Schattenwede – Folge mir nicht - Corinna Kalla - E-Book

Schattenwede – Folge mir nicht E-Book

Corinna Kalla

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Beschreibung

Was tust du, wenn du dich in jemanden verliebst, der nicht nur ein Geheimnis hat, sondern selbst eines ist? Als mein Boss meinen Karrieretraum als TV-Journalistin zertrümmern will, komme ich ihm zuvor und stürme mit einer gebrüllten Kündigung davon. Raus aus der Fernsehredaktion, rein in meinen Boxverein. Doch bevor ich mich dort abreagieren kann, treffe ich auf einen weiteren Endgegner: einen Mr Tinder mit Macho-Level 100, der von mir, einer Frau, nichts als ein Date erwartet. Pft, soll er kriegen! Aber eines auf meine Art – eine Nora-Thomson-Erziehungseinlage! Theoretisch. Denn praktisch entpuppt sich »Tony, 25, IN OXFORD FOR A FEW DAYS« als menschlicher Volltreffer samt mysteriösen Tattoos, einem streng geheimen Job – und einer mir vorenthaltenen Handynummer. Wie ein Schatten verschwindet er nach einer Nacht mit mir und lässt mich mit verwundetem Herzen und tausend Fragen zurück. Allen voran was ein »Wede« ist und ob ich nicht längst in seinen Problemen drinstecke. Die klopfen nämlich bei mir an … Powerfrau trifft auf Geheimagenten – oder? Romance Suspense mit Mystik: Geeignet für Romance-, Dark Romance-, Romantasy- und Young Adult-Leser, die eine intensive Lovestory mit Spice & ein bisschen Thrill suchen. Nur zarte 5 % Fantasy – trau dich! Auftakt einer ultraheißen Trilogie: Noras und »Tonys« erster Teil von drei (garantiertes Happy End, kein Cliffhanger)

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Sammlungen



| Zum Inhalt |
| Über die Autorin |
| Bevor du startest |
Prolog
| Kapitel 2 | Überall Idioten
| Kapitel 3 | Erwischt
| Kapitel 4 | Hunger
| Kapitel 5 | Zu abgelenkt
| Kapitel 6 | All-in
| Kapitel 7 | Unberührbar
| Kapitel 8 | Unbestechlich
| Kapitel 9 | Die Mafiafrage
| Kapitel 10 | Hinter den Worten
| Kapitel 11 | Mehr Schwächen als Stärken
| Kapitel 12 | Coitus interruptus
| Kapitel 13 | W
| Kapitel 14 | Pay Off
| Kapitel 15 | Abgetaucht
| Kapitel 16 | Hase und Igel
| Kapitel 17 | Toilettenglück
| Kapitel 18 | Karma
| Kapitel 19 | Unmöglich unmöglich
| Kapitel 20 | Panzer
| Kapitel 21 | Betreten verboten
| Kapitel 22 | Überrumpelt
| Kapitel 23 | Verraten
| Kapitel 24 | Beklaut
| Kapitel 25 | Malinois
| Kapitel 26 | Antonella Krats
| Kapitel 27 | Showtime
| Kapitel 28 | Knockout
| Kapitel 29 | Ms MacGyver
| Kapitel 30 | Verfluchter Magnetismus
| Kapitel 31 | Casanovas Comeback
| Kapitel 32 | Bedingungen
| Kapitel 33 | Wahrer Luxus
| Kapitel 34 | Lava & Eis
| Kapitel 35 | Katerfrühstück
| Kapitel 36 | Rakete
| Kapitel 37 | Niemand
| Kapitel 38 | Norajob
| Kapitel 39 | Soldat
| Kapitel 40 | Gartenhütte
| Kapitel 41 | Im Tunnel
| Kapitel 42 | Teufel
| Kapitel 43 | Kein Lieblingsplatz
| Kapitel 44 | In den Abgrund
| Kapitel 45 | Kein Koma
| Kapitel 46 | Blitzkrieg
| Kapitel 47 | Fake
| Kapitel 48 | Tod oder Leben
| Kapitel 49 | Schattenwede
| Kapitel 50 | Tilgungsplan
Epilog
| Danksagung |
Folge mir
Bevor du gehst

VON CORINNA KALLA

 

Originalausgabe gedruckt in Deutschland

ISBN Hardcover 978-3-982-497-6-0-0

ISBN Paperback 978-3-98760-007-4

E-Book ASIN B0BDY1KBYY

 

COPYRIGHT © 2022 bei Corinna Kalla

 

LEKTORAT

Sophie Jenke

 

KORREKTORAT

Dominique Daniel

 

COVERGESTALTUNG

Corinna Niemeyer

 

BILDNACHWEISE

Adobe Stock, Creative Commons: Oxford-Skyline-Silhouette, Bob Comix

 

GESETZT AUS

Adobe Garamond Pro, Adobe Clean, Dulcinea

Außerdem enthalten: Krul, Amazon Ember, 18th Century Kurrent Text, Comic Sans, Apple Symbols

 

HERAUSGEBER

CNpublishINK, Königsberger Str. 41, 48157 Münster

 

VERTRIEB Taschenbuch

Fakriro, Bessemerstr. 82, 12103 Berlin

| Zum Inhalt |

 

Was tust du, wenn du dich in jemanden verliebst, der nicht nur ein Geheimnis hat, sondern selbst eines ist?

 

Als mein Boss meinen Karrieretraum als TV-Journalistin zertrümmern will, komme ich ihm zuvor und stürme mit einer gebrüllten Kündigung davon. Raus aus der Fernsehredaktion, rein in meinen Boxverein. Doch bevor ich mich dort abreagieren kann, treffe ich auf einen weiteren Endgegner: einen Mr Tinder mit Macho-Level 100, der von mir, einer Frau, nichts als ein Date erwartet.

Pft, soll er kriegen! Aber eines auf meine Art – eine Nora-Thomson-Erziehungseinlage!

Theoretisch.

Denn praktisch entpuppt sich »Tony, 25, IN OXFORD FOR A FEW DAYS« als menschlicher Volltreffer samt mysteriösen Tattoos, einem streng geheimen Job – und einer mir vorenthaltenen Handynummer. Wie ein Schatten verschwindet er nach einer Nacht mit mir und lässt mich mit verwundetem Herzen und tausend Fragen zurück. Allen voran was ein »Wede« ist und ob ich nicht längst in seinen Problemen drinstecke.

 

Powerfrau trifft auf Geheimagenten – oder?

 

Ein mitreißender Liebesroman mit heißen Szenen, Wortgefechten und einem kleinen Hauch Phantastik. Der passende Roman für Young Adult- & Romance-Leserinnen, die auf taffe Mädels und ultraheiße Kerle stehen, die sie einen Schritt weit ins Wunderland ziehen.

Reihenauftakt: Noras und »Tonys« erster Teil von drei.

Happy End (kein Cliffhanger)

| Über die Autorin |

Corinna Kalla lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im Münsterland. Sie studierte Film in Köln, Berlin, London und drehte als TV-Journalistin für VOX, RTL, WDR & NDR. Seit einigen Jahren widmet sie sich der viel zu großen Welt in ihrem Kopf, schreibt wie eine Besessene und berichtet darüber auf Instagram.

| Bevor du startest |

 

Wo Sonne strahlt, ist auch Schatten. Wenn du sensibel auf Gewalt reagierst, solltest du Nora nicht folgen.

 

Prolog

 

ER

➳  Die Erinnerungen an den Moment des Sterbens überfallen mich. Schmerz krallt sich in meine Brust, ich japse nach Luft, fühle mich überrumpelt, bestürzt, betrogen. Panik wütet in mir wie ein Flächenbrand. Ich will schreien, aber es ist zu spät: Farben, Licht, Formen, Gedanken pulsieren, ziehen sich zusammen, verschwinden.

Plötzlich springt die Zeit zurück, ich erlebe es ein weiteres Mal. Dann noch einmal, noch einmal. Es zerreißt mich, setzt mich zusammen, zerreißt mich erneut.

Meine Seele befindet sich im freien Fall, schlägt auf, als wäre ich ein Komet, dessen Körper tief in einen Planeten gerammt wird. Der Schmerz der Kernschmelze ist so gewaltig, dass die Welt um mich herum schreit, immer lauter, bis ich zusammenfahre – plötzlich wieder mit eigenem Körper, eigener Stimme – eigenem Schrei. Ich rase aus dem Schlaf, bin schlagartig hellwach.

Zitternd, nass vor Schweiß, reiße ich den Kopf hin und her. Durch den Tränenfilm sehe ich nur verschwommen, mein Herz hämmert, befindet sich im vollen Kampfmodus. Ich rucke an meinen Händen, den Beinen, brülle, weil ich mich nicht bewegen kann.

Drei Wimpernschläge später klärt sich endlich mein Blick, haftet sich an die schwarze Raumdecke über mir. Ich zwinge mich dazu, zu erstarren, meinem Geist einen Moment Zeit zu gönnen, bevor ich weiterkämpfe.

Etliche bebende Herzschläge vergehen, bis ich es begreife: Ich bin in Sicherheit. Im Schlafzimmer. Im Bett. In diesem Bett, in diesem Schlafzimmer.

Ach ja.

Okay.

Das erinnert mich daran, dass ich gefesselt bin. Von mir selbst. Deshalb kann ich mich nicht bewegen.

Gut.

Sofort linse ich auf die Kissen neben mir. Leer. Niemand hier, nur ich.

Dem Himmel sei Dank.

Erst jetzt fange ich an zu atmen, entspanne Arme und Beine, die in Seilen hängen. Kissen und Matratze unter mir sind schweißdurchtränkt, kleben trotz Seidenbezügen an meiner Haut.

Ich atme weiter, sortiere meine Gedanken, horche in die Stille. Plötzlich wird mir klar, dass ich nicht horchen muss: Auch im Rest der Wohnung wird niemand sein. Meine Haushälterin hat heute frei – davon abgesehen, passe ich die Zeiten ab, damit sie mir nicht begegnet. Und ich lebe allein, nehme nie Bekanntschaften hierhin mit. Weshalb es irrsinnig war, auf die Kissen neben mich zu schauen.

Beruhige dich, Idiot!

Wütend auf mich selbst, dass ich schon wieder so orientierungslos aufgeschreckt bin wie jemand, dem das nicht ständig passiert, beiße ich die Zähne zusammen. Im nächsten Augenblick erinnere ich mich daran, dass ich hier nicht zum Arzt kann, weshalb ich meinen Zähnen nicht unsinnig zusetzen sollte. Zornig reiße ich sie also wieder auseinander, hasse mich noch ein kleines bisschen mehr.

Diese Flashbacks machen mich wahnsinnig. Sie bringen das Schlechteste und Schwächste in mir zum Vorschein.

Warum war die Erinnerung schon wieder so heftig?

Der Seitenblick zum Nachtisch auf meinen Wecker verrät mir, dass ich über acht Stunden lang geschlafen habe.

Ich bin ein doppelter Idiot: Ich hätte im Intervall schlafen müssen, mit einem Alarm alle neunzig Minuten. Dann passieren die Flashbacks seltener und weniger extrem. Zumindest, wenn ich Glück habe.

Selbst schuld.

Ich atme weitere zornige Züge, zwinge meinen Puls herunter. Auch wenn mein Kopf wieder klar ist, sind meine Muskeln noch heiß. Bereit, mich zu verteidigen, Angreifer zu töten – genauso, wie ich es gelernt habe.

Das ist der Grund, weshalb ich allein im Bett liege: Nie wieder mit Menschen in der Nähe oder einer Frau im Arm einschlafen. Mein Körper könnte während eines Flashbacks alles Mögliche mit ihr anstellen. Das wird mein Leben lang so bleiben.

Plötzlich fühle ich mich krank. Mein Herz zieht sich zusammen, der Verlust strahlt bis in meine Lunge. Mit größter Anstrengung atme ich gegen den Schmerz, von dem ich weiß, dass er nur eingebildet ist. Mein Herz hat nichts, nur ich bin es, der Sehnsucht nach Menschen hat.

Ich schüttele den Kopf, ringe mir ein harsches Lachen ab. Das ist wirklich absurd: Ich war schon mit mehr Menschen – vor allem mit weiblichen – zusammen als so mancher Stammtisch in seiner gesamten Laufbahn. Trotzdem reicht es mir mal wieder nicht, trotzdem will ich mehr – so wie immer.

Reiß dich zusammen!, schelte ich mich selbst, drehe die Handgelenke, um meinen Fesseln zu entkommen. Sie gehen mit einem Trick auf, damit ich bei einem Angriff sofort wegkomme, aber mich im Normalfall daran hindern, mich im Schlaf mit den Messern neben mir zu bewaffnen – eine Gratwanderung.

Als ich alle Seile entfernt habe, setze ich mich in meinem Bett auf, rolle ächzend mit den Schultern. Mit den Händen massiere ich mir den verkrampften Nacken, versuche, mich an mir selbst zu erden.

Seit dem Unfall vor zwei Jahren habe ich ein merkwürdiges Verhältnis zu mir, bin mir Freund und Feind zugleich. Es liegt nicht nur daran, dass ich mir im Schlaf nicht mehr vertraue, sondern vor allem, dass ich hier, wo ich nun bin, eine wandelnde Auffälligkeit bin. Das Gesicht eines Einheimischen, den Körper voller ausländischer Tinte. Verrückt, wie schnell Stolz zu Last wird.

Nur für einen einzigen Tag mein altes Leben leben …

Seufzend springe ich aus dem Bett, durchmesse den Raum und trete an der Umkleide vorbei in das angrenzende Badezimmer. Mit mehr Kraft als nötig hämmere ich auf den Knopf meines Duschbereichs, hülle mich in kaltes Wasser. Das ist die beste Möglichkeit, den schwachen Gedanken abzuwaschen. Denn mein Gejammer ist auf höchstem Niveau peinlich. Schwach, nicht standesgemäß – schließlich lebe ich und habe eine Aufgabe, wie sie rühmlicher kaum sein könnte.

Ich regele noch kälter, bis das Nass keine zehn Grad mehr misst, ergebe mich den Wänden aus flüssigem Eis.

Konzentriere dich auf deinen Auftrag! Deshalb bist du hier!

Erst als meine Haut und mein Herz taub sind, schalte ich den Wasserstrom ab, erledige den Rest meiner Toilette, ziehe meine Arbeitskleidung an. Deren satter Schwarzton ist das einzige Relikt meines alten Lebens, das ich offen tragen darf – schlampiger Gastgeber-Kultur sei Dank.

Erst jetzt ziehe ich mein Handy von der Ladehalterung neben meinem Bett, steuere zur doppelflügeligen Sicherheitstür, die diesen Bereich vom Rest des Gebäudes trennt, und gebe meinen zehnstelligen Sicherheitscode ein. Meine Haushälterin weiß es nicht, aber diese zusätzliche Schutzvorkehrung habe ich nur für sie – für den unwahrscheinlichen Fall, dass wir uns zeitgleich im Wohnbereich aufhalten und ich fantasiere.

Während ich die Stufen nach unten nehme, halte ich an mir, mit den Fingernägeln über die juckenden, aber nicht real existierenden Narben an der Haut über meinem Herzen zu kratzen. Schlechte Angewohnheit.

Stattdessen fahre ich den Handlauf entlang, konzentriere mich auf mein Smartphone. Drei Anrufe in Abwesenheit – das bedeutet, es ist dringend.

Mist!

Und ich habe geduscht!

Ich drücke auf die Wahlwiederholung, warte mit kribbelnden Gliedern darauf, dass mein IT-Experte abnimmt. Dem Himmel sei Dank meldet er sich nach dem zweiten Klingeln, kommt sofort zur Sache: »Das Telefonat endete in diesem Kunsthandel an der Folley Bridge. Die Adresse ist Abingdon Road 10.«

Adrenalin steigt in mir auf. »Bist du dir sicher?«

»Ja. Bei dem Rest nicht, so wie immer.«

Neun von zehn Punkten also. Das ist ein Durchbruch, mit dem ich schon nicht mehr gerechnet habe. Eine phänomenale Spur zu einem Landsmann, den ich hier vermute.

Nun pocht mir das Adrenalin bis zur Schädeldecke.

Weil ich in Gedanken längst in Oxford und nicht mehr am Telefon bin, lasse ich mich gehen, nicke, obwohl mein Gesprächspartner mich natürlich nicht sehen kann. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, lege ich auf, fühle mich heiß vor Fieber. Mein Körper weiß, was jetzt kommt: Kriegseinsatz. Von null auf hundert in unter einer Sekunde.

Ich sprinte los, absolviere das Waffenpacken wie bei einem Boxenstopp, poltere mit geschärften Sinnen sämtliche Treppen nach unten gen Ausgang. Ich muss mein Ziel erreichen, bevor es weg ist, muss dem Lomen das abnehmen, was ihm nicht gehört.

Für einen Moment bin ich wieder dort, wo meine Reise begann, sehe die letzten Bruchstücke meines alten Lebens, als meine Vorgesetzte und ich versuchten, dieses Ding zu zerstören. Unser Plan endete in einer Katastrophe, nun gibt es Dutzende Bruchstücke und ebenso viele Mitwisser – ebenso viele Diebe. Einer gefährlicher als der andere, denn niemand von ihnen fürchtet den Tod. Deshalb bin ich hier: Ich räume auf dieser Seite auf, wie meine Vorgesetzte es auf der ihren tut.

Kunstszene Oxford, Kunstszene Oxford, hämmert es atemlos in mir, als ich die Tür nach draußen aufreiße und durch die gleißende Sonne marschiere. Es ist nachmittags, etwa 15 Uhr, wie mir die Schatten zwischen den Gebäuden verraten.

Kunstszene Oxford, jubiliert es erneut in mir und ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen.

Wenn alles gut geht, habe ich vor heute Abend einen Gefährder weniger auf meiner Auftragsliste. Ein kleiner Schritt zurück Richtung Heimat – zu meinen Freunden, meinem echten Haus, dem Rest meiner Familie – die ich so schmerzlich vermisse.

Ich weiß schon, wie ich meinen Erfolg feiern werde. Ich werde mich von der Gymnastik-Stunde in dieser Fitnessklitsche abmelden, die ich aus Langeweile gebucht habe. Ich kann es kaum erwarten.

 

 

| Kapitel 1 | Verkackt

 

NORA

➳  Wie lange werde ich hier noch sitzen?

Ich betrachte mich von außen: Ich – eine eins vierundsechzig kleine, zierliche, aber immerhin gut trainierte Blonde, mit schmalem Kinn, langen Haaren und hellbraunen Augen – sitze direkt gegenüber einem Mann mittleren Alters, der sich in theatralischer Art und Weise über seinen Schreibtisch beugt.

Seine kleinwagenteure Armbanduhr von Patek Philippe starrt mir entgegen und ich frage mich, ob er sich gerade ebenfalls von außen sieht, so wie ich uns beide. Vor allem aber, ob er sich das glaubt, was er in den vergangenen Minuten gesagt hat.

»Es tut mir wirklich leid«, schließt mein Boss seine lange Rede, in der er begründet hat, weshalb er sämtliche Festangestellte seiner TV-Produktionsfirma – und damit auch mich – spontan entlassen und billigere Mitarbeiter einstellen muss.

Die Worte »betriebsbedingte Kündigung« schallen lachend in mir.

»Betriebsbedingt.«

Das hat er immer wieder gesagt, um zu erklären, dass er pleite ist. Zumindest für vollbezahlte Redakteure. Schade, dass das bei mir ab nächsten Monat der Fall gewesen wäre. Zwei Jahre Volontariat inklusive Tütensuppen-Abo beendet – herzlichen Glückwunsch zum neuen Jobstatus!

Ob sich meine Mitstreiter, die dieses Büro nach mir betreten, genauso verarscht fühlen werden? Warum lädt er überhaupt einzeln ein, wenn es die komplette Belegschaft betrifft?

Ich widerstehe dem Drang auf seine Hände zu starren, in denen er seit unserem Gesprächsanfang den Schlüssel seines brandneuen Geländewagens dreht. Stattdessen betrachte ich abwechselnd sein linkes, dann sein rechtes Auge. Kontaktlinsen. Perfekt getrimmte Augenbrauen. 100-Pfund-Haarschnitt. Passend zu den manikürten Fingernägeln. Und das bei einem Hetero-Mann. Wow.

Von außen wirke ich bestimmt wie ein Fisch, der die Scheibe putzt. Glubsch.

»Aber keine Sorge, Nora«, erklärt er und lächelt mich gütig an. Endlich hört er mit dem Wagenschlüssel auf, legt ihn zur Seite und zieht dafür ein mehrseitiges Dokument unter der polierten Kirschholzplatte hervor. »Ich habe mir etwas überlegt, damit du trotzdem noch für mich arbeiten kannst. Ohne Festanstellung, aber mit den alten Vorzügen, versteht sich.«

Ich kann nicht anders, ich muss mich vorbeugen. Muss sehen, was auf dem Blätterstapel mit der Aufschrift »Vertrag über die freie Mitarbeit« mit meinem per Hand hinzugefügten Namen »Nora Thomson« steht.

Mehr Geld?

Klar – mehr Urlaub kann es nicht sein, dafür wäre ich als Selbstständige selbst zuständig …

Stopp!, kreischt eine laute Stimme in mir. Sie kommt direkt aus dem wilden Pochen meines Herzens. Ich will keine Selbstständigkeit!

Mein Ex-Boss deutet auf die ersten Zeilen. »Das ist unser gemeinsamer Vertrag, Nora. Nur für dich: Du verdienst pro Story 400 Pfund. Pro sendefertigen Beitrag natürlich. Vier davon lieferst du mir im Monat ab.« Er klatscht mit der Hand auf die Platte. »Und – schwupp – hast du deine 1.600 Pfund verdient! Wie zu Volo-Zeiten – aber besser!« Er zwinkert. »Habe 200 Pfund mehr draufgepackt als bei den anderen.«

Ja, ich wirke garantiert wie ein Fisch. Einer mit dem kleinsten Gehirn der Welt. Vielleicht diese Art, die nur acht Millimeter groß wird. Wie heißt die noch gleich? Paedoc…?

»Nun kommt das Beste«, missversteht er mein entsetztes Schweigen und schiebt mir das Dokument zusammen mit seinem signierten Montblanc-Füllfederhalter zu. »Du bekommst alle Vorteile wie als Volontärin: Ich bin es, der deine Themen an die Sendeanstalten verkauft. Der den Kopf hinhält und seinen Namen. Wenn du während der Recherche oder beim Dreh Fragen hast, darfst du mich ansprechen. Und ich stelle dir Louis als Kameramann und Hank als Cutter – deine Lieblingsfreien. Die bekommst du pro Auftrag für jeweils acht Stunden. Dann muss danach aber alles im Kasten und fertig geschnitten sein, Nora.« Die folgenden Worte unterstreicht er mit separaten Klopfern: »Keine Stunde mehr, sonst bezahlst du sie!« Dann wird er wieder weicher: »Du darfst wie gehabt dein privates Laptop zum Arbeiten mitbringen, meinen Strom und unser Telefon, sogar unseren Namen benutzen.« Er lehnt sich mit im Nacken verschränkten Händen in seinem Chefsessel zurück und grinst mich an, als hätte ich soeben einen Fernsehpreis gewonnen. »Also? Was sagst du?«

Ich schlucke.

Okay, es wird Zeit, dass ich mich rege. Am besten gehe ich. Ja, es wäre zu hundert Prozent das Beste, den Raum zu verlassen. Kommentarlos.

»Du meinst«, höre ich mich krächzen, als erwache meine Stimme aus einem Langzeitkoma, »dass ich Vollzeit für dich unterwegs bin – so wie gehabt, von Montag bis Freitag, von acht bis acht, und vielleicht auch an den Wochenenden – nur eben als Selbstständige?« Ich räuspere mich.

Er nickt strahlend.

»Für 1.600 Pfund brutto im Monat?« Ich schaffe es, die Stelle mit dem Fragezeichen nicht zu schreien.

Er hebt den Zeigefinger. »Für 400 Pfund pro Beitrag. Wenn du vier im Monat schaffst, sind es 1.600, ja.« Er dreht den Vertrag wieder zu sich, betrachtet die Zeilen, indem er mit der Füllfederhalterspitze darüberfährt. »Soll ich einen Beitrag rausnehmen? Willst du dich zur Sicherheit nur für drei verpflichten?«

In mir fängt eine Stimme an zu lachen. Sie lacht nicht, weil die mir angebotene Scheinselbstständigkeit mit einer 60-Stunden-Woche bei Steven Tence lustig ist, sondern weil es die einzige Möglichkeit ist, nicht vor Zorn zu verrauchen.

Ich linse zur Tür.

Hat er im Knauf eine Kamera versteckt? Drehen wir eine Pilot-Folge für »Surprise Surprise 3.0«? Immerhin sitzen wir in einer TV-Produktionsfirma. Zwar eine für hochklassige, investigative TV-Reportagen, die sendefertige Beiträge – meist Dreieinhalb- oder Fünfminüter – zu brisanten Themen an TV-Sender verkauft, aber vielleicht hat Steven das Metier gewechselt. Er verkauft eh alles, da würde es mich nicht wundern.

»Was ist nun, Nora?«, insistiert er und fuchtelt mit der Füllfederhalterspitze über dem Papier. »Meinst du, du schaffst einen fertigen Sendebeitrag pro Woche?«

Ich räuspere mich. »Von wem bekomme ich die Themen?«

Preisfrage an mich selbst: Warum hake ich nach? Warum gehe ich nicht? Ach ja: Weil ich im Hintern bin. Finanziell stehe ich mit dem Rücken zur Wand, denn das Medienstudium mit dem anschließenden Volontariat hat ein so dermaßen gigantisches Loch in meine Finanzen gerissen, dass jeder Pizzabote vermögender ist als ich.

Ich spüre Kotze in mir aufsteigen. Arbeitslos ab nächsten Monat, statt des ersten Gehalts als TV-Redakteurin. Damit habe ich felsenfest gerechnet, habe auf Stevens Versprechungen gehört. Ob ich den TÜV-Termin für meinen Wagen ein weiteres Mal verschieben darf? Ab wann wird ein Fahrzeug stillgelegt?

»Was soll die Frage?« Stevens Gefuchtel mit dem Montblanc wird unwirscher. »Natürlich bist du selbst für die Themenfindung zuständig! Du lieferst natürlich selbst ab!«

Die hysterisch lachende Stimme in mir verschluckt sich vor gellenden weinenden Salven. Äußerlich bemühe ich mich, keine Miene zu verziehen. Dafür kralle ich die Finger um die glatte Sitzfläche des Le-Corbusier-Stuhls unter mir.

»Ich frage deshalb«, sage ich, drücke so würdevoll wie noch möglich den gebrochenen Rücken durch, »weil wir in der Regel mehrere Tage, manchmal sogar Wochen brauchen, um gute Themen zu finden. Und weil die Sender nicht jedes Thema kaufen. Das würde bedeuten, dass ich zu großen Teilen unentgeltlich arbeite … aufs Blaue hinaus … ohne Sicherheiten. Wochenlang.«

Er sieht mich mit großen Augen an. »Ja … und?«

Ich räuspere mich. »Die Sender zahlen mehrere Tausend Pfund für fertige TV-Beiträge. Warum bekomme ich, die dafür sorgt, dass sie überhaupt entstehen, die die ganze Arbeit damit hat, nur 400?«

Zweite Preisfrage: Warum frage ich nach, obwohl ich die Antwort kenne? Ich weiß, dass er mir 400 bietet, weil er den Rest für sich behalten will. Weil sich sein neuer SUV nicht durch faire Verträge mit Untergebenen bezahlt.

»Du bekommst 400, Nora, weil du Jung-Redakteurin bist, vergiss das nicht. Durch mich bist du zwar hervorragend ausgebildet, aber ohne mich könntest du keine einzige Sendeminute verkaufen. Unsere Kunden kennen dich nur als meine Auszubildende, wollen meinen Namen, nicht deinen. Aber keine Sorge, vielleicht klappt unsere Zusammenarbeit so gut, dass ich dir eines Tages 800 pro Beitrag zahle. Vielleicht können wir dich irgendwann als Autorin angeben.«

Da habe ich meine Antwort.

Zufrieden?

Ich starre auf meine Hände.

Meine Güte, was habe ich schon alles für diese Firma getan: Habe im Schnee vor Firmenzentralen ausgeharrt, stundenlang, halb erfroren, mit tauben Fingern – um Vorstände zur Rede zu stellen. Habe Nächte – ganze Wochenenden! – damit zugebracht, Beiträge umzuschneiden – damit sie pünktlich in die Abnahme kommen. Habe mich zu Straftätern ins Auto gesetzt, mit nichts als einer Knopfkamera und dem Wissen, dass ich mich als Kampfsportlerin notfalls verteidigen kann – um Steven bestes Videomaterial zu liefern.

Das ist mein Job, meine Berufung: Goliaths mit Steinen bewerfen, den kleinen Leuten, den Davids, helfen – vor laufender Kamera.

»Sportbund vertuscht sexuelle Belästigung an Jugendlichen durch Funktionär«, »Immobilienhai trickst bei Sanierungen und setzt Familien wie die Smiths auf die Straße«, »Zahnarzt zockt Privatkunden mit Fake-Implantaten ab« … Harte, investigative Themen, so nennt sich das.

Storys, die ich – Nora Thomson – als erste und ohne Hilfe gefunden habe.

Wie? Indem ich meine Nase wie ein Malinois – ein Spürhund – in Zeitungsartikel, Geschäftsberichte, Gerichtsakten, Foren, Leserbriefe steckte, nach Ungereimtheiten auf glänzenden Werbeprospekten und Internetauftritten suchte, zwischen den Zeilen las, Opfer ausfindig machte und vor die Kamera stellte.

So habe ich es auf zweiunddreißig verfilmte Themen und siebenundfünfzig eingereichte Exposés binnen zwei Jahren gebracht. Kein schlechtes Debüt für eine Volontärin.

Und dennoch hat es nicht gereicht.

Nicht für eine Festanstellung.

Nur für einen Knebelvertrag, an dessen Ende kein Happy End wartet, denn auch 800 Pfund sind ein Schlag ins Gesicht. 800 Pfund sind ein dicker Stinkefinger, weil er es kann. Weil Steven Tence mächtig genug ist, mir, seiner Ex-Volontärin, den 500-Pfund-teuren Montblanc-Füller ins Nasenloch zu stecken.

Bleibt nur die Frage, wie ich in den nächsten Sekunden reagiere. Ich weiß es noch nicht.

»Vielen Dank für das Angebot, Steven«, höre ich mir selbst zu. »Aber ich muss leider absagen.« Voll bitterschwerem Bedauern über diese einzig mögliche Reaktion löse ich die Finger von den Kanten des Designerstuhls.

Ja, so ist es: Ich werde nicht mehr für Steven Tence arbeiten, wenn er mich mit einer miesen Kopie meines Volontariatvertrags abspeist. Wenn er mich einen Monat vor dem ersten richtigen Lohn rauswirft, um die Konditionen zu seinen Gunsten zu verschieben. Wenn er einen dicken braunen Haufen auf sein Versprechen setzt, mich als seine »beste Volontärin«, wie er mich nach 20 Uhr im Schnittraum nennt, in jedem Fall fest einzustellen.

Die Erkenntnis, dass ich zwei Jahre lang für seine Firma gebrannt habe und er mich nun ausweiden will, stanzt mir ein Loch ins Herz. Am liebsten würde ich heulen, schreien – laut und vulgär –, würde ihm am liebsten sein Seidenhemd zerfetzen.

Stattdessen bleibe ich stumm sitzen, versuche, meinen inneren Zen-Garten zu bearbeiten.

Was sagt mein Boxtrainer immer?

»Bleib cool, Nora. Halte deine Emotionen im Zaum. Atme sie in den Boden.«

Und wie ich sie in den Boden atme! Jede Hebamme wäre stolz auf mich!

Immerhin bekomme ich ein glänzendes Zeugnis. Damit werde ich bei anderen TV-Produktionsfirmen für eine Festanstellung als Redakteurin vorsprechen. Darauf muss ich mich konzentrieren, nur darauf.

»Dir ist klar, dass du eine Riesenchance ziehen lässt?« Steven funkelt mich siegessicher an. »Junge Journalisten gibt es wie Sand am Meer. Die Anfangsjahre sind keine Herrenjahre.«

Ich nicke stumm, unfähig, etwas zu erwidern, was kein Fick-dich-ich-gehe-Trotzdem ist.

Ja, das weiß ich. Allerdings hatte ich schon sehr, sehr viele Anfangsjahre. Selbstfinanziertes Studium, unentgeltliche Redaktionspraktika, mies bezahltes Volontariat, keinerlei Ersparnisse. Und Hand aufs Herz: Ich bin fast sechsundzwanzig. Ich kann nicht bis dreißig dieselbe Jeans tragen.

Korrekt: Können, nicht wollen, denn der papierdünne Primark-Schick, den ich anhabe, wäre bei normalen Menschen vor Jahren im Müll gelandet. Ich bin nicht eitel, brauche keinen Luxus. Es ist nur, dass ich endlich mehr verdienen will als ein Taschengeld. Ich will endlich das bekommen, was mein Journalismus wert ist. Meine Spürnase ist mehr wert als »1.600 oder eher weniger« brutto ohne Sozialversicherung, ohne Urlaub, ohne maximale Arbeitszeiten und ohne eigenen Schreibtisch.

»Zieh doch einfach mit deinem Freund zusammen, Nora«, murrt Steven. »Warum müsst ihr jungen Frauen immer eigene Wohnungen haben?«

Ich blinzele eine Ohnmacht weg. »Mein Ex und ich sind seit über einem Jahr nicht mehr zusammen.« Und das hatte ich dir sogar erzählt.

»Oh. Schade«, zieht er die Worte in die Länge, verrät mir damit, dass er es nicht ernst meint. »Du musst ihn trotzdem anrufen. Wir brauchen eine Info von der Polizei und die Pressestelle wimmelt uns ab.«

Ich blinzele ein zweites Mal. »Wir haben uns nicht in Frieden getrennt.« Das ist die nette Fassung von Wir-hassen-uns-bis-dass-der-Tod-uns-Scheidet.

»Dann lade ihn zu einem Essen ein.« Er zuckt mit den Achseln. »Koch ihm was, entschuldige dich. Wir sind darauf angewiesen.«

Ja – nein. Eher werde ich mir Stevens gerollten Vertrag durchs Auge drücken. Überhaupt: Von welchem Geld soll ich eine zweite Person ernähren? Ich lebe seit Jahren von der Hand in den Mund, dafür hat er selbst gesorgt.

»Keine Arbeitgeber neben mir, Nora, auch kein kleiner Nebenjob«, hallen seine damaligen Begrüßungsworte in mir wider. Da hatte ich noch keine Ahnung, dass er damit sicherstellen wollte, dass ich jederzeit abrufbar bin. Um ein Uhr nachts, um fünf Uhr morgens, sonntags … Ich treudummes Kaninchen habe ihm abgenommen, dass ich mich auf meine journalistische Ausbildung konzentrieren soll. Hatte selbst den Traum, die beste Journalistin ganz Oxfords, die beste Mitarbeiterin seiner Firma zu werden. Habe beiden Zweiflern meiner Familie – meinen Eltern – beweisen wollen, dass ich es zu etwas bringen kann, dass ich, die ewig Todgeweihte, die Abgeschriebene, eine begehrenswerte Arbeitskraft bin.

Tja. Schade. Ich bin so was von selbst schuld!

Ich bewege mich auf dem Stuhl, fühle das harte Leder unter mir. Wie viele Tränen haben die Volontäre vor mir hier schon vergossen? Die Firma existiert seit über zwanzig Jahren und Stevens routiniertem Auftreten nach zieht er die Nummer heute nicht das erste Mal durch.

Hätte mir der viel zu junge Personalschlüssel auffallen sollen? Vermutlich ja.

»Ich denke, wir müssen einen anderen Weg finden, als über meinen Ex«, raune ich und erhebe mich. Innerlich zittere ich, äußerlich schaffe ich es, keine Miene zu verziehen.

Atmen! Atmen!

»Bist du sicher, dass du jetzt nicht unterschreiben willst?«, schnurrt mein Ex-Boss und lehnt sich dabei entspannt zurück. »Ich bin ehrlich: Das Angebot ist limitiert. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.«

Ich beiße mir auf die Lippen. Mit Macht schiebe ich den Gedanken beiseite, ihm eine reinzuhauen. Zuerst Brust, dann Kinn – bis zum Knockout. Fähig dazu bin ich. Aber meine Würde wird mir mein Chef heute nicht nehmen, die behalte ich, egal, was er mir sonst alles wegnimmt.

»Ich bin mir sicher«, sage ich also mit ruhiger Stimme. »Tut mir leid, dass ich nicht an einer Selbstständigkeit interessiert bin. Ich bewerbe mich woanders.«

O ja!, atme ich mich groß. Ich werde es schaffen. Werde einen realistisch bezahlten Job als TV-Redakteurin – als investigative Journalistin – finden. Ich werde direkt morgen eine Mappe zusammenstellen. Mit neuen, recherchierten Themen, mit Arbeitsproben, mit meinem Abschlusszeugnis von Steven.

Um mir selbst zu beweisen, dass ich über Steven, über den letzten zehn Minuten, über ALLEM stehe, strecke ich meinem Ex-Boss die Hand hin. »Danke für das offene Gespräch«, sage ich. »Schade, dass wir uns heute das letzte Mal sehen. Oder ist es in Ordnung, wenn ich nach dem Wochenende noch einmal reinkomme? Dann können wir eine Übergabe machen.«

Stevens Augenbrauen wandern bis zum Haaransatz. »Wie kommst du darauf, dass du hier von jetzt auf gleich aufhörst?«, fragt er, meine Hand ignorierend. »Wir haben gerade erst Mitte Mai!«

Widerstrebend ziehe ich die Geste zurück, halte mich an der Rückenlehne des Stuhls fest. Möglichst freundlich lächele ich ihn an – so freundlich es mit schmerzenden Gesichtsmuskeln geht. »Der Monat hat nur noch zwölf Arbeitstage und ich habe noch zwölf nicht genommene Urlaubstage. Da wir 17 Uhr haben, hat mich deine Kündigung kalt erwischt, ich bin nur noch ein paar Stunden hier.«

Freitag. Ende der Woche, Ende meiner Finanzen. Wie passend!

Sein Gesichtsausdruck weicht einer entsetzten Grimasse. Anscheinend hat er das nicht einkalkuliert.

Ich verkneife mir ein Grinsen. Karma, Steven! Karma!

»Das geht nicht«, fasst er sich mühsam. »Ich brauche dich hier.« Mit einer zackigen Bewegung wischt er den Vertrag unter die Platte. »Es tut mir leid zu sagen, dass ich dir keinen Urlaub mehr genehmigen kann. Du arbeitest hier bis zum Schluss, bis zum 31.«

Ruhig atme ich ein und aus, ein und aus. Ich mag eine kleine naive Seele sein, aber dieses Recht kenne ich: Meine freien Tage darf er mir nicht nehmen. Es sei denn …

»Du willst mir meinen Urlaub abkaufen?« Ich widerstehe dem Drang, auf meinen Lippen zu kauen. Ja, das ist sein gutes Recht, das kann er tatsächlich von mir verlangen. Allerdings brauche ich nun jede freie Minute für meine Bewerbungen. Am besten hätte ich gestern schon einen neuen Job gefunden, denn ich schaffe es finanziell nicht, auch nur einen einzigen Tag Arbeitslosigkeit zu überbrücken.

»Natürlich nicht!«, ruft er aus.

Beim Anblick seines wechselnden Gesichtsausdrucks von entsetzt zu stinksauer versuche ich, die Schultern locker zu lassen, entspannt zu bleiben. Körperliche Beschwichtigung.

»Wir zahlen hier gar nichts aus!«, ruft er, nimmt seinen Autoschlüssel und klopft mit dessen Kante auf die Platte. »Du kommst bis zum Ende des Monats. Und wenn du einen neuen Arbeitgeber hast, kannst du den nach Urlaub fragen.«

Atme!

»Tut mir leid, Steven, so geht das leider nicht.« Ich bemühe meine Mundwinkel um neutrale Freundlichkeit. Zwar habe ich keine Lust auf Stress, aber aufs Kreuz gelegt hat er mich nun genug. »Wenn du mir den Urlaub nicht abkaufen möchtest, muss ich ihn nehmen. Ich mache den Antrag fertig, dann kannst du ihn in deine Unterlagen legen.«

»Den werde ich zerreißen.«

Gut, dass ich mich am Stuhl festhalte. Meine Hände werden schwitzig, mein Puls beginnt zu rasen.

Habe ich mich verhört?

Ich blinzele, aber der Anblick bleibt: Stevens undurchdringliche, dunkle Augen haften auf mir wie die gebündelte Kraft einer Bazooka.

Beherrscht atme ich weiter.

In mir toben zwei Seiten: Die rasende, wütende, die ihm den Stuhl ins Gesicht schleudern will. Und die andere, vernünftige, die mit vorgehaltenen Armen vor mir steht: Bleib cool! Versieb es nicht auf den letzten Metern!

Mit Mühe höre ich auf die gute Seite, verdränge die böse so tief unten, dass die Übelkeit bis in meinen Mundraum kriecht. »Okay«, raune ich so seidenzart wie möglich. »Ich muss leider auf eine Lösung bestehen, Steven, denn ich kann mir unentgeltliche Arbeit nicht leisten. Mein Konto ist blank.«

»Was ist das mein Problem, wenn du nicht haushalten kannst?«

Ich verschlucke mich fast an meiner Zunge. Wer von uns beiden feuert wegen angeblicher Pleite die komplette Belegschaft?

Ich räuspere mich, überlege fieberhaft, was ich sagen könnte, um die Situation zu entschärfen und trotzdem nicht als Verliererin dazustehen.

»Ich frage mich«, kommt Steven mir zuvor, »weshalb du jetzt noch dein Abschlusszeugnis gefährden willst. Das bekommst du nur, wenn du das Volontariat beendest. Nicht, wenn du vorzeitig abhaust.«

Mein Blickfeld zieht sich auf Stecknadelkopfgröße zusammen. »Wie bitte?«, hauche ich.

Das hat er nicht gesagt, oder?

»Du hast mich verstanden, Nora.«

Ich sehe ihn entsetzt an, hoffe auf ein Augenzwinkern, dass er gescherzt hat. Es bleibt natürlich aus.

»Ich habe zwei Jahre lang sehr gute Arbeit geleistet«, insistiere ich mit härterer Stimme als angedacht. »Das hast du mir gestern noch gesagt, Steven. Außerdem stehen über tausend Überstunden auf meinem Zeitkonto, die ich nicht zurückhaben möchte, aber sie stehen da nun mal trotzdem. Ich verstehe also nicht, weshalb du mir sagst, dass ich keine vertraglich vereinbarten Urlaubstage verdient habe und auch kein Abschlusszeugnis bekommen sollte. Habe ich etwas nicht mitbekommen?«

Stevens Zeigefinger schießt hervor. Er zielt damit direkt auf mein Herz, ballt die andere Hand zu einer großen Faust. »Willst du mich erpressen? Das wird nicht funktionieren. Du kannst keine einzige Überstunde nachweisen, mal davon abgesehen, dass das völliger Quatsch ist, dass du so viele hast. Natürlich kommst du in den nächsten zwei Wochen noch zur Arbeit, dein Zeugnis bekommst du am letzten Tag. Urlaub nimmst du dir bei deinem neuen Arbeitgeber oder in den ersten Wochen deiner Selbstständigkeit, wenn es bei uns passt. Dieses Wochenende kannst du zuhause bleiben, aber nächstes Wochenende wird Marissa was drehen. Ich will, dass du sie begleitest. Als Sparringspartner, denn ihr letztes Interview war Schrott. Für Ausgleichstage hast du keine Zeit mehr. Ruf stattdessen deinen Ex an, wir brauchen seine Hilfe. – Heute bleibst du übrigens länger, die Lokalzeit will einen Umschnitt und will den Beitrag am Montag senden. Abnahme ist Montag früh um zehn. Du musst auch noch nach einem Studiogast schauen, den wir an die verkaufen können. Ich dachte da an diesen Bauernsprecher … Wie hieß der noch?«

Ich spüre eine große, aufsteigende Dampfwolke über meinem Scheitel. Sie ist so heiß, dass sie mein Gesicht zum Glühen bringt.

Was soll dieser beschissene Themenwechsel? Vor allem: Was soll das mit meinem Zeugnis?!

Mehrere Sirenen heulen in mir los. Grell, kreischend, ohrenbetäubend laut – wie bei einem Bombenangriff. Sie färben meine Blickränder hellrot.

Verzweifelt atme ich gegen die auf mich einbrechenden Emotionen an, versuche, einen kühlen Kopf zu bewahren. Vergeblich. Ein kühler Kopf war noch nie meine Stärke.

»Was ist mit den ausgelegten Spesen vom letzten Dreh?«, frage ich schneidend.

Mein Chef zuckt nicht mal mit der Wimper. »Ich glaube dir nicht, dass du für deine Protagonisten so viel Geld für Essen und Getränke ausgegeben hast.«

Die roten Ränder pulsieren: hell, dunkel, hell, dunkel. Mittlerweile brennt mein gesamtes Gesicht.

»Wir haben auf einem Jahrmarkt gedreht!«, rufe ich atemlos aus. »Das hatte ich dir vorher gesagt, noch bevor wir da waren!«

»Und ich hatte dir gesagt, dass ich es nicht einsehe, für Luxus zu bezahlen«, schnarrt er und fixiert mich, während er den Schlüssel vor sich auf der Platte positioniert. »Dass du deinen Protagonisten Essen und Trinken bezahlt hast, nur weil die rumgejammert haben, dass ihre Anfahrt so lang war, ist dein Pech. Hier.« Er zieht meine Spesenabrechnung aus einem Stapel anderer. »Kannst du zurückhaben. Zerreiß es selbst. So was zahle ich nicht.«

34,95 Pfund. Es sind läppische 34,95 Pfund. Zumindest für jemanden mit einem Luxus-SUV. Aber für mich ist diese Zahl existentiell. Sie bedeutet Salat und Gemüse für zwei Wochen und frisches Benzin für meinen Polo, den wir die ganze Woche lang als Firmenwagen missbraucht haben.

»Steven, ich will mich im Guten von euch trennen«, stelle ich klar, obwohl ich mittlerweile so viel Zorn in den Boden geatmet habe, dass meine Füße in Lava stehen. Das ganze Büro samt Parkett, Fenstern, Möbeln pulsiert dunkelrot. »Ich mag dich und die Firma.« Hatte ich mal. »Ich hatte hier eine schöne Zeit.« Während der du mich verarscht hast. »Und ich möchte ein gutes Zeugnis, wie ich es verdient habe und wie du es mir versprochen hast.« Womit du anscheinend auch gelogen hast. »Und ich brauche deine Unterstützung. Entweder Urlaub, damit ich mich woanders bewerben kann, oder Geld, damit ich es mir leisten kann, mich nicht sofort zu bewerben. Was es auch ist: Ich verspreche dir, dass ich hundert Prozent gebe. Bis zum Schluss.«

Mit einem Mal wird er knallrot, sogar sein Haaransatz. Die Bazooka, die er bis zuletzt mit der Macht seiner Pupillen auf mich gerichtet hat, knallt ihren Schuss heraus, kracht direkt zwischen meine Augen.

Scheiße.

Ich versuche, nicht noch kleiner als meine ohnehin knappen Zentimeter zu werden. Die Mischung aus gelerntem Respekt vor ihm und unbändiger Wut über restlos alles, was er, seitdem ich dieses Büro betreten habe, von sich gegeben hat, wirbelt wie ein reißender Feuersturm in mir. Die Liste ist mittlerweile zu lang: Last-Minute-Kündigung, kein Urlaub, keine Spesen, kein Vertrauen, kein Danke. Vor allem die beiden letzten Punkte brennen in mir – kurioserweise. Dabei sind sie die unwichtigsten.

»Was wagst du es, immer noch von Urlaub zu faseln?«, bellt mein Boss mit jeder Silbe lauter.

Als er mit einer betont großen Bewegung aufsteht und sich auf seine volle Körpergröße von eins neunzig aufrichtet, die Schultern breit und das Kinn nach vorn gereckt, trete ich einen Schritt zurück. Auch wenn sich mein Temperament liebend gern mit ihm prügeln möchte, weiß die Kampfsportlerin in mir, dass die Situation damit erst recht eskalieren würde.

Steven sieht allerdings aus, als denke er anders. »Du bist die einzige Anfängerin, die derartige Ansprüche stellt, Nora, das ist mir in zwanzig Jahren nicht passiert! Die einen generösen Folgevertrag frechweg infrage stellt und meint, sie könne überzogene Forderungen herauskrakeelen. Raus aus meinem Büro!«, kommandiert er harsch, hämmert zur Bekräftigung mit der Kante seines Schlüssels in die Luft zwischen uns. »Setz dich zurück an deinen Arbeitsplatz und arbeite, du dummes Stück!«

Innerlich falle ich hintenüber platt auf den Boden. Vor mir steht nicht mehr nur Steven, sondern auch mein Ex. Er war der Meister der Beschimpfungen – und ich werde mich nie wieder beschimpfen lassen.

Wie in der Schlusssequenz eines Endkampfs wirbele ich herum und reiße die Bürotür auf. Dann explodiert der Feuerball in meinem Kopf, groß und mächtig und grell wie eine Granate. Schneller, als ich herausstürmen kann.

»ICH KÜNDIGE!«, brülle ich sowohl zu mir selbst als auch zu meinem Chef. Zeitgleich knalle ich die Glastür so fest zurück in die Schlossfalle, dass ich einen Moment lang das Material bersten sehe, aber es hält.

Entsetzt über meinen Ausraster, über die letzten gefallenen Sätze, über alles, stürme ich los und ziehe mein altes MacBook aus der Ladestation. Ich registriere, wie Steven hinter mir her zu der Glastür schießt.

Scheiße, jetzt habe ich verkackt.

Mit rasendem Puls und zitternden Fingern zerre ich alle Dokumente an mich, die ich zu packen bekomme. Der harte Luftzug der Tür, die er wieder aufreißt, lässt mich vor Anspannung zusammenzucken.

»Fass hier nichts an!«, brüllt er mit einem Donner in der Stimme, dass alle anderen Volontäre, die noch nichts von ihrem zweifelhaften Glück wissen, erstarren. Meine Sitznachbarin springt sogar hinter ein Regal, hofft damit wohl, unsichtbar zu sein.

O Gott!

Mit bebender Seele sortiere ich weiter: Die Schreibblöcke hatte ich mir gekauft, aber wie ist das rechtlich? Wem gehören sie, wenn ich im Büro darin herumgeschrieben habe? Was gehört der Firma, was mir? Und wem gehört verdammt noch mal der Kugelschreiber? War das meiner? Wo ist meine Handtasche? Habe ich auf der Toilette noch Deo stehen? Wo ist mein USB-Stick?

Was ist mit meinem Zeugnis?

Scheiße!!!

Steven ist schneller bei mir, als ich alles zusammengerafft habe. Er reißt an meinem Arm und die Hälfte meiner Sachen fällt zu Boden.

»Raus!«, brüllt er, violett im Gesicht. »Raus für heute!«

»Mein Eigentum gehört mir!«, lärme ich mit berstenden Nerven zurück, wringe mich aus seinem Griff, reiße möglichst viele der am Boden liegenden Utensilien wieder hoch.

Dann schieße ich zur Ausgangstür und hechte durch den Flur Richtung Treppenhaus. Noch während mein Ex-Chef mir sein tiefdunkles: »Dafür bist du Montag drei Stunden eher da!«, hinterherdonnert, biege ich scharf um die nächste Ecke, nehme nicht den Aufzug, denn auf den müsste ich warten, sondern renne die alten Treppen nach unten bis in die Parketage im Kellergeschoss.

Nassgeschwitzt und zitternd stoppe ich vor meinem Auto, einem uralten VW Polo, dem ich seit Jahren die Rente verweigere, und … fuck. Jacke und Schlüssel vergessen.

Läuft bei mir.

 

 

| Kapitel 2 |Überall Idioten

 

➳  Ich rumse den Pappkarton härter auf Martys Empfangstresen, als das alte Sperrholz es verdient hat.

»Ist Josh da?«, knurre ich mit einer Grabesstimme, die meine wahre Stimmung nicht ansatzweise beschreibt. Sie ist tief genug, dass mein Boxlehrer aufsieht, obwohl er gerade mit einem Stift über einer Kassenabrechnung brütet. Lange mustert er mich, dann meinen Karton, dann wieder mich – dann entscheidet er sich für die Kassenabrechnung.

»Nein. Was ist los?«, fragt er, beugt den breiten Rücken zu einem Quasimodo-Buckel und bewegt beim Entziffern der Zahlen den Kopf vor und zurück. Mir tut das schon beim Zusehen weh, ich sage aber nichts: Er reagiert nicht sonderlich gut darauf, wenn ich ihm zu einer Lesebrille rate. Seitdem er fünfzig ist, wird er nicht mehr älter. Deshalb wirkt er nun wie ein alter, brummiger Bär, dem man aus Spaß einen Stift zwischen die Tatzen geklemmt hat.

Da ich keine Lust habe, meinem Lieblingsbären zu antworten, stelle ich stattdessen die nächsten Fragen: »Ist Amber da? Oder Connor?«

»Nein.«

»Ist irgendwer da?«

Er legt den Stift weg, stützt die großen Hände links und rechts auf die dicke, abgegriffene Platte und sieht mich durchdringend an. »Was ist los? Und was ist das für ein Pappkarton, Nora?«

Ich recke das Kinn. »Meine Bürosachen. Habe gekündigt. Und bin gefeuert worden. Beides gleichzeitig. Ich muss ein bisschen trainieren. Und ich kann meinen Mitgliedsbeitrag nicht pünktlich bezahlen, ich bin dann wohl pleite.«

Uff, jetzt ist es raus. Fühlt sich unglaublich mies an.

Marty zieht die Augenbrauen bis zu seinem dunklen Haaransatz. Kurz macht es den Eindruck, er wolle etwas sagen, verwirft es aber. Stattdessen entspannt er sich wieder, sieht erneut auf seine Papiere und schreibt weiter.

»Hab mich schon oft gefragt, wie lange du dich von denen verarschen lässt«, brummt er. »Tut mir trotzdem leid für dich.«

Kein Wort zu den Mitgliedsbeiträgen. Ich weiß, dass ihm die bei mir egal sind, aber mir verpasst das einen tiefen Stich ins Herz: 60-Stunden-Arbeitswoche und nicht mal Kohle für meinen langjährigen Boxverein, meiner Seelenheimat.

Ich ziehe eine Grimasse, denn auch die anderen Worte, die er gesagt hat, brennen in mir: verarschen lassen. Ja, selbst ihm ist es aufgefallen. Wie auch nicht? Ich habe in den letzten zwei Jahren etliche Trainings für spontane, abendliche Redaktionssitzungen und Drehs abgesagt, habe mich immer wieder schlecht gefühlt, so unzuverlässig zu sein. Aber ich hatte das höhere Ziel, TV-Redakteurin mit Auszeichnung zu werden. Rückblickend gesehen vergeudete Lebenszeit, wenn nicht mal ein Abschlusszeugnis herauskommt.

Erneut flimmert mein Blick. Eher werde ich mich mit Benzin übergießen und ums Feuer tanzen, als noch einen einzigen Schritt in Stevens Firma zu setzen. Schon der Gedanke an sein Siegerlächeln hebt meinen Magen bis zum Kinn.

»Danke«, würge ich heraus, das Herz schwer und verbittert, und sehe mich um.

Die Boxhalle ist leer. Menschenleer.

Mist.

»Du musst jetzt was tun, sagst du?«

»Ja.« Ich nicke, ziehe dabei die Lefzen abwechselnd nach oben und unten. Die letzte halbe Stunde rotiert immer noch unaufhaltsam in mir, obwohl ich einen flotten Stechmarsch hinter mir habe.

Habe ich richtig reagiert? Hätte ich das katastrophale Ende abwenden können? Ab wann ist alles aus dem Ruder gelaufen? Was soll ich als Nächstes tun?

»Ich muss mich bis 20 Uhr beschäftigen«, präzisiere ich, der jetzt erst klar wird, wie unfair meine Einsilbigkeit ist. »Meine Kollegin kommt dann zu mir nach Hause und bringt mir meine Jacke und meinen Schlüssel – und noch ein paar andere Dinge, die ich nicht mehr mitbekommen habe.«

»Kann man dir helfen?«

»Hast du Lust zu boxen?« Ich muss mich dringend abreagieren und neu fokussieren. Ich brauche einen Systemneustart, bevor mir der Kopf abfliegt. Nichts ist dafür besser geeignet als ein guter Kampf mit einem würdigen Partner. Marty ist mehr als das: Als Ex-Champion im Schwergewicht gehören ihm die Halle und mein tiefster Respekt. Er ist mein Vorbild.

Wieder taxiert er mich. Seine grauen Augen sind klein und müde, aber herzlich und ehrlich. Marty ist der anständigste Mensch, den ich kenne. Eine hundertmal bessere Version meiner Eltern, die bereits vor ihrer offiziellen Scheidung vor zehn Jahren ohne mich weitergezogen sind. Kein Verlust: Meine Granny, die mich großgezogen hat, war ein grandioser, mitfühlender und moderner Mensch und hat mich bei Marty zum Boxen angemeldet statt beim Ballett.

Gott hab sie selig.

»Kindchen, du weißt, dass ich nicht mehr fit genug bin, um mit dir zu sparren. Ich mach nur noch Basics. Massieren kannst du mich, oder mir bei der Buchhaltung helfen. Oder weißt du was? In einer Viertelstunde haben wir einen Neuen hier. Anfänger. Hat gestern angerufen und gesagt, er will sehen, was Boxen ist und ob er was lernen kann. Wie wäre es, wenn du seine erste Stunde übernimmst? Dann kann ich den Mist hier fertig machen.«

Ich murre innerlich: Auf einen Anfänger habe ich so viel Lust wie auf Formationstanz, auf den muss ich Rücksicht nehmen. Allerdings ist er meine einzige Chance, um auf andere Gedanken zu kommen, ich habe zwei Stunden Wartezeit zu überbrücken. Außerdem will ich es irgendwie wiedergutmachen, dass ich eine miese Kundin bin.

Deshalb nicke ich.

Als das Windspiel an der Tür spielt, drehe ich mich um. Einen Moment lang rechne ich mit einem meiner Boxfreunde, mit dem ich doch noch eine kurze Session trainieren kann, aber stattdessen tritt ein Typ ein, der einen so tiefdunklen Blick draufhat, wie ich mich fühle.

Seine kurzen blonden Haare stehen wild vom Kopf, passen zu seiner Nase, die offenbar mindestens einmal gebrochen war und nicht sehr gerade verheilt ist. Der Makel betont, dass der Rest von ihm perfekt ist: kantiges Kinn, ausdrucksstarkes Gesicht mit wachen Augen, schwarze Klamotten, unter denen sich ein extrem vorteilhafter Körperbau abzeichnet, und ein zielsicherer Gang.

Der Typ weiß, dass er gut aussieht. Wahrscheinlich sind die Tussis ganz heiß auf die Story seines lädierten Gesichts und wahrscheinlich erzählt er sie sogar gern.

Ich mag ihn jetzt schon nicht.

Auch Marty mustert ihn von oben bis unten. Ich frage mich, was er mit seinen altersschwachen Augen noch erkennt, verkneife mir aber das Schmunzeln. Seinem wissenden Blick zu urteilen ist es der Anfänger, von dem er gesprochen hat. Dem werde ich in seiner ersten Stunde ordentlich einheizen, damit er versteht, dass wir hier keine Teekränzchen veranstalten.

»Gegen die kämpfe ich nicht«, sagt der Typ, noch bevor er bei uns am Tresen ankommt.

Erstens: Kann er hellsehen, dass ich ihn gleich rannehmen werde? Zweitens: Wo tut es ihm am meisten weh?

Ich lächele ihn nachdrücklich freundlich an. Der zweite Arsch an diesem Tag, toll! »Ich will dir ja nicht den Turn versauen, kleine Puppe«, schnurre ich, »aber du wirst hier niemals gegen jemanden kämpfen, sondern immer nur mit. Und heute schauen wir erst mal, was du draufhast, bevor du einen echten Ring siehst. Sonst tust du dir noch weh.«

Er sieht mich nicht mal an, sondern nur Marty. »Ich kämpfe nicht gegen Frauen. Die wiegt die Hälfte von mir, ihr Bein ist mein Arm. Der schlage ich garantiert nicht ins schöne Gesicht, das tue ich einfach nicht.«

Die beiden Männer messen sich stumm. Ich blecke die Zähne: Ist heute der Nora-hat’s-zu-schlucken-Tag? Nur weil ich einen Kopf kleiner bin als ein Kerl, heißt das nicht, dass ich unfähig bin! Okay, körperlich schwächer – dafür technisch sicher, taktisch kreativ und verdammt schnell. Für ihn würde ich auch die härteren Boxhandschuhe anziehen, wenn er es hart haben will.

»Hey, hast du nicht gehört?« Herausfordernd recke ich ihm das Kinn entgegen. Ich kann mein Selbstbewusstsein locker auf zwei Meter bringen, erst recht, wenn ich einen Lauf habe. Und den habe ich definitiv! »Du bist Anfänger, du kämpfst heute mit gar keinem, denn wir checken zuerst, was du draufhast. Und wenn es so weit ist, garantiere ich dir, dass ich dich schneller k. o. schlage als du mich, Zuckerschnute.«

Er funkelt Marty düster an, mich immer noch schneidend wie leere Luft. »Ich bin kein unbeschriebenes Blatt, ich bin kampferprobt. Und ich habe Lust zu trainieren, und zwar ernsthaft.«

Ich schnappe nach Luft, aber Marty ist schneller. Beschwichtigend hebt er die Hände. »Jetzt bleibt mal ruhig.« Betont langsam dreht er sich mit seinem gesamten Körper zu dem blonden Arsch. »Du sagst, du willst Boxen testen … Welche Kampfsportart machst du also?«

Der Typ lehnt sich mit den muskulösen Unterarmen auf den Tresen. Er hat mich immer noch keines Blickes gewürdigt. »Freefight.«

Ich lache gehässig. »Mixed Martial Arts, klar!«

Marty funkelt mich strafend an und ich kneife die Lippen zusammen. Okay, vielleicht ist mein gekränktes Herz gerade wirklich ein bisschen auf Krawall aus, aber auch bei Marty meine ich den Hauch eines Lächelns zu sehen: Freefight behaupten sie alle, wenn sie sich mal geprügelt haben.

»Hm, was davor? Also welche Basics?«, fragt Marty gelassen weiter.

»Nur Freefight.«

Ich drehe mich ein bisschen weg, damit man mein feixendes Gesicht nicht sieht. MMA ist eine Kombination aus allen Kampfsportarten. Ein guter Freefighter hat mindestens zwei Künste – Boxen, Judo, Karate, Ju-Jutsu oder etwas anderes – von der Pike auf gelernt und die Techniken miteinander kombiniert. Wer nur »Freefight« sagt, kommt demzufolge maximal aus einem dieser selbsternannten Modekurse. Die sind auch nett, aber das bedeutet für Marty und mich, dass er nun mal kein vollwertiger Mixed-Martial-Arts-Kämpfer ist, sondern ein Möchtegern. Ein Anfänger mit Monsterego.

»Wie lange?«, fragt Marty mit der Gelassenheit eines Dickhäuters. Mann, er ist echt professionell.

»Lange. Ich will wissen, ob ich noch was lernen kann. Und ich sage es direkt: Ich fange hier nicht mit Boxsäcken und kleinen Mädchen an.«

In meinem Innern tremoliert der Frust. Äußerlich setze ich ein bittersüßes Erzengellächeln auf. »Hat dir das letzte kleine Mädchen deine Nase gebrochen, dass du so eine Angst vor welchen hast?«

Zu meiner Überraschung dreht er sich endlich zu mir. Sein Blick zerschneidet die Luft, aber der Rest von ihm wirkt so beherrscht wie Marty. Unwillkürlich denke ich an einen riesigen schwarzen Panther im Dunkeln.

»Nein«, sagt er. »Kleine Mädchen mussten dabei nur zusehen.«

Ich stocke für einen Moment, rümpfe dann trotzdem die Nase. »Ich kann sie dir ein zweites Mal brechen, vielleicht wächst sie wieder gerade.«

Marty räuspert sich. »Nora, geh dich mal eben abregen. Ich weiß, dass du einen Scheißtag hattest, also warum machst du dich nicht schon mal fertig? Ich kriege euch beide unter. Ich trainiere mit euch beiden.«

Nun ignoriert der Typ Marty. Seine grüngrauen Augen nageln mich fest. »Ich weiß, dass ich sie richten lassen könnte. Ich lasse sie extra so.«

Kampflustig starre ich zurück. Ich werde nicht klein beigeben, nur weil er einen härten Blick draufhat als jeder andere, dem ich je begegnet bin. Heute ist jeder Arsch mein persönlicher Steven Tence und ich bin auf Vernichtung aus. »Meinst du, du siehst dann böser aus?«, surre ich samtweich, die Augen mit meinen dichten Wimpern zu Schlitzen gezogen.

Er mag ein Panther sein, aber ich mutiere zur Hyäne, wenn man mich ärgert: Ich habe den Abstand zwischen uns beiden längst geschätzt und weiß, dass ich ihm ohne Zusatzschritte einen Punch auf die Leber geben könnte, um ihm mit der anderen Faust ins Gesicht zu prügeln. Allein dieses Wissen ist mir eine Genugtuung, auch wenn ich mir niemals die Blöße geben werde, meine Gedanken in die Tat umzusetzen. Meine Würde steckt noch irgendwo in mir und davon abgesehen, würde Marty mir den Hintern aufreißen. Solche Nummern gibt es hier nicht.

»Nein. Für mich ist das eine Erinnerung – eine Mahnung an mich selbst«, schnurrt Mr Möchtegern genauso seelenruhig, aber dunkel, zurück. »Was ist mit deiner Narbe am Kinn? Nicht aufgepasst?« Sein intensiver Blick streicht anzüglich über die Stelle in meinem Gesicht, die seit zehn Jahren Zeugnis des Grundes ist, weshalb ich überhaupt hier stehe.

»Wenn du dich prügelst, dann gewinn wenigstens!« Die Worte meiner Granny nach einer vollkommen misslungenen Schlägerei mit einem gleichaltrigen Jungen, der mich geärgert hatte.

Der Gedanke daran, dass meine Granny tot ist, sie mich nie wieder anfeuern wird, mir nie wieder Ratschläge geben wird, verpasst mir einen Schlag in die Lunge, verwehrt mir für einen Moment den Zugang zu meiner Schlagkraft. Schlimmer noch: Mr Möchtegerns wissender, tiefgehender Blick, als läse er in meinen Gedanken mit, reißt mir mit brachialer Wucht die Haut vom Körper. Schlagartig fühle ich mich nackt, verschränke instinktiv die Arme vor der Brust.

Fick dich!, bedeute ich ihm stumm, indem ich das Kinn vorschiebe, das Kreuz durchdrücke.

Als hätte er den Kraftausdruck laut gehört, dreht er sich wieder zu Marty. »Ich meine das im Ernst. Ich brauche einen handfesten Partner. Trauen Sie sich das noch zu? Für heute würde ich Ihnen eine Chance geben, denn ich weiß, dass Sie mal eine Nummer waren.«

Was ein frecher Typ! Was denkt der von sich, wer er ist? Amtierender Boxweltmeister im Schwergewicht?

Ich lache spöttisch auf, will ihn wenigstens mit Worten boxen. »Verzeiht, Anthony Joshua, habe Sie nicht erkannt!« Dann klopfe ich hart auf die Platte. »Tut mir wirklich leid, Marty, aber mein Superego-Arschlochkontingent ist für heute erschöpft. Den schenke ich dir zurück.«

Ich wende mich ab, laufe direkt zu meinem Stammspind der Frauenumkleide. Meinen armseligen Pappkarton lasse ich stehen: Ich will meinen Abgang nicht abschwächen und nur Wahnsinnige klauen etwas aus einer Kampfsporthalle.

Mit geübten Bewegungen ziehe ich mich um, immer noch in mir tobend: Martys Sparringsangebot ist ein Mitleidskeks, den kann er für sich behalten. Ich will ernst genommen werden, nichts weiter. Ich werde also an ein paar Geräte gehen, alles auf höchste Stufe stellen und danach Schattenboxen – vielleicht wird mich der Sport ein kleines bisschen befriedigen.

Als ich kurze Zeit später die Halle durchmesse, erkenne ich aus den Augenwinkeln, dass sich Marty und der blonde Blödmann ebenfalls umgezogen haben. Mein Kontrahent taxiert mich mit durchdringendem Blick, verfolgt meine Bewegungen, obwohl Marty direkt neben ihm steht. Ich ignoriere ihn. Ich würde ihn mir nicht mal mehr anschauen, wenn er bettelt oder um Hilfe schreit – maximal wenn es lebensbedrohlich ist.

»Wo gehst du hin?«, ruft Marty mir nach, als ich zielstrebig die Tür am Ende der Halle ansteuere.

»Dir gehört der Laden«, brülle ich missmutig zurück. »Also warum fragst du, was hier hinten ist?«

Marty schnaubt. »Übertreib’s nicht, Nora, klar?«

»Ja, Daddy«, surre ich lässig, weil mir seine Fürsorge vor dem Macho ein bisschen unangenehm ist.

Ehe ich mich versehe, reiße ich mit zu viel Gewalt den schweren Durchgang zum Geräteraum auf. Knapp bevor das dicke Eisen des Türblatts mitsamt Türklinke gegen die Mauer prallt, bugsiere ich die solide Konstruktion zu mir zurück, durchschreite die Tür und lasse das Schloss etwas zärtlicher als Stevens Glastür zurück in die Falle schnappen.

Aufatmend bleibe ich im Eingangsbereich des menschenleeren Raums stehen und besehe mir die im Neonlicht martialisch aussehenden Fitnessgeräte.

Überall Idioten heute – aber hier habe ich wenigstens Ruhe vor ihnen.

 

 

| Kapitel 3 |Erwischt

 

➳  Ich verausgabe mich, bis mir der Schweiß vom Scheitel bis zur Sohle rinnt und ich keine Wut mehr spüre.

Stattdessen hadere ich mit mir selbst, jetzt, wo der Sport mich beruhigt hat: Egal wie lange ich schon boxe, ich habe mit fünfundzwanzig immer noch dieselbe Achillesferse wie mit fünfzehn – ich lasse mich verdammt gut provozieren. Das hat mein Chef – Ex-Chef – heute formvollendet hinbekommen und dieser blonde MMA-Möchtegern-Gott, der keine Ahnung hat, was ich draufhabe, ebenfalls.

Sind diese Kerle das wert?

Nein.

Geläutert durchquere ich die Halle, ohne die Männer im Boxring eines Blickes zu würdigen, springe unter die Dusche, ziehe mir meine alten Klamotten an und atme entschieden durch, als ich die Tür zur Halle wieder aufdrücke.

Weil Marty und der Typ noch nicht fertig sind, setze ich mich an Martys Tresen, den Rücken betont zu den Männern gerichtet, und sortiere die Aufzeichnungen. Da ich als Schülerin für Marty gejobbt habe, fällt es mir leicht, die verschiedenen Ausdrucke der Kassenbons einzusortieren und die Zahleingänge zu kontrollieren. Mindestens das kann ich für ihn tun.

Ich bin eine ganze Zeit dabei, als Marty wieder zu mir tritt. Na ja, streng genommen »tritt« er nicht, er humpelt wie ein misshandelter Straßenköter.

»Was machst du jetzt?«

Ich brauche eine Sekunde, um zu verstehen, dass er von meiner Karriere spricht. »Ich schreibe Bewerbungen und schaue, dass ich in eine andere Produktionsfirma komme.«

Am besten bevor ich auf Knien ins Jobcenter rutsche oder wegen Mietrückständen auf der Straße lande. Was bedeutet, dass ich lichtgeschwindigkeitsschnell sein muss. Idealerweise besorge ich mir eine Zeitmaschine.

»Musst du da noch mal hin? Zu der alten Firma, meine ich.«

Zähneknirschend nicke ich gen meines Pappensembles. »Nope. Das war heute mein letzter Tag. Ich hatte noch Urlaub übrig.«

Wie löst man eigentlich das Problem, wenn der Ex-Chef den verleugnet? Das muss ich dieses Wochenende unbedingt recherchieren, ich habe nämlich null Ahnung. Und null Kohle für einen Anwalt – ich muss mich allein durchsetzen.

Marty deutet auf den Rechnungsordner, den ich zurück in das Regal unter der Theke schiebe. »Wenn du willst, kannst du das jeden Freitag machen, Nora. Das ist es mir wert. Stundenlohn kennst du. – Sag mal, bist du etwa fertig?«

»Ich schulde dir was«, sage ich und zucke mit den Schultern. »Also mache ich das natürlich umsonst. Und ich sagte bereits, dass du mal zum Optiker musst. Du hast drei Zahleingänge falsch abgetippt, deshalb passte es nicht. Und zum Osteopathen musst du auch. Du läufst wie ein Kriegsversehrter.«

Denkt er ernsthaft, ich sehe nicht, wie er sich hinter die Theke zieht? Ich verwette mein Auto dafür, dass er sich bis zum Schluss nichts hat anmerken lassen.

Männer!

»Passt schon«, brummt er und deutet zu der vergilbten Wanduhr. »19:40. Wird langsam knapp, wenn du vor deiner Freundin zu Hause sein willst.«

Ich stöhne, weil meine Probleme durch Lara wieder ganz real werden und ich darauf heute Abend keine Lust mehr habe. Nutzt aber nichts.

Meine Motivation, mit dem Gang der Trauer anzufangen, steigert sich schlagartig, als hinter uns die Tür der Männerumkleide aufgezogen wird. Der gutaussehende Arsch mit der schiefen Nase und den intensiven Augen tritt heraus – auch er hat geduscht und neue Klamotten an, ich rieche sein göttliches Aftershave bis hierhin. Marty sollte göttliche Aftershaves in seiner Boxhalle verbieten.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er direkt auf uns zusteuert. Bevor mir die Luft zu heiß wird, greife ich nach meinem Pappkarton mit dem Laptop, meinen Aufzeichnungen und dem Rest meiner Würde und wende mich zum Ausgang. Ich werde keine Nanosekunde lang dabei zuhören, wie der frauenfeindliche Idiot seine nächste Männerstunde bucht!

»Wo willst du damit hin?«, ruft Marty mir überrascht hinterher, weshalb ich ebenso überrascht stocke.

»Ähm, nach Hause?«, frage ich und drücke mit dem Ellenbogen den Metallgriff herunter. Als mir Regen entgegenpeitscht, fluche ich. Ergeben lasse ich mich wieder zurück in die Boxhalle gleiten.

Bleibt mir heute gar nichts erspart?

Ich spüre in meinem Nacken, wie Mr Sandelholz-Duft mich mustert. Wie er sich fragt, warum zur Hölle ich mit einem erbärmlich schiefen Pappkarton in den Armen herumlaufe. Was sich darin befindet. Warum ich mit dieser riesigen Fracht zu Fuß bin …

Zerknirscht drehe ich mich zu Marty um, versuche ihn, dessen Blick an meiner Gesichtshaut reißt, zu ignorieren. Stattdessen konzentriere ich mich auf Marty, der sich wie immer vollkommen relaxt gegen den Tresen lehnt und mich ansieht.

»Ich denke, du musst deine Kollegin anrufen, Nora, und ihr sagen, dass sie dich abholen soll.«

Ich widerstehe der Versuchung, eine tiefe Grimasse zu schneiden. »Das wird nichts.« Ich zucke möglichst cool mit den Schultern. »Die ist mit dem Fahrrad unterwegs. Kein Führerschein. Und weil die jetzt schon auf dem Weg zu mir ist, muss ich zusehen, dass ich nicht zu spät komme.« Mit wenigen Schritten bin ich wieder am Tresen und rumse das Papiercontainer-Kunstwerk zurück auf die Platte. »Kann ich mein Zeug morgen früh abholen? Dann laufe ich jetzt ohne durch den Regen.«

Marty räuspert sich. »Ich hatte dir doch gesagt, dass ich morgen ausnahmsweise geschlossen habe. Heute Nacht steige ich in den Zug und bin über das Wochenende bei meinem Sohn. Ich kann dir also erst am Montag aufschließen. Den Ersatzschlüssel hat Josh, den kann ich dir auch nicht geben.«

Der ist schon im Feierabend. Mist.

Ich reibe mir die Stirn. »Sorry, ja«, murmele ich. »Habe gerade ein beschissenes Zeitgefühl.«

Gar keines, um genau zu sein. Der MMA-Superheld macht es mit seinem Laserstrahlblick auch nicht besser. Langsam nehme ich den dünnen Karton wieder hoch. Die ausgebeulten Wände schreien jetzt schon nach Erlösung.

»Ich würde dir mein Auto geben«, wirft Marty ein. »Aber das ist noch in Reparatur … Aber du kannst dir deine Sachen am Montag abholen. Das ist kein Problem.«