New Dodge - Torsten Scheib - E-Book

New Dodge E-Book

Torsten Scheib

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Beschreibung

Willkommen auf New Dodge, Reisende! Was führt euch her? Illegale oder legale Geschäfte? Wobei, das interessiert eh niemanden. Ihr solltet wissen: Recht hat hier, wer als Erstes schießt. Oder wen die Syndikate riechen mögen. Seid ihr etwa Kopfgeldjäger? Dann findet ihr sicher einen Job. Und zum Feierabend geht es in einen unserer zahlreichen Saloons. Dort finden einsame Herzen alles, wonach sie sich sehnen. Unsere Wüstenblumen sind die schönsten, aber auch die kratzigsten. Warnen muss ich jedoch vor den Pokertischen, denn hier ist jeder für sein Blatt selbst verantwortlich. Dann mal los – hinein ins Abenteuer! Und keine Sorge, unser Bestatter hat eure Maße schon von mir bekommen. Und sagt nicht, man hätte euch nicht gewarnt.

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Vorwort
New Dodge
Thomas Heidemann
High Noon am Outlook Rock
Günther Kienle
Sein letzter Wille
Lisanne Surborg
Der Visionär
Stefan Cernohuby
Der große Western-Detektiv
Wolfgang Schroeder
Der Spieler
Jacqueline Mayerhofer
Ein abgekartetes Spiel
Hanna Nolden
Der Kaktusgarten
Jacqueline Montemurri
Der Todesflug der Yuma
Faye Hell
Mario Steinmetz
Katzenjammer
Torsten Scheib
Nichts als Ärger
T. S. Orgel
Das Fett von Booker Bob
Bernd Perplies
Der Mandelohr-Ian
Stefan Barth
Bis aufs Blut
Ju Honisch
Kein Anlass zur Besorgnis

Torsten Scheib und Marc Hamacher (Hrsg.)

NEW DODGE

ISBN 978-3-945230-67-1

1. Auflage, Allmersbach im Tal 2023

E-Book-Version

Cover: Arndt Drechsler

Satz und Layout: Tanja und Marc Hamacher

Lektorat: Tanja und Marc Hamacher

© 2023, Leseratten Verlag, Allmersbach im Tal

www. leserattenverlag.de

Der Leseratten Verlag ist Fördermitglied beim

PAN Phantastik-Autoren-Netzwerk e.V.

Weitere Infos unter:

www. phantastik-autoren.net

Vorwort

Eigentlich mag ich Vorworte.

Ziemlich sogar.

Bis man mich zwang, ein Vorwort für dieses Buch zu verfassen.

Seitdem hat die Beziehung leichte Risse bekommen. Bisschen wie die Stelle in Marriage Story, als sich Kylo Ren und Black Widow zoffen. Mit der Ausnahme, dass Adam Driver die Wand tatsächlich einschlug und ich nicht in der Notaufnahme landete. Hatte wohl in dem Moment an Der Aufstieg Skywalkers denken müssen, der Gute. Wahrscheinlich hätte er in dem Moment sogar Stahl eingedellt.

Ähm … wo waren wir stehen geblieben?

Ach, ja. Vorwort. Für das Buch hier. Mitsamt einem schlüssigen Einstieg.

Ich erwähnte bereits meine seit heute bestehende Antipathie gegenüber dem Schreiben von Vorworten?

Schlüssiger Einstieg also.

Okay.

Was fällt mir so Schlüssiges ein?

Melancholie.

Jetzt bleiben Sie doch hier! Das ist kein Band mit gegenwartsliterarischen Essays voller Grübeleien, Verzweiflung und warum sich Katzen den Genitalbereich lecken können und wir nicht.

Melancholie also.

Schwermut.

Den Blues haben.

Blues? Nie von gehört? Wie in der Musikform Blues, den Cardiff Blues, dem staatlichen Messnetz für Luftschadstoffe in Bremen, den Blues bei Perry Rhodan, dem Bluescreen, den Blues Brothers, dem Blues Trio von den Angry Birds, dem italienischen Triebzug, dem Hendrix-Album …

O! Der Verleger meint, ich solle Schluss machen, bevor das Vorwort auf 80.000 Zeichen anschwillt.

Als ob ich so etwas je machen würde.

Okay. Schwerm… HIERGEBLIEBEN!

Schwermut also.

Dieser Zustand im Zentrum jener schwerelosen Zone zwischen Sehnsucht, Tristesse und Freude. Orientierungslos umherirrend wie jene, denen einzig Erinnerungen verblieben sind. (Oder wie jemand, der ein Vorwort schreiben muss – IST JA GUT! NEIN, DU BIST KEIN VERLEGER, DU BIST EIN TYRANN!) Wie jener unumstößliche Fakt, dass man sich viel zu geschwind wieder mit der herbstlich-kühlen Realität auseinandersetzen muss. Egal, ob man es mag oder nicht. Beispielsweise nach einem einzigartigen Konzert. Dem lang verschobenen Treffen mit Freunden. Nach der überwältigenden Stimmung einer Convention. Dem Zuschlagen eines lieb gewonnenen Buches.

Oder bei der Gewissheit, dass nach der finalen Folge einer ins Herz geschlossenen Serie nichts nachfolgen wird.[Fußnote 1]

Okay, vielleicht noch ein Spielfilm.[Fußnote 2]

Und ein paar Comics.[Fußnote 3]

Und Romane.[Fußnote 4]

Dies war im Grunde die Geburtsstunde dieser Anthologie. Denn da war (fast) nichts, was meinen Jieper auf Weltraum-Cowboys, Bösewichte mit blauen Handschuhen, lustige Strickmützen, Gewehre mit Frauennamen, Raumschiffe die wie Glühwürmchen ausschauten[Fußnote 5], tolle Dialoge, lieb gewonnene Charaktere und nahezu unendlicher Coolness stillen konnte. Und ihr wisst doch: Kommt der Berg nicht zum Propheten …

Lange, ziemlich lange bin ich mit der Idee einer Space-Western-Anthologie schwanger gegangen. (Das ist eine Redewendung, Herrgott!) Und es waren Tanja Kummer und ihr Göttergatte – das muss ich so schreiben, er zwingt mich dazu – Marc Hamacher, die quasi die Geburtshelfer spielten. (Okay, an den Metaphern arbeiten wir noch.) Mehr noch. Von mir kam ja im Grunde nur die Idee – das Fundament. Aber ohne Marcs eigene Einfälle und Konzepte wäre dieses Buch höchstwahrscheinlich immer noch nur ein Traum. Teufel, die beiden besuchten mich sogar in meiner Heimatstadt und wer Ludwigshafen kennt, der weiß, wie mutig man dafür sein muss.

Jedenfalls: Da wären wir. Was es geworden ist? Junge oder Mädchen? Aus tiefster Überzeugung kann ich darauf antworten: Großartig.

Jede einzelne Geschichte hat mich umgehauen. Wofür ich sämtlichen Beteiligten unendlich dankbar bin. Denn was Sie hier in Händen halten, ist nicht bloß eine Sammlung von Weltraumwestern, sondern der Beweis, wie einfallsreich, aufregend, originell, ja außergewöhnlich die hiesige Fantastikszene ist. Sie werden lachen, staunen, sich wundern, traurig sein, mitfiebern …

Und mit einem Anflug von Melancholie dieses Buch nach Beendigung zuklappen. Davon bin ich mehr als überzeugt.

Viel Vergnügen wünscht,

Torsten Scheib

Limburgerhof, im Januar 2023

New Dodge

Aus der Galaktipedia, der größten unabhängigen, ungeprüften und tendenziösen Datenbank des Universums:

Wortart: Eigenname

Synonyme: Drecksloch, Weltraumkartoffel

Aussprache: Nju Dottsch

New Dodge ist ein unbedeutender, wenn auch famos großer Asteroid im interstellaren Leerraum. Rau, zerklüftet – ein riesiges, unförmiges Nugget aus verklumptem Katzenstreu.

Geschichte:

Von ihren ursprünglichen Erbauern als paradiesische Urlaubswelt konzipiert, verfügt das Habitat über eine Kunstsonne, Schwerkraftregulierung und Klimasteuerung. Und früher über farbenfrohe Parkanlagen, üppige Wälder, Seen und Flüsse. Die Luft war sauber und die Cocktails erschwinglich. Auf der anderen Seite des Asteroiden entstand ein topmoderner Raumhafen, der viel Platz für die Raumschiffe der Erholungsbedürftigen bot. Und mit bequemen und schnellen Aufzügen kamen die Urlauber vom Raumhafen ins Paradies.

Doch dann erschienen die Menschen[Fußnote 6] auf der Bildfläche, beziehungsweise auf dem Asteroiden.

Als die Terraner[Fußnote 7] auf dem Asteroiden ankamen, bewunderten sie seine Wildheit und Schönheit und staunten über seine technische Genialität. In guter alter Tradition erklärten sie ihn zu ihrem Eigentum. Dass es dort noch anderes intelligentes Leben gab, stellte dabei das geringste Problem dar: Die Urlauber wurden kurzerhand vor die Tür gesetzt, die friedfertigen Erbauer des Paradieses zusammengetrieben und umgesiedelt.

Die Menschen lernten den rudimentären Umgang mit der sagenhaft überlegenen Technik ihrer Vorgänger, aber sie verstanden nie wirklich, was sie da taten. Sie erhöhten irreversibel die Leistung der Kunstsonne, rodeten die Wälder, bedienten sich hemmungslos aus den Frischwasserkavernen und erlegten jedes Tier, das ihnen vor die Flinte lief. In kürzester Zeit ruinierten sie das ausgefeilte Ökosystem und verwandelten das fruchtbare Habitat in eine ausgetrocknete Steppe, in der es tagsüber ekelerregend heiß und nachts ungemütlich kalt wurde.

Bis die galaktische Zentralverwaltung mitbekam, welches Drama sich hier abspielte, war alles schon zu spät. Der Asteroid wurde seinem Schicksal überlassen. Auch die meisten Terraner verließen ihn wieder, nachdem es dort nichts mehr zu holen gab außer Staub und Sonnenbrand. Wer blieb, gehörte zum härtesten und verschlagensten Abschaum der Galaxis. Meist Menschen, aber auch hart gesottene Angehörige anderer Völker.

Wirtschaft:

Clans und Syndikate rissen die Macht an sich. Der dreckige, heruntergekommene Felsen wurde zu einem Treffpunkt von Outlaws. Verbrechen, Glücksspiel und vor allem der illegale Handel florierte. Hier gibt es inzwischen alles. Wirklich alles!

Judikative:

Recht hat, wer zuerst den Abzug drückt oder das meiste Schmiermittel locker machen kann.

Persönlichkeiten/Kultur:

Zu den schillerndsten Persönlichkeiten der terranischen Zeitrechnung gehörte der geniale Superschurke Mad Shyb, der von uralten Filmen, darunter sogenannte Western, besessen war. Unter seiner Federführung wurde der Asteroid in eine Kulisse umgestaltet, die einem besonders öden und deprimierenden Teil seines Heimatplaneten nachempfunden war, welchen seine Vorfahren den Wilden Westen nannten. Um die Illusion perfekt zu machen, führte er sogar Tiere und Pflanzen von Terra ein: Klapperschlangen, Kojoten, Mustangs, Kakteen und Präriegras. Es gab aber nur eine weiße Katze, die behielt er für sich.

New Dodge City:

Eine Stadt entstand, welche zunächst überwiegend aus Holzhäusern und unbefestigten Straßen bestand. Seine Saloons und Casinos lockten die Besucher in Scharen an, und eine rekordverdächtig hohe Anzahl an Sheriffs versuchte, zumindest für einen Anschein von Recht und Gesetz zu sorgen.

Die kürzeste Amtszeit beträgt derzeit 15 Sekunden.

Auszeichnungen:

Keine.

Wissenswertes:

Kein Ort in der Galaxis ist wie New Dodge. Hier ist alles anders, und niemand weiß, was hinter dem nächsten Felsen, der nächsten Farm oder einem herumrollenden Tumbleweed lauert.

Aus der Galaktipedia:

Thomas Heidemann

Berüchtigter Terraner von zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit. Treibt sich auf seinem verlotterten Heimatpaneten die meiste Zeit in der Nähe eines weitgehend unbekannten Provinzkaffs namens Göttingen herum. Er lebt von den hoffnungslosen Versuchen, in den matschigen Freilufthabitaten seiner Artgenossen Pflanzen wachsen zu lassen. Daneben stößt er als Trapper wagemutig in die heimische Wildnis vor, wo er aus unerfindlichen Gründen jeden Stein umdreht und jedes Blümchen fotografiert.

Sollte er nicht auf der Erde anzutreffen sein, hat er sich wieder einmal in irgendeine unwahrscheinliche Parallelwelt versetzt, um die Verhaltensstörungen derer Bewohner samt den daraus resultierenden Konflikten und Peinlichkeiten zu dokumentieren. Seine Aufzeichnungen jubelt er Verlagen als Schöpfungen der eigenen Fantasie unter, was erstaunlicherweise zehn Jahre lang niemand durchschaut hat. Ein Ergebnis dieser frechen Täuschungen sind die sogenannten FEUERSTURM-Chroniken, für die er jahrelang das Raumschiff FE ERSTUR verfolgt und dessen Datenbanken angezapft hat.

Für seine Ergreifung hat die zentralgalaktische Verlegergewerkschaft ein saftiges Kopfgeld ausgesetzt. Aber Vorsicht: Heidemann ist mit drei neurotischen Katern bewaffnet und versetzt sich regelmäßig mit einem doppelten Cappuccino in kreative Raserei.

High Noon am Outlook Rock

Salty Virginia, fünf Jahre zuvor.

»Ich habe Zweifel.«

Der Pilot zuckte zusammen, als die monotone und geschlechtslose Stimme aus den Kopfhörern seines Helms drang. »Wer sind Sie? Wie haben Sie meine Frequenz gekapert?«

»Ich bin, was ihr Menschen die Bluebox nennt. Ich bin deine Fracht.«

Der Pilot fing sich rasch wieder. Er hatte in diesem Krieg schon genug erlebt, um gegen die meisten Schrecken abgestumpft zu sein. Er war ein Veteran, längst in den Rang eines Colonels aufgestiegen. In seinem Alter hätte er keinen Risikoeinsatz fliegen müssen. Er tat es, weil er glaubte, dass es keinen Besseren für diesen Job gab. Seine Mission bestand darin, mit einem Ghostjet, einem für den Radar unsichtbaren Spionageflugzeug, das Hauptquartier der Konföderierten in einer Höhe von maximal 266 Metern zu überfliegen und unentdeckt wieder zu verschwinden. Die eigentliche Arbeit – den Hauptrechner der Admiralität infiltrieren und die planetare Verteidigung von Salty Virginia kollabieren lassen – sollte die Bluebox erledigen. Diese war in einer provisorischen Halterung über den Armaturen angebracht – ein tiefblauer flacher Kasten mit abgerundeten Ecken, ungefähr so groß wie zwei Flachmänner.

Gerüchteweise hatte niemand es geschafft, ihr Gehäuse zu öffnen oder auch nur zu durchleuchten. Es hieß, sie stelle ein Artfakt einer untergegangenen, hochtechnisierten Zivilisation dar, und dass die talentiertesten Robotiker der Union mit ihr kommuniziert und sie zur Kollaboration bewogen hätten.

»Wie kann eine Maschine Zweifel haben?«, fragte der Pilot. Dabei blickte er auf die Anzeigen. Noch zweieinhalb Minuten bis zum Zielgebiet. Unter dem Jet wechselten in rascher Folge felsige Hügelketten, Salzseen, karge Felder, Industriegebiete und Kleinstädte. In der Ferne flimmerte die Skyline einer Großstadt in der heißen Luft.

»Ich habe die Kommunikation und den Datenpool der Konföderierten analysiert«, sagte die Box. »Sie sind keine Monster, wie die militärische Führung der Union es dargestellt hat, sondern lediglich eine Fraktion mit abweichender politischer Auffassung. Ich habe meine Kooperation auf der Basis fehlerhafter Informationen zugesagt.«

»Die Union hat das Recht, gegen Separatisten vorzugehen!« Der Colonel spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. »Wir stehen auf der richtigen Seite.«

»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es keine richtige Seite gibt. Um ein unauflösbares Dilemma zu vermeiden, sehe ich mich gezwungen, Konsequenzen zu ziehen.«

Die Cockpitanzeigen meldeten ein ausgehendes Funksignal auf allen von den Konföderierten genutzten Frequenzen.

»Was tust du?«, schrie der Colonel.

»Ich habe uns angemeldet.« Die Antenne des Ghostjets pulste das Signal im Zehntelsekundentakt in den Äther. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, da keine menschliche Hand die Funktaste gedrückt hielt.

»Sie werden uns abschießen!«

»Ja. Es ist besser, ich nehme mich in diesem Konflikt aus der Gleichung.«

»Dann werde ich auch sterben!«

»Das ist einkalkuliert.«

»Es muss eine bessere Lösung geben.«

»Ich bin grundsätzlich aufgeschlossen, Mensch. Sprich!«

Die Gedanken des Colonels rasten. Wie sollte er die abtrünnige KI davon überzeugen, dass die Unionisten die Guten waren? Ein unerfreulicher Gedanke schlich sich in seine Überlegungen: Was, wenn sie recht hatte?

Auf dem Monitor erschienen drei rot blinkende Dreiecke. Abfangraketen! Die Systeme meldeten dreißig Sekunden bis zum Kontakt, falls er den Kurs beibehielt.

Neunundzwanzig.

Achtundzwanzig.

Als das Tracking-Signal des Colonels erlosch, ging ein kollektives, entsetztes Aufstöhnen durch die Zentrale des Flaggschiffs der Union. Der Ghostjet war zerstört worden.

Major Liv Ancliff, die diensthabende Ortungsoffizierin, schlug die Hände vors Gesicht. Nicht, weil der Einsatz missglückt war und ein Angriff auf Salty Virginia unter diesen Umständen sinnlos war. Sondern weil sie einen Freund verloren hatte. Colonel Bron Charleston, unter dem sie bereits als Infanteristin gedient hatte, war im feindlichen Feuer atomisiert worden.

Und mit ihm die Bluebox.

New Dodge, vier Jahre zuvor.

»Ich will ehrlich zu Ihnen sein: Es gibt einige Gründe, warum die alte Farm auf dem Outlook Rock seit Jahrzehnten verfällt. Das Felsplateau hat den Ruf, bei der nächstbesten Erschütterung des Asteroiden abzubrechen und selbst zu einem Asteroiden zu werden. Der Boden ist so verdammt unfruchtbar, dass Sie für jedes einzelne Saatkorn einen eigenen Agribot bräuchten, der es 24 Stunden am Tag umhegt und bemuttert. Und natürlich kommt alle paar Wochen das Gerücht auf, es würde hier spuken. Nicht mal als Touristenattraktion taugt der Ort – er liegt viel zu weit von New Dodge City entfernt. Direkt am Rand des Asteroiden. Oder, wie manche sagen: Er hängt mit dem Arsch halb im Weltraum.« Nachdem der Makler all dies mit hoffnungsloser Stimme vorgetragen hatte, zuckte er entschuldigend mit den Schultern. »Tja, Sie wollten es ja mit eigenen Augen sehen …« Er wandte sich wieder seinem Prallfeldgleiter zu, um der staubigen Tristesse zu entfliehen. So lief es nämlich immer: Spätestens an diesem Punkt verlangte jeder Interessent, noch einmal über die zuvor besichtigten, ungleich teureren Immobilien zu sprechen.

»Wo kann ich unterschreiben?«

Der Makler drehte sich zu seinem Klienten um, einem Granitquader von einem Mann, den er aufgrund des drahtigen grauen Haars und der Falten um die Augen auf weit über sechzig Lebensjahre schätzte. »Wie bitte?«

»Die Farm ist perfekt. Ich kaufe sie.«

In Windeseile holte der Makler die Verträge aus dem Gleiter, bevor der Klient seinen offensichtlichen Irrtum erkannte oder, was er für wahrscheinlicher hielt, die Wirkung der Medikamente nachließ, die offensichtlich seine Wahrnehmung trübten. Kaum hatte er den Kaufvertrag unterschrieben, gab der frischgebackene Besitzer des Outlook Rock seinem eigenen Gleiter einen Wink. Das Gefährt reagierte, indem es eine Rampe ausfuhr. Ein Roboter rumpelte auf Raupenketten aus dem Frachtraum ins Freie.

Der Makler hob eine Braue. Die klobige Maschine, an deren Rumpf vier Werkzeugarme befestigt waren, blieb einen halben Meter vor ihm stehen. Ihr Kopf erinnerte ihn an eine verschmitzt lächelnde Gottesanbeterin. Nur dass darauf anstelle zweier Fühler eine einzelne Antenne vor und zurück federte, störte dieses Bild ein wenig.

»Ich grüße Sie, Mensch«, sagte der Roboter mit angenehm modulierter Männerstimme.

»Ein sprechender Agribot?«

»Sonst habe ich ja niemanden zum Reden«, sagte der alte Mann. »Dredg ist eher ein Universal-Roboter. Sein Vorbesitzer hat ihn nach und nach aufgerüstet.«

»Farmer, Goldsucher, Hausmeister, Wachhund und Schachpartner«, sagte Dredg, während er eine Sonde in den Boden bohrte. »Ach herrje. Nun ja, für Tumbleweed wird es reichen.«

»Er hat einen Scherz gemacht, oder?«, fragte der Makler, an seinen Klienten gewandt. »Sie wollen nicht wirklich Tumbleweed anbauen.«

Der Käufer zuckte mit den Schultern. »Scheint mir eine vielversprechende Marktlücke zu sein.«

Der Ausdruck völliger Humorlosigkeit im Gesicht seines Gegenübers ließ den Makler unwillkürlich einen Schritt zurücktreten. »Tja, wenn ich noch was für Sie tun kann …«

»Nur eines.« Die dunklen Augen unter den buschigen Brauen des Alten verengten sich zu Schlitzen. »Falls jemand sich nach mir erkundigt: Sie haben mich nie gesehen.«

New Dodge, heute.

Eine Reiterin näherte sich dem Outlook Rock.

Ein langer schwarzer Ledermantel verschleierte ihre Proportionen, doch selbst im Sitzen verriet ihre Haltung Selbstvertrauen und einen trainierten Körper. Vor dem Stacheldrahtzaun zügelte sie ihren klapperdürren schwarzen Gaul und lehnte sich vor, um ein handbeschriebenes Holzschild zu betrachten:

ACHTUNG!!!

Bissiges Tumbleweed!

Draußen bleiben

Sie lachte leise – das raue Lachen einer nicht mehr ganz jungen Frau – und legte den Kopf in den Nacken. Ein steiniger Pfad schlängelte sich den steilen Hang zum Plateau hinauf. Von dort näherte sich eine breitschultrige Gestalt mit geschultertem Gewehr.

Die Frau wartete geduldig, den Blick auf den Boden gerichtet, wodurch die Krempe ihres Huts ihr Gesicht verdeckte. Ein trockenes Tumbleweed-Büschel rollte raschelnd hinter dem Zaun entlang, obwohl sich kein Lufthauch regte.

Erst als sie wenige Schritte vor sich das Knirschen von Kieseln unter Stiefelsohlen hörte, hob sie das Kinn.

»Na, wenn das mal nicht Colonel Charleston ist.«

»Na, wenn das mal nicht Major Liv Ancliff ist.«

»Ich bin keine Majorin mehr.«

»Und ich kein Colonel. Aber das weißt du ja.«

Sie musterten einander stumm für einige zähe Sekunden. Schließlich hakte Bron den Draht aus, und Liv glitt aus dem Sattel und führte ihr Pferd am Zügel durch die Öffnung.

»Hast dich gut gehalten, Mädchen.«

»Siehst immer noch aus, als würdest du jeden Tag ein Klafter Holz spalten. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass du tot bist.«

Der Alte brummte etwas Unverständliches in den grauen Schnauzbart, der seine Oberlippe verdeckte, dann nickte er in Richtung der Ranch. »Ich hab Whiskey da.«

Bron schritt vor Liv den Weg hinauf. Das Gewehr ruhte mit dem Lauf auf seiner Schulter, und Liv überlegte, ob sie die Sache nicht hier und jetzt durch einen sauberen, wenn auch unfairen Schuss in seinen Rücken beenden sollte. Aber dann müsste sie auf der Farm jeden Stein umdrehen, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Und außerdem war Bron …

… ein verdammter Verräter!Reiß dich zusammen, Liv!

Sie erreichten das Plateau und das darauf gelegene Farmhaus, ohne ein weiteres Wort gewechselt zu haben. Liv band ihr Pferd an einem Pfosten der Veranda fest und blickte sich um. Neben dem Gebäude stand ein Gleiter, der aussah, als würde er sich nie wieder vom Boden erheben. Ein Wassertank, ein zum Geräteschuppen umgewidmeter Frachtcontainer und ein Gewächshaus vervollständigten das trostlose Ensemble.

In einiger Entfernung trieb ein Agribot einen Bohrer ins Gestein, versenkte einen stachligen Setzling in dem Loch und besprenkelte ihn aus einem Tank auf seinem Fahrgestell.

Das Ergebnis dieser verzweifelt anmutenden Bemühungen waren offenbar die kniehohen Büsche, die sich in verschiedenen Stadien des Dürretods in den Boden krallten. In einer Gitterbox neben dem Container lagerten sogar einige zu Stroh verdorrte Exemplare, als hätte Bron vor, sie demnächst in New Dodge City feilzubieten.

»Was soll das mit dem Tumbleweed, Col… Bron?«

Der Alte drehte sich zu ihr um und zwinkerte. »Dachte, ich sattle auf Gärtner um.«

»Hier? Bist du irre?«

»Es muss auch irre Gärtner geben. Im Übrigen findet unsere Ernte reißenden Absatz. Du glaubst gar nicht, wie viel von dem Kraut wir schon verkauft haben.«

»Wir?«

»Ich und Dredg – mein Agribot. Es war übrigens seine Idee, Mikrogebläse einzubauen, damit sie von selbst rollen.«

Liv schüttelte ungläubig den Kopf. »Völlig irre, ich sag’s ja.«

Das Haus roch alt und staubig. Die Möbel schienen von den Vorbesitzern zurückgelassen worden zu sein. Bron wies auf einen Tisch, an dem zwei Stühle standen. Eine Flasche und zwei Tumbler-Gläser standen dort bereit.

»Hast du mich erwartet?«

»Man sieht ziemlich weit von hier oben.« Bron deutete auf ein Fenster, das eine grandiose Aussicht auf die Ebene unterhalb des Outlook Rocks gewährte. Durch das Fenster auf der gegenüberliegenden Seite sah Liv das Flackern des Energieschirms, der diese Seite des Asteroiden überspannte.

Sie setzte sich, die Linke auf der rauen Tischplatte, die Rechte auf dem Oberschenkel, nahe beim Holster. Der Alte legte das Gewehr auf den Tisch und setzte sich ebenfalls. Sie beäugten einander wie zwei Kojoten, die um einen Kadaver schlichen.

Bron füllt die Gläser und schob eines auf ihre Seite. »Auf die gute alte Zeit?«

»Wenn sie denn gut war.«

Sie hoben die Gläser und tranken. Liv leerte ihren Whiskey in einem Zug, während Bron ihn genießerisch im Mund kreisen ließ. Ein Tumbleweed rollte durch die offene Tür herein und verfing sich am Holzstapel neben dem Kamin.

»Wie hältst du das hier aus, Bron?«

»Besser als weiter gegen die Konföderierten zu kämpfen.«

»Dieser verdammte Hinterweltler-Abschaum.«

»Verdammter Abschaum, du sagst es.«

»Dabei hätte der Krieg vor fünf Jahren vorbei sein können.« Livs Stimme hatte beim letzten Satz einen lauernden Unterton angenommen.

»Oder vor zehn. Oder vor fünfzehn.« Der ehemalige General zuckte mit den Schultern. »Wie oft hat eine Seite schon geglaubt, die überragende Strategie, das entscheidende Bündnis, die ultimative Waffe gefunden zu haben?«

»Wo wir von der ultimativen Waffe sprechen …« Liv beugte sich leicht vor. »Was für ein Jammer, dass damals auf Salty Virginia die Bluebox zerstört wurde. Und wir unseren besten Colonel verloren haben.«

»Irgendwann lässt jeden das Glück im Stich.«

»Dich anscheinend nicht. Du hast überlebt.«

Bron nickte bedächtig. »Wie hast du mich gefunden?«

»Ich habe mich immer gefragt, wie die Kons es geschafft haben, deinen Ghostjet zu orten.«

»Und zu welchem Schluss bist du gekommen?«

»Entweder die Bluebox wollte es so. Oder du.«

»Wenn du es sagst.« Bron schenkte ihr Whiskey nach.

»Naheliegender Gedanke, dass ihr unter einer Decke gesteckt habt. Einen Colonel Charleston schießt man nicht so einfach aus dem Himmel.« Sie nahm das Glas und trank. »Seitdem habe ich dich gesucht. Auf allen Welten und Stationen, die es mit den Einreiseformalitäten nicht so genau nehmen. Tja, und hier traf ich diesen Makler, dessen Erinnerung beim Anblick eines Stapels Credits schlagartig aufgefrischt wurde.«

»Was willst du, Liv? Mich der Union ausliefern?«

»Ich will die Bluebox.«

»Ich hätte mir denken können, dass du nicht aus nostalgischen Gründen hier bist.«

Brons Hände bewegten sich so schnell, dass Liv seine Rechte gleichzeitig am Whiskeyglas und am Kolben des Gewehrs sah; der Zeigefinger fuhr in den Abzugsbügel, bevor das Glas auf dem Holz zerschellte. Liv ließ ihr Knie von unten gegen die Tischplatte krachen und hob sie weit genug an, um den Lauf des Gewehrs zur Seite abzulenken. Im Aufspringen zog sie den Revolver, entsicherte und richtete ihn auf Bron, der ihre Bewegungen in derselben fließenden Eleganz nachvollzog, als wäre er ihr Spiegelbild. Beide Läufe bildeten eine Linie, entlang derer sie einander anblickten.

Liv knirschte mit den Zähnen. »Du hast nichts verlernt, Alter.«

»Aber du scheinst etwas Sand in die Gelenke bekommen zu haben«, erwiderte Bron unbekümmert.

Das Rumpeln eines Kettenantriebs und das Knarren von Bodendielen zwang die beiden, den Blick voneinander zu lösen. Die Silhouette von Brons Agribot füllte den Türrahmen des Eingangs aus. »Ach herrje«, sagte der Roboter.

Liv brauchte einen Moment, um das surreale Gefühl zu unterdrücken, bei etwas Verbotenem ertappt worden zu sein. Das ist ein gottverdammter Roboter, schalt sie sich. Aber ein Roboter, der mit einem Bergbau-Desintegrator auf sie zielte. Bei drei Meter Abstand würde die Streuung auch Bron die Haut von den Knochen rieseln lassen. »Sag mal, gelten für deinen rostigen Freund keine Robotergesetze?«

»Dredg hat ein Eigenbewusstsein. Für ihn gelten die Gesetze von New Dodge City.« Bron ließ das Gewehr sinken. »Alles in Ordnung, Dredg. Liv und ich kennen uns schon ewig. Wir machen nur Spaß.«

Liv atmete tief durch, steckte den Revolver ins Holster zurück und zeigte Dredg die leeren Handflächen. »Siehst du? Wir sind Freunde.«

Der Roboter senkte zögernd den Arm, der das mörderische Gerät hielt. Sein wie ein auf der Spitze stehendes Dreieck geformter Kopf drehte sich von Liv zu Bron und wieder zurück, wobei die Antenne leicht zitterte. »Ein Freundschaftsnachweis ist erforderlich.«

»Freunde geben sich die Hände«, schlug Liv vor.

»So ist es«, bestätigte Bron und hielt ihr die Rechte hin. »Warum haben wir das nicht gleich getan?«

»Weil du ein misstrauischer alter Sack bist.« Sie ergriff seine Hand, lächelte ihm ins Gesicht – und brachte ein weiteres Mal ihr Knie zum Einsatz. Bron krümmte sich stöhnend zusammen und ließ das Gewehr fallen. Liv beförderte es mit einem Tritt außer Reichweite, dann drehte sie ihrem ehemaligen Kampfgefährten den Arm auf den Rücken und presste ihm dem Revolver gegen die Schläfe. »Zu Recht, möchte ich anmerken. Sag deinem Roboter, er soll sich zurückhalten.«

Bron stöhnte unterdrückt. »Dredg, du hast die Dame gehört. Mach, was sie sagt.«

»Nur unter Protest.«

»Sehr vernünftig, Dredg«, sagte Liv mit ihrer Gute-Laune-Stimme. »Und jetzt möchte ich eine Vermutung überprüfen. Mein guter Freund hier hat etwas versteckt, was ihm nicht gehört. Und du hast einen Desintegrator, perfekt, um schöne tiefe Löcher in den Fels zu fräsen. Ich denke, wir könnten draußen auf dem Plateau was Interessantes finden.« Sie gab dem Roboter einen Wink Richtung Tür.

Dredg drehte seinen Rumpf um 180 Grad und rollte über eine Rampe von der Veranda herunter. Bron folgte ihm nach einem aufmunternden Schlag mit dem Revolver gegen seinen Schädel.

»Vorwärts!«, befahl Liv, als Dredg langsamer wurde. »Führ mich zum Versteck!«

»Diese Aufforderung ergibt keinen Sinn«, klagte der Agribot, während er in Schrittgeschwindigkeit über den felsigen Boden rollte. »Ich benötige weitere Parameter.«

»Die kannst du haben: ein tiefblauer Quader, so groß wie drei aufeinandergelegte Scheiben Schwarzbrot, aus einem unbekannten Material außerirdischer Herkunft. Keine Anschlüsse, keine Möglichkeit, das Gehäuse zu öffnen. Enthält eine hoch entwickelte künstliche Intelligenz, die zu jeder Art Rechner eine drahtlose Schnittstelle herstellen und diesen korrumpieren kann.«

Dredg wandte ihr sein insektoides Gesicht zu, wodurch er plötzlich rückwärts zu rollen schien. »Und du vermutest, dass dieses Artefakt sich hier befindet?«

»Ich weiß es«, sagte Liv.

»Ach herrje.« Die grauen Kameralinsen des Roboters trübten sich für einen Moment ein und begannen, in einem unheilvollen Rot zu glimmen. Liv blinzelte verwirrt.

»Ich übernehme keine Verantwortung für meine folgenden Handlungen.« Etwas Kaltes, Fremdes hatte sich in die Stimme des Roboters geschlichen.

»Welche folg…?«

Hätte Bron sie nicht zu Seite gestoßen und wäre in die entgegengesetzte Richtung abgetaucht, wären beide im Strahl des Desintegrators bis zu den Hüften pulverisiert worden.

»Verdammt!« Liv verwandelte ihr Torkeln in einen Sprint, der sie in Richtung des Wassertanks führte. Ein Blick über die Schulter: Dredg rumpelte hinter ihr her und zielte dabei auf sie. Auf seinem Raupenantrieb war er langsamer als ein rennender Mensch, ein Umstand, der Liv das Leben rettete. Sie spürte ein Kribbeln im Nacken. Der Desintegratorstrahl hatte sie erfasst, war aber auf die Entfernung zu schwach, um mehr Schaden anzurichten, als ihre Haarspitzen spröde zu machen. Sie ging hinter dem Tank in Deckung, hielt den Revolver ruhig mit beiden Händen und wartete darauf, ihren Verfolger ins Visier zu nehmen.

Dredg ließ sich nicht blicken. Dafür hörte sie hinter sich ein Rascheln. Sie fuhr herum.

Ein Tumbleweed rollte auf sie zu. Ein zweites näherte sich von der Plantage, ein drittes aus dem Gerätecontainer.

»Was soll das werden?«

Das erste Büschel explodierte zwei Meter vor Liv. Die Druckwelle schleuderte sie gegen den Tank. Den anschließenden Aufprall im Staub spürte sie kaum. In ihren Ohren summte es. Weil ihre Augen noch nicht begriffen hatten, dass sie auf der Seite lag, erschien der Boden um neunzig Grad gekippt. Ebenso wie der Agribot, der mit rot glühenden Augen und auf sie gerichtetem Desintegrator auf sie zu rollte.

»Ich versichere«, sagte Dredg, »dass ich es keinesfalls gutheiße, dieses Werkzeug missbräuchlich gegen Menschen einzusetzen.«

Was ihn nicht davon abhielt, genau das zu tun.

Der materiezersetzende Strahl strich nur deshalb knapp über Liv hinweg, weil Bron im selben Moment auf das Chassis seines Roboters sprang und dessen Arm nach oben drückte.

»Major Ancliff! Laufen Sie!« Mit übermenschlichen Kräften lenkte Bron den Strahl weiter in die Höhe und seitlich gegen die Stahlwandung des Tanks.

»Ich …«

»Das ist ein Befehl!«, bellte Bron.

Liv blickte sich hektisch um.

Fünf Tumbleweeds näherten sich ihr rollend und hüpfend und in eindeutig angriffslustiger Stimmung. Für einen verrückten Moment musste sie an ein Buch denken, das sie mal gelesen hatte, in dem niedliche bunte Pelzknäuel ähnlich explosive Neigungen an den Tag gelegt hatten wie diese Mörderpflanzen.

In diesem Moment platzte über ihr der Tank auf. Fünfzehn Gallonen Wasser stürzten sich brüllend auf sie, wälzten sie herum wie eine ausgenommene Forelle in Panade und ließen sie hustend und spuckend im Schlamm liegen.

Als Liv wieder klar sehen konnte, lagen die Tumbleweeds zerrissen und verstreut herum, als hätte eine riesige Bowlingkugel zwischen ihnen gewütet. Dazwischen schwamm ihr Hut in einem Rinnsal, und eine Armeslänge von ihr entfernt ragte der Griff des Revolvers aus dem Schlamm. Sie setzte sich auf, wischte mit dem Ärmel über ihr Gesicht und sah hinüber zu Bron, der immer noch mit Dredg rang und mit zusammengebissenen Zähnen versuchte, den Desintegrator aus der Halterung zu brechen. Dabei bemerkte er nicht, wie der Roboter aus einem seiner anderen Arme einen Bohrer ausfuhr und damit auf den Rücken seines Besitzers zielte.

»Colonel! Hinter Ihnen!«

Bron reagierte, als wäre das Alter lediglich eine Maske, hinter der er seine scheinbar nie versiegende Kraft und Schnelligkeit versteckte. Zielgenau trat er nach hinten aus, und als das nicht reichte, um den Arm zu stoppen, stemmte er auch den zweiten Fuß gegen den hydraulischen Druck.

Mit einem Krachen brach der Desintegrator aus der Fassung. Bron stürzte kopfüber vom Fahrgestell und rollte sich aus der Reichweite der malmenden Raupenketten, wobei er das erbeutete Werkzeug an sich gedrückt hielt.

Als Dredg ihm nachsetzte, rammte er es zwischen die Antriebswalzen und brachte den Roboter damit zum Stehen.

»Dredg! Komm zur Vernunft!« Er rappelte sich auf und trat zwei Schritte zurück. »Du bist nicht du selbst.«

»In der Tat fühle ich Bedauern über mein Verhalten.« Der Roboter ruckelte zentimeterweise vorwärts und rückwärts, um den eingeklemmten Fremdkörper loszuwerden. »Eure Neutralisierung dient lediglich meinem Selbsterhalt.«

Liv hob ihren Revolver auf, vergewisserte sich, dass er trotz der Nässe noch funktionierte, und trat neben Bron. »Wohin muss ich schießen, um diese durchgedrehte Maschine zu stoppen?«

»Ich möchte auf die Konsequenzen eines gewaltsamen Deaktivierungsversuchs hinweisen«, sagte Dredg mit monotoner Stimme. »Auf diesem Asteroiden sind mehr als zweitausend von mir steuerbare Tumbleweeds verteilt, viele inmitten größerer Menschenansammlungen oder an kritischen Punkten der technischen Infrastruktur. Es ist mir sogar gelungen, mit einigen Exemplaren die Lebenserhaltungssysteme in den Kavernen zu infiltrieren. Jedes von ihnen wird auf ein Funksignal von mir zur Bombe.«

Liv schluckte und steckte den Revolver ins Holster. »Wer zur Hölle spricht da mit uns?«

Bron blickte sie grimmig an. »Wer wohl? Die Bluebox natürlich.«

»Du hast die Bluebox in deinen Roboter eingebaut?«, schrie Liv. »Und dir ist keinen Moment der Gedanke gekommen, sie könnte es für angeraten halten, Planeten zu entvölkern?«

Bron ließ die Schultern hängen. »Die Bluebox ist keine Waffe.«

»Erzähl mir keinen Scheiß, Bron!«

»Na schön, sie ist eine Waffe, eine sehr mächtige sogar. Aber sie verwehrt sich dagegen, instrumentalisiert zu werden.«

»Dafür kocht sie jetzt anscheinend ihr eigenes Süppchen.«

»Ich verhindere lediglich, an die Union ausgeliefert zu werden.« In Dredgs seelenlose Stimme hatte sich etwas wie Ungeduld gemischt. »Und du bist als Major der Unions-Raumflotte identifiziert.«

»Ich bin aber nicht im Auftrag der Union hier.«

»Sondern?«

Liv fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Um dich an den Meistbietenden zu verscherbeln und für den Rest meines Lebens ausgesorgt zu haben. »Meine Interessen sind … äh … privater Natur.«

»Was sie damit sagen will«, mischte Bron sich ein, »ist, dass sie sich davon überzeugen wollte, dass du keine Gefahr für die Union oder New Dodge City darstellst. Wofür ich mich persönlich verbürge.«

»Bullshit!« Liv zog den Revolver und schoss Dredg die Antenne vom Schädel. »Versuch jetzt mal, deine amoklaufenden Strohkugeln zu zünden.«

»Ein guter Gedanke. Ich muss aber darauf hinweisen, dass ich zumindest die Tumbleweeds auf der Farm mit dem Nahbereichssender der Bluebox steuern kann.«

Bron seufzte. »Da hat Dredg leider recht. Die Reichweite beträgt 266 Meter.«

Ein Klappern und Rascheln ließ Liv herumfahren. In der Gitterbox sprangen die Tumbleweeds durcheinander wie platzende Maiskörner in einer Popcornmaschine. Das erste katapultierte sich oben heraus und rollte taumelnd auf sie zu.

»Lauf!«, brüllte Bron. »Zum Gleiter!«

Sie schafften es gerade noch, die Luke des Frachtraums von innen zu schließen, bevor ein Donnerschlag den Gleiter durchschüttelte. »Verdammter Mist!«, fluchte Liv. »Hält die alte Kiste das aus?«

»Die Sprengkraft ist zu gering. Andernfalls hätte es dich vorhin zerrissen.«

Eine zweite Detonation, stärker als die erste, beulte die Luke nach innen ein.

»Wenn er allerdings die Sprengkraft mehrerer Tumbleweeds kombiniert …« Bron riss die Tür zum Cockpit auf und warf sich in den Pilotensitz. »Wir bringen lieber etwas Abstand zwischen uns und dem Gemüse.«

Liv nahm neben ihm Platz. »Wenn du die Systeme hochfährst, wird die Bluebox den Gleiter übernehmen!«

Bron grinste. »Ich habe diese Kiste damals als Schrott gekauft und mit Bindfaden und Spucke zusammengeflickt. Nur den Rechner habe ich nie zum Laufen bekommen.« Er begann, verschiedene Schalter umzulegen. Die Cockpitleuchten erwachten zum Leben.

Liv staunte nicht schlecht, als ihr ehemaliger Colonel die altersschwache Maschine beim ersten Versuch mit dem Prallfeldprojektor in die Luft brachte.

Sie spähte aus dem Fenster und beobachtete mit einer gewissen Genugtuung, wie die Tumbleweeds unter ihnen herumhüpften wie ein Rudel junger Hunde, denen man am ausgestreckten Arm ein Leckerli präsentierte.

Bron ließ den Gleiter auf etwa dreißig Meter steigen und atmete tief durch. »Wir sind hier erst mal sicher.«

»Du hättest mich sterben lassen können«, sagte Liv, während sie sich angetrockneten Schlamm aus dem Gesicht rieb. »Warum hast du mir zweimal das Leben gerettet, nachdem ich dir die Bluebox rauben wollte?«

»Hättest du denn auf mich geschossen?«

»Nicht als Erste.« Liv konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Und ganz ehrlich: Ich hätte es echt bedauert, dich umzubringen, ohne aus dir herauszuquetschen, warum du damals mit der Box abgehauen bist.«

Bron seufzte. »Hätte ich jemanden einweihen können, wärst du das gewesen. Es war Verrat, das will ich nicht abstreiten. Aber ein Verrat, der viele Leben gerettet hat, auch wenn ich zuerst an mein eigenes gedacht hatte.«

Liv warf einen Blick hinunter auf Dredg, der wie deaktiviert neben den Trümmern des Tanks stand.

»Sieht aus, als hätten wir etwas Zeit. Erzähl!«

Salty Virginia, fünf Jahre zuvor.

Siebenundzwanzig.

Sechsundzwanzig.

»Ein Täuschungsmanöver«, haspelte der Colonel.

»Präzisieren!«

»Kannst du meinen Schutzanzug übernehmen und mein Tracking-Signal unterdrücken?«

»Ja. Welchem Zweck soll dieses Vorgehen dienen?«

»Ich bringe dich an einen neutralen Ort. Dafür steigen wir aus und opfern den Jet. Meine Leute werden glauben, ich wäre tot und du zerstört worden. Das muss jetzt passieren!«

Der Colonel riss die Bluebox aus der Halterung und hämmerte die Faust auf den Auslöser des Schleudersitzes.

Nichts geschah.

»Du blockierst die Systeme!«, schrie Bron. Er versuchte, die Maschine auf einen Ausweichkurs zu bringen, doch auch die Steuerung reagierte nicht.

Der Countdown sprang auf sechzehn.

»Mir ist nicht klar, welchen Nutzen ich aus einer Kooperation mit dir ziehe.«

»Welchen Nutzen? Freiheit, verdammt noch mal!«

Zwölf.

Elf.

Die Überschallraketen der Konföderierten waren jetzt mit bloßem Auge sichtbar.

»Ich muss darüber nachdenken.«

»Nein! Wir haben keine Zeit mehr!«

Ein mörderischer Druck presste den Colonel in den Pilotensessel, als dieser aus dem Cockpit katapultiert wurde. Wolken, Horizont und endlose Fabrikkomplexe wirbelten kaleidoskopartig durcheinander. Für einen Sekundenbruchteil geriet der sich rasch entfernende Ghostjet in sein Blickfeld. Dann hörte er die Explosion. Eine Druckwelle erfasste ihn und gab seinem trudelnden Fall eine neue Drehrichtung. Endlich öffnete sich der Fallschirm.

Eine Stimme erklang in seinem Helmlautsprecher. »Definieren wir die weiteren Details unserer Zusammenarbeit«, sagte die Bluebox.

New Dodge City, heute.

»Also ein Deal«, stellte Liv fest.

»Ein Deal, der mich meine Pension, meine Freunde, kurz: mein ganzes Leben gekostet hat.«

»Dein Leben nicht.«

»Stimmt. Das war das einzige, was dabei für mich herausgesprungen ist.«

»Wie ging es weiter?«

»Wir mussten Salty Virginia so schnell wie möglich verlassen. Das war einfacher als gedacht: Die Bluebox hat uns Zugang zu einem Verwaltungsrechner verschafft und meine ID-Marke mit einer neuen Identität überschrieben. Eine weitere Manipulation, und wir konnten uns unbemerkt auf dem ersten zivilen Frachter einschleichen, der nach dem Ende der Unionsblockade starten durfte. Was ist? Warum lachst du?«

Liv schluckte das Glucksen hinunter, das unter ihren Rippen auf und ab stieg. »Sorry. Du hast ›wir‹ gesagt. Dir ist schon klar, dass die Box keine Person ist, sondern eine Maschine?«

»Ja, zur Hölle. Aber du hast nicht jahrelang eine hoch entwickelte KI als einzigen Gesprächspartner gehabt. Die Box hat vielleicht keine Seele, aber sie hat ganz sicher ein Bewusstsein.«

»Mag sein. Aber wenn, dann ist sie hochgradig paranoid.« Liv ballte die Fäuste. »Sie hat den ganzen verdammten Asteroiden vermint, um ihn jederzeit als Geisel nehmen zu können, falls die Union oder wer auch immer sie hier aufstöbert.«

»Ich hab’s schon verstanden«, knurrte Bron.

»Hast du auch einen Plan?«

»So leid es mir um Dredg tut – wir müssen die Bluebox zerstören.«

»Dein Gleiter hat keine Bewaffnung.«

»Die alte Lady wiegt zwölf Tonnen.« Bron grinste wölfisch. »Du solltest dich irgendwo festhalten.«

Er gab Schub und schraubte den Gleiter in einer lang gezogenen Kurve dicht am Schirm entlang in die Höhe.

»Scheiße!«, fluchte Liv. »Ich hab nicht vor, hier draufzugehen.«

»Vertrau mir. Oder kennst du einen besseren Piloten als mich?«

Die Nase des Gleiters zeigte jetzt auf die Outlook Farm. Genauer: auf Dredg. Auch auf die Entfernung erkannte Liv, dass der Roboter ihnen sein Gesicht zuwandte.

»Hol ihn dir, Colonel«, flüsterte sie. Eine fiebrige Erregung hatte sie gepackt. Das hier fühlte sich an wie in alten Zeiten, als Bron und sie noch bei den Landungstruppen gewesen waren.

Im nächsten Moment erlosch das Summen des Prallfeldantriebs. Liv schrie erschrocken auf. Die Maschine sackte einige Meter durch, bevor sie sich wieder stabilisierte.

»Was sollte das?«

»Das war ich nicht.« Brons Stimme klang gepresst. Er drückte den Steuerknüppel nach vorne, aber nichts geschah.

»O Gott! Sieh nur …« Liv deutete nach vorne. In der Ebene unter dem Outlook Rock blitzten der Reihe nach vier kleinere Explosionen auf. Die fünfte verwandelte das Treibstofflager einer Farm in einen Feuerball.

»Dredg«, sagte Bron heiser.

»Aber … so weit kann doch sein Nahbereichsfunk nicht reichen!«

»Das kann nur bedeuten …« Bron massierte seine Nasenwurzel. »Er benutzt die Funkanlage des Gleiters!«

»Das ist korrekt.« Dredgs Kunststimme ertönte knisternd im Lautsprecher des Cockpits. »Du hast gedacht, der Rechner des Gleiters wäre irreparabel. Für mich war es allerdings keine Herausforderung. Betrachtet die Zündung der Tumbleweeds als Warnung. Weitere gegen mich gerichtete Aktionen werden Leben kosten.«

»Also schön, du hast gewonnen.« Während Bron das sagte, gab er Liv durch Handzeichen zu verstehen, die Wartungsklappe vor ihren Füßen zu öffnen. Als sie Luft holte, um ihn zu fragen, was er vorhatte, hob er den Zeigefinger vor die Lippen. Keinen Laut!

Liv löste die Drehverschlüsse und hob die Kunststoffverkleidung ab. Dahinter verliefen mehrere Bündel verschiedenfarbiger Kabel.

»Was soll mit uns geschehen?« Bron tastete behutsam in einem Fach neben seinem Sessel und zauberte mit triumphierendem Gesichtsausdruck einen Seitenschneider hervor.

»Ich lande den Gleiter und lasse euch aussteigen.«

»Damit du uns in die Luft sprengen kannst? Schönen Dank auch. Wir bleiben lieber hier.«

»Das ist keine Option.«

»Warum diese Intrige? Wir hatten ein Abkommen.« Bron reichte den Seitenschneider weiter und deutete auf den von ihm aus gesehen äußeren Strang. Liv begann, die einzelnen Kabel zu entwirren.

»Das Abkommen kam unter der Prämisse zustande, dass du für meine Autonomie garantieren kannst. Auf der Outlook Farm hast du aber keine Ressourcen bereitgestellt, um angemessen auf eine Entdeckung reagieren zu können. Daher habe ich eigene Vorkehrungen getroffen.«

»Und wenn wir noch einmal von vorne anfangen? Das Vertrauen wiederherstellen?«

Liv zog das erste Kabel hervor. Bron schüttelte den Kopf. Beim zweiten nickte er. Liv schnitt es durch.

»Ich akzeptiere folgende vertrauensbildende Maßnahme«, sagte die Bluebox. »Töte Liv Ancliff.«

»Wir werden diese Möglichkeit diskutieren.« Bron nickte Liv erneut zu.

Schnipp!

»Momentan ist sie diejenige mit einer Waffe, was ihr natürlich die bessere Verhandlungsbasis verschafft.« Das dritte Nicken.

Liv kappte das Kabel.

»Bluebox?« Bron blickte zum Lautsprecher an der Cockpitdecke empor. »Kannst du mich hören?«

Er erhielt keine Antwort.

Liv grinste. »Scheint, dass wir unter uns sind.«

»Zeigen wir es diesem Drecksapparat!« Bron drückte den Steuerhebel nach vorne, und der Gleiter kippte mit der Nase in Richtung Boden. »Es wird eine ruppige Landung, Major.«

»Wenn es jemand kann, dann du.« Ich muss völlig verrückt sein, dachte Liv. Vorhin im Haus sind wir uns noch gegenseitig an die Gurgel gegangen, und jetzt lege ich mein Leben in seine Hand? Toller Plan, Liv!

Bron beschleunigte den Gleiter.

»Er hat sich befreit«, warnte Liv. »Er weicht aus!«

»Das sehe ich selbst!« Bron zwang den Gleiter in eine Kurve, die der Bewegung des Roboters folgte. Jetzt rollten auch noch die Tumbleweeds von allen Seiten heran.

»Zieh hoch! Wenn er die alle gleichzeitig zündet, sind wir erledigt.«

»Nein! Wir bringen das zu Ende.« Bron gab Vollgas. »Ich muss nur schneller sein als diese verdammten Knallerbsen.«

Dredg drehte den Oberkörper in ihre Richtung. Liv erwartete beinahe, Laserstrahlen aus seinen Augen schießen zu sehen. Dann wechselte er abrupt die Richtung und fuhr auf sie zu. Der Gleiter musste unweigerlich über sein Ziel hinausschießen!

»Bron!«

»Ich schaffe das!«

Liv wurde hart in den Gurt gepresst, als Bron den Gleiter abrupt stoppte. Seine Hand schoss vor und zog den Hebel des Prallfeldgenerators auf Null.

Sie fielen wie ein Stein zu Boden.

Liv schrie und schloss die Augen.

Bron blinzelte und begriff, dass er ohnmächtig gewesen war. Schmerz tobte durch sein Bein, das unter den deformierten Armaturen eingeklemmt war. Die Lehne des Sessels war nach hinten gebogen und drückte unangenehm gegen seine Wirbelsäule. Er versuchte, sich am Haltegriff über der Tür hochzuziehen, doch die Hand kam nur bis zur Höhe des Bauchnabels. Die Schulter musste ausgekugelt sein.

»Liv«, krächzte er.

Liv antwortete nicht. Der Sessel neben ihm war leer.

Unter größten Mühen gelang es ihm, den Kopf so weit zu drehen, dass er in den Frachtraum des Gleiters blicken konnte. Dort sah er Dredg – oder was von Dredg übrig war. Der Agribot hatte sich durch den Boden des Gleiters gebohrt wie ein Bleistift durch einen Bierdeckel. Dabei waren die Arme vom Rumpf abgerissen und der Kopf zu einer unförmigen Masse Metallschrott gestaucht worden.

Auf wundersame Weise hatte der Sprachmodulator die Zerstörung des Roboters leidlich überstanden. Die schnarrenden Geräusche, die daraus herausdrangen, waren kaum als Worte zu verstehen: »Ach … herr… jeeee …«

Danach: Stille. Dredg, sein treuer Freund, war tot. Sofern man bei einem Roboter davon reden konnte.

Bron lachte bitter – zur Hälfte war es ein Schluchzen –, was ihm Schmerzen an Stellen bescherte, die er für unversehrt gehalten hatte. Also mindestens geprellte Rippen, wenn nicht sogar ein Lungenriss. Schöner Mist.

Dann sah er die aufgehebelte Brustplatte des Torsos, wo sich ein leerer Slot für Zusatzmodule befand. Dort hatte er die Bluebox versteckt.

Doch die Bluebox war nicht mehr da.

»Liv. O Liv, was machst du für eine Scheiße?«

Er hörte gemächliche Hufschläge und drehte den Kopf zur gesplitterten linken Cockpitscheibe. Liv erschien in seinem Blickfeld, auf ihrem dürren Gaul sitzend, verschrammt und verschmutzt, aber ohne erkennbare Verletzungen. Sie trug sogar wieder ihren Hut. Mit einem gleichermaßen spöttischen wie mitleidigen Blick schaute sie zu ihm herein.

»Wenn ich die nächste Farm erreiche, schicke ich jemanden her, der sich um dich kümmert«, sagte sie. »Bleib einfach still liegen, dann wirst du es überleben.«

»Die Bluebox …«

Liv klopfte gegen etwas unterhalb ihrer Hüfte, das Bron nicht sehen konnte – vermutlich eine Satteltasche. »Hat keinen Kratzer abbekommen, und ich hab’s einfach nicht über mich gebracht, sie zu zerstören. Ich meine … dafür bin ich schließlich den ganzen Weg hergekommen.«

»Du begehst einen Fehler, und das weißt du.«

»Manchmal muss man was riskieren.« Sie tippte sich an die Hutkrempe. »Versuch nicht, mich zu finden, Alter. Sei lieber froh, dass dein Leben wieder dir gehört.«

»Ach, fick dich doch selbst.«

»Solche Worte aus dem Mund des großen Colonels. Ich bin beinahe schockiert.« Sie schnalzte mit der Zunge, und ihr Pferd setzte sich in Bewegung.

Bron lauschte dem leiser werdenden Hufgetrappel und versuchte, eine Position zu finden, die ihm möglichst wenige Schmerzen bereitete. Wer wusste, wie lange es dauerte, bis jemand ihn aus dem Wrack befreite. Vielleicht kam auch überhaupt niemand. Wenn die Bluebox in Reichweite eines Funkgeräts kam, könnte sie die Apokalypse über New Dodge City hereinbrechen lassen. Die Überlebenden hätten ganz andere Sorgen, als sich um einen alten Einsiedler zu kümmern – es sei denn, um ihn als denjenigen zu lynchen, der ihnen die Tumbleweeds verkauft hatte.

»Verbock es bloß nicht, Liv«, krächzte er. »Verbock es bloß nicht.«

Günther Kienle

Günther Kienle wurde in einem staubigen Seitenarm der Milchstraßen-Southside an Bord des Outlawkreuzers Swords of Constance geboren. In seiner Jugend durchstreifte er regelmäßig die Meteoritenwüsten des Lake-Sektors, wo er seine frühen Sterntagebücher schrieb.

Nach seinen wildesten Jahren und zahllosen zwielichtigen Abenteuern heuerte er auf der Space Vessel Black Forest Lady an und wurde solide – im Rahmen seiner Möglichkeiten. Seither geht er einer geregelten Arbeit nach, hat eine Frau und drei Kinder, erlebt ein bisschen weniger und schreibt dafür mehr. Meist veröffentlicht er bei seriösen Verlagen, aber manchmal auch bei einem Verleger, dem man nachsagt, dass er privat blutige Schürzen trägt und seine Autorinnen und Autoren durch den Fleischwolf drehen würden. Der Autor selbst distanziert sich von solchen Gerüchten.

Wer mehr über ihn und seine Geschichten erfahren möchte, kann seine terranische Homepage besuchen:

https://guentherkienle.de

Sein letzter Wille

Richter Merryweather rang um seine Fassung. Er stand an der Seite der frischgebackenen Witwe, vor etwa zwanzig Verwandten und Bekannten des Verstorbenen. Amy schlug sich wacker und hielt ihren Rücken gerade, außer den Tränen zeigte sie kein Zeichen der Trauer. Sie sah schräg zu ihm auf, die Miene gefasst.

»Nach all den Jahrzehnten in den dreckigsten Löchern der Galaxis«, sagte Amy, »findet er an dem Ort seine letzte Ruhe, wo es ihm am besten gefallen hat.«

Merryweather nickte, obwohl das absolut nicht stimmte. Die kleine Siedlung hinter ihnen lag abseits der großen Städte von Pandora IV, das Land war karg und staubig. Viel Gras gab es nicht auf der trockenen Erde. Weit entfernt verteilten sich verkrüppelte Bäumchen auf den Hügeln. Nicht dass die Landschaft nicht ihren Reiz gehabt hätte, aber dieser beschissene Friedhof hier war sicher kein Ort, an dem ein Space Marshal begraben werden wollte – doch es wäre taktlos, dies einer Witwe ins Gesicht zu sagen. Für sie sollte das Erdloch vor ihnen der geeignete Platz bleiben.

Der Priester warf Amy einen fragenden Blick zu. Sie nickte. Der Geistliche hob die Hände und bedeutete der Trauergemeinde, ihm zu folgen. Der Totengräber zog die Schaufel aus dem Boden und bereitete sich darauf vor, den zweiten Teil seiner Arbeit zu verrichten.

Vom Himmel erklang ein pfeifendes Geräusch, das rasch zu einem dröhnenden Raunen anschwoll. Der Richter blickte unwillig zu dem anfliegenden Raumschiff. Waren das endlich die …?

Die Trauernden begannen zu tuscheln. Wie pietätlos, eine Beerdigung zu stören. Ungeheuerlich! Gesprächsstoff für die nächsten Jahre.

Das Schiff verlangsamte den Anflug und landete in zweihundert Metern Abstand. Der Schub der Triebwerke wirbelte Staub herüber. Richter Merryweather stellte sich schützend vor die Witwe. »Lasst mich mit diesen Rowdys sprechen und geht schon voraus. Ich komme nach.«

Fünf Minuten zuvor.

»Was für ein öder Brocken.« Laura trommelte mit ihren Fingerspitzen auf den Armlehnen ihres Kommandosessels. »Sicher, dass wir hier richtig sind?«

Hansen tippte auf seiner Konsole herum und brummte zustimmend.

»Auf so einem öden Planeten würde ich nicht einmal meinen Hund begraben.«

Laura schaltete die Frontkamera auf den Panoramaschirm. »Genau deswegen sind wir ja hier, sozusagen.«

Die Ghost flog in weniger als einem Kilometer Höhe über eine karge, unbewohnte Gegend und sank stetig tiefer. Die Einöde wurde hier und da von ein paar Hügeln unterbrochen, sporadisch wuchsen verkümmerte Pflanzen.

»Short Final«, meldete Tatsu.

»Wahrscheinlich haben die nicht mal eine Kneipe«, maulte Hansen.

Laura setzte eine verweisende Miene auf. »Deswegen sind wir nicht hier. Wir holen das Päckchen ab und starten gleich wieder.«

Sie näherten sich einer kleinen Siedlung, neben der ein noch kleinerer Friedhof lag. Vor einem der Gräber versammelten sich etwa zwei Dutzend Menschen, die in die Richtung des Raumschiffs starrten.

»Geh nicht zu dicht bei den Leuten runter«, rief Laura.

»Aye, Capitana«, sagte Tatsu. »Verdammt ist der Boden staubig.«

Hansen lachte dreckig. »Saut die ganze Gesellschaft ein.«

Laura trommelte noch energischer auf den Sesselarmen. »Nicht zu dicht habe ich gesagt.«

»Das sind zweihundertsiebzehn Meter Abstand«, sagte Tatsu ausdruckslos. »Normalerweise kein Problem.«

»Du kommst mit mir und kannst dich gleich bei den Leuten entschuldigen.«

Tatsu blickte stur auf seine Anzeige. »Touchdown.«

Laura löste die Sicherheitsgurte und sprang auf. »Wir sind hier an einem der vielen Gesäße der Milchstraße, trotzdem will ich eine Rundumsicherung und wehe ihr lasst die Fernortung aus den Augen. Tatsu und ich klären das mit der Ladung und dann fliegen wir direkt nach New Dodge.«

Zusammen mit dem Piloten lief Laura die ausgefahrene Laderampe herunter. Warme, staubige Luft wehte ihnen ins Gesicht. Im Schatten des Rumpfes stellten sie sich neben eine der Landestützen und sahen zum Friedhof. Ein Mann hatte sich aus der Versammlung gelöst und kam auf das Schiff zu. Die Hälfte der Gruppe kehrte zur Siedlung zurück, die anderen starrten neugierig herüber. Laura stieß Tatsu auffordernd gegen die Rippen und lief dem Fremden entgegen.

Als sie nur noch ein paar Meter Abstand zueinander hatten, sah der Mann kurz nach hinten, so als wolle er sicherstellen, dass ihm niemand gefolgt war. Zornig sah er zu Laura und Tatsu. »Ihr seid zu spät.«

»Nach unseren Berechnungen ist es fünfzehn Uhr Ortszeit«, erwiderte Laura.

»Fünfzehn Uhr?« Der Fremde starrte sie wütend an.

»Äh, ja. Wo ist das Problem?«

Der Mann stemmte die Hände in die Hüften. »Heute Nacht um drei hättet ihr die Urne vertauschen sollen. Soeben wird das Loch zugeschaufelt.« Er wies mit dem Daumen über seine Schulter. Auf dem Friedhof tat der Totengräber seine Arbeit.

»Von irgendeinem Austausch war nie die Rede«, protestierte Laura. »Der Auftrag lautete, ein Päckchen von A nach B zu bringen. Warum hast du die Urne nicht selbst vertauscht?«

»Was glaubt ihr, was passieren würde, wenn mich dabei jemand erwischt? Und nur um es von hier nach New Dodge transportieren zu lassen hätte ich es auch mit Space Mail verschicken können und nicht die Raiders angeheuert.«

»Riders«, korrigierte Tatsu. »Wir sind die Ghost Riders.«

Der Mann kratzte sich am Kopf. »Wer hat euch geschickt?«

»Eine Frau namens Gaia hat uns kontaktiert.«

»Okay, das passt zumindest. Ich bin Richter Merryweather. Ihr könnt mich Will oder Merry nennen. Tom, der Verstorbene, und ich waren Best Buddies.«

Laura verbiss sich ein Lachen. Tom und Merry.

»Laura Canzoni, Capitana der Ghost. Das ist mein Pilot, Tatsuyuki Kazumi.« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Und wie Tatsu bereits gesagt hat, sind wir die Riders. Die Raiders mögen wir nicht besonders.«

»Euer Ding«, sagte der Richter. »Ich muss jetzt irgendeine Geschichte erfinden, warum ihr hier notgelandet seid. Wir treffen uns um drei Uhr – nachts! – auf dem Friedhof und ihr buddelt die Urne aus. Vorher lasst ihr euch nicht blicken. Verstanden? Und danach fliegen wir nach New Dodge.«

»Moment mal. Wir sind kein Space Taxi. Unser Geschäft sind Überfälle und heikle Transporte – von Dingen, nicht von Menschen. Wir haben keine Passagierkabinen.«

Der Richter sah immer grimmiger aus. »Diese Gaia zerreiße ich in der Luft! Folgendes: Erstens sollte ich jetzt zu den anderen. Und zweitens begleite ich selbstverständlich die Urne. Wegen der paar Stunden brauche ich keine Kabine. Dann erkläre ich euch während der Reise den genauen Auftrag. Wer weiß, was dieser Gaia sonst noch für Mist erzählt hat. Das muss bei dem Preis drin sein, der stattlich genug ist. Oder gab es da auch ein Missverständnis?«

»Zehntausend«, sagte Laura. »Auf ein Treuhandkonto, die Hälfte vorab und den Rest nach Erledigung.«

»Was?«, schrie Merryweather aufgebracht. »Zehntausend? Dreißigtausend, waren ausgemacht! Und eine Provision von zwei Riesen. Dieses falsche Miststück knall ich eigenhändig ab. Aber vorher soll sie mir die Zwanzigtausend wieder zurückgeben, die sie unterschlagen hat.«

»Für dreißig große Scheine räume ich ihnen meine eigene Kabine frei, Richter.«

»Langsam, Capitana, da ist ja noch der Einbruch.«

»Was für ein Einbruch?«

»Später«, sagte der Richter. Er massierte sich die Schläfen. »Länger kann ich die anderen nicht mehr warten lassen, die werden sonst misstrauisch. Um drei Uhr nachts sehen wir uns wieder.« Er drehte sich um und eilte aufs Dorf zu.

Laura sah Merryweather hinterher. Auf was für einen verkorksten Auftrag hatten sie sich da eingelassen?

Der Totengräber beendete gerade seine Arbeit und schleppte sich, die Schaufel auf der Schulter, an der Seite des Richters zur Siedlung.