Schlangenweg - Marie Mellin - E-Book

Schlangenweg E-Book

Marie Mellin

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Beschreibung

Ein nervenaufreibender Wettlauf gegen die Zeit. Auf dem Schlangenweg in Heidelberg finden Anne und Bärbel eine schwerverletzte Frau. Die Ermittler stehen vor einem Rätsel. Wer hat das Opfer angegriffen und einfach dort liegen lassen? Noch während die Polizei versucht Antworten zu finden, verschwindet Jasmin, eine Freundin der beiden Frauen, spurlos. Anne setzt alles daran, die Geheimnisse um diesen mysteriösen Fall auf eigene Faust zu lösen und das Leben ihrer Freundin zu retten. Was haben das Zentrum für Kernforschung in Genf und ein geheimnisvoller Maler mit dieser Sache zu tun?

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Kapitel 2
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Kapitel 13
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Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42

Schlangenweg

Marie Mellin

 

Impressum:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Veröffentlicht bei Infinity Gaze Studios AB

September 2024

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © Infinity Gaze Studios AB

Texte: © Copyright by Marie Mellin

Lektorat: Asmodeus Lektorat & Korrektorat

Klappentext: Ally K. Rød

Coverdesign: Valmont Coverdesign

Bildmaterial: Canva, Pixabay

Layout: Verena Valmont

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.

Infinity Gaze Studios AB

Södra Vägen 37

82960 Gnarp

Schweden

 

Kapitel 1

 

„Hast du schon gehört, sie haben das Haus verkauft?“, einer tuschelte es dem anderen zu.

„Dazu noch an Russen, das ist nun aber eindeutig der Gipfel. Brauchen sie denn so dringend das Geld?“

„Sie sind einfach raffgierig und können den Hals nicht vollkriegen.“

„Klar, sie halten sich für etwas Besseres.“

Der Blinde hörte das alles. Er nickte nur mit dem Kopf, lächelte verlegen und sagte leise: „Ja, ja.“ Dabei schienen seine erloschenen Augen in eine unbestimmte Ferne zu blicken, die den Sehenden verschlossen war.

Was wussten die Leute schon über dieses Haus?

„Lass sie reden“, hatte seine Mutter ihm früher immer geraten, wenn man sich wieder einmal etwas Merkwürdiges über die Leute von vis-à-vis erzählt hatte. So hatte man Anna, der Besitzerin des Hauses, immer vorgeworfen, dass sie mit Eva, der damaligen Wirtin des Ortes, befreundet war, die so ganz anders war als die anderen im Ort.

Anna war ebenfalls unangepasst. Das Gerede und Klatschen der anderen hörte sie sich an, grinste ab und zu darüber, sagte aber meistens nichts dazu. Keiner wusste, was sich in ihrem Kopf abspielte.

So war Anna.

Es gab Leute im Ort, die munkelten, dass sie froh sein konnte, dass sie nicht in einer dunklen Nacht spurlos und auf Nimmerwiedersehen verschwunden war.

Damals, als er noch sehen konnte, hatte der Blinde das Verhalten dieser Nachbarin auch teilweise seltsam gefunden. Es entsprach nicht so ganz den Vorstellungen, die man gewohnt war.

Auf dem Dach gurrte eine Taube. Seitdem er nicht mehr sehen konnte, registrierte der Blinde alle Geräusche umso stärker. Sie musste wohl drüben auf dem Dach des unlängst verkauften Hauses sitzen. Es stand nun schon einige Zeit leer. Das passte nicht zu diesem Haus, in dem das Leben immer pulsiert hatte. Eben fuhr ein Wagen vor. „Guten Tag, wie geht es dir?“ – das war Anne, eines der drei Mädchen, die das Haus geerbt hatten. Er erkannte sie an der Stimme. Sie hatte es immer eilig: Beruf, Familie, Kinder, die Rushhour des Lebens eben.

„Wir müssen das Haus allmählich ausräumen, leider. Die neuen Eigentümer wollen bald mit der Renovierung beginnen. Bevor wir das Haus ganz leerräumen, komme ich noch mal bei euch vorbei um mich zu verabschieden.“

Schwang da nicht doch ein Ton des Bedauerns in ihrer Stimme?

‚Eigentlich war es immer ein Haus, das im Besitz von Frauen war‘, dachte der Blinde.

Anna hatte es von ihrer Mutter geerbt. Sie hatte es dann später an ihre Tochter vererbt und nun hatten es deren drei Töchter geerbt.

Von diesen dreien lebte keine mehr in diesem Ort.

Sie kamen dem Blinden immer wie Zugvögel vor, die schon früh ihren zu engen Käfig weit hinter sich gelassen hatten.

Anne ging schnell ins Haus hinein und stieg die Treppe zum Dachboden hoch, hier musste sie noch entrümpeln. Als sie die Tür öffnete, blieb sie erst einmal stehen und atmete tief durch. Sie sah die alten Schuhe und Stiefel ihrer Eltern in einer Reihe säuberlich nebeneinander. Es war, als wären sie nur eben einmal schnell weggegangen, um einzukaufen oder um einen Spaziergang zu machen.

Nun, sie riss sich zusammen und landete wieder in der Realität. Sie musste aufräumen.

In einer Ecke lagen noch einige alte Schulbücher und Schulhefte. Amüsiert betrachtete sie die kindliche Schrift, die Rechtschreibfehler und Verbesserungen, die gemacht worden waren. Sie fühlte sich wie auf einem anderen Stern, in einer anderen Zeit.

Neben den alten Schulheften lagen ein paar vergilbte Bücher ihrer Eltern. Eichendorff, der Lieblingsautor ihrer Mutter und ein Band von Heine, den ihr Vater öfters zitiert hatte. Sie waren alt und verschlissen, aber die würde sie mitnehmen.

Hinter einer wackligen Schuhkommode war ein ganz altes, von Mäusen angefressenes Heft. Es war wirklich noch in der früheren, heute kaum noch lesbaren Sütterlinschrift geschrieben, anscheinend eine Art Tagebuch, so viel sie erkennen konnte. Der erste Eintrag war von 1934. Es folgten viele Tagebuchnotizen bis zum Jahr 1945. Im Dämmerlicht des Dachbodens konnte sie die alte Schrift kaum lesen, aber am Schluss glaubte sie zu lesen – „Was soll ich tun?“

Ja, genau, das fragte Anne sich auch. Sie nahm das alte Heft und die Bücher, denn sie hatte jetzt keine Zeit alles zu lesen.

Sie musste zurück, denn heute hatte sie noch einen langen Heimweg und eine polizeiliche Vernehmung vor sich.

Es war so schwül hier oben, genauso wie damals als es passierte.

Plötzlich stand ihr wieder alles vor Augen:

Die Frau lag ganz ruhig da, die Augen geschlossen, nur ein kleines blutrotes Rinnsal an der Schläfe störte die Harmonie dieses Bildes. Sie standen beide zunächst wie erstarrt vor der blassen Frau auf dem steinigen Boden.

Dieses Bild passte so gar nicht in den Verlauf dieses Nachmittags. Sie mussten Hilfe holen. Bärbel suchte in der Tasche nach ihrem Handy, um die Notrufnummer zu wählen, Anne kümmerte sich um die Frau. Sie wischte ihr das Blut von der Stirn.

Was war geschehen?

Sie hatten sich an diesem Nachmittag mit Jasmin verabredet. Sie wollten den engen, steilen Schlangenpfad zum Philosophenweg hinaufsteigen um von oben dieses immer wieder faszinierende Panorama zu genießen: den Neckar und die Altstadt von Heidelberg.

Diesen Spaziergang hatten sie schon mehrmals gemacht und hatten sich dann dort oben mit Jasmin getroffen, die sie zum Kaffee eingeladen hatte.

Der Weg war sehr eng und steinig, von hohen Hecken gesäumt.

 

 

Efeu überwucherte alles, dornige Brombeersträucher hingen über ihren Köpfen, aber es gab auch wunderschöne Vergissmeinnicht und gelbe Sonnenblumen, die aus den angrenzenden Gärten in den Pfad hineinwuchsen. Sie schwitzten und kamen nur langsam voran, denn der Weg wurde immer enger und steiler.

Bärbel erzählte ihr von einigen Bekannten und ihren Problemen und war so in ihr Gespräch vertieft, dass sie die beiden jungen Männer nicht bemerkte, die hinter ihnen gingen.

Anne trat mehrmals einen Schritt zur Seite und signalisierte den beiden, dass sie gerne überholen konnten. Der Pfad war hier nämlich so eng, dass maximal zwei Personen nebeneinander gehen konnten. An einigen Stellen war sogar dies nicht möglich und man musste hintereinander gehen.

Die beiden Jungs schienen es aber nicht eilig zu haben und ließen sich immer wieder einmal ein paar Schritte zurückfallen. Anne fand dies etwas merkwürdig, sagte aber nichts zu Bärbel, die ihr gerade von ihren Urlaubsplänen erzählte und im Moment nichts anderem Beachtung schenkte.

Plötzlich wurde es den beiden hinter ihnen wohl doch zu dumm und sie drängelten sich an ihnen vorbei, so dass Annes Handtasche von der Schulter gerissen wurde und auf dem Boden landete. Einer der Jungen griff danach, aber Bärbel hatte sie schon aufgehoben und so stürmten die beiden nur schnell an ihnen vorbei.

„Findest du ihr Verhalten nicht merkwürdig?“

Anne schaute Bärbel fragend an.

„Ach nein, du weißt doch, wie die jungen Leute sind, die haben es immer eilig.“

Gemächlich folgten sie den zahlreichen krummen Windungen des Pfades und waren bald wieder in ihr Gespräch vertieft.

Ab und zu mussten sie einmal stehen bleiben, denn der Hohlweg wurde immer steiler und es wurde auch immer schwüler. Bald würden sie oben sein.

Da sahen sie die Frau am Boden liegen. Sie waren zunächst einmal ganz perplex. Wo waren denn die beiden Jungs, die sie vorhin überholt hatten?

Von oben hörten sie nun Schritte den Pfad herunterkommen. Es war eine Frauengestalt. Dann erkannten sie sie, es war Jasmin, die ihnen entgegenkam.

Plötzlich blieb sie jedoch wie erstarrt mitten in ihrer Bewegung stehen. Sie hatte nun auch die Frau vor ihnen auf dem Boden bemerkt.

„Nein, das kann doch wohl nicht wahr sein.“

Damit hatte sie aber auch Anne und Bärbel aus ihrer Erstarrung gelöst und sie bückten sich beide über die Frau. Sie sprachen sie an, aber die Frau stöhnte nur leise, konnte den Kopf aber nicht zu ihnen drehen.

Jasmin hatte ihr Handy genommen und wählte die Notrufnummer 112. Sie schilderte die Situation und forderte einen Krankenwagen an.

„Ich laufe schnell nach oben, um den Sanitätern den Weg zu erklären.“ Damit wandte Jasmin sich um und rannte den Schlangenpfad hinauf. Sie hörte gar nicht mehr zu, was die beiden Freundinnen ihr sagten.

Anne hatte ein sauberes Taschentuch genommen und

wischte von neuem das Blut weg, das der Frau von der Schläfe ins Auge lief. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sie die Sirene eines Rettungsdienstes hörten.

Jasmin hatte die Leute richtig dirigiert, denn bald hörten sie den Krankenwagen oben am Philosophenweg bremsen und dann kamen die Sanitäter auch schon den Pfad herab.

„Der Arzt kommt auch, so schnell es geht“, sagte einer zu den beiden Frauen. Bärbel und Anne traten zur Seite. Wenig später bremsten zwei Autos.

Zwei Polizisten tauchten oben am Weg auf und hinter ihnen ein Arzt. Die Polizisten wollten von ihnen wissen, was passiert war. Das konnten sie aber nur bruchstückhaft erzählen, ihre Darstellungen klangen etwas konfus.

„Kommen Sie doch bitte morgen aufs Polizeirevier zu einer genaueren Vernehmung“, meinte einer von ihnen.

„Wo ist denn ihre Freundin abgeblieben? Warum ist sie denn nicht mehr hierher zurückgekommen?“

Stimmt, aber darauf wussten sie beide nun auch keine Antwort.

„Geben Sie uns Ihre Adressen und die Adresse ihrer Freundin und dann können Sie gehen.“

Sie waren dann zur Straßenbahn gegangen und beschlossen, nach Hause zu fahren. Es war nämlich schon spät geworden.

„Ich rufe nachher bei Jasmin an und frage sie, warum sie nicht mehr zurückkam und gebe dir dann Bescheid. Also, bis dann.“ Bärbel stieg aus der Bahn aus. Anne war froh, als sie zu Hause ankam. Wenig später läutete das Telefon, es war Bärbel.

„Du, bei Jasmin geht niemand ans Telefon.“

„Merkwürdig. Ich probiere es später nochmals.“

Spät am Abend ging endlich jemand in Jasmins Wohnung ans Telefon. Es war ihr Mann.

Anne erzählte ihm genau, was passiert war. Er wusste allerdings schon Bescheid, da die Polizei bei ihm nachgefragt hatte, wo seine Frau sei.

„Jasmin ist nicht hier“, erzählte ihr Mann, „im Esszimmer ist der Kaffeetisch gedeckt und alles ist unberührt. Aber das erstaunt mich nicht, denn in letzter Zeit verhält sie sich teilweise recht merkwürdig. Was sagten Sie, sie ist einfach nicht mehr an den Tatort zurückgekommen? Ich hoffe, dass sie heute Nacht nach Hause kommt.“

Jasmin war aber nicht mehr nach Hause zurückgekommen und hatte sich auch nicht mehr gemeldet. Ihr Handy war ausgeschaltet und war auch nicht mehr zu orten.

Nun saß Anne hier in einem spärlich möblierten, recht kahlen Vernehmungszimmer zwei Polizisten gegenüber, die ihr einen Ordner mit Fahndungsfotos zeigten. Sie sollte schauen, ob sie die beiden jungen Männer, die sie auf dem engen Weg überholt hatten, erkennen könne.

Sie sah einige Fotos, die den beiden ähnlich sahen, aber eine genaue Ähnlichkeit konnte sie nicht feststellen. Sie gab den Ordner zurück.

„Haben sie irgendwas von ihrer Freundin Jasmin gehört?“

Anne schüttelte den Kopf.

„Erzählen Sie doch einmal genauer, was ihre Freundin für ein Mensch ist.“

Was sollte sie schon erzählen?

Sie, Jasmin und Bärbel kannten sich schon seit der ersten Klasse. Sie waren während ihrer ganzen Schulzeit ein eingeschworenes Team. Wie hatte eine Klassenlehrerin sie einmal genannt: „Trio infernale“.

Ihre Wege gingen zwar dann später auseinander, aber der Kontakt brach nie ganz ab.

Jasmin war Mitarbeiterin bei einer großen Pharma-Firma geworden. Sie trafen sich ab und zu zum Kaffee oder um gemeinsam ins Theater oder zu interessanten Veranstaltungen zu gehen. Jasmin war verheiratet, die Ehe war kinderlos und sie reiste sehr viel, teilweise zu Kongressen und im Urlaub liebte sie es, lange Bergtouren zu machen oder auch tauchen zu gehen.

Mehr konnte sie dazu nicht sagen.

Nachdem die Polizisten keine weiteren Fragen mehr hatten, verließ sie schnell das Vernehmungszimmer. Sie musste dringend nach Hause, denn sie hatte für den nächsten Tag noch einiges vorzubereiten.

 

Kapitel 2

 

Da saßen sie nun. Es war die erste Stunde in diesem Fach, von dem sie keine Ahnung hatten und das sie doch irgendwie gereizt hatte.

In ihrem Kopf schwirrten ganz ungeordnet recht bekannte Namen herum, zum Beispiel Namen wie Sokrates, Platon, auch von Kant hatte man zumindest schon gehört.

Jetzt wollten sie genauer wissen, was hinter dem Ganzen steckte, denn hatte Philosophie nicht auch etwas mit Spekulation zu tun, mit abgefahrenen Ideen, quasi Spinnereien, die man oft noch nicht einmal wissenschaftlich widerlegen konnte?

Außerdem munkelte man, dass die Kursleiterin ein skurriler Typ sei, die irgendwie oft merkwürdige Fragen stellte. Nun ja, man würde sehen, wenn es zu blöd würde, konnte man sich ja nach der ersten Kursstunde immer noch abmelden.

Da war sie auch schon und legte erst einmal eine Folie auf.

„Ich beginne zunächst mit einer Quizfrage. Schaut euch das Zitat an und überlegt euch, wer das geschrieben haben könnte und warum er/sie das so geschrieben hat.“

 

 

 

„Ich bin,

aber ich habe mich nicht,

darum werden wir erst.“

(Zitat eines Philosophen, 20. Jhdt.)

 

Die Schüler lasen den Text und schauten sich erst einmal etwas ratlos an.

„Nehmt einmal Stellung zu dem Satz. Was sagt der Satz aus und wie beurteilt ihr diese Aussage?“, wollte sie wissen. Zunächst entstand ein allgemeines Gemurmel, dann meldete sich ein Schüler namens Andi. Er meinte: „Der Anfang des Zitats, also die Aussage ‚Ich bin‘, die ist ja nun vollkommen klar, denn dass ich bin und dass auch die anderen sind, das kann man ja nun ohne weiteres daran sehen, dass der Raum hier vollkommen überfüllt ist von den vielen ‚Ichs‘.“

Damit hatte er die Lacher schon einmal auf seiner Seite. Sven meinte:

„Klar, Andi hat Recht, wie Sie sehen, sitzen wir alle vor Ihnen und sind groß oder klein, dick oder dünn, aber alle sind wir irgendwie da. Vielleicht sind wir geistig nicht immer ganz da, aber körperlich sind wir anwesend oder würden Sie das leugnen?“

Sie musste grinsen: „Klar, ich sehe euch, also seid ihr da.“

Gut, einige nickten, es ging also nichts über die faktische Kraft des Wirklichen.

Nur die zweite Zeile, „aber ich habe mich nicht“, stieß bei den meisten auf Unverständnis.

Laura meinte: „Kann man es so deuten, dass der Mensch meistens fremd bestimmt wird, dass er selten autark, selbständig handeln kann?“

Sophie war der Meinung, dass der Mensch sich nicht selbst habe, weil er sich im Laufe seines Lebens schuldig mache, sich also selbst nicht immer in seiner Gewalt habe.

Tim meinte: „Dieser Ausspruch hat schon seine Berechtigung, denn ich habe, also besitze mich eigentlich selbst nie so ganz, da unser Denken und unsere Gefühle häufig sehr widersprüchlich sind.“

Das Ende des Zitats, „darum werden wir erst“, leuchtete ihnen schon eher wieder ein. Sandra deutete es so: „Das Leben entwickelt sich doch immer in eine Zukunft hinein, das ist doch klar. Allein der biologische Rhythmus eines menschlichen Lebens zeigt ja schon dieses Werden, aber auch im Hinblick auf die Technik oder die Wissenschaft können wir doch beinahe täglich ein ständiges Werden beobachten. Die Medien berichten fast jeden Tag von neuen Erfindungen oder Entdeckungen.“

„Ja, Sandra hat Recht“, riefen einige Schüler.

„Hat jemand Einwände?“

Nein, alle waren mit Sandras Aussage einverstanden.

„Prima. Ihr zweifelt also nicht an der ersten Aussage dieses Textes. Jetzt nehmt euch doch einmal ein Blatt Papier und erklärt mit euren eigenen Worten, wieso wir wissen, dass wir sind.“

Nun wurde es ruhiger im Zimmer, ab und zu schaute einer dem anderen aufs Blatt und beriet sich kurz mit dem Nachbarn oder der Nachbarin.

Zunächst wollte niemand vorlesen, was er geschrieben hatte, aber dann schlug einer vor, dass Felix seinen Text vortragen sollte. Felix wollte erst nicht, ließ sich dann aber doch überreden.

„Die Frage, ob wir wirklich existieren, kann man meiner Meinung nach nicht beantworten. Wir können uns zwar fühlen und sehen, doch das ist noch kein Beweis, dass wir existieren. Vielleicht leben wir ja in einer Traumwelt und bilden uns die ganze äußere Welt mit all ihren Erscheinungen nur ein.

Es könnte ja sein, dass wir in Wirklichkeit alle verkabelt sind und Helme mit integrierten Bildschirmen aufhaben. Vielleicht bewegen wir uns nur in einer vorgespielten Welt, die in echt gar nicht existiert. Vielleicht sind wir also alle Maschinen und können gar nicht richtig sterben. Wir werden einfach nur irgendwann abgeschaltet, von den Kabeln entfernt. Yeah, check it out.“

„Cool“, meinte Sven, „das ist ja genau das, was im Film ‚Matrix‘ dargestellt wird, nämlich, dass wir nie sicher sein können, was denn nun wirklich unsere Realität ist.“

Nun sollten sie raten, von wem der Ausspruch auf der Folie sein könnte. Einige riefen auf gut Glück: Sartre oder Heidegger.

Es hätte Anne auch sehr gewundert, wenn jemand sofort auf die richtige Lösung gekommen wäre, aber verraten wollte sie es ihnen auch nicht gleich. Diese jungen Leute hatten heute doch alle einen PC oder Laptop oder ein Smartphone, sollten sie doch einmal bis zur nächsten Stunde herausfinden, wer dieser Philosoph war. Als Tipp hatte sie ihnen nur gesagt, dass es ein bedeutender Philosoph des 20. Jahrhunderts war, der sowohl in Ostdeutschland wie in Westdeutschland gelebt hatte und sogar ganz in ihrer Nähe.

 

Manchmal beneidete sie diese jungen Leute, vor denen das Leben noch so weit und offen lag, die noch ihre ganze Zukunft mit allen Möglichkeiten vor sich hatten. Was sie häufig auszeichnete, das war ihre Ehrlichkeit. Sie gaukelten meistens keine Moral vor, hinter der sie nicht standen. Das war positiv, auch wenn ihre radikalen Ansichten manchmal schwer zu schlucken waren. So würde es wohl auch mit diesem Kurs sein, aber das belebte die Diskussionen.

Am Ende der Stunde musste sie wieder an Jasmin denken, wo war sie bloß? Das entsprach doch gar nicht ihrer Art, einfach wegzugehen, das Handy auszuschalten und nichts mehr von sich hören zu lassen. In den nächsten Ferien würde sie auf Spurensuche gehen.

 

Kapitel 3

 

An einem Tag, als der Mistral, der Wind, der im Pyrenäengebiet die Türen und Fenster heftig zuschlagen lässt, wieder einmal mit mittlerer Sturmstärke wehte, fuhr Anne nach Carcassonne, einer kleinen südfranzösischen Stadt, die mit ihrer intakten Stadtmauer noch sehr mittelalterlich wirkt.

Sie war vor vielen Jahren schon einmal im Sommer hier gewesen, aber jetzt im Herbst musste man sich nicht mehr durch die schier endlosen Touristenströme drängeln, die im Sommer die kleine Stadt förmlich überfluteten.

Sie besichtigte das Château und bummelte dann durch die engen kleinen Gässchen. Ein Geschäft reihte sich an das andere und natürlich gab es neben den Lebensmittelmärkten zahlreiche Souvenirgeschäfte, Buchläden und auch Trödler, die antike Dinge verkauften.

Vor einem Geschäft mit der Aufschrift ‚Antiquités‘ blieb sie stehen. Sie betrachtete in der Vitrine eine alte Sonnenuhr in Form einer golden strahlenden Sonne mit der Inschrift „Tempus fugit“ – Ja, die Zeit enteilt. Dieser Ausdruck berührte sie sehr, gerade in ihrer jetzigen Situation. Neben dieser Sonnenuhr war eine wunderschöne alte Puppenküche. Plötzlich stand sie ganz still, sie hörte nichts mehr von dem Getriebe der Menschen um sie herum, sondern sie sah sich in Gedanken wieder in der Küche des alten Bauernhofs ihrer Großmutter.

Wie in dieser Puppenküche gab es dort noch einen ganz großen Herd, der mit Holz geheizt wurde. Über diesem Herd war ein offener Kamin, in dem der Schinken zum Räuchern aufgehängt wurde. Ach, leider war diese heile Welt für sie untergegangen und sie fühlte sich im Moment davon so weit entfernt als wäre sie in einer fernen Galaxie, abgehängt von allen Verbindungen, die bisher zu ihrem normalen Alltag gehört hatten. Alle Gewissheiten ihres bisherigen Lebens waren irgendwie auf den Kopf gestellt und sie musste sich erst wieder ganz neu sortieren.

„Cela vous intéresse-t-il? - Interessieren Sie sich dafür?“

Anne schreckte aus ihren Gedanken auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass eine Frau sie beobachtet hatte. Sie nickte.

„Sie waren eben ganz in sich selbst versunken, nicht wahr? So etwas habe ich hier in dem Menschengetöse vor meinem Laden eigentlich noch nie erlebt. Wollen Sie mit in mein Geschäft kommen? Ich habe noch mehr alte Sachen, die Sie vielleicht interessieren.“

Sie wusste nicht so recht, was sie von dieser Frau halten sollte, war sie nur eine clevere Geschäftsfrau, welche die Leute genau beobachtete und dann versuchte, sie in ihr Geschäft zu locken? Eigentlich sah sie gar nicht so sehr nach einer gerissenen Geschäftsfrau aus. Ihre Kleidung war nicht mondän, sondern eher recht alternativ: ein langer, weiter, schwarzer Rock, eine graue Bluse und schwere, geschnürte schwarze Schuhe. Ihre dunklen Haare waren straff aus dem Gesicht gekämmt und am Hinterkopf mit einer Holzspange aufgesteckt. Sonst trug sie keinerlei Schmuck.

Sie fand sie so ganz anders als die anderen Händlerinnen, an denen sie heute vorbeigekommen war. Sie trat mit ihr in das Geschäft ein und bemerkte sofort, dass dies hier kein Souvenirladen war, in dem sich die Touristen einige mehr oder minder billige Erinnerungsstücke kaufen konnten. Dieser Laden hatte wirklich antike Sammlerstücke und folglich waren die einzelnen Sachen auch nicht ganz billig.

„Sie können sich gerne umschauen, vielleicht gefällt Ihnen ja etwas.“

Hinter einem Tisch mit wunderschönem altem französischem Porzellan, sah sie einen großen, wuchtigen antiken Bücherschrank mit Büchern. Sie griff einige heraus und versuchte die alte Schrift zu deuten.

„Interessieren Sie sich für Bücher?“

Sie bejahte, fügte aber hinzu, dass diese alte französische Schreibweise für sie recht schwer zu entziffern sei. Die Händlerin nickte, das konnte sie gut verstehen. Sie deutete auf ein kleineres Regal und sagte, dass sie dort einige dieser alten Bücher in heutiger moderner französischer Schreibweise habe.

Bei diesem Regal fiel ihr jedoch zuerst etwas ganz anderes ins Auge: eine eiserne Maske und ein paar rostige Hand - und Fußfesseln. Sie wollte wissen, ob dies irgendeine Beziehung zu den Büchern habe.

„Ja“, die Händlerin nickte, „in einem dieser Bücher spielen diese Gegenstände eine zentrale Rolle. Die Maske und die Fesseln sind auch unverkäuflich. Wie Sie sehen, habe ich sie so am Regal und an der Wand dahinter befestigt, dass man sie nicht stehlen kann. Sie haben für mich selbst nämlich einen großen Erinnerungswert. Es sind gewissermaßen Familienerbstücke.“

Anne betrachtete die Eisenmaske genauer. Sie sah sehr bizarr aus. Statt einer richtigen Öffnung für die Augen waren nur dünne Sehschlitze zu sehen und auch als Mundöffnung gab es nur ein kleines schmales Loch. Oben an der Maske waren rechts und links hornartige Gebilde, die ihr etwas Dämonisches verliehen. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die Legende des Mannes mit der eisernen Maske, der angeblich ein Nachfahre Napoleons gewesen sein soll, den man Jahrzehntelang auf einer südfranzösischen Insel eingekerkert hatte und der immer eine Eisenmaske tragen musste, damit niemand ihn als Nachkomme Napoleons erkennen konnte. Dies wollte man unbedingt verhindern, aus Angst, dass ein solcher Nachfahre sich zum Herrscher aufschwingen und das Land in neue Kriege führen könnte.

„In welchem Buch spielt diese Maske denn eine Rolle?“, wollte sie wissen.

„Hier in diesem Buch“, sagte die Händlerin und griff nach einem Buch im Regal. Anne las den Titel: ‚La vie de Bernadette Duchamp‘ – ‚Das Leben der Bernadette Duchamp‘.

„Und wie nennt man diese Art von Masken?“

„Dies war eine spezielle Art von Masken für Frauen, die Böses über andere sagten oder Unwahrheiten verbreiteten.“

„Sie sagten vorhin, dass diese Maske eine Art Familienerbstück sei. Können Sie mir das erklären?“

„Das ist eine alte und recht lange Geschichte. Sie spielt zur Zeit der Katharer und der Inquisition. Eine meiner Verwandten geriet in die Fänge der Inquisition und musste Schlimmes erleben. Sie wissen ja, dass wir uns hier, im Grenzgebiet zwischen Südfrankreich und Katalonien, im ehemaligen Land der Katharer befinden?“

„Ja, doch, das wusste sie und gerade deshalb hatte sie sich diese Grenzregion auch ausgewählt, die dünn besiedelt war und wo man wunderbare Rucksacktouren in die Pyrenäen machen konnte, wo man unerkannt in alten Berghütten zur Not auch einmal für einige Zeit untertauchen konnte. Genau die Art des Reisens, die ihre Freundin Jasmin so gerne mochte. Insgeheim hoffte sie, irgendeine Spur von ihr zu entdecken, denn Jasmin liebte die Berge und war recht gerne alleine auf Bergtour, je einsamer umso besser.

„Waren Sie schon im Museum der Folterinstrumente, ein paar Straßen von hier entfernt?“, wollte die Händlerin wissen.

Nein, da war sie noch nicht gewesen. Sie hatte zwar das Hinweisschild gelesen, aber irgendwie graute es ihr doch ein bisschen davor.

„Um die Geschichte der Katharer zu verstehen, sollten Sie unbedingt dorthin gehen. Sie können erst dann die ganze Grausamkeit der Inquisition verstehen und vor allem das Leid, das man den Katharern damals antat.“

Die Händlerin schaute auf die Uhr. „Es ist schon fünf Uhr nachmittags. Wissen Sie was? Ich werde meine Boutique für heute schließen und werde Sie durch das Museum führen. Cela vous plaît? Okay?“

Anne akzeptierte das nur allzu gern.

So würde sie nicht allein den grausamen Folterinstrumenten gegenüberstehen, sondern hätte jemanden, mit dem sie darüber reden könnte, so dass alles nicht ganz so furchteinflößend wäre.

„Erzählen Sie mir dann auch, welche Bedeutung diese Maske in Ihrem Laden hat?“

„Diese Geschichte finden Sie hier in diesem Buch, das Sie gerade in der Hand halten: ‚Das Leben der Bernadette Duchamp‘. Ich werde Ihnen nach dem Museumsbesuch ein paar Episoden aus dem Leben dieser Bernadette Duchamp, meiner Vorfahrin, erzählen. Aber die Einzelheiten ihres Lebens, die müssen Sie unbedingt in diesem Buch nachlesen. Sie werden sehen, es lohnt sich.“

Anne schaute auf den Preis: 16 Euro. Okay, dafür würde sie es nehmen. Nachdem sie bezahlt hatte, hängte die Händlerin ihr Schild: ‚Fermé‘ neben das Schild mit den üblichen Öffnungszeiten und ging mit Anne zum Museum.

 

Kapitel 4

 

Sie traten aus der Sonne in kühle, schattige Räume. Ihre Augen mussten sich erst an dieses spärliche Licht gewöhnen. Gleich am Eingang sah Anne eine Maske, die fast genauso aussah wie die Maske im Laden der Händlerin. Daneben stand ein Erklärungsschild: ‚Schandmaske für keifende, verleumderische Frauen‘

Ihre Begleiterin fügte noch hinzu: „Mit dieser Maske konnte man jede Frau mundtot machen und die Männer, welche die Frauen zu dieser Strafe verurteilten, wussten genau, wie demütigend diese Maske für die Frauen war.

---ENDE DER LESEPROBE---