. Auch ihnen ist die unheimliche Geschichte an die Nieren gegangen.

„Die Obduktion ergab angeblich einen Hirntumor“, wispert Konrad, der Juniorkoch. Irgendwo haben sie alle so was in der Art gehört. „Vielleicht hat der ihn in den Wahnsinn getrieben. Und in den Tod.“

Nachdenklichkeit legt sich auf Vincents Antlitz. Er blickt ins Nichts. „Ich schwöre euch, der Typ hat damals geguckt, als wäre ihm ein Geist begegnet. Unheimlich.“

Er tritt seine Kippe aus und verschwindet nach drinnen. Die anderen folgen ihm auf dem Fuße. Konrad ist zurück in der Küche, selbige ist bis zum frühen Abend sein alleiniges Reich. Max, der Chefkoch, tritt erst in drei Stunden seinen Dienst an. So lange kann Konrad tun und lassen, was er will. Hundertachtzig Minuten, in denen keiner seine Arbeit kritisiert.

Allerdings mag er den vor ihm liegenden Part weniger. Ein notwendiges Übel.

Er stellt die Edelstahlschüssel ins Ausgussbecken. Lässt Wasser auf den Inhalt fließen. Seufzend greift er nach der Handbürste und …

War da was?

Er legt den Kopf schief und lauscht. Falscher Alarm, lautet sein Urteil Sekunden später.

Also weiter.

Konrad langt in die Schüssel, die das unverwechselbare Meeraroma verströmt. Routinierte Bewegungen lassen den Vorgang leichter erscheinen, als er ist. Mit einem kleinen Messer macht er sich ans Entbarten. Ebenfalls Routine. Ein Schalentier nach dem anderen landet in einer zweiten Schüssel.

Dann entgleitet das Messer seinen Fingern.

Die Muschel landet auf der blanken Arbeitsfläche.

Konrads Augen weiten sich, als er den Inhalt der aufgeklappten Miesmuschel erblickt.

„Hilfe … Hilfe …“

Michael Schmidt (Hg.): Zwi3licht, Saphir im Stahl, 2013

Die Initalzündung zum Muschelmädchen verdanke ich einem Konzentrationsfehler. Die exakten Umstände kann ich bestenfalls vage rekonstruieren. Abgelenkt? Müde? Quergelesen, damit es bald vorbei war? Den letzten Punkt kann ich verneinen. Mag ich nicht mehr auf den Namen der Kurzgeschichte von Brian Lumley kommen, übel war sie keineswegs. Wie dem auch sei: Nach dem wiederholten Lesen der Stelle erkannte ich, dass es da gar kein winziges, in einer Muschel gefangenes Persönchen gab – dafür aber eine potenzielle Idee für eine Geschichte.

Mister Smith

New Jersey, 29. Oktober

03:54 Uhr

Hauptquartier der New Jersey State Police

Kowalsky war speiübel. Nicht nur wegen der Bilder des Tatorts, die wie verkohlte Male in seinem Verstand eingebrannt waren. Auch wegen dieses widerlichen, kranken Psychos, der im Verhörzimmer lungerte, als wäre es die eigene Couch. Zornig knallte er den Papierbecher mit dampfendem Tee vor dem Namenlosen – weshalb man ihm den provisorischen Allerweltsnamen „­Mister Smith“ verpasst hatte – auf den mit Kratzern und Brandflecken überzogenen Plastiktisch, ehe er gegenüber Platz nahm und seinen Becher mit Batteriesäure, Verzeihung, Automatenkaffee, geradezu feinfühlig abstellte.

Gott, er sehnte sich nach dem Bett und der Wärme seiner Frau. Ihrem Geruch. Er war fix und fertig. Aber die Nacht noch lange nicht vorbei.

Während er sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken massierte und sich dabei seine Kopf­schmerzen zurückmeldeten, griff Smith beidhändig und friedlich lächelnd nach dem Teebecher, der in einer hellgrünen Lache stand. Nicht unbedingt der einfachste Vorgang, wenn die Hände in Handschellen steckten. Smith‘ Füße hatte man zudem in schwere Ketten gelegt. ­Fluchtgefahr, lautete die Begründung. Tatsächlich hatten die Leute eine Heidenangst.

„Kopfschmerzen?“, fragte Smith seidenweich. Es passte gar nicht zu solch einem menschlichen Monster. „Im alten Ägypten nahm man verdünnten Vanilleextrakt. Vorm Zubettgehen. Ein ungemein probates Haus­mittel, Detective. Wobei ich Ihnen trotzdem dringend rate, auf jeden Fall einen Neurologen aufzusuchen, bevor es schlimmer wird.“

Klugscheißer. Kowalsky fiel es nicht leicht, ruhig zu bleiben. Falsch grinsend zog er einen kleinen gelben Blister aus seiner Hosentasche und schüttelte ihn. Der Inhalt klapperte. „Das ist mein probates Hausmittel.“ Mit dem Daumen und einem kurzen Plop! löste er den weißen Deckel vom Blister, der einen hübschen Bogen beschrieb und schließlich auf der Tischoberfläche landete. Ein paar der winzigen Tabletten schüttelte er sich in seine Handfläche. „In Kombination mit mehreren Schlucken miesem Kaffee und einer Kippe.“ Rasch schmiss er die Pillen in den Mund, und spülte sie mit Kaffee runter. Uargh. Ungenießbar war noch ein Kompliment für diese Plörre. Danach zog er mit der Rechten die zerknüllte Zigaretten­packung aus der Brusttasche seines fleckigen Hemds. Auf seiner Krawatte mit den grässlichen Querstreifen fiel ihm ein eingetrockneter Senffleck auf, während sein Zinken das vage Aroma von erkaltetem Schweiß wahrnahm. Wie gesagt: Es war ein langer Tag.

„Rauchen Sie auch?“, fragte er mit der glimmenden Camel zwischen den Lippen sein Gegenüber und hielt ihm die Packung hin. Warum bin ich eigentlich so ­verdammt nett zu diesem Arschloch?, fragte er sich. Er kannte die Antwort: Angst. Der Knilch jagte ihm einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Gerade weil er sich so harmlos gab.

„Ist hier drin nicht Rauchverbot?“, bemerkte Smith und deutete auf das NO SMOKING-Schild an der Tür. „Und nein, ich bin Nichtraucher. Wussten Sie, dass im Europa des 15. Jahrhunderts Lavendel geraucht wurde?“

Jetzt hab ich dich, durchfuhr es Kowalsky.

„Eine interessante Randnotiz, finden Sie nicht auch?“

„Warum erzählen Sie mir diesen Mist, Smith? Sind Sie nervös?“

„Sollte ich es denn sein?“

„Sagen Sie es mir.“

„Es gibt nichts zu sagen.“

„Wirklich nicht?“ Noch ein Schluck Batteriesäure, dann zog Kowalsky die Dienstwaffe aus dem Gürtelhalfter und legte sie auf den Tisch. Der Lauf der schwarz glänzenden Beretta zeigte direkt auf Smith. Kowalsky kannte niemanden, bei dem die Waffe ihre Wirkung verfehlt hätte.

„Hübsch“, bemerkte Smith. „Wussten Sie, dass die Firma Beretta ihren Ursprung im 16. Jahrhundert hat? Es war der bis dato unbekannte Büchsenmacher namens Bartolomeo Beretta, der den Grundstein legte.“

„Wenn ich eine Lektion in Geschichte will, dann schalte ich entweder den Discovery Channel ein oder stöbere bei Wikipedia.“

„Ich weiß, was Sie wollen, Detective, und ich sage es Ihnen noch einmal: Finden Sie sich damit ab und lassen Sie mich frei. Gönnen Sie Ihrem übertriebenen Gerechtigkeitssinn eine Pause und fahren Sie nach Hause. Ihre Frau wartet bereits auf Sie.“

Das ist so sinnlos, dachte Kowalsky, drückte die Zigarette auf dem Tisch aus und lehnte sich matt zurück. Lachte kurz auf. Gott, war er fertig; war diese Welt fertig.

„Was finden Sie so amüsant, Detective?“

Jersey City, 29. Oktober

00:39 Uhr

Rodeo Drive

„Bin echt froh, dass Marcy die beiden Rotzlöffel morgen bei ihrer Mutter ablädt. Scheiß Kinder.“ Und Scheiß-Kälte. Cesario Bosco blies sich in die Hände. Gleichzeitig sprang er ein paar Mal in die Höhe. Der Winter war früh dran in diesem Jahr. Hätte er nur mal an seine Handschuhe gedacht, die nicht bei Marcy lagen, sondern bei dieser anderen Schlampe, die er vor ein paar Tagen in der Pancake Factory aufgegabelt hatte. Hoffentlich hat die Fotze sie noch. Andernfalls schlitz‘ ich ihr die Kehle auf.

„Du magst sie nicht“, entgegnete Jimmy Gualtieri zwischen zwei Zigarettenzügen. Grau-blauer Dunst waberte aus seinen Nasenlöchern und wurde umgehend vom eisigen Nachtwind zerpflückt.

Düster blickte Bosco seinen Kollegen an.

„Kinder, meine ich“, ergänzte Gualtieri.

„Sind schlimmer als Beulenpest, Nigger und Schwuchteln zusammen“, antwortete Bosco. „Die kosten dich ein Vermögen, rauben dir den letzten verfickten Nerv und haben null Anstand. Sollte man alle ertränken, wie beschissene Straßenköter.“

Frag mal den Sohn vom Boss, was er von Kindern hält, dachte Gualtieri, behielt es aber für sich. Schon für diesen Gedanken hätte ihn Morano an den Eiern aufgehängt und bei lebendigem Leib gehäutet. Seine Vorliebe war ein offenes Geheimnis, auch bei den Behörden. Nur nachweisen konnte man Junior nichts. Aber was ging es ihn an? Ihn, einen einfachen Soldaten, der bislang nur die Drecksarbeiten erledigt hatte, aber nun die Chance bekam, ein paar Ränge weiter aufzusteigen?

Wenn der Abend reibungslos verläuft ... und ich mein Maul halte.

Boscos kratzige Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich geh mal pissen!“, verkündete er und stapfte davon.

„Bring‘s aber schnell hinter dich!“, rief ihm Gualtieri nach. „Wenn der Boss rauskommt und nur mich auf dem Posten sieht, sind nämlich trotzdem wir beide fällig!“

„Schiss?“

„Ach, fick dich, Ces!“, konterte Gualtieri und streckte den Mittelfinger in die Höhe.

Bekackter Jammerlappen. Amüsiert entfernte sich Bosco von dem alten Warenlager und näherte sich der Straße. War nicht viel los heute Nacht. Kein fahrendes Auto weit und breit. Und nicht eine Menschenseele unterwegs; nicht mal irgendein nach Scheiße und Fusel stinkender Penner mit seinem verbeulten Einkaufswagen …

Seufzend stellte er sich breitbeinig vor ein kahles Gebüsch und entleerte seine Blase. Herrlich … Zufrieden schloss er die Augen und lauschte dem gleichmäßigen Plätschern des Urinstrahls.

Dann – lauschte er gar nicht mehr.

Blitzartig hatten sich zwei eiskalte Hände um seinen Kopf gelegt und brachen ihm mit der gleichen Geschwindigkeit das Genick. Cesario Bosco war sofort tot. Ein debiler Ausdruck hatte sich auf seinem Antlitz breitgemacht, als er zusammenkippte. Mühelos fing ihn sein Mörder unter den Achseln auf und zog ihn nahezu lautlos ins Gebüsch. Boscos Trainingshose war noch immer runtergelassen, sein bestes Stück in Freiheit. Dunkle Flecke hatten sich auf dem roten Stoff ausgebreitet. Ein Irrer wie du hat so einen schnellen Tod eigentlich nicht verdient, fand der Attentäter, bevor er wieder eins mit den Schatten wurde.

Nervös blickte Gualtieri auf seine Armbanduhr, ein billiges Rolex-Imitat. Schon sieben Minuten … keiner pisst so lange! Ihm stand der Sinn nach einer Zigarette oder einem starken Drink. Beides konnte er sich nicht erlauben. Sein Verstand fuhr Karussell. Immer schneller und schneller und schneller und –

Was, wenn ihn die Russen geschnappt hatten? Oder die Kolumbianer? Vielleicht war es sogar New York. Eigentlich gab es niemanden, dem die Morano-Familie nicht in die Suppe gespuckt hatte. Sogar untereinander. Aber New York ... Das wäre echt übel. Dann würden hier Kriegszustände herrschen!

Schlimmer noch: Dann würden Bosco und er mit ziemlicher Sicherheit die Ersten sein, die unter die Räder kämen.

Und ich würde bei dieser einen Bukiak nie zum Stich kommen.

„Gibt’s ein Problem?“

Um ein Haar hätte Gualtieri laut aufgeschrien. Längst war die Glock gezückt. Er gönnte sich ein erleichtertes Aufatmen, als er die massige Gestalt von Robert Falconi ausmachte. Fast 150 Kilo auf den Rippen und der Mann besaß die Grazie einer gottverdammten unterernährten Ballerina. Unglaublich.

„Was ist mit Ces?“, kam Falconi sofort auf den Punkt.

„Wollte pissen gehen. Ist aber bestimmt schon sieben, acht Minuten her.“

Ohne Vorwarnung krallten sich Falconis Wurstfinger den Kragen von Gualtieris Trainingsjacke und zogen ihn zu sich. „Was hat der Boss vorhin gesagt?“, zischte der ältere Mobster. „Keiner verlässt seinen Posten! Selbst wenn eure Blasen wie verdammte Wasserballons platzen!“ Angewidert schubste Falconi den jüngeren Mann von sich. Nicht viel, und Gualtieri wäre direkt auf dem Arsch gelandet. Das hätte noch gefehlt. „Aber ich ...“

„Ich will nichts hören, stronzo“, schnitt ihm Falconi das Wort ab und ließ eine Hand in seiner marineblauen Trainingsjacke verschwinden.

Ich hab’s vergeigt, realisierte Gualtieri in diesem Augenblick. Und noch etwas. Sie waren nicht mehr alleine. Ganz in der Nähe war noch jemand. Cesario? Gualtieri drehte sich um – und eine Handkante traf mit schier unmenschlicher Wucht seine Nase. Hart genug, um das Nasenbein nahezu vollständig in den Schädel zu treiben und dem Gehirn fatale Schäden zu bereiten.

Jahrelange Erfahrung sorgte dafür, dass Robert Falconi sofort reagierte. Die Frage nach dem Wer und dem Warum war vorerst überflüssig. Einzig das Überleben zählte. Sein Handy wurde durch einen stupsnasigen Revolver ersetzt. Er fackelte nicht lange und schoss drauf los. Schnell, aber nicht schnell genug. Wie einen Schild hielt der Angreifer Jimmy Gualtieris Leichnam vor sich erhoben. Brachial zerschnitten sechs, rasch nacheinander ausgeführte, Schüsse die Luft. Mit derselben Wucht zerfetzten die Kugeln Fleisch, Muskeln, Gewebe, zersplitterten Knochen. Gualtieris Körper zuckte und tänzelte wie eine Marionette.

Dann: Klick. Klick-Klick.

Bevor Falconi nachladen oder nach seinem Rasier­messer greifen konnte, warf ihm der unbekannte Angreifer den blutenden Leichnam entgegen. Fast schien es, als handle es sich wirklich um eine Marionette. Trotz seiner Leichtfüßigkeit war Falconi nicht schnell genug. Gualtieris Überreste rissen ihn von den Beinen, begruben ihn unter sich. Panisch und mit fahrigen Bewegungen wollte er sich von ihm befreien, wollte er ihn von sich stemmen oder sich wenigstens unter ihm rausziehen.

Ein Schatten fiel auf ihn. Falconi erstarrte. Seine Glupschaugen traten aus den Höhlen. Er sah nicht viel von dem anderen. Kein Gesicht. Es war unter der Kapuze seines Shirts verborgen, das er unter seiner zerschlissenen Lederjacke trug. Dazu Jeans und ein Paar schwarze Chucks. Wäre er diesem Wichser auf der Straße begegnet, er wäre ihm gar nicht aufgefallen.

Der Angreifer trat vor. Legte den Kopf schief. Sagte kein Wort.

„Gottverdammter Schwanzlutscher … hast du keine Ahnung, mit wem du dich hier anlegst? Sie werden dich jagen … und dann werden sie dich zerquetschen wie eine Kakerlake!“

Es waren Falconis finale Worte, ehe sein Gesicht eingetreten wurde. Immer und immer wieder. Kleine Blutfontänen spritzten auf. Zähne brachen ab oder lösten sich aus dem Zahnfleisch. Die Nase wurde platt gewalzt. Ein Auge sprang aus der Höhle; lediglich vom gelben Sehnerv mit dem Körper verbunden. Knochen splitterten und barsten. Sie knackten wie ... der Panzer einer Kakerlake.

Ein allerletztes Mal bäumte sich Falconis Körper auf. Hustend würgte er dunkles Blut aus. Dann war es vorbei.

Ein kleiner Gegenstand fiel dem Angreifer ins Auge. Bevor er von der sich schnell ausbreitenden Blutlache überrollt werden konnte, hob er ihn auf. Was findet ihr Typen bloß an diesen hässlichen Trainingsanzügen? Gott, ich vermisse die Tage, in denen selbst der kleinste Schmalspurganove feinsten Zwirn getragen hat.

Andächtig klappte er das Rasiermesser auf. Im fahlen Licht der wenigen Lampen funkelte die Klinge viel­sagend, versprechend, tödlich ...

Och nö. Nicht schon wieder. Die Schultern des Angreifers erschlafften, als er die alte Kamera bemerkte; ein rostiges, verbeultes Ding, das man am nächstbesten Strommast angebracht hatte. Alt, aber intakt, wie das kleine rote Kontrolllicht verriet.

Trotz allem – er hasste es, gefilmt zu werden. Wie die anderen auch. Es nervte und brachte Probleme mit sich, wenn er nichts dagegen tat. Egal, bin wahrscheinlich schon längst über alle Berge bis die Cops ...

Neuerliche Schüsse beendeten jäh seinen Gedankenfluss. Die Kugeln verfehlten ihn nur denkbar knapp. Es regnete Funken, als eine Kugel den Asphalt traf, wohingegen eine andere ein tiefes Loch in die Backsteinwand riss. Zischend und weitere Funken sprühend verabschiedete sich zunächst eine Lampe, kurz darauf auch die andere.

Auf dem kleinen Vorplatz war es auf einmal ein ganzes Stückchen dunkler.

Perfekt für den Angreifer, der sich lächelnd, und mit gezücktem Rasiermesser, zurückzog.

Zu viert kamen sie angerannt. Planlos und gleichzeitig besorgt. Immer wieder, bei dem kleinsten Geräusch, der kleinsten Bewegung, ganz gleich, ob Einbildung oder nicht, schwenkten sie ihre schussbereiten Revolver und Pistolen in jene Richtung.

Bis Sal Turro als Erster die beiden Leichen entdeckte; fahl beschienen vom Licht des über allem thronenden Vollmonds. Der Anblick von Gualtieris Schusswunden war halb so wild; so was sah er nicht zum ersten Mal. Aber das vollkommen unkenntliche, zermatschte Gesicht von Fat Falconi ... das war eine gänzlich neue Dimension. Kranker Scheiß, auf den selbst ein Vorzeigesadist wie er nicht gekommen wäre. Sein Würgereflex meldete sich. Er rang mit seinem Mageninhalt, schmeckte bitteren Gallen­saft.

„Oh, Fuck“, entfuhr es Nico Gismonti, nachdem er gleichfalls den Ort des Geschehens erreicht hatte. Bryan Corrado sagte nichts, kotzte dafür umso heftiger.

„Was’n los?“, hallte Silvio Abruzzos Stimme durch die Nacht.

Turro fuhr zusammen und drehte sich mit gebleckten Zähnen um. „Warum posaunst du’s nicht noch lauter, Arschloch?“

„‚tschuldigung“, erwiderte Abruzzo kleinlaut und präsentierte Turro beide Handflächen. Humpelnd kam er näher. Seit ihm dieser mutige Ladenbesitzer eine Kugel ins Bein verpasst hatte, war er nicht mehr der Schnellste. Was jedoch den Schützen betraf: Der schlief bei den Fischen. Ein fleischiger Gestank wehte Abruzzo entgegen; vermischt mit dem süßlich-metallischen Aroma von Blut. Er verzog das Gesicht. Dann sah er die Leichen: „Scheiße, was is‘n hier ...“

Eine huschende Bewegung. Ein fliehender Schatten. So schnell verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Irritiert starrten Turro und die anderen ihren Mitstreiter an. Abruzzo wirkte nicht weniger perplex. Er wollte etwas sagen, doch statt Worten kam dunkles Blut über seine Lippen. Seine Augen weiteten sich. Auf seinem Hals breitete sich unvermittelt eine feine rote Linie aus; ein blutiger Reißverschluss. Krächzend und weiterhin Blut auswürgend presste er eine Hand gegen die aufklaffende Wunde, aus der weiteres Blut sprudelte. Zu spät. Abruzzos Beine gaben nach. Er fiel auf die Knie, dann kippte er nach vorne und rührte sich nicht mehr, während sich rings um Kopf und Schultern eine scharlachfarbene Lache schnell ausbreitete.

Fassungslos starrten die drei Männer auf den Toten; schienen wie erstarrt zu sein. Bis sich Turro, der älteste des Trios, endlich wieder fasste. Hektisch wedelte er mit einer Hand zu der verbeulten Metalltür. „Was steht ihr noch hier rum? Holt endlich Verstärkung! Sagt dem Boss, dass hier draußen die Scheiße mächtig am Dampfen ist und ... Verfluchte Scheiße, was ist das?“

Turros Blick wand sich in die Höhe. Gismonti und Corrado, an dessen Kinn noch immer Erbrochenes klebte, wirbelten schussbereit herum. Synchron setzte bei allen der Überlebensinstinkt ein. Nicht fragen, nicht denken, bloß schießen.

Die Gestalt klebte förmlich an der Wand. Drei Meter über dem Boden. Wie der gottverfluchte Spider-Man. Schwerkraft stellte für sie kein Problem dar. Unnatürlich flink huschte sie an der Backsteinwand entlang wie ein Sprinter auf der Aschenbahn. Rings um das Phantom schlugen die Kugeln ein. Putz und pulverisierte Backsteine spritzten in sämtliche Richtungen.

Klick-Klick-Klick-Klick-Klick.

Die leer geschossenen Waffen waren das Zeichen. Zeit zum Nachladen würde der Angreifer seinen Gegnern nicht gönnen. Mit Elan löste er sich von der Mauer, beschrieb auf dem Weg nach unten einen Salto und landete präzise zwischen den drei Männern.

Turro glaubte als Erster dran. Eine Handkante zertrümmerte ihm den Kehlkopf; fest genug, um den Atemtrakt einzubeulen wie eine leere Bierdose. Jämmerlich erstickend wich Turro taumelnd zurück, bevor er zusammenbrach.

Gismonti starb sogar noch brachialer. Zu spät bemerkte er die wie aus dem Nichts kommende Faust, die sich in sein Gesicht bohrte, als bestünde es aus Lehm. Unter einem feuchten Schmatzen trat sie am Hinterkopf wieder aus; eine rot-graue, mit Haut und Knochensplittern versetzte Masse klatschte auf das rissige Pflaster.

Nüchtern löste der Angreifer seinen Arm. Der Anblick dessen, was einstmals ein Männergesicht gewesen war, wirkte zu surreal, um Furcht oder Ekel auszulösen. Wie ein riesengroßer Donut mit Blutfüllung.

Ungeachtet dessen fürchtete sich Bryan Corrado. Mehr als jemals zuvor in seinem 32-jährigen Leben. Der dunkle Fleck im Schritt seiner grauen Trainingshose, sein zitternder Körper, die Tränen in seinen Augen ... doch das eindeutige Indiz dafür waren jene Worte, die er dem Gesichtslosen entgegensäuselte: „Bitte ... töte mich nicht ...“ Corrado hörte sich an wie ein kleiner Junge, dem gerade der Mann im Schwarz begegnet war. Sein Atem ging stoßend. Irgendwie brachte er es fertig, die Makarow mit der abgefeilten Seriennummer anzuheben. Offenbar musste sie binnen weniger Sekunden um mindestens 50 Pfund schwerer geworden sein. Und sein am Abzug liegender Zeigefinger … eine einfache Bewegung, und er brachte sie nicht zustande.

Als sich schließlich doch eine Kugel löste, wich der Angreifer einfach aus; beschrieb sein Körper eine kurze, beinahe elegante Bewegung, während irgendwo hinter ihm etwas Metallisches perforiert wurde. Vielleicht die Karosserie eines Autos. Gut möglich, dass es sogar der silbergraue Bentley des Familienoberhaupts war.

Corrado versuchte es ein zweites Mal … und wieder wich der Mann mit der Kapuze einfach aus. Als habe er den Schussverlauf schon gekannt, bevor sein Opponent abgedrückt hatte. Gemächlich kam er näher.

Scheppernd fiel die Makarow zu Boden. Als eindeutiges Zeichen hob Corrado die zitternden Hände. Seine Züge bestanden aus ungefilterter Panik. Was nun aus seiner Kehle kam, hatte was von einem getretenen Straßen­köter. „Aber ich ... will nicht sterben!“ Seine Stimme schraubte sich in immer höhere Bereiche. „Ich habe eine Frau ... und eine kleine Tochter! Nächsten Monat wird sie zwei Jahre alt!“

„Maria und die kleine Anne kommen ohne dich bestimmt besser zurecht als mit dir“, entgegnete der Angreifer. „Wusstest du, dass sich deine Frau jede Nacht in den Schlaf weint? Während du deiner ‚harten Arbeit‛ nachgehst?“ Paarweise symbolisierte er mit Zeige- und Mittelfinger die Anführungszeichen. „Natürlich weiß sie, womit du wirklich dein Geld verdienst. Du gibst ihr ja oft genug Kostproben davon.“ Ein trockenes Auflachen, es klang angewidert. „Schlimmer noch, dir geht einer ab, wenn du Maria schlägst!“

Fuck, woher kennt er ihre Namen?, blitzte es hinter Corrados Stirn auf.

„Wusstest du, dass sie schon seit Längerem mit dem Gedanken spielt, dich umzubringen? Ja ... entweder mit Gift oder im Schlaf, mit einem Messer ...“ Der Angreifer fuhr sich mit dem Daumen quer über die Kehle. „Ganz einfach. Oder? Aber die gute Maria hat etwas, das sie daran hindert. Zwei Dinge. Erstens: ein Gewissen. Und zweitens: die Garantie, dass sie danach erst recht nicht sicher sein wird, egal wo.“ Der nächste Schritt, das nächste Zurückweichen.

„Aber hier und jetzt werde ich den beiden ein neues Leben ermöglichen. Ohne dich, du verkommenes Dreckschwein. Und ohne die anderen kranken Bastarde.“

Corrado stöhnte auf, als er plötzlich die Backsteinwand in seinem Rücken spürte.

„Erinnerst du dich an diesen Jungen, wie war noch sein Name?“

Corrado brachte nur ein hektisches Kopfschütteln zustande.

„Doch, du kennst ihn. Den Untersetzten mit der Gaumen­spalte. Alex … Hirschberger?“

„Keine Ahnung“, wimmerte der Kriminelle.

„Den ihr mit dem Schweißbrenner bearbeitet habt, weil er das Schutzgeld nicht zahlen konnte! Klar erinnerst du dich an ihn.“ Der Namenlose redete mit Corrado, als unterhielte er sich mit einem alten Freund. „Ist ja auch egal, jedenfalls weiß ich ja, was ihr mit ihm angestellt habt. Besonders deine Wenigkeit. Warst ein bisschen übereifrig gewesen, nicht wahr? Forscherdrang eben. Besonders, als du die Flamme auf Hirschbergers Gesicht gehalten hast. Zuerst hat er gar nicht geschrien, erinnerst du dich? Weißt du auch, warum? Weil die Hitze der Acetylenflamme zu heiß für seine Nerven war. Zu viel Information gewissermaßen. Also sendeten sie dem Hirn irrtümlich die Botschaft von Kälte zu. Aber dann, als du den Strahl auf seine Augen gerichtet hattest …“

„Bitte. Nicht. Die Augen.“