Scheidungsväter - Gerhard Amendt - E-Book

Scheidungsväter E-Book

Gerhard Amendt

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Beschreibung

Heute wird fast jede zweite Ehe geschieden, in mehr als der Hälfte davon gibt es Kinder. Zumeist leben die Kinder dann bei der Mutter, während Väter häufig um die Zeit mit ihren Kindern kämpfen müssen: Doch dieser Kampf lohnt sich, denn Kinder brauchen ihre Väter, so wie Väter ihre Kinder.

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Amendt, Gerhard

Scheidungsväter

Wie Männer die Trennung von ihren Kindern erleben

www.campus.de

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2006. Campus Verlag GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de

E-Book ISBN: 978-3-593-40288-8

|7|Vorwort

Über die Erfahrungen von Scheidungsvätern und von Vätern nach einer Trennung wissen wir nur wenig – und das wenige, das wir zu wissen glauben, ist nicht selten von Vorurteilen geprägt. In einer groß angelegten Väterstudie am Institut für Geschlechter- und Generationenforschung der Universität Bremen haben wir uns deshalb zum Ziel gesetzt, was auch in der Wissenschverabsäumt wurde: unvoreingenommen anzuhören, was Männer über ihre Probleme als Scheidungsväter zu berichten haben. Was wir herausgefunden haben, wird viele veraft bisher wundern. Auch uns hat es verwundert. Wir hoffen, dass die Einblicke in die Welt von Scheidungsvätern aber nicht nur Erstaunen auslösen, sondern auch den Willen stärken, mit Scheidungs- bzw. Trennungskonflikten generell offener umzugehen. Der in diesem Buch verwendete Begriff »Scheidungsväter« bezieht also auch Männer ein, die mit der ehemaligen Partnerin ein Kind oder mehrere Kinder haben, mit ihr aber nicht verheiratet waren oder noch sind.

An dieser Stelle sei dem Mäzen für die Finanzierung des mehrjährigen Projektes gedankt. Sein Wunsch nach mehr Aufmerksamkeit für Scheidungsväter wie Scheidungskinder hat diese Studie überhaupt erst möglich gemacht. Nicht weniger sei den über 3.600 Männern gedankt, die durch ihre mündlichen und schriftlichen Auskünfte die Studie unterstützten. Wenn sie sich und ihre Kinder in den Interviews nicht wiedererkennen oder vergeblich nach ihrer Exfrau Ausschau halten, so war unser Versuch erfolgreich, ihre Identität wirksam zu schützen. Alle Namen sowie Alters-, Berufs- und Ortsangaben wurden von uns geändert, Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind deshalb zufällig. In ihrer Individualität, ihren Erfolgen und Niederlagen, ihren leidvollen und beglückenden Erfahrungen sind jedoch alle, die hier zu Wort kommen, dieselben geblieben.

|8|Dank und Anerkennung gebührt dem Projektteam am Institut für Geschlechter- und Generationenforschung der Universität Bremen: Annette Rossalidis-Adamek für die Leitung der textanalytischen Interviewbearbeitung und Susanne Borchers-Tempel für die statistische Auswertung. Dank auch den Psychoanalytikern Dr. Michael Diercks in Wien und Dr. Michael Szonn in Bremen, die die Supervision unseres Arbeitsprozesses übernommen haben. Ganz besonderer Dank gilt meiner Frau, Dr. Nancy Amendt-Lyon, die neben den alltäglichen Erörterungen zu Aspekten dieses Buches mich im Hinblick auf die schwierigen Gedanken im Abschlusskapitel darauf verwies, dass nicht die Erkenntnis der Wahrheit als solche zählt, sondern allein die Art, wie sie vermittelt wird. Denn wozu taugt Erkenntnis, wenn sie so dargestellt wird, dass sie abschreckt statt aufzuklären?

|9|Einleitung

Warum Männer über ihre Geheimnisse sprechen

Über 3.600 Scheidungsväter waren erstaunlicherweise bereit, über belastende und nicht selten schwer verletzende Erfahrungen bereitwillig Auskunft zu geben. Erklärt wird das gern damit, dass sich Männer während der vergangenen dreißig Jahre verändert hätten und deshalb offener über Gefühle sprechen könnten. Doch obwohl Männer sich tatsächlich verändert haben, ist die Erklärung nicht überzeugend. Sie weist eher auf die Verkennung der männlichen Psyche und auf Mythen über sie hin, die an die Stelle einfühlsamer Wahrnehmungen und Deutungen von Männlichkeit getreten sind. Männer waren vielmehr, das ist die Gegenthese, schon immer bereit, über ihre Gefühle zu sprechen, eben auf männliche Weise, nur war die Öffentlichkeit nicht gewillt, ihnen zuzuhören. Niemand äußert sich aber gern über schmerzliche Erfahrungen, wenn er auf taube Ohren stößt. Vor allem wird er nicht über Erlebnisse sprechen, die das Selbstwertgefühl kränken und seine Leistungsfähigkeit infrage stellen. Wer macht sich schon gerne zusätzlich verletzbar?

Wer sich auf das männliche Selbstwertgefühl verlässt und obendrein sein eigenes Leben auf die männliche Leistungskraft baut, wie das für Frauen im klassischen Geschlechterarrangement noch immer typisch ist, wird nicht hören wollen, was sie in ihrem Glauben verunsichern könnte. Anlehnungsbedürftigen Frauen entzieht das die psychischen und sozialen Gewissheiten, auf die sie nicht verzichten wollen. Die »Schwäche der Männer« ist ein Nachteil für die, die auf »starke Männer« angewiesen sind und auf sie bauen. Männer reden so lange nicht über ihre Schwächen, wie sie Gefahr laufen, unter Enttäuschten Verachtung zu provozieren. Wer über Schwierigkeiten sprechen will, wird das nur tun, wenn |10|er sicher sein kann, dass seine Schwäche akzeptiert und sein schwankendes Selbstbewusstsein nicht mit Häme verfolgt wird.

Viele Frauen haben im ausgehenden letzten Jahrhundert, ermutigt von der Frauenbewegung, damit begonnen, offen über ihre Gefühle, Leidenschaften, unerfüllten Wünsche und sexuellen Phantasien zu sprechen und sogar ihre Neigung zu Handgreiflichkeiten gegenüber Kind und Partner an Nachfragende preiszugeben. Solche Bekenntnisse geschahen freilich nicht nur aus persönlichem Mut, sondern sie wurden von einer Öffentlichkeit auch dazu ermutigt, die auf einmal bereit war ihnen zuzuhören, ohne sie zu beschämen, sie zu verhöhnen oder sich irritiert von ihnen abzuwenden. Das traf auf die Familie, die Gemeinde, die Parteien, den Betrieb, die Wissenschaft und die Medien zu. Was Frauen früher schamhaft verschwiegen hatten, war auf einmal hörenswert und diskussionswürdig. Nicht zuletzt ist daraus auch die neue Frauenliteratur hervorgegangen.

Im Gefolge der 68er-Bewegung hat die moderne Frauenbewegung Frauen als historische Subjekte entworfen, denen sie große Fähigkeiten für die Gestaltung des eigenen wie des gesellschaftlichen Lebens wie selbstverständlich zutraute. Vom prekären politischen Genuss, ein weibliches Opfer zu sein, das von Tätern und Bösewichten überall umstellt ist, wollte sie anfangs rein gar nichts wissen.1 Aber ein starker Trend im später sich anschließenden Feminismus hat Frauen dagegen zu Opfern dunkler Mächte stilisiert, was niemand so recht voraussehen konnte. Gewollt oder nicht, das Reden von Frauen über Privates wurde in die ungefragte Mitgliedschaft in den weltumspannenden Kreis der Frauen als universelle Opfer verwandelt. So wurde weniger dem Mut und der Aktivität von Frauen Lob gezollt, als die Bereitschaft anerkannt, sich mit der zugewiesenen Opferrolle zu identifizieren.

Ein vergleichbares Schicksal ist Scheidungsvätern nicht zu wünschen, und die meisten von ihnen werden trotz diskriminierender Erfahrungen im Scheidungsverlauf nicht dazu neigen, sich selber als Opfer zu stilisieren oder sich ungefragt von anderen dafür ausgeben zu lassen. Das weist auf die gattungsgeschichtliche Rolle der Männer hin, deren zupackende Aktivität zuvörderst außerhalb der Familie von Bedeutung war. Krieg, Gewalt und die ewige Geschichte von verlustreichen Versuchen, die Natur auf den Meeren, in den Bergwerken, den Fabrikhallen oder in der Luft zu beherrschen, hat der Identifikation der Männer mit |11|dem Selbstbild, ein Opfer zu sein, weitgehend jeden verführerischen Reiz geraubt, denn die Bedrohung war so real wie der Tod. Sie waren teilweise die wirklichen, zumeist aber nur die vermeintlichen Akteure der Geschichte – vor allem außerhalb des Hauses und der Familie. Aber es gibt auch Männer, die der Passivität, die dem Opfer zugestanden wird, etwas Reizvolles abgewinnen können.2

In unserer Studie wollten wir deshalb die der Öffentlichkeit unbekannten Gefühle in Erfahrung bringen, die für Männer mit der Scheidung, der Besuchsregelung, mit den eigenen wie den Handgreiflichkeiten der Partnerin, mit psychischen wie körperlichen Erkrankungen und mit Unterhaltsstreitigkeiten verbunden waren. Das sind die Dimensionen scheidungsväterlicher Erfahrung, die in Gesellschaft und Politik fast gänzlich auf Desinteresse gestoßen sind, weil bestimmte Klischees von Männlichkeit den Blick auf die Realität von Männern verstellen. Wir wollten beim Namen nennen, was allgemein tabuisiert wird, und richteten unser Augenmerk auf das, was hinter der erzwungenen wie zugleich freiwilligen Heldenfassade in Männern ebenso anzutreffen ist: Schwäche, Selbstzweifel, Enttäuschung, Unsicherheit und auch der Wunsch, ebenfalls passiv sein zu können, ohne sich deshalb der Frau unterwerfen zu müssen. Wer Schambesetztes im Leben von Männern anerkennt, ohne mit Verachtung zu reagieren oder mit Ordnungsrufen, sich nicht zimperlich zu geben und seinen Mann wie gewohnt zu stehen, der trifft auf Gesprächsbereitschaft und verschüttete Gefühle. Mithilfe detaillierter Fragebögen, die eine Vielzahl von Zuordnungsmöglichkeiten und frei verfassten Kommentierungen boten, gelang es uns über einen Zeitraum von anderthalb Jahren, große Teile dieser Skala von verschütteten Erfahrungen aufzuzeichnen.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit alltäglichen Erfahrungen von Männern ist nicht nur ungewöhnlich, sie stößt auf Skepsis und mitunter schroffen Widerspruch. Wer deshalb über Scheidungsväter forscht, stößt eher auf Mythen über sie denn auf unvoreingenommene Identifikation mit deren innerer Wirklichkeit. Für eine Gruppe von Männern trifft das jedoch immer seltener zu. Es sind geschiedene Väter, die sich immer heftiger gegen die Vereinnahmung durch Geschlechterklischees zur Wehr setzen. Darüber hinaus beschreibt es eine Tendenz vor allem unter jungen Männern. Mit unseren Forschungsergebnissen wollen wir diesen Wandel vorantreiben und Erfahrungsberichte bereitstellen, |12|die die Mythen über Männer mit deren Realität konfrontieren. Wir sind nicht nur zuversichtlich, sondern wir sehen es tagtäglich, dass Scheidungsväter anders wahrgenommen werden, als das vor wenigen Jahren noch üblich war. Und wer Scheidungsväter anders wahrnimmt, der muss auch Scheidungskinder anders sehen. Denn die einfühlsame Sicht auf Scheidungsväter lebt davon, dass das kindliche Bedürfnis, den Vater nicht zu verlieren, zuvor anerkannt wurde. Selbstverständlich ist diese Anerkennung aber noch lange nicht.

Eine groß angelegte Befragung nur von Männern zu ihren Scheidungserfahrungen muss freilich mit einem mächtigen Einwand rechnen. Er richtet sich gegen die Zuverlässigkeit der Befragung und lautet: »Das sagen aber nur die Männer! Was sagen die Frauen eigentlich dazu?« Dieser Einwand, der ernst genommen zu werden verdient, setzt gewissermaßen voraus, dass keine Forschung über Scheidungsväter wahr sein kann, solange Frauen nicht nach ihren Erfahrungen ebenfalls befragt worden sind. Möglicherweise schwingt sogar die Vorstellung mit, dass Männer sich rausreden und lügen, wenn sie befragt werden, womit wiederum Klischees beschworen werden. Nichtsdestotrotz bleibt der Einwand berechtigt, denn es lag in unserer Absicht, nur Männer zu befragen. Aber ist das ein gewichtiger Einwand gegen unsere Forschung? Wir begründen unsere Fokussierung auf Scheidungsväter eben keineswegs damit, dass jahrzehntelang über sie nicht geforscht wurde, weil männliche Lebenswelten jenseits des Arbeitsprozesses niemanden so recht interessierten, und dass jetzt gewissermaßen die nachholende Gerechtigkeit einsetzen müsse. Wir erheben auch nicht den Anspruch, dass unsere Forschung von Einseitigkeit gezeichnet sein dürfe, weil das vor dem Hintergrund geschehenen Unrechts einfach hinzunehmen sei. Das hätte nichts mit Wissenschaft, sondern mit Selbsttäuschung zu tun.

Der Einwand gegen das Projekt der Männerforschung scheint von prinzipieller Art zu sein, denn er unterstellt, dass Scheidungsväter keine wahren Erfahrungen machen können, weil ihre Wahrheit erst »stimmt«, wenn die Ehefrauen oder Partnerinnen ebenfalls angehört wurden. Sie müssen gewissermaßen als Bürgen gegenzeichnen, damit männliche Aussagen an Glaubwürdigkeit gewinnen. Ohne Zweifel ist es sinnvoll, ja geradezu wünschenswert, beide Geschiedene anzuhören, denn erst beider Einsicht zum Scheidungsablauf kann das Bild der Geschehnisse vervollständigen. Sowohl in Deutschland als auch in den USA wurde |13|sehr zum Nachteil der Relevanz von Scheidungsforschung bislang diese Perspektive fast gänzlich außer Acht gelassen.

Wenn man wie wir auf diese Vorgehensweise verzichtet, heißt das nicht, dass man an der Wahrheit vorbeischlittert. Wäre es so, dann wären bereits aus diesem Grund die zahlreichen Forschungen über geschiedene Frauen und Mütter wie über Gewalterfahrungen von Frauen in der Partnerschaft aus den vergangenen Jahrzehnten allesamt an der Realität vorbeigeschlittert. Denn damals wurden die Männer nicht angehört. Es sei denn, man unterstellte, dass Frauen in Beziehungsfragen wahrheitsgemäß für beide aussagen können, nicht jedoch Männer. Es bleibt also bei der einfachen, erkenntnistheoretisch jedoch bedeutsamen Frage: Können Männer die Wahrheit gesagt haben, als sie nach ihren Erfahrungen befragt wurden? Die simple Antwort ist: ja. Und sie gilt auch für Frauen. Etwas anderes hingegen ist es, wenn persönliche Aussagen von politischen Bewegungen oder der Wissenschaft zu generellen Aussagen verarbeitet werden. Hier werden dann persönliche Aussagen in den Dienst von Ideologien gestellt.

Hinter dem genannten Einwand gegen unser Projekt steckt, wenn wir politische Motive fürs erste außer Acht lassen, die sehr komplizierte Frage, was Wirklichkeit denn eigentlich ist und wie sie zustande kommt. Diese wichtige Frage möchte ich ganz einfach beantworten: Was ein Mensch für wahr hält, das ist seine Realität. Und seiner Realität entsprechend wird er sich fühlen und handeln, sei es gut oder schlecht, befreit oder unterdrückt, glücklich oder unglücklich. Wenn jemand sagt, er sei unglücklich, dann lügt er nicht. Er bringt zum Ausdruck, wie er sich fühlt. Er handelt diesem Zustand gemäß, wenn er alles Erdenkliche tut, um sein Unglück hinter sich zu lassen. Sagt jemand, dass er glücklich sei, dann wird er danach trachten, diesen Zustand so lange wie möglich beizubehalten. Das sei an zwei polarisierenden Beispielen dargestellt. Ein Ehemann, der seine Frau für einen Engel hält, wird sie als Engel behandeln und voller Glückseligkeit betrachten. Eine Ehefrau, die ihren Mann für einen Teufel hält, wird ihn als Teufel fürchten und ihn voller Schrecken wahrscheinlich meiden. Es sei denn, sie ist eine Masochistin und bleibt bei ihm.

Doch die Wirklichkeit, dass ein Mann seine Frau für einen Engel hält und eine Frau ihren Mann für einen Teufel, ist grundsätzlich durch neue Erfahrungen und überzeugende Einwände veränderbar. Wenn der |14|Ehemann seinem Freund die eigene Frau als Engel beschreibt, so wird er höchstwahrscheinlich von ihm darüber belehrt werden, dass es keine Engel gibt, seine Frau demnach keiner sein kann, und dass seine Gefühle etwas Übertriebenes haben, was mit der bekanntermaßen blind machenden Liebe zu tun haben könnte.

Beschreibt andererseits eine Frau ihrer Freundin den eigenen Mann als Teufel, so wird die Freundin sie darüber belehren, dass es keine Teufel gibt, der Mann also keiner sein kann, und dass ihre Gefühle etwas Übertriebenes haben, was möglicherweise damit zu tun hat, dass enttäuschte Liebe bekanntermaßen blind für die Vorzüge einer Person machen kann.

Beide werden vermutlich, wenn sie lange genug mit klugen Freunden oder mit einem Psychotherapeuten darüber geredet haben, einsehen, dass sie ihre Sichtweise aufgeben müssen, weil sie der kritischen Prüfung nicht standhält. Sie werden buchstäblich dazulernen. Vorstellbar ist aber auch, dass sie in ihrem Urteil verharren und die anderen sich von diesen hoffnungslosen Fällen, die von Blindheit für die Wirklichkeit geschlagen sind, kopfschüttelnd abwenden.

Nicht selten sind aber auch die Zuhörer dieser Sichtweise verhaftet und betreiben nur zu gern selbst die Polarisierung in Schuld und Unschuld, Gut und Böse. Es ist leichter erträglich, die eigene Anschauung durch die Erzählungen anderer bestätigt zu wissen, als sich durch Zweifel irritieren zu lassen.

Wenn ein geschiedener Vater seinen Schmerz darüber beschreibt, dass er seine Kinder nicht mehr so oft sehen kann, wie er das möchte, so stellt das seine Wirklichkeit dar, an der er leidet und die ihm sein Leben vergällt. Eine ganz andere Frage ist, ob seine Exfrau ihm das glaubt oder ihn einen Lügner und Heuchler nennt. Sie mag das auf ihre Weise sehen und damit zum Klischee über Scheidungsväter beitragen. An seiner Wahrheit und Wirklichkeit ändert das jedoch nichts. Solche Wahrnehmungsunterschiede sind im Übrigen typisch für Geschiedene. Sie sind Ausdruck der Sprachzerstörung, die zwischen ihnen herrscht.

Denkbar ist auch, dass die geschiedene Partnerin die Trauer ihres Exmannes über die Trennung wahrnimmt und seinen Schmerz nachvollziehen kann. Beide stimmen dann in der Einschätzung der Gefühle des anderen überein. Sie haben die Gemeinsamkeiten wie das einfühlende Verstehen des anderen aus der guten Zeit nicht abgewertet und |15|dem Vergessen nicht anheim gestellt. Das wird häufiger vorkommen als in den in diesem Buch geschilderten Geschichten. Denn wer seine Scheidung halbwegs zufriedenstellend bewältigt, hat geringeren Anlass, zu einer Studie wie dieser beizutragen, als jemand, der damit eine bedrückende Zeit von kurzer oder langer Dauer in seinem Leben verbindet – zumal das Glück nicht der Bestätigung durch die Forschung bedarf, das Unglück jedoch der Hilfe durch sie. Und zum anderen glauben wir, aus den Konflikten anderer mehr lernen zu können als aus den Bedingungen, unter denen sie glücklich sind.

Wir haben Väter nach einer Scheidung befragt, weil wir ihre Wahrheit kennen lernen wollten und weil sich anders die Beziehung zu ihren Kindern, die nach der Trennung der Eltern schweren Belastungen ausgesetzt sind, nicht verstehen lässt. Wir haben ihre Wahrheit gesucht, ohne ihren ehemaligen Partnerinnen – sei das Paar verheiratet gewesen oder nicht – deshalb Unrecht tun zu wollen. Das ist möglich, wenn aus der Wahrheit der Männer nicht umstandslos auf ihre Expartnerinnen geschlossen und ihnen nicht reflexartig die Schuld am Elend ihrer Männer zugewiesen wird. Und so wenig wie für das Elend der Männer die Ursachen allein bei den Frauen zu finden sind, so wenig sind diese allein verantwortlich für gesittet verlaufende Trennungen. Glück und Elend kennen beide als Handelnde, auch wenn die Sicht der beiden darauf weit auseinander klaffen kann.

Wir haben den Scheidungsvätern in kritischer Solidarität gegenübergestanden und sind ihrer Wahrheit mit großem Respekt, mit Sorgfalt und Einfühlsamkeit begegnet. Erst das hat uns befähigt zu fragen, wie sie aufgrund ihres Schmerzes, ihres Zorns, erfahrener Ungerechtigkeit und ihrer Empörung zu einer Wahrheit gelangten, die mitunter einseitig, verzerrt oder sogar lähmend für sie selbst war oder schlicht den Nagel auf den Kopf zu treffen schien. Um Forschung individuell und gesellschaftlich »hilfreich« – eben konfliktlösend – zu betreiben, wollten wir herausfinden, wie Wut, Schmerz, Ungerechtigkeit und obendrein soziale Diskriminierung dazu beitragen, dass die Vater-Kind-Beziehung auf ein Minimum beschränkt, schwer beschädigt oder gar abgebrochen oder trotz aller Widrigkeiten kämpferisch am Leben erhalten wird. Denn die subjektive Realität der Scheidungsväter wirkt sich langfristig auf die Beziehung zu ihren Kindern aus. Die Fähigkeit, seine Wahrnehmungen zu korrigieren, macht es wahrscheinlicher, dass die Beziehung des Vaters |16|zu seinen Kindern unter extrem schweren Bedingungen überleben kann.

Väterlichkeit nach der Trennung

Väterlichkeit lässt sich nicht nur daran messen, wie oft ein Vater mit seinen Kindern auf den Spielplatz geht, mit ihnen Fußball spielt, wie oft er den Säugling wickelt oder die Windeln entsorgt. Diese Vorstellung ist gegen die lebendige Beziehung von Vater und Kind gerichtet. Väterlichkeit ist in der Vorstellungswelt von Männern etwas sehr viel Komplexeres als gemeinhin angenommen wird. Dieses komplexe Verhältnis wird mit der Scheidung erschüttert, und Väterlichkeit muss neu definiert werden. Egal wie die neue Vaterrolle aussieht, in keinem Fall lässt Väterlichkeit sich in der Weise fortsetzen wie in den glücklicheren Zeiten des Paares. Das gilt nicht weniger für die Mütterlichkeit. Auch sie ist keine Fortsetzung der Mütterlichkeit aus glücklichen Zeiten des Paares. Auch sie muss neu bestimmt werden. Dass Vater und Mutter sich haben scheiden lassen, hat ihrer Elterlichkeit ein definitives Ende bereitet. Dass die Kinder in den meisten Fällen weiterhin bei der Mutter leben, heißt deshalb gerade nicht, dass alles beim Alten bliebe. Wie das neue Arrangement von Vater und Mutter nach der Zerstörung der Elterlichkeit aussehen soll, führt unter vielen Geschiedenen zu heftigen und nicht selten von Handgreiflichkeiten begleiteten Auseinandersetzungen. Beide wollten sie die Trennung, aber kurz darauf streiten sie, wer mehr darunter zu leiden hat und wer wem Leid zugefügt hat. Der gesellschaftliche Diskurs fördert geradezu mit Leidenschaft, Frauen einen bevorzugten Platz als alleinige Leidtragende nach der Trennung zuzuweisen. Scheidungsväter stehen hingegen eher im Verdacht, sich die Rosinen herauszupicken und die Scheidungsmutter mit allen sich einstellenden sozialen und psychischen Problemen als »Alleinerziehende allein zu lassen«. Die Rede ist vom Suggardaddy, Freizeitvater oder Event-Vater.

Die väterliche Sicht ist eine andere. Für nicht wenige wird zum Problem verfehlter sozialer Gerechtigkeit, dass zwischen ihren Verpflichtungen zur Unterhaltszahlung und dem geringen Ausmaß, in dem |17|sie weiterhin ihre Väterlichkeit leben dürfen, ein krasses Missverhältnis besteht, das sie nicht tolerieren wollen.3 Aber jenseits des Missverhältnisses besteht für nicht wenige das grundsätzliche Problem darin, dass sie auf einmal wie bewährungspflichtige Bittsteller nur noch einen von der Expartnerin kontrollierten Zugang zu den Kindern erhalten – nach vielen Jahren gemeinsamen Zusammenlebens, Ferien, Ausflügen und zahlloser geteilter alltäglicher Routinen wie familiärer Höhen und Tiefen.

Die aktive Vaterschaft, die allerdings nicht alle Scheidungsväter praktizieren wollen, kann sowohl für die Exfrau als auch die Kinder eine Entlastung nach dem Auszug des Vaters sein. Werden Väter darin eingeschränkt und erleben sie das als Ungerechtigkeit, so wirkt sich das auf ihr Zahlungsgebaren aus. Im schlimmsten Fall kommt es so weit, dass sie die Beziehung zu ihren Kindern abbrechen. Anhand der Interviews können wir die Gefühlslage, die Kränkungen, den Zorn, den Trotz und die Verwirrungen nachzeichnen, die Scheidungsväter dazu bringen, die Beziehung zu ihren Kindern abzubrechen. Zumeist tun sie es mit dem Gefühl, missachtet und finanziell »ausgenommen« worden zu sein. Es sind ausnahmslos komplexe Abläufe. Kein Fall entspricht dem Mythos vom Scheidungsvater, der die Beziehung aus einer plötzlichen Laune heraus abbricht. Jeder Abbruch hat eine lange Vorgeschichte. Die längste, auf die wir gestoßen sind, währte 15 Jahre und fand ihr Ende, als die Tochter 19 Jahre alt war.

Wo aber Konflikte zutage treten, bietet sich zugleich die Chance, durch Gespräche und fremde Unterstützung den Lauf der Scheidung zum Besseren zu wenden und zumindest das Wohl des Kindes nicht aus den Augen zu verlieren. Das Interesse der Kinder steht und fällt mit der Bereitschaft von Vater und Mutter, sich im verminten nachpartnerschaftlichen Gelände zu verständigen. Zur Kooperation zwingt sie seit 19984 auch der Gesetzgeber, der mit dem neuen Kindschaftsrecht die gemeinsame elterliche Sorge für die einst verehelichten Eltern, nicht jedoch die lebenspartnerschaftlich verbundenen, die ledigen, vorsieht. Obwohl ein Gesetz und seine Anwendung zweierlei sind, so folgt eins daraus gewiss: Eltern müssen kooperieren. Wenn sie es nicht können, dann müssen sie es lernen. Und wenn es ihnen schwer fällt, dann müssen sie sich Hilfe holen. Denn die Bedürfnisse der Kinder dulden keine Abstriche. So will es das neue Kindschaftsrecht. Die zerrüttete Paarbeziehung |18|ist das Schicksal der Erwachsenen. Sie ist von den Kindern deshalb fernzuhalten. Aber das deutsche Kindschaftsrecht ist im europäischen Rahmen fast schon eine seltene Sumpfblüte, da es unverheiratete Eltern ausschließt: Geschiedene Eheleute müssen gemeinsam für ihre Kinder nach der Scheidung Sorge tragen. Waren die Eltern jedoch nicht verheiratet, dann muss der Vater nur zahlen, hat aber sonst so gut wie keine Rechte. Das Recht nimmt ihm seine Kinder und stattet die ledige Mutter mit allmächtiger Willkür aus.

Aufbau des Buches

Das erste Kapitel geht ausgewählten Mythen nach, die in der Öffentlichkeit über Scheidungsväter vorherrschen, die aber deren Lebenswelt nur höchst ungenau abbilden. Vor dem Hintergrund des neuen Familienrechts von 1998, das Kindern erstmals das Recht auf beide Eltern verbürgt und sowohl Mutter als auch Vater zur Sorge verpflichtet, wird die Brisanz gezeigt, die sich aus dem Zusammenprall von tradierten und neuen Vorstellungen von Elterlichkeit ergeben: für die Geschiedenen selbst, aber auch für Richter oder Sozialpädagoginnen, die bei vielen Scheidungen ein Wort mitzureden haben. Es werden die gesellschaftlichen Auswirkungen beschrieben, die sich daraus ergeben, dass immer mehr Kinder auf die Erfahrung zuverlässiger Elterlichkeit verzichten müssen und so in ihren eigenen Entwürfen von Ehe, Partner- und Elternschaft nicht auf bewährte Vorbilder, sondern immer öfter auf beispielhaft Unzuverlässiges zurückgreifen müssen. Letztlich ist es ein ungelöstes gesellschaftliches Problem, dass die Freiheit der Eltern von ihren Kindern fordert, die Freiheit der Kindheit aufzugeben.

Im zweiten Kapitel wird in fünfzehn Fallbeispielen die Situation von Scheidungsvätern mit ihren vielfältigen Schwierigkeiten geschildert, wie sie die Betroffenen erleben und wie sie noch viele Jahre danach ihr Leben beherrschen. Es werden die Institutionen und Personen benannt, die den Rahmen abgeben, in dem solche Erfahrungen gemacht werden: Gerichte, Jugendämter, Gutachter, Arbeitsplatz, Arbeitsamt, Ärzte, Freunde und Verwandte, Nachbarn, die eigenen Eltern, Presse, Familien- und Psychotherapeuten. Männer berichten, wie sie um die Beziehung |19|zu ihren Kindern kämpften, wie sie resignierten oder wie es ihnen gelang, auf raffinierte Weise ihre Interessen durchzusetzen. Jeder Bericht stellt eine typische Situation dar und steht stellvertretend für eine Zahl weiterer Scheidungsväter mit ganz ähnlichen Erfahrungen.

Das dritte Kapitel zeigt, auf welch unterschiedliche Weise Scheidungsväter den Umgang mit ihren Kindern gestalten. Oftmals haben sie Schwierigkeiten, die meist knapp bemessene Zeit gemeinsam zu verbringen. Betroffene schildern, welche Probleme es dabei zu bewältigen gilt und wie sehr es von den zerrütteten Familienverhältnissen abhängt, ob sie das schaffen oder nicht. So mancher nimmt die Hilfe der eigenen Eltern in Anspruch, andere suchen Vätervereine auf, um gemeinsam mit anderen Vätern Lösungen zu suchen. Weiterhin wird dargestellt, welche Formen von Väterlichkeit nach der Scheidung noch möglich sind. Vielfach werden Männer plötzlich in eine Vaterrolle gedrängt, die ihren eigenen Vorstellungen von einer guten Vater-Kind-Beziehung zuwiderläuft. So mancher, der seinem Kind weiterhin ein »Alltagsvater« sein wollte, findet sich in der Rolle des »Eventdaddys« wieder.

Im vierten Kapitel gehe ich der Frage nach, aus welchen Gründen Scheidungsväter den Kontakt zu ihren Kindern abbrechen. Zumeist gehen dem Abbruch schwierige Entscheidungen voraus, für die die Betroffenen unterschiedliche Erklärungen haben und für die sie weitgehend die Verantwortung übernehmen. Der Abbruch des Kontakts bedeutet für die Kinder ein schwerwiegendes Lebensereignis: Sie verlieren ihren Vater. Weil diese Weichenstellung zumeist im ersten Jahr nach der Scheidung erfolgt, ist es so bedeutsam, die Vorgänge und die Dynamik zu erkennen, die dorthin führen. So ist es künftig vielleicht möglich, manchen Kindern den Verlust des Vaters zu ersparen.5

Im fünften Kapitel wird anhand von Interviews und ausgewählten Statistiken gezeigt, wie Männer die Trennung als eine besonders schwere Lebenskrise durchleben und welche Erfahrung sie dabei insbesondere mit Handgreiflichkeiten machen. Darunter werden hier gewalttätig erlebte körperliche und psychische Episoden gefasst, die von den Männern selbst, von beiden Partnern oder in überwältigender Mehrheit auch von den Frauen ausgelöst werden. Handgreifliche Episoden und ihre Folgen werden erstmals als ein komplexes Geschehen dokumentiert, das nicht unvermittelt oder aufgrund »patriarchaler Dominanz« hereinbricht, |20|sondern einer gut beschreibbaren partnerschaftlichen Krisendynamik entspringt.

Im Schlusskapitel wird der grundsätzlichen Frage nachgegangen, welche sozialpsychologische Bedeutung der Scheidung zukommt. Gefragt wird nach deren destruktiven Auswirkungen, die sich trotz der vor allem von Eltern unternommenen Kompensationsversuche als vergeblich herausstellen, weil es eine solche Wiedergutmachung nicht geben kann. Es wird erstmals der Versuch unternommen, die Scheidung aus der Sicht des kindlichen Erlebens zu beschreiben: wie Kinder auf die Trennung der Eltern als Paar reagieren und welche Erlebnisse von elterlicher Destruktivität damit einhergehen, wenn diese ihre Elterlichkeit aufgeben.

|21|1. Scheidung einmal gesellschaftspolitisch betrachtet

Die Interessen der Kinder

Wenn Eltern sich trennen, dann tun sie das, weil sie sich einer als unerträglich erlebten Beziehung entziehen wollen, aber in Erwartung einer besseren Partnerschaft in der Zukunft. Die Hoffnungen der Kinder auf eine gute Zukunft schrumpfen hingegen merklich. Der Preis, den sie entrichten, kann nicht höher sein: sie verlieren die Elterlichkeit, jene Elterlichkeit, die Vater und Mutter als Paar eint und die Kinder deshalb sagen lässt: das sind meine Eltern. Aber kaum jemand fragt die Kinder bislang, ob sie damit einverstanden sind oder ob sie sich den elterlichen Plänen entgegenstellen oder ihnen die Scheidung am liebsten untersagen würden. Wer wollte seine Trennung schon an kindlichen Einwänden scheitern lassen!

Für Kinder gibt es bei Scheidungen nun einmal nichts zu gewinnen. So stehen den guten Hoffnungen der Eltern die kindlichen Entsagungen einer verdunkelten Zukunft gegenüber. Aber darüber spricht niemand gerne, weil es Einblick in so viel Unausgesprochenes enthält. Die einen nicht, weil sie selber als Kinder die Scheidung der Eltern erlebten und daran nur ungern erinnert werden wollen; die anderen, weil sie sich haben scheiden lassen und sich seitdem mit peinigenden Schuldgefühlen herumschlagen; und andere wiederum, weil sie die Scheidung anderer miterlebt und als höchst befremdlich, wenn nicht sogar als erschütternd erlebt haben. Und weil alle irgendwie ahnen, dass Kinder den Preis für die elterliche Freiheit entrichten, verleugnen sie das Unheilvolle und ziehen es vor, skandalisierten Scheidungen von Filmstars und Adeligen aus der Ferne zu folgen und überlassen anderen das Nachdenken darüber. Kein Kind möchte aber, dass seine Eltern sich scheiden lassen, gleichgültig ob sie verheiratet oder ledig sind. So ist es auch eine gewaltige  |22|Realitätsverkennung, wenn Scheidungen für Kinder als Zugewinn eines neuen Elternteils, neuer Geschwister, einer neuen Wohnung oder einer neuen Stadt ausgegeben werden – wie in der Rede von der »Bonusfamilie« analog zu kostenlosen Warenzugaben im Supermarkt – und nicht die Zerrissenheit gesehen wird, die damit über sie hereinbricht. Und selbst wenn Kinder die Scheidung einmal wünschen sollten, weil sie des Streitens, der Handgreiflichkeiten und der Depressionen der Eltern überdrüssig sind, handeln sie bereits unter dem verinnerlichten Zwang, einen von beiden Eltern von Schuld und Scham befreien zu sollen, die sich wegen der auflösenden Elterlichkeit eingestellt haben. Oder sie meinen einen von beiden für schuldig halten zu müssen, damit der andere sich schuldlos fühlen kann. Die Freiheiten der Kindheit, nämlich von den Eltern beschützt, versorgt und von deren Konflikten frei gehalten zu werden, sind dann bereits den Eltern geopfert worden.6 Eine Rollenverkehrung setzt dann ein. Die Kinder sorgen, so gut sie es können, für das Wohlbefinden ihrer Eltern. Und sie tun das mit Geschick, wie man es ihnen gar nicht ohne weiteres zutraut. Bei vielen führt das zur psychischen Frühreife und zum Verlust der Unbefangenheit, die in unserer Kultur ansonsten als selbstverständlicher Schonraum für eine zum Glück befähigende Entwicklung und für die Hervorbringung des späteren Wunsches nach einer partnerschaftlichen Bindung und dann auch eigener Kinder angesehen wird.7 Scheidungskindern wird dieser Schonraum weggenommen.

Jede Scheidung ist deshalb mit einem Dilemma nicht nur für die Eltern, sondern auch für die Gesellschaft behaftet, einerlei ob sie es sich bewusst machen oder ob sie es lieber im Halbdunkel ihres Alltagswissens bewahren: Die Freiheit der Eltern fordert von den Kindern, Freiheiten der Kindheit aufzugeben. Bislang sind nur wenige bereit, dieses Dilemma auch gesellschaftspolitisch zu erörtern. Es wird lieber beschwiegen als zur Erörterung freigegeben. Stattdessen gilt eher die frohbotschaftliche Illusion, dass vielerlei Kompensationen alles zum Besten der Kinder wenden könne. Und wer von Kompensation unkt, denkt in erster Linie an die Mütter. Interessanterweise richten sich die Illusionen einer weitgehend folgenlosen Scheidung auf sie, die damit schier uneinlösbaren Erwartungen ausgesetzt werden. Vielleicht wird diesem Dilemma nur zu oft reflexartig deshalb ausgewichen, weil befürchtet wird, dass eine solche |23|Auseinandersetzung allein auf die Verschärfung des Scheidungsrechtes hinauslaufen könnte. Nur böte das keine sinnvolle Lösung!

Die familienrechtliche Gesetzgebung von 1998 hat die gemeinsame elterliche Sorge für geschiedene Ehepaare eingeführt. Die Vorteile dieser Reform sind unübersehbar.8 Seitdem haben Kinder ein Anrecht auf beide Eltern, weil das wissenschaftlich verbürgte Wissen, dass Kinder beide Eltern brauchen, auch von den politischen Parteien übernommen wurde. Beide Eltern gelten grundsätzlich als elterntauglich, und wer dem anderen Elternteil diese Bedeutung abspricht, was vorzugsweise Männer bislang traf, stellt seine eigene Tauglichkeit infrage. Die Abwertung des Väterlichen steht damit als Waffe im Scheidungsverfahren nicht mehr wie früher zur Verfügung.

Allerdings taugt ein Gesetz nicht dazu, Zerstrittene, wenn sie nach Vergeltung und Rache für reale oder eingebildete Schmach dürsten, nur einigermaßen von beidem abzuhalten. Tatsache ist aber, dass das gemeinsame Sorgerecht 1998 den traditionsreichen Kriegsschauplatz geschlossen hat, auf dem viele Eltern sich so gebärdeten, als müsse einer um jeden Preis schuldig und strafwürdig und der andere um jeden Preis unschuldig und mitleidwürdig den Kampfplatz verlassen. Ganz so, als wäre seit 1977 im Scheidungsrecht das Schuldprinzip nicht durch das Zerrüttungsprinzip ersetzt worden, weil die Gesellschaft darauf verzichten wollte, von außen in das komplexe Geflecht von streitenden Eheleuten mit richterlichem Verdikten einzugreifen und zerfallende Partnerschaften in einen guten und einen bösen Teil aufzuspalten. Zumindest in dieser Form lassen sich Gerichte für traditionelle Rachefeldzüge nicht mehr instrumentalisieren. Aber damit sind die Wunden aus Kränkungen und Enttäuschungen nicht geheilt. Die voneinander enttäuschten Partner schaffen sich neue Kampfzonen. Eine, die Scheidungsmütter bevorzugen, ist die Hintertreibung von Besuchsrechten, über die Väter ihre unmittelbare Beziehung zu ihren Kindern am Leben zu erhalten versuchen. Besuchsrechte sind die Nabelschnur, die Väter mit ihren Kindern nach der Scheidung verbindet. Der breite Fluss bedeutungsvoller Alltäglichkeiten trocknet hingegen weitgehend aus. Die Nabelschnur zu unterbrechen, trifft Väter schmerzhaft, und gar nicht so selten gelingt es der Expartnerin, sie von der Welt der Kinder abzutrennen. Eine der bevorzugten Kampfzonen von Männern ist demgegenüber die Zahlungsverweigerung. Vielfach ist sie die verzweifelte Antwort |24|auf mannigfaltig boykottierte Besuchsvereinbarungen, aber eben doch nicht nur; sie ist auch eine eigenständige Quelle von Revanche für Enttäuschungen und für das Gefühl, ausgenutzt worden zu sein.

Trotz der Kampfzonenverschiebung sind die Reformen im Familienrecht von 1998 ein Gewinn für jeden Scheidungsvater, besonders aber für die Kinder und deshalb für die Gesellschaft insgesamt. Denn inmitten steigender Scheidungsraten wird Kindern vermittelt, dass kein Elternteil mehr Rechte auf ihre Zuwendung hat als der andere. Und dass die Hinwendung zum Vater kein Verrat an der Mutter ist. Denn Vater und Mutter werden eine gleichwertige Bedeutung für die Entwicklung ihrer Kinder zur Glücks-, Lebens- und Konfliktfähigkeit zugesprochen und zugleich unterschiedliche Bedeutungen, die sich daraus ergeben, dass der Vater ein Mann und die Mutter eine Frau ist. Für viele ist dieses Prinzip nach der Scheidung so selbstverständlich, wie es das schon zur Zeit der vermeintlich ewig währenden Liebe war. Wenn Eltern sich allerdings nicht einigen und bei Gerichten nach Schuldzuweisung ansuchen, dann zeigt sich, dass Männer wie Frauen im Richteramt ebenfalls noch von traditionellen Vater- und Mutterbildern in ihren Urteilen bestimmt werden. Der Glaube, dass Mutter die Beste sei, schlägt in nicht wenigen Urteilen durch. Dieses folkloristische Diktum hat offenbar einen verbrieften Bestand in den mythologischen Selbstmissverständnissen der Geschlechter. So vermögen viele Richter wie Richterinnen sich einfach nicht vorzustellen, dass Mütter auch nachtragende, bösartige, neidische und rachsüchtige Seiten neben ihren guten, liebevollen und bewahrenden haben und dass sie über ihren Expartner herfallen und die Folgen ihres Wütens für die Kinder – geschweige denn für den ehemaligen Partner – nicht bedenken. Dabei sticht die Idealisierung der alleinerziehenden Mutter ins Auge, die wie Witwen nach dem Zweiten Weltkrieg mit Mitgefühl überschüttet werden; allerdings ohne dass es sich um kriegsbedingtes Witwentum, sondern im Gegenteil um hoch individualisierte autonome Lebensentscheidungen handelt. Die richterlichen Urteile basieren oft auf dem Mythos von Mütterlichkeit, der besagt: »Wenn es der Mutter gut geht, geht es dem Kind auch gut. Also geben wir der Mutter das, was sie braucht, damit die Kinder sich wohlfühlen können.«

Den richterlichen Verkennungen der Wirklichkeit stehen solche unter Wissenschaftlern gegenüber, die den Kindern ebenfalls nicht gerecht  |25|werden. So werden Kinder aus Scheidungen traditionell wegen ihrer wenig wünschenswerten, eben störenden und ungepassten Verhaltensweisen wahrgenommen, über die niemand im Kindergarten, der Schule, der Familie, dem Freundeskreis oder im Sportklub begeistert ist.9 Diese Verhaltensweisen werden vermessen, gewichtet und zu Entwicklungsprognosen verdichtet. Dabei geht es um die Frage: Weichen Scheidungskinder von Nicht-Scheidungskindern ab, ja oder nein, und wie weit weichen sie von der Normalität ab? Dabei wird feinsinnig unterstellt, dass es ihnen besser ginge, wenn die Eltern darauf verzichtet hätten, sich scheiden zu lassen. Damit wird indirekt unterstellt, dass die rechtliche Erschwerung der Scheidung Kindern helfen könnte. Oder es wird unterstellt, Kinder würden sich weigern, sich der Nachscheidungssituation anzupassen und stattdessen Widerstand auf kindliche Weise leisten. Das kommt dem Vorwurf kindlicher Aufsässigkeit und selbst verschuldetem Leid schon recht nahe. Dabei ist unübersehbar, dass Eltern sich damit von Schuldgefühlen und Politiker sich von Verantwortung entlasten wollen.

Aber anstatt Scheidungen rechtlich zu erschweren, sollten ihre Auswirkungen auf Kinder vielmehr einer ethischen Beurteilung in der Öffentlichkeit unterworfen werden. Dies sollte aus der einfühlsamen Identifikation mit dem Schicksal von Kindern sich entwickeln. Eine solche ethische Betrachtung würde erstmals die im ausgehenden 20. Jahrhundert zumeist recht umstandslos etablierten Freiheitsrechte in einem Prozess nachholender Reflektion einbeziehen. Zur öffentlichen Angelegenheit würde die Frage werden, wie Kinder die Scheidung erleben, wie sie ihre Erfahrungen beschreiben und ihre zerstörten Wünsche wiedergeben und welche Schlussfolgerungen eine Gesellschaft und jeder Einzelne daraus ziehen will; wie Kinder ihre Erfahrungen beschreiben und wie sie ihre zerstörten Wünsche selber erleben.10 Was bedeutet für Kinder das Ende der gemeinsamen Elterlichkeit? Antworten würden den Blick darauf freigeben, wie Individualisierungsrechte und -ansprüche von Eltern Kindern Leid zufügen und wie diese das wahrnehmen.

Ein grundsätzlicher Mangel der meisten Scheidungsforschung ist, dass Scheidungs- und Trennungskinder nicht als Wünschende, als Kritisierende, als Beschwerdeführende und erst recht nicht als Träger schwer erträglicher kindlicher Gefühle zugelassen werden; zum Beispiel als Hassende, die ihren Eltern die Trennung nicht vergeben wollen und sie |26|ihnen lebenslang nachtragen.11 Dass diese Perspektive zu kurz kommt, ist kein Zufall. Sie entspricht der weit verbreiteten Vermutung, Eltern würden durchaus das Richtige tun. Dass Kinder auf Glück und Unbeschwertheit verzichten müssen, wird als Problem deshalb gar nicht erst zugelassen, weil das viele Forscher und Forscherinnen selber betreffen würde.

Solange in einer Gesellschaft über Scheidungen weiterhin nur oberflächlich auf der Ebene von unversöhnten Spannungen von Freiheitsrechten der Erwachsenen und selten nur vom Leid der Kinder geredet wird, solange wird es Geschiedenen und Getrennten schwer fallen, eine verantwortungsethische Haltung zu ihrer Entscheidung und damit gegenüber ihren Kindern einzunehmen.

Wer allerdings aus dem Widerstreit moralischer Orientierungen wie freiheitsrechtlich begründeter Selbstbestimmung und andererseits der Liebe zu seinen Kindern keinen Ausweg findet oder gar nicht erst sucht, der wird nicht nur in Widersprüchen befangen, sondern in Schuldgefühlen verheddert bleiben. Und genau das scheint das Schicksal vieler Geschiedener zu sein. In Schuldgefühlen befangen zu sein, ist aber weder Ausdruck von Tugendhaftigkeit noch von moralischer Gesinnung, geschweige denn ein Zeichen von Verantwortung für das, was man getan, unterlassen, geduldet oder verhindert hat. Mit unbewussten Schuldgefühlen sich zu quälen, die von ihren Ursachen entkoppelt sind, nämlich den Kindern die Elterlichkeit genommen zu haben, hilft niemandem weiter, auch nicht den Kindern. Denn die Einsicht in die Ursachen der Schuld, eben das Wissen, was Kinder verletzt und sie zur Sprachlosigkeit darüber verdammt, bleibt dabei im Dunkeln. In der Scheidung ist das die Ahnung: eine glücklose Beziehung rechtlich zwar auflösen zu können, zugleich den Kindern damit aber Feindseliges zuzumuten. So gesellen sich dem Genuss der Freiheiten bedrückende Gefühle von diffuser Schuld hinzu. Aber auch in der weiteren Gesellschaft könnte es solche Schuldgefühle geben, weil die Kinder die eigentlichen Verlierer sind und weil Politik und Gesellschaft das nur halbherzig zur Kenntnis nehmen.

Paradoxerweise lassen sich Schuldgefühle immer dort vermuten, wo objektive Schuld und Versagen nicht akzeptiert werden, sondern mit aufwändigen psychischen Rationalisierungen, eben »Ausreden«, verschleiert werden. Andere sollen sich vielmehr die Rationalisierungen zu |27|eigen machen, damit sie die Sinnfälligkeit von Scheidungen bestätigen mögen. Dass einerseits elterliche Schuld und andererseits Zumutung für Kinder voneinander getrennt werden, lässt sich nachvollziehen. Denn wenn die eigene Glückssuche damit belastet wird, dass der Preis der Freiheit von den Kindern zu entrichten ist, die einem besonders nahe stehen und die man vor Schäden beschützen möchte, dann fällt es niemandem leicht, damit zu leben.

Dieses Buch will zu dieser Bewusstwerdung und ethischen Verantwortung beitragen.

Die hohe Scheidungsrate als gesellschaftspolitisches Risiko

Die Gründe, die einer ethischen Auseinandersetzung über kindliche Scheidungserfahrungen entgegenstehen, sind vielfältig. Die meisten sind im Arrangement der Geschlechter verankert, eben der Art, wie Männer und Frauen ihre Beziehung innerhalb einer Gesellschaft zueinander gestalten. So scheint es gesellschaftspolitisch kaum jemanden zu stören, dass das Arrangement der Geschlechter ein Verständnis über Männer und somit deren väterliche Beziehung zu ihren Kindern zulässt, das stark von Mythen beherrscht wird. Dagegen zeigen wir in diesem Buch, wie geschiedene Männer sich gegen den Mythos vom desinteressierten Nachscheidungsvater stemmen, indem sie teilweise erfolgreich und teilweise vergeblich für eine lebensfähige Väterlichkeit12 nach der Scheidung mutig und ideenreich, aber ebenso hilf- und phantasielos kämpfen. Manche treten zu diesem Kampf von Anfang aber auch gar nicht erst an. Wie immer Väter die Beziehungen zu ihren Kindern erleben, in der Öffentlichkeit will das niemand so genau wissen. Allerdings beginnen die Massenmedien damit, vorsichtig über sie zu berichten, immer fürchtend, sie könnten für die Infragestellung des Mythos von dessen willfährigen Anhängern abgestraft werden. Das würde nämlich die Mythen über Männer erschüttern und die Berichte über Scheidungen in den Medien mit wechselseitigen Aspekten des Geschehens verkomplizieren.13 Der alltagsweltliche Zentralmythos würde erschüttert, demzufolge alle Scheidungsväter das Interesse an ihren Kinder verlieren, dass |28|sie sich neuen Partnerinnen zuwenden, vorzugsweise viel jüngeren, dass sie ihre Kinder vergessen, keinen Unterhalt zahlen und dass sie ihre Exfrau »die Suppe auslöffeln« lassen und dergestalt den Typ der neuen Witwe hervorbringen, für den die steuerfinanzierten Sozialkassen herhalten müssen. Diese Mythen beginnen zu bröckeln.

Politische Debatten mit Väterorganisationen und öffentliche Debatten haben uns darin bestärkt, die Malaise der Scheidungen jedoch nicht nur auf die individuelle Erlebnisperspektive zu verengen. So sehr Psychotherapie, Beratung und Organisationen wie der Väteraufbruch für Kinder (VafK)14 hilfreich bei der Bewältigung von Scheidungsproblemen sind, so sehr muss die Scheidung doch als ein zeitgenössisches Gesellschaftsproblem von weitgehend unentdeckter Brisanz eingestuft werden. So registrierte die amtliche Statistik im Jahr 2003 einen weiteren Anstieg der Zahl der jährlichen Ehescheidungen in Deutschland. Mit 213.980 geschiedenen Ehen (plus 4,8 Prozent gegenüber 2002) wurde ein neuer Höchststand erreicht. Gegenüber dem Vorjahr ist die Zahl der minderjährigen Kinder, die von der Scheidung ihrer Eltern betroffen waren, im Jahr 2003 weiter um 10.160 auf 170.260 Kinder angewachsen. Der Anteil der geschiedenen Ehen mit minderjährigen Kindern lag bundesweit – bezogen auf alle Scheidungsfälle – bei 50,4 Prozent (2002: 49,9 Prozent).15 Wer vom »demographischen Schwinden der Deutschen«16 spricht, kommt um die Bedeutung der Scheidung als einem Grund für den verkümmernden Wunsch nach Kindern nicht herum. Zwar ist jede Scheidung ein Einzelfall. Sie ist aber zugleich Teil eines konfliktträchtigen Massenphänomens.17 Immerhin wird jede zweite Ehe im städtischen Milieu geschieden und die Hälfte davon mit Kindern. Dazu kommt die nur schwer bezifferbare jedoch ständig steigende Zahl lediger Partnerschaften. Die Trennung der Eltern wirkt sich auf die familiäre wie die gesellschaftliche Sozialisation der Kinder aus und gefährdet die Familie in ihrer einzigartigen Funktion, nicht nur Kinder in die Erwachsenheit zu führen, sondern ebenso die Generationenfolge und das Verwandtschaftssystem zu erhalten. Dazu zählt ganz besonders die Fähigkeit, außerhalb des Verwandtschaftssystems Beziehungen einzugehen, um Kinder zu zeugen und aufzuziehen. Dass das immer prekärer wird, zeigt die Allgegenwart von ›Partnerschaftsbörsen‹, die den modernen Typus der arrangierten Ehe verkörpern. Darüber hinaus bringt eine im Wesentlichen funktionierende Familie die Fähigkeit zur Beziehungsbindung |29|hervor und trägt damit zur Zivilisierung des allgemeinen gesellschaftlichen Lebens grundlegend bei.

Die Scheidung ist eben nicht nur ein statistisches Ereignis, sondern ein Vorgang, der weit über die Familienauflösung hinaus alle anderen gesellschaftlichen Teilsysteme tangiert.18 So wurde 2004 mit großer Erregtheit über die fehlende Neigung von Frauen zum Gebären geklagt. Deutschland schrumpfe wegen der Gebärunwilligkeit seiner Akademikerinnen. Sinkende Geburtenziffern wurden erörtert, weibliche Lebensplanung außerhalb der Familie abermals infrage gestellt und die Rabenmutter als weibliche Wesensverfehlung kasteit. Dabei fiel dann auf, dass alle demographischen Hoffnungen auf Entscheidungen von jungen Frauen gesetzt werden, als spiele beim Kinderwunsch eines Paares der Mann keine Rolle19 und als hätten Männer eigentlich gar keinen eigenen Kinderwunsch. Es konnte der Eindruck entstehen, Männer würden schon zeugen wollen, es sei denn, die Frau würde sie darin hindern. In dieser Hinsicht ändert sich die Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Sowohl der Kinderwunsch der Männer als auch deren Vorstellungen von Väterlichkeit werden als bedeutsam anerkannt.20

Eine fest verankerte Kultur mythisch begründeter Männlichkeitsbilder kann nur langfristig durch Mentalitätsveränderungen wirkungsvoll verändert werden. Einige Mythen beginnen sich bereits zu verflüchtigen. Aber von den noch immer bestehenden geht weiterhin eine permanente Beschädigung des Kinderwunsches von Männern aus. An die Stelle des Beschädigenden müsste eigentlich eine Kultur der Ermutigung zur Väterlichkeit treten, da sie anders als die Mütterlichkeit biologisch weniger eindringlich begründet ist. Der Wunsch ein Vater zu sein, ist ein eher sozialer Wunsch, und er muss deshalb innerhalb einer Gesellschaftskultur hervorgebracht werden. Und nichts liegt deshalb näher, als dass abschreckende Episoden, wie sie in unserer Kultur der Scheidungsabwicklung oft vorkommen, gerade jungen Männern den Wunsch nach Kindern austreiben. Viele fragen sich mittlerweile, warum sie Vater werden sollen, wenn ihnen die Väterlichkeit bei der Scheidung ohne viel Federlesen weggenommen oder eingeschränkt werden kann. Und warum sollen sie Kinder zeugen, wenn ihre Väterlichkeit gering geschätzt wird und sie sich zu Dukateneseln degradiert wähnen?21 Vieles entmutigt junge Männer nicht nur, sondern lehrt sie die Vaterschaft zu fürchten. Die Berichte von Scheidungsvätern, die von Ritualen der Unterwerfung |30|unter die Exfrau und von einem eisernen Zeitkorsett berichten, das die Besuche der Kinder reglementiert, ermutigen nicht zur Vaterschaft. Ein Zeitkorsett, das womöglich nach unendlichen Querelen, langer Trennung von den Kindern und mühseligen Gerichtsverfahren zustande gekommen ist! Und das dann nicht einmal respektiert wird, weil die geschiedene Partnerin darauf setzt, dass Richter einer unbotmäßigen Mutter die Kinder nicht wegnehmen werden, noch eine Geldstrafe über sie verhängen, denn das würde letztlich nur die Kinder treffen. Herr Schlosser, 32 Jahre, verkörpert die entmutigte Sicht vieler jüngerer Männer auf die Zukunft der Familie.

»Ich habe große Sehnsucht danach, eine neue Familie zu haben, vielleicht auch mit eigenen Kindern. Aber es ist so furchtbar gefährlich für Männer! Ich habe Angst, eine erneute Trennung und den erneuten Verlust von Kindern noch einmal halbwegs seelisch verschmerzen zu müssen und außerdem wäre es mein finanzieller Bankrott. Möglicherweise nehme ich mir eine Freundin, die bereits ein Kind hat. Dann habe ich wieder eine kleine Familie, aber im Trennungsfall muss jemand anders für das Kind zahlen.«22

Noch entmutigender ist die Diskriminierung von ledigen Vätern. Sie stehen selbst nach langjähriger Partnerschaft mit gemeinsamen Kindern rechtlos dar. Denn nach geltendem Recht ist es ins Belieben der Expartnerin gestellt, ob ein lediger Vater überhaupt, ob regelmäßig, zu welcher Zeit und für wie lange die Kinder sehen, ob er an Elternversammlungen der Schule oder des Kindergartens teilnehmen darf, ob die Großeltern besucht werden dürfen und ob Krankheiten der Kinder ihm mitgeteilt werden müssen. Und wie lange und wie oft ein Chat im Internet oder am Telefon mit den Kindern dauern darf. Respekt vor dem Väterlichen kommt darin nicht zum Ausdruck. Wer die Interessen der Kinder gerade auch während und nach der Scheidung geschützt sehen möchte, der muss ihren Wunsch nach einer ungebrochenen Beziehung zum Vater anerkennen. Sowohl der Alltag als auch die politischen und wissenschaftlichen Ansichten von der Bedeutung des Vaters sind dabei keineswegs einhellig. Sie reichen von dessen Anerkennung23 bis zu dessen vermeintlicher Überflüssigkeit.24

|31|2. Wie Männer über ihre Scheidung sprechen:

Fünfzehn Fallgeschichten

|33|Scheidung per Fax – Martin W.

Für viele Scheidungsväter ist die Trennung ein einschneidendes Erlebnis, das sie zumindest vorübergehend die Fassung verlieren lässt und sie daran hindert, ihren Alltag wie gewohnt fortzusetzen. Die Scheidung berührt nicht nur ihr privates Leben, sondern wirkt sich in auffällig vielen Fällen auf die berufliche Tätigkeit aus. Manch einer verliert zeitweise seine Handlungsfähigkeit, wird depressiv oder reagiert auf seine Umwelt unangemessen heftig.

Umso beeindruckender ist die Art und Weise, wie Martin W. darum kämpfte, die Beziehung zu seinem Kind aufrechtzuerhalten, nachdem ihn seine Frau verlassen hatte. Ihm gelang es, einen kühlen Kopf zu bewahren, sich ganz auf die Beziehung zu seinem Kind zu konzentrieren und Anwälte und Richter durch wohl durchdachte Planungen für die eigenen Interessen zu nutzen. Herrn W. ist gelungen, was sich andere Väter oft nur wünschen können, nämlich nicht zum Spielball von Justiz, Gutachtern und Sozialpädagoginnen zu werden. Die Möglichkeit, seine Arbeit flexibel zu organisieren, gab zusätzlich den idealen Rahmen ab, um seine private Situation neu zu regeln.

Martin W., geboren 1958, ist leitender Angestellter eines großen Konzerns mit Niederlassungen in aller Welt. Zur Zeit der Trennung lebte er mit seiner Familie in der Türkei. Er war dort einer der maßgeblichen Repräsentanten seines Konzerns. Martin W. war 11 Jahre mit seiner Frau verheiratet. Die gemeinsame Tochter ist heute 10 Jahre alt. Seit nunmehr zweieinhalb Jahren ist das Ehepaar getrennt. Martin W. lebt heute mit seiner Tochter in Köln, während seine Exfrau gemeinsam mit einem neuen Mann, der der Anlass für die Trennung war, zurück in die Türkei gegangen ist.

|34|Bis heute kann sich Martin W. nicht erklären, was seine damalige Ehefrau veranlasste, die – nach seinen Worten – gut funktionierende Partnerschaft aufzukündigen.

»Was mich besonders bewegt und verletzt hat, ist die Art und Weise, wie meine Frau die Trennung vollzogen hat. Und dass ich eigentlich bis auf den heutigen Tag nicht genau weiß, ob es einen weiteren Grund für die Trennung gibt, außer der Tatsache, dass sie einen anderen kennen gelernt hat. Ich sage der Einfachheit halber ›meine Frau‹ und lasse das ›ehemalig‹ weg, das stört nur. Wir hatten damals eine schwierige Zeit an meinem Dienstort. Ich war leitender Angestellter eines internationalen Unternehmens mit Sitz in der Türkei. Das war eine schwere Zeit. Ich habe fast rund um die Uhr gearbeitet, weil mein Chef krank war. Ich war der so genannte zweite Mann im Unternehmen. Und irgendwann hat meine Frau gesagt, sie müsste unbedingt nach Deutschland fliegen, denn sie hätte ein gynäkologisches Problem, das man in der Türkei nicht abklären könnte. Und dann ist sie mit meiner Tochter, ich meine, mit unserer Tochter, nach Deutschland geflogen. Am neunten Tag ihres Deutschland-Aufenthaltes – wir haben jeden Tag telefoniert – sagte sie mir, ich solle mein Fax-Gerät in der Privatwohnung eingeschaltet lassen. Sie wolle mir etwas faxen. Am nächsten Tag kam ein fünfseitiges Schreiben eines mir bis dahin unbekannten Rechtsanwaltes, dass meine Frau die Absicht hätte, sich von mir scheiden zu lassen. Beigefügt war eine umfangreiche Unterhaltsberechnung. Und – das war es dann!«

Obwohl die Trennung für Martin W. völlig überraschend kommt und eine Scheidung per Fax dazu angetan sein könnte, bereits mäßig zartbesaitete Männer aus der Fassung zu bringen, gelingt es Martin W., nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Er behandelt die angekündigte Scheidung ähnlich wie ein plötzlich im Konzern auftauchendes schwerwiegendes Problem. Noch am selben Tag konsultiert er den Betriebspsychologen des Unternehmens und berät sich mit ihm. Dieser empfiehlt ihm, umgehend nach Deutschland zu fliegen, um dort vor Ort zu »retten, was zu retten ist«.

»Der Betriebspsychologe unseres Unternehmens, der die Vorgehensweise meiner Frau ziemlich skandalös fand, hat sich freundlicherweise als Gesprächspartner angeboten. Der hat von Anfang an immer gesagt: ›Sie müssen wissen, was Sie wollen. Und wenn Sie davon überzeugt sind, hängen Sie sich dahinter. Denn Sie können nur das durchsetzen, von dem Sie auch wirklich überzeugt sind. Und lassen Sie sich nicht von Rechtslagen und Rechtsberatung und solchen  |35|Angelegenheiten abschrecken. Jeder Fall ist individuell und Sie müssen für sich klären, was Sie wirklich wollen.‹«

Diesen Rat hat Martin W. beherzigt.

»Das habe ich gemacht und bin gänzlich überraschend für meine Frau nach Hause geflogen und habe mich bei ihr von meiner Heimatstadt aus gemeldet und gesagt, dass ich sie unbedingt sprechen müsse. Da hat sie mir genau 45 Minuten gegeben, in denen wir in einem Café miteinander gesprochen haben. Sie hat gesagt, sie hätte keine Lust mehr, mir zu erklären, was passiert sei. Außerdem habe sie einen neuen Lebenspartner. Ansonsten hätte alles, was dazu zu sagen wäre, der Rechtsanwalt bereits geschrieben. Das mit dem Lebenspartner hat sich schnell klären lassen. Es handelt sich um einen Mann, den sie nachweislich erst ungefähr drei Wochen vorher kennen gelernt hatte. Vorher befand der sich noch gar nicht in der Türkei. Ich kannte den, der hat sie auf einer Party bei uns zu Hause kennen gelernt. Die war geschäftlich.«

Dem Rat des Psychologen folgend, verstrickt sich Martin W. gar nicht erst in einen Kampf, der ihm seine Frau zurückbringen soll. Für ihn war wohl klar, dass er nicht um die Beziehung kämpfen wollte und dass er keine Chancen in einer solchen Auseinandersetzung hatte. Auf den neuen Mann an der Seite seiner Frau – seinen Rivalen – geht er im Interview nie direkt ein. Er erklärt das Scheitern seiner Ehe eher mit den zeitaufwändigen Pflichten seiner Arbeit, die sich seine Exfrau nicht mehr hat zumuten wollen. Dass sich seine Frau aufgrund der Attraktivität des neuen Liebhabers von ihm abgewandt haben könnte, hätte Martin W. auf Befragung wohl nicht ausgeschlossen, aber besonders wichtig schien ihm das nicht. Er räumt ein, dass seine Frau und er »Konflikte vielleicht nur immer diplomatisch umschifft« hätten statt sie zu benennen.

Seine Haltung mag nicht besonders förderlich für seine Liebesbeziehung gewesen sein. Für die Scheidung und die Zeit nach der Trennung sollte sich die Routine seines gut organisierten geschäftlichen Umgangs jedoch als förderlich erweisen. Später wird er sagen, dass der erfolgreiche Kampf um seine Tochter sein größter geschäftlicher Erfolg seines 16-jährigen Berufslebens war.

Während Frau W. nun ganz offensichtlich unter dem aufwühlenden Eindruck einer neuen, sexuell aufregenden Liebe steht, die bekanntlich für eine gewisse Zeit blind machen kann, ist Martin W. von derlei Ablenkungen |36|frei und konzentriert sich zielstrebig darauf, die Beziehung mit der Tochter zu organisieren.

Nach der kurzen Aussprache in Köln und nachdem die Scheidung eingereicht ist, kehren alle wieder in die Türkei zurück. Die Frau verlässt das gemeinsame Haus und zieht mit der Tochter zu ihrem neuen Partner. Obwohl sich das getrennte Paar um eine eher sachliche Ebene der Auseinandersetzung bemüht, sendet die Ehefrau Signale, dass sie gedenkt, dem Vater die Tochter vorzuenthalten. Martin W. legt jedoch schnell und unmissverständlich seine Position dar:

»Ich habe dann, nachdem meine Frau sich bereits hervorragend anwaltlich hat beraten lassen, selber Rechtsberatung eingeholt. Ich nahm zur Kenntnis, dass es mit dem Umgangsrecht für meine Tochter wahrscheinlich auf das so genannte Berliner Modell hinauslaufen würde. Eben alle vierzehn Tage für ein Wochenende. Dagegen habe ich mich gewehrt und gesagt: ›Das kann doch wohl nicht wahr sein. Unsere Tochter hat uns nie streiten sehen. Die weiß überhaupt nicht, was da passiert ist. Ich möchte gerne erstens, dass meine Tochter sowieso bei mir wohnt statt bei einem wildfremden Mann. Und zweitens möchte ich ein ausgedehntes Umgangsrecht haben.‹ Dem hat sie sich aber verweigert. Solange wir in der Türkei waren, konnte ich nichts dagegen tun, weil die Rechtslage damals nicht geklärt war.«

Da Familie W. als Auslandsdeutsche in der Türkei lebten, war es nicht leicht, rechtliche Fragen vor Ort zu klären. Beide Partner vermieden es daher, komplizierte Verfahren mit unsicherem Ausgang anzustreben. Herr und Frau W. bewegten sich, was die Umgangsregelung betraf, in einer rechtlichen Grauzone. Martin W. wusste, dass seine Frau Verfehlungen seinerseits nicht umgehend polizeilich ahnden lassen würde. Eine derart ungeregelte Situation birgt natürlich die Gefahr in sich, dass die Konflikte sich verselbstständigen. Dem Paar gelingt es aber glücklicherweise, die Auseinandersetzungen auf einer relativ tolerierbaren Ebene zu halten. Hier zeigt sich wiederum, dass keiner der beiden den Kampf ums Kind bis zum Äußersten treiben wollte.

»Dann habe ich aus der Nachbarschaft bei uns in der Türkei erfahren, dass meine Frau häufig bei den Nachbarn ist, weil die auch ein kleines Kind im Alter meiner Tochter hatten. Diese Nachbarin hat mir gesagt, dass meine Tochter gesagt hätte, wenn sie nicht bald zu ihrem Papa dürfte, würde sie aufhören zu essen. Es war dann praktisch meine Tochter, die bewirkt hat, dass meine Frau sich über das so genannte Berliner Modell hinaus hat erweichen lassen, dass ich |37|Umgang zu meiner Tochter bekam. Meine Tochter war damals 8 Jahre alt. Den Umgang habe ich mir eigentlich mehr oder weniger erzwungen, indem ich sie einfach an ihrer Vorschule mittags abgeholt habe, fünf Minuten bevor meine Frau kam. Da konnte meine Frau auch nichts machen, weil das deutsche Rechtsverhältnisse waren. Sie hätte mich anzeigen können wegen Kindesentführung oder wie auch immer. Da wäre aber keinerlei Reaktion drauf erfolgt.«

Der Zuneigung beider Eltern ist die Tochter sich offenbar sicher. Deshalb beginnt sie mutig ihre Ansprüche zu formulieren. In der Hochphase der Verliebtheit scheint es Frau W. und ihrem neuen Partner schwer zu fallen, dem Kind einen familienähnlichen Rahmen zu geben. Beide waren ein Paar, aber keine Stieffamilie. Stark mit sich und ihrer neuen Liebe beschäftigt, gerät der Mutter die Tochter für einige Zeit aus dem Blick. Die frei gewordenen Räume weiß der Vater schnell für sich und das Mädchen zu nutzen.

»Ich hatte meine Tochter dann jedes Wochenende, und zwar von Freitagnachmittag bis Mittwochmorgen. Das lag daran, dass der Lebenspartner meiner Frau das Kind nicht leiden konnte. Und das Kind ihn auch nicht. Das Kind hat ihn gehänselt, und er hat das Kind gehänselt, und Anna hat dann immer geweint und geschrieen und ihn beschimpft und gesagt: ›Ich will zu Papa.‹ Dann muss es wohl so gewesen sein, dass er sich den Störfaktor – jedenfalls am Wochenende – vom Hals halten wollte.«

Herrn W. kommen die Schwierigkeiten seiner Frau, zwischen ihrer neuen Liebe und dem Kind eine Balance zu finden, keineswegs ungelegen. Gerne hat er das Kind bei sich, zumal ihn wohl unangenehme Vorstellungen plagen, wenn er seine Tochter in der Nähe eines sie hänselnden fremden Mannes wähnt.

»Ich habe zwar gesehen, dass meine Frau darüber nicht besonders glücklich war. Meine Tochter hat mir einige Sachen erzählt, die ich haarsträubend fand. Beispielsweise, dass der Typ meine Frau praktisch Brötchen holen schickt, und wenn ihm die Brötchen zu dunkel waren, sie nochmals geschickt hat und sie auch gegangen ist. Das hätte es bei uns zu Hause nie gegeben. Der hat eine ziemlich starke Körperbehaarung, und dann hat sie ihm mithilfe von Wachs im Beisein meiner Tochter die Haare von den Schulterblättern gerissen. Das sind Sachen, die fand ich einfach unappetitlich, und die sollten nicht vor den Augen eines Kindes geschehen.«

Noch bevor sich die Eheleute trennten, war es eine beschlossene Sache, dass sie von der Türkei nach Köln übersiedeln würden. Geplant war,  |38|dass Frau W. schon zu Beginn des neuen Schuljahres mit der Tochter umzieht und Martin W. zu seinem Versetzungstermin später folgen würde. Martin W. befürchtete jedoch, die Situation könnte sich sehr zu seinem Nachteil verändern, wenn er seiner Tochter in Köln nicht als Vater zur Seite stünde. So bittet er seinen Arbeitgeber, ihn früher nach Deutschland zu versetzen. Dieser zeigt sich verständnisvoll und erfüllt ihm den Wunsch.

»Ich bin zur Personalabteilung und habe gesagt, dass ich sofort nach Köln will, um in der Nähe meiner Tochter zu sein. Weil wir in unserem Unternehmen immer diese Eheproblematiken wegen der Auslandsaufenthalte haben, sind die sehr sensibilisiert und versuchen zu retten, was zu retten ist. Falls etwas zu retten ist. Die haben mich innerhalb von zwei Monaten umgehend versetzt. Ich bin nach Köln versetzt worden und habe eine Wohnung gesucht. Die sollte ganz in der Nähe der Schule meiner Tochter sein. Sicherheitshalber! Meine Tochter habe ich entsprechend dem Berliner Modell regelmäßig sehen können, dass heißt alle zwei Wochen ein Wochenende. Und dann habe ich in einer Art Salamitaktik mir einen Tag um den anderen Tag zusätzlich ertrotzt.«

Martin W. bleibt dem Rat des Betriebspsychologen treu, sich ganz auf seine Tochter zu konzentrieren. Durch eine glückliche Fügung ermöglichen es ihm seine Lebensumstände, den Arbeits- und Wohnort ganz nach den Gegebenheiten seiner Tochter auszurichten. Die für ihn unbefriedigende Umgangsregelung versucht er nicht vor Gerichten zu ändern, sondern er führt durch ständige Präsenz nach und nach einen neuen Status quo ein. Sämtliche Räume, die seine Frau unbesetzt lässt, füllt er aus. So gelingt es ihm nicht nur, seine Frau zur Kooperation zu veranlassen, er erwirbt sich auch innerhalb des Lebensbereichs seiner Tochter die Anerkennung als Vater. Bis zum gerichtlichen Scheidungstermin hatte er Tatsachen geschaffen, die seine Frau vor größte Schwierigkeiten stellen würden, falls sie versuchen sollte, ihm das Sorgerecht abzusprechen.

»Ich habe meine Frau dazu bewegen können, die Umgangsregelung zu erweitern. Das stand für mich im Vordergrund. Ich habe mich wirklich voll und ganz auf meine Tochter konzentriert. Ich habe Elternsprechtage besucht und bin zur Elternversammlung gegangen. Da hatte meine Frau nie so einen besonderen Trieb, so etwas wahrzunehmen, also habe ich das gemacht. Meine Frau wurde auch aus irgendwelchen anderen mir nicht nachvollziehbaren Gründen freundlicher. ›Guten Tag‹ und ›Auf Wiedersehen‹ hat sie zwar nicht gesagt, solange |39|unsere Tochter jedenfalls dabei war, aber wir konnten uns sachlich über bestimmte Sachen unterhalten. – Ja, dann kam der Scheidungstermin. Das war im Januar 2001. Das hat nur fünf Minuten gedauert. Die Ehe wurde geschieden, weil – na ja, Zerrüttungsprinzip. Dann hat die Richterin gesagt: ›Ich gehe davon aus, dass es beim gemeinsamen Sorgerecht bleiben soll‹, wie das vom neuen Kindschaftsrecht vorgesehen ist. Und da haben wir beide gesagt: ›Ja, dabei bleibt es.‹ Und das war es dann.«

Möglicherweise hätte sich diese positive Entwicklung fortgesetzt, wenn die Mutter nicht eine ganz neue Wende herbeigeführt hätte. Sie teilt ihrem Exmann mit, dass sie mit ihrem Freund und der Tochter zurück in die Türkei gehen möchte. In seiner mittlerweile bekannt kompetenten Art weiß Martin W. das zu verhindern. Auf dem Weg, seine Interessen und die seines Kindes zu vertreten, lässt er sich von keinerlei Widerstand beeindrucken. Seine Anwältin, die ihm wenig Hoffnung darauf macht, erfolgreich das Sorgerecht für sich beantragen zu können, entbindet er kurzerhand von ihrem Mandat und gewinnt den Prozess ums Sorgerecht.