Schaut nicht weg! - Stephanie zu Guttenberg - E-Book

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Stephanie zu Guttenberg

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Beschreibung

Tagtäglich passiert es – vor unser aller Augen und dennoch unbemerkt. Sexuelle Anmache und Gewalt: blitzschnell via Handy und Webcams, über das Internet schnell verbreitet. Ein Geschäft skrupelloser Geschäftemacher, denn Kinderpornografie ist lukrativ. Stephanie zu Guttenberg gibt nicht nur den Opfern eine Stimme. Sie fordert mit deutlichen Worten uns alle auf, nicht wegzuschauen und wo immer der Verdacht auftaucht, mit Zivilcourage zu handeln. Ihr persönliches Engagement kommt aus der Überzeugung: Wir alle können etwas tun. Wir sind nicht ausgeliefert, sondern können handeln. Ein mitreißendes und optimistisches Buch einer Frau, die die Welt nicht so lassen will, wie sie ist. Ein persönliches Zeugnis. Und ein Aufruf zum Handeln.

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Seitenzahl: 193

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Stephanie zu Guttenberg mit Anne-Ev Ustorf

Schaut nicht weg!

Was wir gegen sexuellen Missbrauch tun müssen

KREUZ

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-7831-8141-8

ISBN (Buch) 978-3-7831-3485-8

Einleitung – Innocence in Danger e.V.: Mein Engagement gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen

Einleitung

Innocence in Danger e.V.:Mein Engagement gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen

Vor sechs Jahren fragte eine gute Bekannte, ob ich mir vorstellen könne, mich ehrenamtlich für sexuell missbrauchte Kinder einzusetzen. Das war die ehemalige Vizepräsidentin des DRK, Soscha Gräfin Eulenburg, Vorstandsmitglied bei Innocence in Danger e.V., einem Verein, der gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in den Neuen Medien kämpft. Ich erinnere mich, dass ich als erste Reaktion ein gewisses Unbehagen verspürte. Denn sexuelle Gewalt gegen Kinder ist ein kaum erträgliches Thema, eines, dem sich wohl jeder gesunde Mensch nur ungern zuwendet. Schwerer noch wird es, wenn man selbst Mutter ist – und meine beiden Töchter waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal dem Windelalter entwachsen. Doch Soscha zu Eulenburg hatte an mich gedacht, weil ich noch jung genug war, um mit der Internetwelt gut vertraut zu sein – und alt genug, um selbst Mutter zu sein. Zudem war ich gut vernetzt und somit in einer optimalen Position, um als Vorstand für Innocence in Danger e.V. Spenden eintreiben zu können. Für den kleinen Verein waren dies wichtige Kriterien. Ich hörte also aufmerksam zu und Soscha zu Eulenburg begann, von den Fakten zu berichten: Dass in Deutschland jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder neunte bis zwölfte Junge sexuell belästigt werden, dass 80 Prozent aller sexuellen Missbrauchsfälle im sozialen Nahraum stattfinden – der Familie, der Nachbarschaft, der Schule oder dem Sportverein. Und sie erzählte mir vom Internet: wie die Entwicklung des World Wide Web der Pädokriminalität und dem Vergehen an Kindern und Jugendlichen Tür und Tor geöffnet hatte, wie Millionen Bilder von Kindern, die regelrecht gefoltert werden, seit Jahren ungehindert im Netz kursierten. Ich war schockiert und dachte immer wieder: Das kann nicht wahr sein. Doch Soscha zu Eulenburg gab mir verschiedene Studien zum Nachlesen mit und bat mich, über ihr Anliegen nachzudenken.

Ich las mich also in das Thema ein und war schnell entsetzt, wie vergleichsweise wenig ich über den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen weltweit wusste – und wie wenige Menschen es anscheinend gab, die sich aktiv für die Rechte der Opfer einsetzten. Mir wurde bewusst, dass wir mit dem sexuellen Missbrauch in unserer Gesellschaft bei weitem nicht achtsam genug umgegangen waren. Die vielen Fallgeschichten, die ich zu lesen bekam, zeigten mir, dass noch immer viel zu häufig geschwiegen und viel zu oft entsprechende Signale von Kindern nicht ernst genommen wurden. Ich las sogar, dass ein sexuell missbrauchtes Kind in Deutschland im Schnitt acht Erwachsene ansprechen muss, bis ihm endlich geglaubt wird. Die Ungerechtigkeit, die diesen jungen Opfern oft widerfährt, packte mich also sofort. Und dennoch rieten mir viele Freunde: Beschäftige dich nicht mit diesem Thema, es ist zu schlimm, du wirst es als junge Mutter nicht aushalten können. Natürlich konnte ich sie gut verstehen in ihrem Bedürfnis, mich zu schützen. Aber gleichzeitig wollte ich nicht so denken wie sie. Denn ich fand: Vom Wegschauen wird es auch nicht besser. Wenn sich nicht viele motivierte Menschen zusammentun, um mit ganzem Herzen gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern zu kämpfen, dann wird es nie besser werden. Dann wird man es nie schaffen, etwas zu verändern. Denn heute weiß man ja immer mehr darüber, welch schlimme seelische und psychobiologische Folgen sexuelle Missbrauchserfahrungen haben können. Viele Betroffene werden das erlebte Trauma nie wieder los. Es prägt sie in ihrem Liebes-, Familien- und Arbeitsleben. Die Hirnforschung hat gezeigt, dass die Traumata auch neurologische Spuren hinterlassen: Viele Betroffene verfügen nach derartigen Erlebnissen über ein geringeres Gehirnzellenwachstum, was wiederum eine biologische Prädisposition für verschiedene psychiatrische Erkrankungen begünstigt. Menschen, die als Kinder schlimme sexuelle Missbrauchserfahrungen machen mussten, sind also verwundet und müssen damit leben wie andere mit einer Kriegsverletzung. Es greift auf ihr ganzes Leben über.

Ich empfand Soscha zu Eulenburgs Anfrage also schnell als eine große Herausforderung. Die Herausforderung nämlich, mich gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern in einem professionellen Team zu engagieren, einem jungen Verein, der mir die Möglichkeit bot, mich wirklich einzubringen. Denn wenn ich etwas anfasse, dann richtig: Es interessiert mich nicht, nur meinen Namen für irgendetwas herzugeben oder hin und wieder eine Gala zu besuchen – obwohl das manchmal in der Medienberichterstattung über mich so wirken mag. Ich sagte Soscha zu Eulenburg also zu und bin inzwischen seit sechs Jahren Vorstandsmitglied und seit Februar 2009 auch Präsidentin von Innocence in Danger e.V. – eine Ernennung, die übrigens unabhängig von der politischen Karriere meines Mannes erfolgte. Denn als Karl-Theodor zu Guttenberg im Februar letzten Jahres das Amt des Wirtschaftsministers übernahm, war meine Präsidentschaft längst beschlossen. Meine ehrenamtlichen Aufgaben für Innocence in Danger e.V. sind vielfältig: Ich bin verantwortlich dafür, Projekte mit zu entwickeln und diese durchzuführen. Ich halte Vorträge und kläre Menschen auf, in Gemeinden, Städten und an Schulen. Und ich sorge dafür, dass wir genügend Gelder sammeln, denn als kleiner Verein leben wir ausschließlich von Spenden. Dafür, dass es sich um ein Ehrenamt handelt, kostet mich diese Aufgabe wahnsinnig viel Zeit – aber ich habe eine klare Vision davon, wo ich unseren Verein mit hinführen möchte, und bis dahin wird es noch viel Arbeit sein. Keine einzige Sekunde habe ich bislang bereut, diese Entscheidung getroffen zu haben. Das Vertrauen, das mir viele Kinder und Erwachsene seitdem geschenkt haben, und die vielen Menschen, denen ich helfen und die ich motivieren konnte, selbst aktiv zu werden – das alles bestärkt mich jeden Tag, weiterzumachen.

Mich motiviert außerdem, dass wir von Innocence in Danger e.V. den Opfern sexuellen Missbrauchs, mit der richtigen Unterstützung, wirklich gut helfen können. Wir sind ja nicht nur eine Lobbygruppe für die Opfer, sondern wir klären auch auf, informieren die Öffentlichkeit und arbeiten gemeinsam mit Fachleuten aus unterschiedlichen Feldern engagiert an neuen Therapiekonzepten. Manchmal hilft allein schon das Zuhören, die Erfahrung, dass den Kindern und Jugendlichen geglaubt wird. Sehr oft sind aber auch Psychotherapien vonnöten, die eine langsame und behutsame Annäherung an das häufig mit Schuldgefühlen und Scham behaftete Erlebte erst ermöglichen. Wenn ich sehe, dass wir dem einen oder anderen missbrauchten Kind mit unseren Projekten auch ein Stück Lebensfreude zurückgeben können, dann freue ich mich ganz besonders. Dreimal im Jahr richten wir Kunstwochen für traumatisierte Kinder aus – und bei diesen therapeutischen Ferien kann man sehr gut beobachten, wie die Kinder wieder aufblühen. Wir laden meist acht bis zehn traumatisierte Kinder plus Elternteile oder Pflegeelternteile an irgendeinen schönen Ort, der uns zur Verfügung gestellt wird, ein. Künstler bringen den Kindern die jeweiligen Kunsthandwerke bei und somit eine neue Form des Gefühlsausdrucks: Fotografie, Malerei oder Bildhauerei zum Beispiel. Wenn die Kinder ankommen, sieht man gleich, dass es ihnen oft nicht gut geht. Manche sind auffällig blass, wirken niedergeschlagen oder resigniert. Viele sind aggressiv, gegen sich selbst oder andere. Ein Großteil der Kinder hat massive Ängste, fürchtet sich davor, alleine rauszugehen oder einzuschlafen. Einige Kinder wirken fast autistisch, zu ihnen ist es besonders schwer, einen Kontakt aufzubauen. Andere Kinder wiederum sind fröhlich und unauffällig, tragen dann aber noch Windeln, obwohl sie vielleicht schon zehn Jahre alt sind. Man merkt einfach, dass diese Kinder seelisch beschädigt sind. Und dann verändern sie sich im Laufe der Woche: Plötzlich bekommen sie wieder rote Bäckchen, fangen an zu lachen und stürzen sich voller Elan in die Kunstproduktion. Wenn dann zum Schluss so ein Kind sagt, dass das die schönsten Tage seines Lebens waren, dann hat sich diese oft schwierige und anstrengende Auseinandersetzung mit diesem traurigen Thema wieder einmal gelohnt.

Und es motiviert mich immer wieder, dass sich in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft schon so viel verändert hat. Zwar wird sexueller Missbrauch von Kindern auch in Zukunft weiterhin in vielen Familien, Schulen, Sportvereinen und Ferienlagern totgeschwiegen werden. Aber die Tatsache, dass die Medien heute viel öfter über Missbrauchsfälle berichten, ist neu und ein großartiger Schritt in die richtige Richtung. Er demonstriert, dass die Arbeit von Organisationen und Experten Früchte trägt: Da ist plötzlich Mut zu reden. Gerade die Bekanntmachung der vielen Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und an reformpädagogischen Schulen – Canisius-Kolleg Berlin, Klosterschule Ettal, Regensburger Domspatzen, Odenwald-Schule – zeigt, dass sich Menschen mit ihrer Geschichte endlich in die Öffentlichkeit wagen. Die Gesellschaft traut sich nun, sich diesen Tabuthemen zu stellen. Inzwischen haben 22 der 27 deutschen Bistümer bekannt gewordene Missbrauchsfälle gemeldet. Das hätte es meiner Ansicht nach vor 15 oder 20 Jahren noch nicht gegeben – da wären die vielen Missbrauchsfälle eher unter den Teppich gekehrt worden – und das ist ja auch geschehen. Es ist aber dringend notwendig, dass all diese Fälle schonungslos aufgeklärt werden. Um den Opfern zu ihrem Recht zu verhelfen und um sicherzustellen, dass derartig intime und zugleich hierarchische Strukturen zukünftig verhindert werden können. Bei dieser wichtigen Debatte darf allerdings nicht untergehen – und das liegt mir am Herzen –, dass wir in Bezug auf den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in Deutschland in erster Linie kein Kirchenproblem, sondern ein Gesellschaftsproblem haben. Der schlimmste Missbrauch geschieht noch immer in den Kinderzimmern. Jeder von uns kennt Opfer im Freundeskreis, oft ohne es zu wissen. Auch mich rufen aufgrund meiner Tätigkeit immer häufiger Menschen aus meinem privaten Umfeld an, Verwandte und Freunde, die vollkommen verzweifelt sind, weil sie als Kinder missbraucht wurden und nun nicht wissen, was sie machen sollen mit diesen traumatischen Kindheitserinnerungen. Menschen, von denen ich nie gedacht hätte, dass auch sie, durch Eltern oder enge Familienfreunde, sexuellen Missbrauch erfahren haben könnten. Sexueller Missbrauch ist also viel verbreiteter, als wir wahrhaben wollen. Deshalb müssen wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen, um zu verhindern, dass sich der Mantel des Schweigens weiterhin über die vielen schrecklichen Einzelschicksale von Jungen und Mädchen ausbreiten kann.

Seit einigen Jahren bereits gibt es allerdings eine neue und dramatischere Dimension des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen: Das Internet hat der Pädokriminalität Tür und Tor geöffnet. Millionen Bilder und Videos von sexuell missbrauchten Babys, Kindern und Jugendlichen kursieren im Netz und werden zehntausendfach angeklickt und heruntergeladen. Tendenziell werden die Taten immer brutaler und auch die Opferzahlen steigen. Diese Bilder und Videos werden breit konsumiert – und die Mehrheit der Konsumenten ist nicht pädophil. Denken diese Menschen darüber nach, dass die Bilder und Videos auf ihrem Bildschirm grausame Dokumente realer Missbräuche sind? Zuhause, vor dem Rechner befinden sich viele Menschen in einer Art zweiter Realität. Und doch ist das, was sie sich dort ansehen, tatsächlich geschehen. Es ist kein gutes Gefühl, dass auch unsere Kinder sich dort im Internet tummeln, dort chatten und surfen, wo viele Täter unterwegs sind. Täter, die dort gezielt nach Kindern und Jugendlichen suchen, um ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Das Internet, so wunderbar diese Errungenschaft auch ist, macht den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen leicht.

Es ist also unendlich wichtig, dass sich auch die Politik endlich dazu durchringt, effektiv gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Internet anzugehen. Denn was die Gesetzgebung in Deutschland betrifft, liegt sehr vieles im Argen. Ein gutes Beispiel für das zaudernde Vorgehen der Bundesregierung ist die Debatte um die Sperrung von kinderpornografischen Internetseiten. Zwar hat der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler im Februar diesen Jahres das von Ursula von der Leyen vorangetriebene Gesetz zur Sperrung von kinderpornografischen Seiten im Internet unterzeichnet – doch wurde dieses Gesetz nie umgesetzt. Denn es stammte noch aus der Zeit der großen Koalition und ist mit den neuen Zielen der schwarz-gelben Regierung nicht mehr kompatibel. CDU, CSU und FDP vereinbarten zwar unlängst in ihrem neuen Koalitionsvertrag, dass betreffende Seiten nicht gesperrt, sondern gelöscht werden sollen – aber wann dies geschehen soll, das steht noch in den Sternen. Und inwieweit ein Löschen der betreffenden Seiten überhaupt möglich sein wird, ist mehr als fraglich, denn die meisten kinderpornografischen Internetseiten liegen auf ausländischen Servern. Fazit: Die Bundesregierung ist in ihrem Bemühen, gegen Kinderpornografie im Internet anzugehen, keinen Schritt vorangekommen; das neue Gesetz zur Sperrung kinderpornografischer Seiten, obwohl verfassungsrechtlich abgesegnet, wird nicht umgesetzt werden und ein neuer Gesetzesentwurf ist nicht in Aussicht. Mich macht das mehr als sprachlos. Bis heute habe ich nicht verstanden, dass unsere Informationsfreiheit dahin gehen muss, dass wir Straftaten gegen Kinder im Internet dulden. Für mich beinhaltet Zensur die Weiterleitung bestimmter strittiger Inhalte an eine staatliche Behörde zur Prüfung und Sperrung – und dagegen muss natürlich in einer Demokratie vorgegangen werden. Doch das Sperren einzelner Seiten, die einen Straftatbestand beinhalten – ist das auch schon Zensur? Es kann nicht sein, das wir in Deutschland über Gesetze verfügen, die unser allgemeines Leben regeln sollen, und dass diese Gesetze dann aber nicht fürs Internet anwendbar sind. Das Internet wird behandelt wie eine rechtsfreie Zone – de facto ist es das aber natürlich nicht!

Gleichermaßen inakzeptabel sind die deutschen Verjährungsvorschriften für sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Das Gesetz bestimmt, dass diese Straftaten bereits zehn Jahre nach Erlangung des 18. Geburtstags des Opfers verjähren. Nur in besonders schweren Fällen verjährt die Straftat nach 20 Jahren. Wie lange die Strafverfolgungsbehörden den Täter belangen dürfen, hängt daher vom Alter des Opfers ab. Wird ein Kind bereits als Baby schwer missbraucht, beginnt die 20-jährige Verjährungsfrist nach 18 Jahren an zu laufen. Der Täter kann folglich 38 Jahre belangt werden. Anders liegen die Dinge im Fall eines 14-jährigen Kindes, das von seinen Betreuern belästigt wird: Bis zum 18. Geburtstag vergehen in diesem Fall gerade einmal vier Jahre, und auch die reguläre Verjährungsfrist ist nur halb so lang wie in Fällen schweren Missbrauchs – das Opfer müsste also bis zu seinem 28. Geburtstag Anzeige erstatten. Tut es dies nicht, haben die Behörden bereits 14 Jahre nach der Tat keine Handhabe mehr. Das ist ein verheerendes Zeichen für die Opfer sexuellen Missbrauchs in Deutschland. Denn die meisten Betroffenen haben ja erst viel später den Mut, sich diesen schrecklichen Erlebnissen zu stellen – das ist aktuell bei den vielen Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche zu beobachten. Und auch ich bekomme in meiner Funktion als Präsidentin von Innocence in Danger e.V. häufig Briefe von alten Menschen, die sich mir zum Ende ihres Lebens anvertrauen und sagen, sie konnten ihr Leben lang nicht darüber sprechen. Menschen leben nach solchen Erfahrungen meist in Scham und geben sich bis zum bitteren Ende die Schuld für diese Ereignisse. Und selbst wenn die Täter innerhalb des vorgesehenen Zeitraums belangt werden sollten, dann wandern sie nur selten für längere Zeit ins Gefängnis: Steuerhinterzieher müssen in unserem Land oft mehr Zeit absitzen als pädokriminelle Täter. Was für eine Ungerechtigkeit den Opfern gegenüber! Die Rechtsprechung hierzulande lässt also noch viel zu wünschen übrig. Doch wir können es nicht länger hinnehmen, dass unsere Kinder davor nicht geschützt werden! Deshalb rufe ich alle Leser und Leserinnen auf, mit mir an einem Strang zu ziehen. Wenn wir es schaffen, immer mehr Menschen für den Kampf gegen sexuellen Missbrauch im Internet zu mobilisieren, kann sich viel verändern – dann müssen auch die Politiker reagieren! Das muss unser Ziel sein. Denn die größte Macht, Dinge zu verändern und entsprechende Gesetzesentwürfe vorzulegen, hat am Ende doch der Staat.

Auf den folgenden Seiten möchte ich nun beleuchten, wie und wo sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft stattfindet. Ich möchte zeigen, wer die Täter sind, welche Strategien sie anwenden und wie wir die Opfer schützen können. Ich möchte Hilfestellung bei der Aufdeckung der Taten geben und neue Therapieansätze für betroffene Kinder und auch längst erwachsene Opfer vorstellen. Außerdem werde ich demonstrieren, welche Gefahren das Internet als scheinbar anonymer und rechtsfreier Raum für Kinder und Jugendliche bereithält: Denn immer wieder werden Jugendliche im Netz »angemacht« und via Chat, Webcam oder Handy zu Opfern sexueller Gewalt oder Ausbeutung. Auch das erschreckende Ausmaß von Kinderpornografie im Internet will ich näher beleuchten, um zu zeigen, welches Geschäft mittlerweile dahintersteckt. Und nicht zuletzt unsere Gesellschaft möchte ich genauer unter die Lupe nehmen. Haben die vielen Missbrauchsskandale an Einrichtungen der katholischen Kirche und Reformschulen wie der Odenwaldschule wirklich das Potenzial, auf politischer Ebene Veränderungen herbeizuführen? Was muss da noch getan werden? Und trägt nicht auch unsere Mediengesellschaft eine Mitschuld daran, dass heute viele Kinder und Jugendliche immer weniger in der Lage sind, ihre persönlichen Grenzen zu wahren? Es liegt also noch vieles im Argen. Was Innocence in Danger e.V. dagegen tut und was wir alle – Eltern, Lehrer, Erzieher und auch Politiker – dagegen tun können, möchte ich auf den kommenden Seiten zeigen. Natürlich wird es sexuellen Missbrauch immer geben, da müssen wir uns nichts vormachen. Dass betroffene Kinder aber mit ihren schrecklichen Erfahrungen nicht alleine bleiben müssen – daran können wir gemeinsam arbeiten! Und dazu soll dieses Buch beitragen.

Teil I – »Ich habe ihm doch vertraut«: Was wir gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern tun können

Teil I

»Ich habe ihm doch vertraut«:Was wir gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern tun können

Kapitel 1 – »Täter erkennen, Kinder schützen«: Was sexueller Missbrauch ist und welche Präventionsmöglichkeiten es gibt (Fachliche Beratung: Sabine Dietrich)

Kapitel 1

»Täter erkennen, Kinder schützen«: Was sexueller Missbrauch ist und welche Präventionsmöglichkeiten es gibt

In meiner Funktion als Präsidentin von Innocence in Danger e.V. erhalte ich viele Briefe. Mir schreiben Männer und Frauen jedweden Alters, die als Kinder Opfer sexueller Gewalt wurden. In ihren Briefen erzählen sie mir ihre Geschichten und beschreiben, wie ihr Leben aufgrund des Missbrauchs verlaufen ist. Die meisten von ihnen sind auch heute noch stark geprägt von ihren kindlichen Erlebnissen. Viele haben das Gefühl, ihr Leben infolge der Taten nicht so führen zu können, wie sie es sich aufgrund ihrer Begabungen vielleicht gewünscht hätten. Eine große Anzahl gibt auch an, unter Bindungsstörungen zu leiden, arbeitsunfähig oder auch schwer krank zu sein. Und doch verlangen diese Briefeschreiber nicht von mir, dass ich mich ihres Schicksals annehme oder mich bei ihnen melde – nein, sie wollen lediglich erzählen, was ihnen zugestoßen ist. Denn bis heute haben viele dieser Menschen noch mit niemandem über ihre Kindheitserlebnisse gesprochen. Oft aus Angst, dass ihnen noch immer keiner glaubt, wie damals als Kind. »Ich wünsche mir so, dass ich jemanden wie Sie an meiner Seite gehabt hätte. Jemanden, der mir glaubt, der mir zuhört, der weiß, wovon ich rede. Der sich für mich einsetzt und mich unterstützt«, schrieb mir eine Frau in ihren Zwanzigern. Anfang dieses Jahres etwa erhielt ich sogar einen Brief von einer 87-jährigen Frau, fein säuberlich mit der Schreibmaschine getippt. Sie hatte in der Zeitung einen Artikel über einen Vortrag von mir gelesen. »Da kam das ganze Drama wieder hoch, was mir als 7-jähriges Kind sexuell angetan wurde«, schrieb sie. »Sprechen konnte ich über die Untat aber mit niemandem. Doch mit 87 steh ich jetzt praktisch am Rande des Grabes und konnte mir das nun von der Seele schreiben. Bei ihnen ist es gut aufgehoben. Weil ich mich noch immer schäme, obwohl ich ja nichts dafür konnte.« Diese Briefe stimmen mich zugleich traurig und froh. Traurig, weil diese Menschen Furchtbares durchgemacht haben und noch heute seelisch so beschädigt sind. Froh, weil ihre Unterstützung eine riesengroße Ermutigung ist, unsere Arbeit bei Innocence in Danger e.V. weiterhin mit voller Kraft voranzutreiben. Denn junge Opfer sexuellen Missbrauchs brauchen dringend unsere Hilfe – eben damit sie nicht wie viele meiner Briefeschreiber dazu verdammt sind, lebenslang unter den Folgen der Gewalt zu leiden.

Laut Statistik einer renommierten deutschen Beratungsstelle macht etwa jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder neunte bis zwölfte Junge mindestens einmal vor seinem 18. Lebensjahr eine sexuelle Gewalterfahrung, die der Gesetzgeber als sexuellen Missbrauch, exhibitionistische Handlung, Missbrauch von Schutzbefohlenen, sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung unter Strafe gestellt hat. Doch was genau ist überhaupt sexueller Missbrauch? Der Begriff ist spätestens seit den vielen Skandalen in Bildungseinrichtungen hierzulande wieder in der Öffentlichkeit. Die Medien schreiben häufig darüber und auch in Talkshows wird immer wieder mit dem Begriff hantiert. Doch was sexueller Missbrauch wirklich umschreibt, das wissen nur die wenigsten. So denken viele Menschen noch heute, dass sexueller Missbrauch zwangsläufig den Tatbestand der Vergewaltigung beinhaltet. Doch das ist zu kurz gegriffen: Beim sexuellen Missbrauch steht die Vergewaltigung häufig erst am Ende eines länger andauernden Prozesses. Denn sexueller Missbrauch beginnt oft schon mit aufgezwungenen Küssen und Berührungen und steigert sich dann zu verschiedenen Formen der Vergewaltigung. Es gibt allerdings auch Formen sexueller Gewalt, bei denen es nicht zwangsläufig zu Berührungen zwischen Tätern und Opfern kommen muss. Dazu gehört zum Beispiel das Herstellen von kinderpornografischem Material ebenso wie das Anschauen von Pornofilmen zusammen mit Kindern. Auch die einmalige Begegnung mit einem Exhibitionisten ist eine Form von sexuellem Missbrauch, bei der es aber nicht zu Berührungen kommt.

Das Gesetz unterscheidet also folgerichtig zwischen verschiedenen Formen und Schweregraden von sexuellem Missbrauch. Zum Beispiel: Sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176 Strafgesetzbuch), Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176a Strafgesetzbuch), Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung (§ 177 Strafgesetzbuch), Verbreitung, Erwerb und Besitz von kinderpornografischen (§ 184b Strafgesetzbuch) beziehungsweise jugendpornografischen (§ 184c Strafgesetzbuch) Schriften. Diese Unterscheidungen sind wichtig für die Festlegung des Strafmaßes und der Verjährungsfristen. Für die Betroffenen spielen sie aber selten eine Rolle, denn es ist nicht möglich zu sagen, welche Form von sexuellem Missbrauch schlimmer für die Betroffenen ist oder sich gravierender auswirkt. Wir wissen inzwischen, dass sich jegliche Form sexuellen Missbrauchs traumatisierend auf die Opfer auswirken kann. Denn das Ausmaß der seelischen Folgen ist von vielen Faktoren abhängig: vom Alter des Kindes, als der sexuelle Missbrauch begann, von der Vertrautheit des Kindes mit dem Täter vor dem Missbrauch, von der Anwendung weiterer Formen von Gewalt zusätzlich zu den sexuellen Handlungen, von der Reaktion der Umwelt des Kindes auf die Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs und noch von vielen anderen Faktoren.

»Sex als Waffe«: Warum es beim sexuellen Missbrauch von Kindern weniger um Perversion als um Macht geht

Hinter dem sexuellen Missbrauch von Kindern verbirgt sich nur selten eine pervertierte Sexualität. Vielmehr kann sexueller Missbrauch als eine Form von Gewalt betrachtet werden, bei der sich die Täter als Waffe die sexuellen Handlungen auserwählt haben – etwa so, wie sich ein Messerstecher als Mittel zur Gewalt sein Messer auserwählt hat. Denn zum sexuellen Missbrauch gehört immer ein Machtgefälle. Stets ist der Täter viel mächtiger als sein Opfer: mächtiger etwa aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit (zum Beispiel beim sexuellen Missbrauch von behinderten Menschen oder Kindern), mächtiger aufgrund seiner geistigen Überlegenheit (zum Beispiel beim sexuellen Missbrauch von Kleinkindern oder geistig behinderten Menschen) oder mächtiger aufgrund seiner beruflichen Position (beispielsweise in seiner Rolle als Lehrer/-in, Ausbilder/-in, Trainer/-in, Stiefelternteil oder leibliches Elternteil). Dabei interessiert es die Täter in keiner Weise, ob ihre Machtgelüste den Bedürfnissen der betroffenen Kinder und Jugendlichen entgegenstehen oder sogar schaden. Im Gegenteil: Es stellt für sie einen Kick dar, andere Menschen dazu zu bringen, Dinge zu tun, die diese nicht wollen. Sie fühlen sich gut, wenn sie jahrelang Kinder sexuell missbrauchen können, ohne dass jemand Verdacht schöpft oder Hinweise der Kinder ernst nimmt. Das Thema sexueller Missbrauch gehört also genauer genommen weniger in den Themenbereich »Sexualität« als in den Themenbereich »Gewalt« und »Umgang mit Grenzen«.