Schicht im Schacht - Jörg Sartor - E-Book

Schicht im Schacht E-Book

Jörg Sartor

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Beschreibung

Eine ganze Region wird im Stich gelassen – Jörg Sartor klagt an

Jörg Sartor, Vorstand der Essener Tafel, ist die direkte, authentische Stimme aus dem Ruhrgebiet; einer, der weiß, wie es den Leuten ganz unten, den Alten, den Armen geht; denen, die hart arbeiten für wenig Geld. Seine Analyse einer Region, die seit Jahrzehnten mit dem Niedergang kämpft, speist sich aus einer tiefen Verbundenheit mit seiner Heimat und einem realistischen, menschlichen Blick auf die Zustände im Ruhrgebiet. Er prangert die Versäumnisse und das Versagen der regionalen und der Bundes-Politik an, die der fortschreitenden Zerrüttung der bevölkerungsreichsten Region unseres Landes seit Jahrzehnten zusieht und nichts gegen zusehende Spaltung der dortigen Gesellschaft unternimmt.

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Seitenzahl: 229

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Das Ruhrgebiet wird im Stich gelassen – Eine Anklage

Er ist ein Uhrgewächs aus dem Pott, ein ehemaliger Kumpel und setzt sich heute als Chef der Essener Tafel für die Hilfsbedürftigen seiner Stadt ein: Jörg Sartor erlebt hautnah, was mit seiner Heimat passiert.

Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die erschütternde Altersarmut, die überschuldeten Städte, die Flüchtlingskrise und die gesellschaftliche Spaltung, die diese explosive Konstellation vorantreibt – betroffen, wütend und gewohnt direkt berichtet Sartor wie es den Leuten im Ruhrgebiet wirklich geht, was im bevölkerungsreichsten Bundesland schiefläuft, und wie wenig gezielte Hilfe von der Bundes- und Landesregierung hier ankommt.

JÖRG SARTOR, treuer SPD-Wähler und Bergmann mit Leib und Seele, kümmert sich seit 2006 mit viel Engagement als ehrenamtlicher Vorsitzender der Essener Tafel um die Belange der Ärmsten in seiner Heimatstadt. Die von ihm vertretene Entscheidung, die Neuaufnahme bei der Essener Tafel für Ausländer zeitweilig auszusetzen, sorgte für eine erhitzte öffentliche Debatte und lenkte die Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Politik auf die Nöte und Konflikte im Ruhrgebiet.

JÖRG SARTOR

AXEL SPILCKER

SCHICHT IM SCHACHT

Verarmung, gescheiterte Integration, gespaltene Gesellschaft – der Niedergang des Ruhrgebiets. Eine Streitschrift

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 10/2019

Copyright © 2019 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Beate Koglin

Umschlaggestaltung: Werbeagentur Hauptmann und Kompanie, Zürich

unter Verwendung eines Fotos von: © Random House / Jürgen Naber

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-24650-1V001

www.heyne.de

Inhalt

Prolog

Kapitel 1: Die schwarze DNA meiner Kindheit

Kapitel 2: Die letzte Grubenfahrt

Kapitel 3: Keine Struktur an der Ruhr

Kapitel 4. Maloche, Familie und der Tod in der Grube

Kapitel 5: Integration am Scheideweg

Kapitel 6: Der Mehmet und der Josef

Kapitel 7: Von arabischen Clans, der Flüchtlingswelle und EU-Zuwanderern vom Balkan

Kapitel 8: Willkommen im Revier der armen Alten

Kapitel 9: »Jörg, mach du dat!«

Kapitel 10: Der Aufnahmestopp für Ausländer bei der Tafel

Kapitel 11: Politik und Medien – die Tafel im Ausnahmezustand

Kapitel 12: Ruhrgebiet reloaded

Prolog

Mensch, jetzt schreibt der noch ein Buch. Erst schreckt er die ganze Republik auf, ist in allen Medien präsent, sodass selbst mancher Bekannter im Sportverein und anderswo ihn schief anschaut. Und nun auch noch ein Buch.

»Du biss bekloppt«, haben manche zu mir gesagt. »Größenwahnsinnig«, meinten andere.

Aber solche Kommentare ließen mich kalt. Ich habe lange mit mir gekämpft, aber letztlich musste ich es einfach tun, ich konnte nicht anders, als dieses Buch zu schreiben und mich mitzuteilen.

Gestatten, dass ich mich vorstelle: Jörg Sartor, Chef der Essener Tafel. Ich bin der Mann, der im Frühjahr 2018 mit einem zeitweiligen Aufnahmestopp für Ausländer bei der Tafel monatelang für Schlagzeilen sorgte. Ich bin das Enfant terrible, an dem sich die Geister der Republik erregten. Mal pro, mal kontra. Wie kein Zweiter habe ich mit meiner Entscheidung damals polarisiert: die Öffentlichkeit, Medien und Politik gleichermaßen – bis hinauf zur Kanzlerin. Dabei wollte ich einfach nur die Balance zwischen ausländischen und deutschen Tafelkunden wiederherstellen.

Mit dem vorübergehenden Aufnahmestopp wollte ich ein Problem lösen, das inzwischen viele soziale Lebensmittelhilfen in ganz Deutschland betrifft. Nur traute sich bis dahin kaum einer, öffentlich über das Problem zu reden. Wer wollte schon an den medialen Pranger gestellt werden, wenn er das Dilemma vor Ort beschreibt. Dass beispielsweise bis zu 80 Prozent überwiegend junge männliche Flüchtlinge vor der Tür stehen und die deutschen Omas wegbleiben, weil sie sich unwohl fühlen. Die Essener Tafel ist beileibe kein Einzelfall, nur kaum einer traut sich bis heute, die Integrationsprobleme auch bei jenen, die am Existenzminimum leben, sachlich zu beschreiben.

Wie gesagt, worum es mir ging, ist die Balance. Betrachtet man allerdings den öffentlichen Diskurs, der mit meiner Aussage losgetreten wurde, gibt es scheinbar nur Schwarz oder Weiß. Kein Mittelmaß, kein Abwägen, kein Für und Wider. Lieber grob schnitzen und die Augen verschließen vor der Realität.

Meine Haltung befeuert die Debatte um die Flüchtlingspolitik bis heute. Trotz Einwanderungsgesetz und Kompromissen in der großen Koalition schwelt sie unablässig weiter. Siehe die rechten Krawalle in Chemnitz, die Umtriebe von Neonazi-Cliquen im Dortmunder Norden, siehe die Ausschreitungen von HoGeSa (Hooligans gegen Salafisten) in Köln 2014.

Zugleich kommt noch eine andere Seite der Medaille zum Tragen: gerade im Ruhrgebiet, gerade auch in meiner Heimatstadt Essen. Hier erreichte der umstrittene Staatspräsident Recep Tayyip Erdo˘gan den höchsten Zuspruch bei den Wahlen zum türkischen Parlament im vergangenen Jahr. 69 Prozent der wahlberechtigten türkischen Einwohner von Essen stimmten für den Autokraten in Ankara.

Die Probleme im Revier sind zusehends gewachsen: Armutszuwanderung aus den neuen EU-Staaten Rumänien und Bulgarien, steigende Kriminalität durch arabisch-libanesische Clans und schließlich die Flüchtlingswelle von 2015/2016, die gerade die ohnehin hoch verschuldeten Städte in der einstigen Bergbauregion völlig überfordert.

Die merkelsche Devise »Wir schaffen das« habe ich für mich immer schon klipp und klar mit dem Zusatz versehen: »Aber nicht so.« Auf jeden Fall nicht im Ruhrpott. Da kenne ich mich aus, da bin ich zu Hause. Auch wenn Politiker in ihren Sonntagsreden anderes verkünden, nehmen die Missstände in meiner Heimat zu. Deshalb schreibe ich dieses Buch. Ich will aufrütteln, den Finger in die Wunde legen. Ohne Wenn und Aber beschreiben, was aus meiner Sicht schiefläuft.

Denn ich bin einer, der sich nicht damit abfinden will, dass unsere Städte im Revier nach dem Aus von Kohle und Stahl ihre Orientierung verloren haben, dass sie sich vor lauter Schulden nicht mehr bewegen können. Es macht mich krank zuzusehen, wie der Mangel entlang der Ruhrroute A 40 heutzutage nur noch verwaltet wird. Ich bin einer, der nicht schweigen kann, der offen ausspricht, was er denkt. Auch auf die Gefahr hin, anzuecken und vom politischen Mainstream verhauen zu werden.

Geboren bin ich im Stadtteil Altenessen, Sohn eines Bergmanns und Gewerkschafters, Spross einer Familie von SPD-Wählern. Jahrzehntelang auf einer Zeche beschäftigt, verfüge ich über den inneren Kompass, der den Sozialdemokraten in ihrer einstigen Herzkammer im Revier verloren gegangen ist. Die Genossen haben keine Antworten mehr auf die Probleme der Menschen hier vor Ort, sie verharren immer noch in ihren alten Denkmustern. Und auch die anderen Parteien können es kaum besser.

Dreißig Jahre habe ich unter Tage als Steiger malocht. Heute mit 62 bin ich längst in Frührente und engagiere mich bei einer der größten Lebensmitteltafeln Deutschlands als ehrenamtlicher Vorsitzender. Ich bin gut vernetzt in Politik, Kirche und Verwaltung und weiß um die sozialen Probleme in Essen und in anderen Montanmetropolen. Mir ist klar, dass die armen Syrer für die Probleme, die wir jetzt mit ihnen haben, gar nichts können. Die Misere unseres Umgangs mit Migranten hat schon viel früher begonnen, mindestens vor dreißig Jahren. Irgendwann fing etwas an, gründlich danebenzugehen in Sachen Integration.

Im Laufe der vergangenen Jahre und Jahrzehnte ist bei mir ein Stück Heimatgefühl verloren gegangen. Vieles hat sich geändert in Essen und im ganzen Pott. Was einst ein Wir-Gefühl an der Ruhr entstehen ließ, zerfasert zusehends. Der soziale Zusammenhalt schwindet, und allzu oft verdrängt der Anspruch »ich zuerst« das Gemeinschaftsdenken. Wir, die einstigen Malocher und Einwohner, haben uns aus den Augen verloren.

Ich will davon erzählen, warum sich gerade die hoch verschuldeten Ruhr-Städte nach dem Aus von Kohle und Stahl so schwertun, wieder auf die Beine zu kommen. Ende 2018 schloss die letzte Zeche im Revier in Bottrop. Für alte Kumpels wie mich ein bedrückendes Ereignis. Zumal bis heute die Frage nicht geklärt ist, wie es nun weitergeht im Revier.

Ich nehme die Leserinnen und Leser zunächst mit auf einen Rundgang durch die Quartiere meiner Kindheit und Jugend, berichte sodann von der Zeit unter Tage, über die schwere Verantwortung, eine Kolonne zu führen, über die Mühsal, acht Stunden in tausend Meter Tiefe seinen Mann zu stehen, über ein Leben voller Gefahren, schwerer Unglücke und Toter.

Es gab natürlich auch dolle Zeiten: Das Leben als Kumpel in der einst so prosperierenden Zechenmetropole Essen fühlte sich lange Zeit gut an. Die Bezahlung war top, ebenso die Karrierechancen, die soziale Betreuung durch die Zechenbetreiber nicht zu vergessen. Und es gelang uns, die ersten Zuwanderergenerationen aus Polen, die schon Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts gekommen waren, und später die Migranten aus der Türkei, die seit den 60er-Jahren zuwanderten, erfolgreich zu integrieren. Es war die Zeit, in der die Schlote rauchten, eine Ära der Vollbeschäftigung, in der der Zusammenhalt in der Stadt ein anderer war als heutzutage.

Schließlich begannen sich die Dinge zu ändern: Wie in einem Drama entwickelte sich vor meinen Augen der schleichende Verfall einer Montanregion mit gut fünf Millionen Einwohnern. Ich bin ein Zeitzeuge, wie sich durch das Sterben der Berg- und Stahlwerke der Niedergang vollzog. Anhand von vielen Beispielen möchte ich darlegen, wie meine Stadt und Umgebung zu einem sozialen Notfall wurden und abstürzten. Bewegt, traurig und zornig zugleich – diese Empfindungen treiben mich geradezu um.

Ganze Stadtteile in Duisburg, Essen, Dortmund oder Gelsenkirchen fangen an zu verelenden oder drohen zu kippen: Nicht zuletzt weil kriminelle Geschäftemacher Migranten aus Rumänien und Bulgarien in sogenannten Schrottimmobilien unterbringen, um mit ihnen staatliche Leistungen zu erschleichen.

Zudem gibt es arabische und libanesische Großfamilien mit Hunderten von Familienmitgliedern. Diese Clans kontrollieren inzwischen ganze Straßenzüge. Längst haben sie ein großes Netzwerk aufgebaut, das von Berlin über Bremen bis an die Ruhr reicht. Auch wenn etwa die Duisburger Polizei vehement Vorwürfen widerspricht, dass No-go-Areas entstanden sind, so erinnert manches an abgeschottete Parallelgesellschaften, in denen Friedensrichter Konflikte lösen sollen und die generell die hiesige gesellschaftliche Ordnung ablehnen. Wer was auf sich hält, fährt einen hochgetunten Mercedes AMG oder Porsche, die Fahrzeugpapiere laufen über einen Strohmann, weil man ja offiziell Hartz IV kassiert.

»Lange Zeit ist dieses Phänomen vollkommen falsch eingeschätzt worden«, monierte der Essener Polizeipräsident Frank Richter in einem Gespräch mit Focus-Online. »Diese Menschen sehen den Staat als Beute an. Das gilt nicht für alle, aber zumindest für einen Teil.«1 Diese Äußerungen bedienen keine rassistischen Klischees, sondern decken sich mit meinen täglichen Eindrücken.

Und die Politiker? Quer durch alle Parteien haben sie weggeschaut und lange Zeit nichts gegen Missstände unternommen. Dabei sind die Probleme gerade in meiner Heimatstadt Essen seit Jahren offensichtlich: wachsende Altersarmut, der Essener Norden am Rande des Abgrunds. Viele deutsche Familien ziehen weg, in etlichen Stadtteilen liegt der Ausländeranteil inzwischen bei 50 bis 80 Prozent. So sind hier Gettos entstanden, in denen die Integration nicht gelingen kann.

In jeder dritten Grundschule in NRW verfügt gut die Hälfte der Kinder über einen Migrationshintergrund. In 56 dieser Schulen zwischen Rhein und Ruhr bestehen die Klassen laut NRW-Schulministerium sogar fast ausschließlich aus Zuwandererkindern.

Besonders hohe Quoten nennen die Experten für Essen, Dortmund und Duisburg. Der Schwerpunkt liegt im Essener Norden, dem Armenhaus der Stadt. Hier ist ein gefährliches Ungleichgewicht entstanden, vergleichbar etwa mit den sozialen Brennpunkten in Berlin-Neukölln. Dort haben Schulleiter sich im Sommer 2018 in Brandbriefen an den Berliner Senat gewandt und die gravierenden Probleme benannt.

»Immer häufiger unterrichten wir Kinder, die den Anforderungen der Schule noch nicht gerecht werden«, beklagen die Lehrer. »Stetig wächst die Anzahl der Schüler, die ihre Mitarbeit verweigern, über wenig Anstrengungsbereitschaft verfügen, aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht am Unterrichtsgespräch teilnehmen können, ständig abgelenkt sind, Probleme durch Handgreiflichkeiten lösen.«

Ähnliche Verhältnisse drohen auch an Brennpunktschulen an der Ruhr. Auch wenn manche es nicht wahrhaben wollen, aber diese Entwicklung ist in meinen Augen ein Alarmsignal dafür, dass Integration gescheitert ist. Wenn die Kleinen schon auf der Schulbank die deutsche Sprache nur unzulänglich lernen und in einem Viertel leben, in dem sich eine Parallelgesellschaft etablieren konnte, dann ist es aus meiner Sicht fünf vor zwölf.

Einstige blühende Arbeiterquartiere wie Duisburg-Marxloh, Hochfeld oder Hamborn haben einen schlimmen Niedergang erlebt. Ehemals noble Einkaufsstraßen wandeln sich zusehends in Billigmeilen mit Spielhallen, Wettbuden, Handyshops, Dönerläden und Halal-Geschäften. Siehe etwa die Steeler Straße, die direkt an unserem Tafel-Standort vorbeiführt.

Vieles, was gerade in Deutschlands größtem Ballungsraum mit zwölf großen Städten geschieht, birgt enormen sozialen Sprengstoff. Besonders im Essener Norden, meiner Heimat, fühlen sich viele Alteingesessene abgehängt, schlichtweg vergessen. Die Arbeitslosenrate liegt im April 2019 bei rund zehn Prozent, weit über dem Bundesschnitt von knapp fünf Prozent. Zudem drückt auch die Altersarmut vermehrt. Das merke ich jeden Tag bei uns an der Lebensmitteltafel. Wenn wir könnten, müssten wir anstatt 6000 die doppelte Quote an Bedürftigen versorgen. Solche Zahlen aber sprengen unsere Kapazitäten.

Und als hätte es nicht schon genug Probleme gegeben, wirkte die große Anzahl an Flüchtlingen, die 2015/16 zuwanderte, wie zusätzlicher Zündstoff. Die Probleme der Region sind noch weitergewachsen und nicht mehr zu übersehen. Doch angesichts der zur Verfügung stehenden Mittel war das für uns eben nicht mehr zu schaffen. Dieser Missstand spielte letztlich der AfD in die Hände. In den Revierstädten holten die Rechtspopulisten bei der Bundestagswahl 2017 durchweg zweistellige Ergebnisse, in manchen Stadtteilen sogar bis zu 24 Prozent.

In kaum einer anderen Region hierzulande spiegeln sich die sozialen Probleme so deutlich wider wie in den einstigen Arbeiterquartieren. Die Not wird allenthalben größer. Beinahe jeder fünfte der fünf Millionen Bewohner der einstigen Montanregion zwischen Rhein und Ruhr hängt am staatlichen Tropf. Der Kampf um die wenigen Mittel zwischen den armen Menschen im Revier und den Migranten ist gerade bei Einrichtungen wie der Essener Tafel täglich spürbar. Auch davon will ich in diesem Buch erzählen.

Ich möchte berichten, wie es ist, wenn wir Not leidende Menschen abweisen müssen, weil der Andrang zu groß geworden ist. Es ist zwar nicht leicht, aber eines musste ich in diesem Job lernen: Nein sagen zu können. Ein Nein, das Politiker angesichts bestimmter sozialer Missstände schon längst hätten aussprechen müssen. Zumindest bei der Essener Tafel haben wir unser Ziel – gegen alle Widerstände – erreicht. Es ist uns gelungen, wieder eine Balance zu schaffen. Die Omas sind zurückgekommen, das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Gruppen der Lebensmittelbezieher ist wiederhergestellt.

Allerdings handelt es sich nach wie vor um einen fragilen Zustand, der jederzeit wieder kippen kann. Fast jeden Monat müssen wir Tafel-Macher uns aufs Neue etwas einfallen lassen, um eine möglichst gerechte Verteilung von Nahrung und Kleidung zu gewährleisten.

Essen gilt wegen seiner großen syrischen Community als Anlaufpunkt für weitere Flüchtlinge. Das Problem wird daher in den nächsten Jahren nicht geringer, sondern eher größer, wenn wir es nicht schaffen, andere Lösungen zu finden. Auch dazu möchte ich am Ende meines Buchs einige Vorschläge machen.

Ich will mir dabei nicht anmaßen, der Buschkowsky aus Essen zu sein, sondern einfach aus der Sicht eines Insiders einen bedrohlichen Abwärtstrend beschreiben, an dessen Ende sich die Ärmsten der Armen aus Deutschland und dem Ausland um Lebensmittel streiten. Diese Entwicklung hat mich motiviert, dieses Buch zu schreiben. Denn wenn wir nicht noch mehr Wähler an die AfD verlieren wollen, müssen wir alle ganz genau hinschauen, benennen, was falsch läuft, und anders handeln.

Was wir am Ende des Tages brauchen, ist ein Masterplan fürs Revier, ein Aufbau West. Ein neuer Hilfspakt muss her. Ein gesamtdeutscher Soli, der je nach Bedürftigkeit den Kommunen unter die Arme greift und nicht nur Geld von West nach Ost transferiert. Gerade die hoch verschuldeten Ruhrmetropolen brauchen mehr staatliche Unterstützung, um ihre milliardenschweren Altlasten zu tilgen, die wachsenden sozialen Herausforderungen zu meistern und die teils marode Infrastruktur wieder instand zu setzen.

Kapitel 1

Die schwarze DNA meiner Kindheit

Da naht sie, die Überführung. Oben auf dem tristen, dunkelgrauen Gemäuer weist das Schild der S-Bahn-Station den Weg nach »Altenessen«. Einer Barriere gleich legt sich die Bahnbrücke im ersten Stock über die Haupteinfallstraße in den Essener Norden. Sie wirkt wie ein Grenzzaun, der heute eher trennt als verbindet: den reichen Süden der Ruhrmetropole vom armen Norden.

Kurz geht es hinein in einen Tunnel, bevor ich wieder ins helle Licht eintauche. Wir befinden uns im tiefsten Essener Norden: Püttland, Kumpels Heimat, Malocherbezirk, ureigenes Zechenterrain. Zumindest war das früher so. Früher. »Jesses, wat waren dat für Zeiten.«

Aber ehe ich in schwärmerisches Heimatgetue verfalle, schalte ich noch mal einen Gang runter und rolle langsamer durch mein altes Viertel. Hier bin ich 1956 geboren, dort drüben in den ehemaligen Zechenwohnungen. Ein lang gestreckter Quader, der eigens vor sechzig Jahren für die Bergleute errichtet wurde. Damals waren 60 Quadratmeter große Wohnungen für Vierpersonenhaushalte wie unsereins schon was. Da lebten nicht einfache Bergmänner, sondern Grubenangestellte wie mein Vater in der Hausnummer 484.

Heute blättert der Putz herunter, viele Fensterscheiben sind zerbrochen. Vor dem Eingang packt gerade ein älterer Mann seinen alten Kombi mit allerlei Habseligkeiten voll. Er ist der letzte der Mohikaner, der die Bruchbude verlässt. Einst gehörten die Wohnquartiere der Industriellenfamilie Hoesch, heute will ein Investor neu bauen.

Hier hat mein Vater als aufstrebender Bergmann in der benachbarten Zeche Fritz unter Tage geschafft. Hier habe ich im Hinterhof zwischen Garagen und einem schmalen Grünstreifen mit meinen Kumpels gespielt: Fußball, Verstecken, »Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?«, Cowboy und Indianer – einfach alles.

Wo heute noch ein paar Schrottkarren parken und die heruntergekommene Fassade vom bevorstehenden Abbruch der ganzen Wohnzeile kündet, dort war früher unser Spielparadies. Jede Familie hatte zwei bis drei Kinder. Und die spielten meist im Hinterhof: Wettrennen auf dem Verbindungsweg, auf Bäume klettern, Dächer erklimmen, Streiche aushecken. Schrammen, Beulen, blaue Flecken oder auch mal eine zerrissene Hose ließen unsere Mütter damals kalt.

»Schad dem Jung doch nit.« Was ihre Kleinen taten, besorgte die Frauen nicht sonderlich. Die kamen schon klar, außerdem fehlte es an Zeit, um ständig das Tun der Sprösslinge zu überwachen.

Geburtstagsfeiern im Klettergarten, Fahrradhelme für Dreijährige oder die heutige Manie, Babys in einem Tragesitz oder -tuch ständig vor der Brust zu tragen – all das gab es nicht. Bei Ärger in der Schule wurde kein Anwalt eingeschaltet. Da musste man einfach durch.

Ich weiß nicht, wie oft meine Mutter mit mir beim Arzt war, um irgendwelche Wunden versorgen zu lassen, die ich mir beim Spielen oder auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten und später von der benachbarten Grundschule zugezogen hatte.

Die Frauen saßen im Sommer draußen auf dem kleinen Rasenstreifen, schälten Kartoffeln oder verrichteten andere Dinge beim Schwätzchen. Unablässig plauderten sie mit ihren Nachbarinnen. Das Miteinander war täglich greifbar. Und das Getratsche: »Haste schon jehört? De Frau Kaschulze vom dritten Stock …«

Der heutige Zeitgeist würde diese Art des Zusammenlebens in unserer Siedlung vermutlich als übertriebene soziale Kontrolle abqualifizieren. Antiquierte Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, ausgeprägtes Patriarchat aufm Pütt, so würden manche Zeitgenossen diese Verhältnisse heute nennen. Das stimmt sicher, aber bei uns hatte es nicht den Makel, den ihm heutige Kritiker anheften wollen. Vielmehr folgten wir einer einfachen Devise: Man kannte sich, man half sich und redete über- wie auch miteinander. Der heutige Drang nach Individualismus, der beengte Blick auf die eigene kleine Lebenswelt, in der es wenig kümmert, was der Nachbar treibt, wie es ihm geht oder was er denkt, waren uns völlig fremd.

Ich bin vor 62 Jahren in Essen geboren. Da gab es außer Radio und Festnetztelefon keine Kommunikationsmittel. Über Letzteres verfügten nur einige wenige. Wer sich mitteilen wollte, musste das notgedrungen im persönlichen Gespräch tun. Stundenlang konnten sich die Männer am Tresen über Nichtigkeiten auslassen. Pils und Korn. Ein Gedeck nach der Schicht, um alsbald auch die ernsten Dinge des Lebens abzuhandeln: Fußball, Rot-Weiß Essen oder weiter nördlich Schalke 04.

Letztlich aber drehte sich alles um die Kohle. Die schwarze DNA im Revier, die goldene Lebensader, die damals in den Hochzeiten knapp eine halbe Million Beschäftigte samt ihren Familien im Ruhrpott ernährte.

Die Männer debattierten über Fördermengen, die Malaisen und Gefahren unter Tage, über die Kokszuweisungen, die Zulagen oder auch über den Arbeitskampf gegen die Zecheneigner. »Papa gehört am Samstag mir«, lautete eine Forderung der Gewerkschaften Ende der 50er-Jahre. Immer wieder marschierten wir als Knirpse bei Demonstrationsumzügen der IG Bergbau und der örtlichen SPD mit, um diese Ziele durchzusetzen.

Letztlich gaben die Grubenbesitzer nach, der Sonnabend fiel als Arbeitstag weg. Fortan galt die Fünftagewoche. Mein Vater ging immer vorneweg bei den Protestkundgebungen. Er war ein durch und durch politischer Mensch: Betriebsratsmitglied, Gewerkschafter und SPD-Parteigenosse. Wer was werden wollte, kam meist nur durch diesen Dreiklang nach oben.

Mein Vater ackerte sich vom einfachen Bergmann hoch zum Steiger. Schließlich schaffte er es bis zum Arbeits- und Personaldirektor der Zeche Nordstern im benachbarten Gelsenkirchen. Das war ein steiler Weg in die Chefetage.

Dass er mitunter zwei Tage nicht nach Hause kam, hat er mal so erklärt: Erst stand die Achtstundenschicht an, dann tagte der Betriebsrat – meist mit Bier und Korn –, darauf folgten letztlich noch Beratungen im SPD-Ortsverein.

Solche »Sitzungen« zehrten sichtbar an meinem Vater. Jedoch werde ich nie vergessen, wie er immer sagte: »Hört mal, dat mach ich doch alles nur für euch.« Denn eines war klar: Auf etlichen Zechen konntest du ohne die Gewerkschaft und die Genossen im Rücken die Karriere vergessen.

Aber folgen wir zunächst weiter den Spuren meiner Kindheit: Stadtkern Altenessen. In der Einkaufsstraße finden sich heute meist Filialen von Billigketten, Dönerbuden, Supermärkte mit Halal-Logo, arabische und türkische Friseure und Handyshops. Dazwischen breiten sich Spielhallen und Wettbüros aus wie ein wucherndes Geschwür. Von den einstigen Modeläden, Möbelgeschäften, Metzgereien und Bäckereien, Cafés, Restaurants oder Kneipen ist nur ein Bruchteil übrig geblieben.

Früher bin ich mit meiner Mutter hier häufig zum Einkaufen gewesen. Vater verdiente damals schon ganz ordentlich, und so konnten wir uns ab und an auch mal etwas leisten. Da gab es etwa den noblen Herrenausstatter Pröse, bei dem unsereins noch auf Kredit einkaufen durfte. So konnte mein Vater seine Anzüge in Raten abstottern.

Bei uns gegenüber öffnete einer der ersten Aldi-Supermärkte. Meine Mutter vermied es aber, dort einzukaufen. Das gehörte sich nicht für die Frau eines Steigers, der in 1000 Meter Tiefe eine ganze Kolonne von Arbeitern lenkte. Wer es zum Steiger gebracht hatte, der war schon wer. Der ging nicht in einen Discounter, der Lebensmittel zu Niedrigpreisen anbot.

Im Gegensatz zu den einfachen Kumpels lebte der Steiger in zecheneigenen Wohnungen mietfrei. Im Gegenzug musste er Lohnabzüge in Kauf nehmen, konnte aber sicher sein, dass alle drei, vier Jahre die eigenen vier Wände auf Kosten des Bergwerkbetreibers renoviert wurden. Ich weiß noch, wie der Malermeister mit einem großen Musterbuch vorbeischaute und wir uns in Ruhe eine neue Tapete aussuchen konnten.

Eine ganze Armada kleiner Handwerksbetriebe lebte von den Zechen – so wie auch die meisten Menschen im Revier. Die ganzen Gewerbetreibenden, Dienstleister, Geschäftsleute, die Kommunen – sie alle profitierten vom Kohleabbau und der Stahlproduktion.

Die Montanregion, Motor des deutschen Wirtschaftswunders, versorgte den fünftgrößten europäischen Ballungsraum nebst zwölf großen Städten mit dem nötigen finanziellen Kraftstoff. Zechenhochburgen wie Duisburg, Essen, Bochum, Gelsenkirchen, Oberhausen oder Dortmund erlebten damals ihre Blütezeit.

Und heute? Die Städte sind so hoch verschuldet, dass sie neue Kredite aufnehmen müssen, um etwa den Soli für Ostdeutschland mitfinanzieren zu können.

Bei dem Gedanken steigt Wut in mir auf. Aber was soll’s. Geschenkt. Weiter geht’s auf der Tour durch meine Kindheit. Da vorne links an der Altenessener Straße auf dem Karlsplatz gerät die Kirche St. Johann Baptist ins Blickfeld. Mangels Besucher und Geldmittel soll das Gotteshaus bald abgerissen werden. Der Kirchenvorstand hat das Gebäude vor einem Jahr an einen Krankenhausbetreiber verkauft. Da halfen auch keine Mahnwachen der Gemeindemitglieder oder die Aktionen einer eigens gegründeten Initiative gegen den Kirchenabriss.

Drei der vier katholischen Gebetsstätten in Altenessen werden bald Geschichte sein. Das ist gewiss auch eine Folge des drastischen Mitgliederschwunds, der besonders die christlichen Konfessionen im Ruhrgebiet trifft. Aber für viele Alteingesessene stellen diese Kirchen gleichwohl ein Stück Heimat dar, das nun den Abrissbaggern zum Opfer fällt.

Das Bistum verkündet zwar unaufhörlich, man habe kein Geld. Das mag glauben, wer will: Ich hege meine Zweifel, wenn ich an all den Immobilienbesitz der katholischen Kirche denke.

Am Kreisel, der zur neuen Umgehungsstraße führt, sehe ich immer wieder das alte Bild aus den Kindheitstagen vor mir: den Güterbahnhof mit all den Gleisen, wo das schwarze Gold verladen wurde. Nach dem Zechensterben machten die Stadtväter hier alles platt und gestalteten das Areal zur Grünfläche um.

Ein paar Hundert Meter weiter stand früher die sogenannte »Werksfürsorge«. Das war eine Art soziales Zentrum aus Kindergarten, Bücherei, der Begegnungsstätte für Mütter und der Praxis des Werksarztes.

»Dat war hier alles auf einem Ritt«, sinniere ich leise vor mich hin. Finanziert wurden solche Einrichtungen durch die Zechen. Die Betreiber hatten großes Interesse daran, auch im sozialen Bereich ihre Mitarbeiter und deren Familien eng an sich zu binden. Heute steht an dieser Stelle eine modern gestaltete Baptistenkirche.

Gegenüber machte die erste italienische Eisdiele auf – da war ich vier Jahre alt. Weiter drüben eröffnete 1960 eine jugoslawische Pommesbude. Anstatt Currywurst offerierte der Besitzer eine Bratwurst mit einer scharfen, braunen Soße. Echt lecker.

Alle paar Meter fanden sich in Altenessen Bierkneipen. An jeder Ecke rund um die Gruben standen die Männer an den Theken. Die meisten Wirtschaften verfügten über Säle, in denen die Leute damals ihre Feiern ausrichteten. Häufig tagten dort die örtliche SPD und die Gewerkschaften. Mitunter zelebrierten Landsmannschaften aus Bayern und dem Osten hier ihre eigenen Feste.

50 Pfennige kostete das Pils seinerzeit. Dort an der Altenessener Straße habe ich mein erstes Bier getrunken, heute ist da ein türkischer Klub drin. Dahinter ein türkisches Café. Nichts ist mehr zu sehen von dem Möbelgeschäft, dem Zigarrenladen, der großen Metzgerei. Es gibt in Altenessen keinen eigenständigen Metzger mehr, und auch viele der Kneipen sind längst verschwunden. Mit den Kohlegruben starben auch die Bierschwemmen.

Der nächste Weg führt mich zur benachbarten Zeche Fritz. Heute zeugen nur noch die rot-braunen Backsteinbauten vom Glanz alter Tage. Früher standen hier 500 Fahrräder der Kumpels am Eingang. Der Pförtner empfing die Werksführung mit Uniform und Schirmmütze. Und wehe, der hat uns Blagen erwischt, wenn wir uns durch die Pforte schleichen wollten, um in der Kantine unsere ersten Zigaretten zu erstehen.

Mein Vater verbrachte hier mehr Zeit als zu Hause. Ein echter Malocher, einer, der sich als Personaldirektor und Arbeitnehmervertreter vor allem für die Kumpels einsetzte.

Die Zeche ist längst Geschichte. Heute beherbergen die Räume ein nobles Restaurant. In der alten Kaue, dem einstigen Wasch- und Umkleideraum der Bergarbeiter, kann man inzwischen Hallenfußball oder Tennis spielen. Früher zählte der hiesige sogenannte Hansenschacht zu den modernsten Abbaugruben Europas. 1969 wurde er geschlossen.

200 Meter Luftlinie entfernt verfrachtete man die Kohle auf Züge der Köln-Mindener-Strecke, der ersten Verbindung zwischen Rheinland und Ruhrpott, die zu den Häfen in Duisburg oder sonst wohin führte.

Gegenüber dem Zechentor wohnten früher »die höheren Herren der Grube«: Reviersteiger, Fahrsteiger, Obersteiger und schließlich der Betriebsführer in der Villa unweit der Zeche. Dort gab es Hausdiener, die vor allem eine Aufgabe bewältigen mussten: die Koksheizung unten im Keller dreimal am Tag zu stochern. Durch die Nähe zum Werk konnten die Grubenbesitzer ihre leitenden Angestellten stets im Blick halten – auch ein subtiles Mittel sozialer Kontrolle. Da konnte keiner so einfach krankfeiern oder sich zu Hause gehen lassen.

In den Zechensiedlungen überwachten eigens eingesetzte Aufseher, dass die Hausregeln befolgt wurden. So etwa, wer im Haus an der Reihe war, die Treppe zu putzen. Oder jenes Verbot, das den Bewohnern untersagte, am Wochenende Wäsche aufzuhängen.

In den Kneipen rundherum schauten die Reviersteiger nach, wer abends über die Stränge schlug. Und dennoch: Die Leute waren ebenso zufrieden wie die Zechenbetreiber. Es gab ausreichend Arbeit und Lohn. Bei uns galt die einfache Devise: »Wes’ Brot ich ess, des’ Lied ich sing.«