Schaurige Weihnachten. Klassische Horror- und Geistergeschichten - Arthur Conan Doyle - E-Book

Schaurige Weihnachten. Klassische Horror- und Geistergeschichten E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Im viktorianischen England war ein Weihnachtsfest ohne Schauergeschichte nicht komplett: Man erzählte sie am Kaminfeuer im Musikzimmer oder Salon. So verbreitet war dieser Brauch, dass etliche namhafte Autor*innen ihre Storys dafür schrieben. In diesem Band erzählen Autor*innen wie D. H. Lawrence, A. C. Doyle und weitere Meister*innen des Horrors von verfluchten Herrenhäusern, Schiffen im Eismeer und kalten Londoner Mietswohnungen, in denen das Grauen lauert. Wohlig-schaurige Gruselstunden für die Winter-Weihnachtszeit garantiert!

  • Ho Ho Horror
  • Weihnachten mal anders: 7 erlesene Gruselgeschichten für die Adventszeit
  • Mit spannenden Texten von A.C. Doyle, D.H. Lawrence, Edith Nesbit, Lettice Galbraith und anderen
  • Originalausgabe mit einem Vorwort von Jochen Veit

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Seitenzahl: 200

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Schaurige Weihnachten

Klassische Horror- und Geistergeschichten

Ausgewählt von Jochen Veit

Neu übersetzt von Marion Herbert, Heike Holtsch und Jochen Veit

Anaconda

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Penguin Random House Verlagsgruppe FSC® N001967

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2024 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotive: Shutterstock / mashakotcur, alexrockheart, Yuli23, MaryDesy, LenaLiArt

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

ISBN 0391-9-783-64132-430-8

www.anacondaverlag.de

Inhalt

Vorwort

Amelia B. EdwardsDie Geisterkutsche

Sir Arthur Conan DoyleDer Captain der Pole Star

Hume NisbetDas alte Portrait

Lettice GalbraithDas Blaue Zimmer

Edith NesbitDas Omen des Schattens

Algernon BlackwoodDer Seesack

D. H. LawrenceWer zuletzt lacht

Quellenverzeichnis

Vorwort

Der Wind heult um den festgefrorenen Walfänger, ein einsamer Jäger verirrt sich in der nordenglischen Moorlandschaft, ein Maler verbringt den Weihnachtsabend allein in seinem Atelier, mit einem bösen Gemälde zur Gesellschaft.

Dämonen und finstere Wesen warten seit jeher in der Dunkelheit und Kälte des Winters. Man denke etwa an den Mythos von der Wilden Jagd, die Raunächte oder den Krampus. Diese Mythen haben wenig mit der Hoffnungsgeschichte des christlichen Weihnachtsfestes zu tun – und doch sind sie auf die eine oder andere Art Teil der verschiedenen europäischen Kulturen geblieben.

Im England des Viktorianischen Zeitalters ist die Tradition der weihnachtlichen Gruselgeschichte zu einem echten literarischen Subgenre geworden. Vermutlich mündlicher Erzähltraditionen entstammend wird die weihnachtliche Gruselgeschichte dank der vielen nun industriell gedruckten Zeitschriften zu einem literarischen und klassenübergreifenden Phänomen. Das Genre gehört so sehr zu Weihnachten, dass etwa Jerome K. Jerome schreibt: »Es ist gar nicht nötig, das Datum zu nennen (…) Eine Geistergeschichte spielt immer am Weihnachtsabend«. Und auch die berühmteste britische Weihnachtsgeschichte überhaupt, Charles Dickens’ »A Christmas Carol«, ist schließlich eine Geistergeschichte. Dickens dürfte zur Popularität dieser Erzählungen nicht nur als Autor, sondern auch als Herausgeber von Zeitschriften beigetragen haben.

Denn dass so viele namhafte Autorinnen und Autoren sich dem Genre zuwandten, hängt auch damit zusammen: Die zahlreichen Literaturzeitschriften der Viktorianischen Ära hatten Dezember- und Januar­ausgaben zu befüllen: Für weihnachtlichen Grusel gab es einen Markt.

Die Schauplätze der Geschichten sind dabei vielfältig, eine Lieblingsszenerie aber gibt es, nämlich Landsitze begüterter Familien. Die idealisierte viktorianische Weihnacht dürfen wir uns hier in etwa so vorstellen: Familie X lädt den weit verzweigten Kreis verwandter und befreundeter Familien für mehrere Tage auf ihren Landsitz ein. Zu verschiedenen Anlässen besucht man Bälle in benachbarten Anwesen. Und am Weihnachtstag, wenn der Trubel sich etwas gelegt hat und kleine Gesellschaften noch im Musizier- oder Raucherzimmer verweilen, erzählt man sich Gruselgeschichten; natürlich am prasselnden Kamin, natürlich bei einsetzendem Schneegestöber. Gesellschaften dieser Art finden sich bei Lettice Galbraith und Edith Nesbit. Bei Letzterer erzählen die Figuren einander die älteste hier enthaltene Geschichte (»Die Geisterkutsche«). Doch auch mit den Gaslaternen der Großstadt verschwindet der Grusel nicht aus dem englischen Leben: In Londoner Mietswohnungen kann das weihnachtliche Grauen ebenso lauern, wie Hume Nisbet und Algernon Blackwood beweisen. Der Sherlock-Holmes-Schöpfer A. C. Doyle entführt dagegen ins Eismeer. Seine Geschichte ist die einzige, die nicht direkt am Weihnachtsabend spielt. Sie passt aber auch dank Erstpublikation in einer der besagten Zeitschriften gut in die Auswahl.

An schaurigen Weihnachtsgeschichten von den britischen Inseln mangelt es wirklich nicht. Uns schenken sie bis heute die Möglichkeit, in der gemütlichen Adventszeit die kalte Düsternis draußen nicht ganz zu vergessen, ohne in sie hinaustreten zu müssen.

Da weihnachtlicher Grusel wohldosiert sein will, hier ein Wort der Warnung: Die enthaltenen Geschichten sind teils wohlig gruslig, teils echter Horror. Ersterer Kategorie würde ich Amelia B. Edwards’ »Die Geisterkutsche«, A. C. Doyles »Der Captain der Pole Star« und Edith Nesbits »Das Omen des Schattens« zuordnen. Die anderen Geschichten des Bandes: das mystisch-heidnische Weihnachtsfest, das D. H. Lawrence in »Wer zuletzt lacht« präsentiert, »Das Blaue Zimmer« von ­Lettice Galbraith, das »Alte Portrait« Hume Nisbets sowie die grausige Geschichte »Der Seesack« vom hierzulande wenig bekannten britischen Horror-Großmeister Algernon Blackwood – sie alle sollte man wohl nur in guter Weihnachtsgesellschaft oder zumindest bei voll aufgedrehtem Licht lesen.

Jochen Veit

Amelia B. Edwards

Die Geisterkutsche

Die Ereignisse, von denen ich nun berichten werde, zeichnen sich durch ihre Wahrheit aus. Sie sind mir selbst passiert, und meine Erinnerung daran ist so lebendig, als wäre es gestern gewesen. Und doch sind seit jener Nacht zwanzig Jahre vergangen. In diesen zwanzig Jahren habe ich die Geschichte nur einem einzigen Menschen erzählt. Nun erzähle ich sie mit einem Widerstreben, das ich schwer überwinden kann. Unterdessen bitte ich lediglich darum, davon Abstand zu nehmen, mir eigene Schlussfolgerungen aufzudrängen. Ich suche nicht nach Erklärungen. Ich wünsche keine Diskussionen. Meine Meinung in dieser Sache steht fest, und da ich mich auf meine eigenen Sinneseindrücke berufen kann, ziehe ich es vor, ihnen zu trauen.

Es war also vor genau zwanzig Jahren, einen oder zwei Tage vor dem Ende der Moorhuhn-Jagdsaison. Ich war den ganzen Tag mit meinem Gewehr draußen gewesen und hatte nichts Nennenswertes erlegt. Der Wind wehte gen Osten, der Monat war Dezember, der Ort ein ödes, breites Moor ganz im Norden Englands. Und ich hatte mich verlaufen. Es war kein angenehmer Ort, um sich zu verlaufen, denn gerade fielen die ersten federleichten Flocken eines heraufziehenden Schneesturms auf das Heidekraut, und der bleierne Abend brach um mich herein. Ich schirmte mir die Augen mit der Hand ab und blickte besorgt in die zunehmende Dunkelheit, wo das violette Moorland etwa zehn, zwölf Meilen in der Ferne mit einer niedrigen Hügelkette verschmolz. Nicht die zarteste Rauchfahne, nicht das kleinste bebaute Stück Land, noch ein Zaun oder Schafspfad weit und breit waren zu sehen. Mir blieb nichts anderes übrig, als weiterzugehen und zu hoffen, dass ich unterwegs irgendeinen Unterschlupf finden würde. Also schulterte ich wieder mein Gewehr und schleppte mich müde voran, denn ich hatte mich eine Stunde nach Tagesanbruch auf den Weg gemacht und seit dem Frühstück nichts gegessen.

Inzwischen begann der Schnee mit unheilvoller Beständigkeit zu fallen, und der Wind ließ nach. Dann wurde die Kälte durchdringender, und die Nacht kam schnell. Meine Aussichten verdunkelten sich mit dem dunkelnden Himmel, und das Herz wurde mir schwer, als ich daran dachte, wie meine junge Frau bereits durchs Fenster unseres kleinen Gasthauszimmers nach mir Ausschau halten würde, und mir vorstellte, wie viel Leid ihr diese beschwerliche Nacht wohl noch bringen würde. Wir waren seit vier Monaten verheiratet, und nachdem wir den Herbst in den Highlands verbracht hatten, wohnten wir nun in einem abgelegenen Dörfchen direkt am Rand der großen englischen Moorlandschaft. Wir waren sehr verliebt und natürlich sehr glücklich. Beim Abschied an diesem Morgen hatte sie mich inständig gebeten, vor der Abenddämmerung zurückzukehren, und ich hatte es ihr versprochen. Was hätte ich nicht darum gegeben, mein Wort halten zu können!

Auch jetzt noch, trotz meiner Müdigkeit, glaubte ich, nach einem Abendessen, einer Stunde Rast und einer Wegbeschreibung bis Mitternacht wieder bei ihr sein zu können, wenn ich nur jemanden treffen und irgendwo einkehren könnte.

Und die ganze Zeit über fiel der Schnee, und die Nacht verfinsterte sich. Immer wieder blieb ich stehen und rief, aber meine Rufe schienen die Stille nur noch tiefer zu machen. Dann überkam mich ein vages Gefühl des Unbehagens, und mir fielen Geschichten von Wanderern ein, die im Schneefall immer weitergegangen waren, bis sie sich vor Erschöpfung hinlegen und im Schlaf ihr Leben lassen mussten. Wäre es mir möglich, fragte ich mich, so die ganze lange, dunkle Nacht hindurch auszuhalten? Käme nicht ein Moment, in dem meine Glieder versagen mussten und meine Entschlossenheit schwand? In dem auch ich den Schlaf des Todes schlafen musste? Der Tod! Mich schauderte. Wie schwer wäre es, gerade jetzt zu sterben, wo das Leben gar so strahlend vor mir lag! Wie schwer für meine Liebste, deren ganzes liebendes Herz … doch dieser Gedanke war unerträglich! Um ihn zu verbannen, rief ich wieder, lauter und länger, und lauschte dann angestrengt. Wurde mein Rufen beantwortet, oder bildete ich mir nur ein, dass ich aus der Ferne einen Schrei hörte? Ich rief wieder, und wieder folgte das Echo. Dann kam plötzlich ein flackernder Lichtfleck aus der Dunkelheit, schwankte, verschwand, erschien dann immer näher und heller. So schnell ich konnte, rannte ich darauf zu, und stand zu meiner großen Freude bald vor einem alten Mann mit einer Laterne.

»Gott sei Dank!«, stieß ich unwillkürlich hervor.

Blinzelnd und stirnrunzelnd hob er die Laterne und starrte mir ins Gesicht.

»Für was?«, brummte er ärgerlich.

»Nun ja – für Sie. Ich hatte schon befürchtet, mich im Schnee zu verirren.«

»Tja, in dieser Gegend gehn schon hie und da mal Leute verlorn, warum solln Se dann nich auch verlorn gehn, wenn Gott es so will?«

»Wenn Gott es so will, dass Sie und ich uns zusammen verirren, Freund, dann müssen wir uns fügen«, antwortete ich, »aber ich habe nicht vor, mich ohne Sie zu verirren. Wie weit bin ich jetzt von Dwolding entfernt?«

»Gut zwanzig Meilen, mehr oder weniger.«

»Und das nächste Dorf?«

»Das nächste Dorf is Wyke, und das is zwölf Meilen zur andern Seite.«

»Und wo wohnen Sie dann?«

»Da drüben«, sagte er und schwenkte leicht die Laterne.

»Sie gehen nach Hause, nehme ich an?«

»Kann sein.«

»Dann komme ich mit.«

Der Alte schüttelte den Kopf und kratzte sich nachdenklich mit dem Laternengriff an der Nase.

»Bringt nichts«, knurrte er. »Der lässt Se nich rein – der nich.«

»Das werden wir sehen«, antwortete ich knapp. »Wer ist denn ›der‹?«

»Der Herr.«

»Wer ist der Herr?«

»Geht Se nichts an«, war die unumwundene Antwort.

»Na, na, gehen Sie mal voran, ich kümmere mich dann schon darum, dass der Herr mir heute Abend ein Dach über dem Kopf und eine Mahlzeit gibt.«

»Versuchn könn’ Se’s ja!«, murmelte mein widerwilliger Führer, und noch immer kopfschüttelnd schlurfte er gnomartig durch den fallenden Schnee davon. Bald darauf ragte etwas Großes aus der Dunkelheit auf, und ein riesiger Hund schoss wild bellend hervor.

»Ist dies das Haus?«, fragte ich.

»Jawoll, das is das Haus. Ruhig, Bey!« Er kramte in seiner Tasche nach dem Schlüssel.

Ich hielt mich dicht hinter ihm, um ja nicht die Gelegenheit zu verpassen, hineinzugehen, und sah im kleinen Lichtschein der Laterne, dass die Tür dicht mit Eisennägeln beschlagen war wie eine Gefängnistür. Eine Minute später hatte er den Schlüssel umgedreht, und ich hatte mich an ihm vorbei ins Haus gedrängt.

Sobald ich drinnen war, sah ich mich neugierig um. Ich befand mich in einer großen Eingangshalle mit freiliegenden Deckenbalken, die anscheinend verschiedenen Zwecken diente. Am einen Ende stapelte sich Getreide bis zum Dach wie in einer Scheune. Am anderen lagerten Mehlsäcke, landwirtschaftliche Geräte, Fässer und alles mögliche Gerümpel, und von den Balken oben hingen mehrere Reihen Schinken, Speckseiten und getrocknete Kräutersträußchen für die Nutzung im Winter herab. In der Mitte des Raums stand ein riesiges Objekt, das dürftig mit einem schmutzigen Stoffüberwurf bedeckt war und fast bis an die Balken reichte. Als ich eine Ecke des Stoffs anhob, sah ich zu meiner Überraschung ein Teleskop von beträchtlicher Größe, das auf einer einfachen, beweglichen Plattform mit vier kleinen Rädern befestigt war. Das Fernrohr aus lackiertem Holz wurde von groben Metallbändern zusammengehalten; der Spiegel hatte, soweit ich seine Größe in dem dämmrigen Licht einschätzen konnte, einen Durchmesser von mindestens fünfzehn Zoll. Während ich das Instrument noch betrachtete und mich fragte, ob es nicht das Werk eines Autodidakten sein mochte, klingelte laut eine Glocke.

»Das is für Sie«, sagte mein Führer mit einem gehässigen Grinsen. »Da drüben is sein Zimmer.«

Er deutete auf eine niedrige schwarze Tür auf der anderen Seite der Eingangshalle. Ich ging hinüber, klopfte ziemlich laut an und ging hinein, ohne auf eine Einladung zu warten. Ein riesiger, weißhaariger alter Mann erhob sich von einem Tisch voller Bücher und Papiere und trat streng auf mich zu.

»Wer sind Sie?«, fragte er. »Wie sind Sie hierhergekommen? Was wollen Sie?«

»James Murray, Rechtsanwalt. Zu Fuß übers Moor. Speis und Trank und ein Nachtlager.«

Er zog seine buschigen Augenbrauen zu einem unheilvollen Stirnrunzeln zusammen.

»Das hier ist kein Wirtshaus«, sagte er geringschätzig. »Jacob, wie konntest du es wagen, diesen Fremden hereinzulassen?«

»Ich hab’n nich reingelassen«, grummelte der Alte. »Der is mir übers Moor gefolgt und hat sich vor mir reingedrängelt. Mit knapp eins neunzig kann ich’s nich aufnehm.«

»Und Sie, Sir, mit welchem Recht haben Sie sich gewaltsam Einlass in mein Haus verschafft?«

»Mit demselben, mit dem ich mich auch in Seenot an Ihr Boot geklammert hätte. Dem Recht der Selbsterhaltung.«

»Selbsterhaltung?«

»Es liegt schon ein Zoll Schnee«, antwortete ich knapp; »bis Tagesanbruch wird er tief genug sein, um meine Leiche zu bedecken.«

Er trat ans Fenster, zog einen schweren schwarzen Vorhang beiseite und blickte hinaus.

»Das ist wahr«, sagte er. »Wenn es Ihnen beliebt, können Sie bis zum Morgen bleiben. Jacob, bring das Essen.«

Damit wies er mir einen Platz zu, nahm seinen eigenen wieder ein und vertiefte sich sogleich erneut in die Studien, bei denen ich ihn gestört hatte.

Ich stellte mein Gewehr in eine Ecke, zog den Stuhl an den Kamin und sah mich mit Muße in meinem Quartier um. Dieses Zimmer war zwar kleiner und weniger inkongruent eingerichtet als die Eingangshalle, enthielt aber dennoch vieles, was meine Neugier weckte. Der Fußboden war teppichlos. Die weiß getünchten Wände waren zum einen Teil mit seltsamen Diagrammen bekritzelt und zum anderen von Regalen voller wissenschaftlicher Instrumente verdeckt, deren Verwendung ich oft nicht kannte. Auf der einen Seite des Kamins stand ein Bücherschrank mit zerfledderten Folianten, auf der anderen eine kleine Orgel, die fantastisch dekoriert war mit bemalten Schnitzereien von mittelalterlichen Heiligen und Teufeln. Durch die halb geöffnete Tür eines Schranks am anderen Ende des Zimmers sah ich eine lange Reihe von geologischen Proben, chirurgischen Präparaten, Tiegeln, Destillierkolben und Glasgefäßen mit Chemikalien, während auf dem Kaminsims neben mir, zwischen mehreren kleinen Gegenständen, ein Modell des Sonnensystems, eine kleine galvanische Batterie und ein Mi­kroskop standen. Jeder Stuhl trug seine Last. In jeder Ecke stapelten sich Bücher. Sogar der Fußboden war mit Landkarten, Modellen, Papieren, Vorzeichnungen und wissenschaftlichem Gekritzel verschiedenster Arten übersät.

Mit jedem neuen Gegenstand, auf den mein Blick fiel, wuchs mein Erstaunen. Ein so merkwürdiges Zimmer hatte ich noch nie gesehen; und noch merkwürdiger erschien es, ein solches Zimmer in einem allein stehenden Bauernhaus inmitten dieser wilden und einsamen Moore zu finden! Wieder und wieder blickte ich von meinem Gastgeber zu seiner Umgebung und von seiner Umgebung zurück zu meinem Gastgeber und fragte mich, wer und was er sein mochte? Sein Kopf wirkte ausgesprochen edel, aber es war eher der Kopf eines Dichters als der eines Wissenschaftlers. Über den Augen vorstehend, mit breiten Schläfen und von einer wirren Fülle reinweißen Haars bedeckt, hatte er all die Nachdenklichkeit und viel der Schroffheit, die den Kopf Ludwig van Beethovens charakterisieren. Da waren die gleichen tiefen Falten um den Mund, die gleichen strengen Furchen auf der Stirn, der gleiche konzentrierte Gesichtsausdruck. Während ich den Mann noch musterte, ging die Tür auf, und Jacob brachte das Abendessen herein. Daraufhin schloss sein Hausherr das Buch, stand auf und lud mich mit mehr Höflichkeit, als er bisher bewiesen hatte, zu Tisch.

Mir wurden ein Teller mit gebratenem Schinken und Spiegeleiern, ein Laib dunkles Brot und eine Flasche ausgezeichneten Sherrys serviert.

»Ich kann Ihnen nur die einfachste Bauernkost anbieten, Sir«, sagte mein Wirt. »Ihr Appetit wird hoffentlich die Mängel unserer Speisekammer ausgleichen.«

Ich hatte mich bereits über das Mahl hergemacht und beteuerte nun mit der Begeisterung eines Verhungernden, noch nie etwas so Köstliches gegessen zu haben.

Er verbeugte sich steif und setzte sich, um ebenfalls sein Abendessen einzunehmen, das lediglich aus einer Kanne Milch und einer Schüssel Haferbrei bestand. Wir aßen schweigend, und als wir fertig waren, räumte Jacob das Tablett ab. Ich rückte meinen Stuhl wieder ans Feuer. Zu meiner Überraschung tat mein Gastgeber es mir gleich, wandte sich abrupt zu mir und sagte:

»Sir, seit dreiundzwanzig Jahren lebe ich hier in strenger Abgeschiedenheit. Während dieser Zeit habe ich nicht ebenso viele fremde Gesichter gesehen und keine einzige Zeitung gelesen. Sie sind seit mehr als vier Jahren der erste Fremde, der über meine Schwelle getreten ist. Würden Sie mir die Gunst erweisen, mir ein paar Worte über die Außenwelt zu sagen, aus der ich mich schon so lange zurückgezogen habe?«

»Bitte befragen Sie mich«, erwiderte ich. »Ich bin Ihnen herzlich gern zu Diensten.«

Er nickte dankend, beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Kinn in den Händen, blickte starr ins Feuer und begann, mir Fragen zu stellen.

Seine Erkundigungen bezogen sich hauptsächlich auf wissenschaftliche Gebiete, mit deren neusten Errungenschaften er, was die praktischen Anwendungen betraf, fast gänzlich unvertraut war. Da ich selbst kein Wissenschaftler bin, antwortete ich, so gut es meine dürftigen Kenntnisse zuließen, doch die Aufgabe war beileibe nicht einfach, und ich war sehr erleichtert, als er, von Befragung zu Diskussion übergehend, anfing, mir seine eigenen Schlüsse zu den Fakten mitzuteilen, die ich versucht hatte darzustellen. Er sprach, und ich hörte gebannt zu. Er sprach, bis er meine Anwesenheit vermutlich fast vergaß und nur noch laut dachte. Damals hatte ich noch nie etwas Ähnliches gehört, und ich habe auch seither nie wieder etwas Ähnliches gehört. Vertraut mit allen Systemen aller Wissenschaften, scharfsinnig in der Analyse, kühn in der Folgerung, ließ er seine Gedanken als einen ununterbrochenen Strom fließen und wanderte, noch immer vorgebeugt in derselben grüblerischen Haltung, die Augen starr aufs Feuer gerichtet, von Thema zu Thema, von Spekulation zu Spekulation wie ein erleuchteter Träumer. Von praktischer Naturwissenschaft zu intellektueller Philosophie, von der Elektrizität im Draht zur Elektrizität im Nerv, von Watts zu Mesmer, von Mesmer zu Reichenbach, von Reichenbach zu Swedenborg, Spinoza, Condillac, Descartes, Berkeley, Aristoteles, Platon und den Weisen und Mystikern aus dem Morgenland, all diese Übergänge, wie verwirrend sie in ihrer Vielfalt und Reichweite auch waren, wirkten von seinen Lippen leicht und harmonisch wie musikalische Sequenzen. Wenig später – ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang einer Mutmaßung oder Illustration – kam er auf das Gebiet, das jenseits der Grenze selbst der spekulativen Philosophie liegt und bis wer weiß wohin reicht. Er sprach von der Seele und ihren Sehnsüchten, vom Geist und seinen Kräften, von außersinnlichen Wahrnehmungen, von Prophezeiung, von den Phänomenen, die in allen Zeitaltern als sogenannte Geister, Gespenster und übernatürliche Erscheinungen von Skeptikern geleugnet und von Leichtgläubigen bezeugt werden.

»Die Welt«, sagte er, »wird stündlich skeptischer gegenüber allem, was außerhalb ihres eigenen engen Radius liegt, und unsere Wissenschaftler fördern diese fatale Tendenz. Alles, was sich einem Experiment entzieht, tun sie als Märchen ab. Alles, was sich nicht im Labor oder im Anatomiesaal überprüfen lässt, weisen sie als falsch zurück. Gegen welchen Aberglauben sonst führen sie schon so lange und erbittert Krieg wie gegen den Glauben an Erscheinungen? Und welcher Aberglaube sonst hält sich dennoch schon so lange und so fest in den Köpfen der Menschen? Nennen Sie mir eine beliebige Tatsache in der Physik, der Geschichte, der Archäologie, zu der es so zahlreiche und so vielfältige Zeugenaussagen gibt. Dieses Phänomen, das von allen Völkern der Welt bestätigt wird, in allen Zeitaltern und allen Regionen, von den nüchternsten Weisen der Antike, von den abgeschiedensten Stämmen unserer Zeit, von Christen, Heiden, Pantheisten, Materialisten, wird von den Wissenschaftlern unseres Jahrhunderts als ein Ammenmärchen behandelt. Indizienbeweise wiegen auf ihrer Waage wie eine Feder. Der Zusammenhang von Ursache und Wirkung, der zwar in der physikalischen Wissenschaft bedeutend ist, wird als belanglos und unzuverlässig abgetan. Die Aussagen kompetenter Zeugen, die zwar vor Gericht entscheidend sind, zählen nichts. Wer zögert, bevor er eine Meinung äußert, wird als Spinner verurteilt. Wer glaubt, ist ein Fantast oder ein Narr.«

Er sprach voll Bitterkeit und verfiel danach für ein paar Minuten in Schweigen. Dann hob er den Kopf von seinen Händen und fügte mit veränderter Stimme und Manier hinzu: »Ich, Sir, zögerte, untersuchte, glaubte und schämte mich nicht, meine Überzeugungen vor der Welt zu vertreten. Auch ich wurde als Träumer gebrandmarkt, von meinen Zeitgenossen verspottet und aus jenem Gebiet der Wissenschaft vertrieben, in dem ich all die besten Jahre meines Lebens ehrenhaft geforscht hatte. Diese Dinge geschahen vor genau dreiundzwanzig Jahren. Seither lebe ich, wie Sie mich jetzt leben sehen, und die Welt hat mich vergessen, wie auch ich die Welt vergessen habe. Nun kennen Sie meine Geschichte.«

»Sie ist sehr traurig«, murmelte ich, da ich nicht recht wusste, was ich antworten sollte.

»Sie ist sehr gewöhnlich«, erwiderte er. »Ich habe nur für die Wahrheit gelitten, wie schon viele bessere und weisere Menschen vor mir gelitten haben.«

Er stand auf, wie um das Gespräch zu beenden, und ging zum Fenster hinüber.

»Es hat aufgehört zu schneien«, bemerkte er, als er den Vorhang fallen ließ und zum Feuer zurückkehrte.

»Aufgehört!«, rief ich und sprang eilig auf. »Ach, wenn es nur möglich wäre – aber nein! Es ist hoffnungslos. Selbst wenn ich den Weg übers Moor fände, könnte ich nicht heute Nacht noch zwanzig Meilen laufen.«

»Heute Nacht noch zwanzig Meilen laufen!«, wiederholte mein Gastgeber. »Was fällt Ihnen ein?«

»Meine Frau«, antwortete ich ungeduldig. »Meine junge Frau, die nicht weiß, dass ich mich verirrt habe, und der jetzt gerade vor Angst und Schrecken das Herz bricht.«

»Wo ist sie?«

»In Dwolding, zwanzig Meilen entfernt.«

»In Dwolding«, echote er nachdenklich. »Ja, die Entfernung beträgt zwanzig Meilen, das ist wahr, aber – liegt Ihnen so viel daran, die nächsten sechs bis acht Stunden zu gewinnen?«

»Mir liegt so viel daran, dass ich jetzt gerade zehn Guineas für einen Führer und ein Pferd geben würde.«

»Ihr Wunsch kann zu geringeren Kosten erfüllt werden«, sagte er lächelnd. »Die Nachtpost aus dem Norden, die in Dwolding die Pferde wechselt, fährt fünf Meilen von hier vorbei und wird in etwa eineinviertel Stunden an einer bestimmten Wegkreuzung ankommen. Wenn Jacob Sie bis zur alten Kutschenstraße übers Moor begleiten würde, fänden Sie wohl bis dorthin, wo sie auf die neue trifft?«

»Sicher – sehr gerne.«

Er lächelte wieder, klingelte, gab dem alten Dienstboten seine Anweisungen, nahm dann eine Flasche Whisky und ein Weinglas aus dem Schrank, in dem er seine Chemikalien aufbewahrte, und sagte:

»Der Schnee ist tief, und es wird schwer sein, heute Nacht übers Moor zu gehen. Ein Gläschen, bevor Sie aufbrechen?«

Ich hätte den Alkohol abgelehnt, aber mein Wirt nötigte mich, also trank ich. Der Whisky rann mir durch die Kehle wie flüssiges Feuer und nahm mir fast den Atem.

»Er ist stark«, sagte er, »aber er wird Ihnen gegen die Kälte helfen. Und jetzt dürfen Sie keinen Augenblick mehr verweilen. Gute Nacht!«

Ich dankte ihm für seine Gastfreundschaft und wollte ihm die Hand schütteln, doch er hatte sich schon abgewandt, bevor ich meinen Satz beenden konnte. Eine Minute später hatte ich die Eingangshalle durchquert, Jacob hatte die Haustür hinter mir abgeschlossen, und schon waren wir draußen auf dem weiten weißen Moor.

Obwohl der Wind nachgelassen hatte, war es noch immer bitterkalt. Nicht ein Stern glomm am schwarzen Himmelsgewölbe. Nicht ein Geräusch, bis auf das rasche Knirschen des Schnees unter unseren Füßen, durchbrach die schwere Stille der Nacht. Jacob, nicht allzu froh über diesen Auftrag, schlurfte in mürrischem Schweigen voran, mit der Laterne in der Hand und seinem Schatten zu seinen Füßen. Ich folgte mit dem Gewehr über der Schulter, einem Gespräch ebenso wenig zugeneigt wie er. Meine Gedanken waren von meinem Gastgeber erfüllt. Seine Stimme klang mir noch in den Ohren. Seine Redegewandtheit hielt meine Fantasie noch gefangen. Bis heute erinnere ich mich staunend, wie mein überreiztes Hirn ganze Sätze und Satzteile behielt, eine Vielzahl brillanter Bilder und Fragmente großartiger Argumentation, in genau den Worten, in denen er sie geäußert hatte. Während ich so über das Gehörte nachdachte und mich bemühte, hier und da eine verlorene Verbindung zu rekonstruieren, folgte ich gedankenverloren und unaufmerksam meinem Führer dicht auf den Fersen. Dann – nach nur wenigen Minuten, wie es mir schien – blieb er plötzlich stehen und sagte: