Schlaufen - Christian Günther - E-Book

Schlaufen E-Book

Christian Günther

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Beschreibung

Wilhelminisches Gymnasium, Bordell, Bälle, Ich küsse Ihre Hand, Madame - erste Stationen aus dem Leben Viktor Lipsheims, Sohn aus großbürgerlichem, jüdischem Hause. Die Familie Lipsheim ist eine dreier deutscher Familien, deren Schicksal der Roman Schlaufen nachzeichnet. Von 1900 bis 2000 ist jedem Jahr eine Momentaufnahme zu-geordnet, die im regelmäßigen Wechsel einen Vertreter der jeweiligen Familie zur Hauptperson hat. Für Familie Prensch, die zweite der Familien, wären einige solcher Snapshots: eine Berliner Hüttensiedlung und elfeinhalb Stunden Fabrikarbeit, der Steckrübenwinter, Stocherkahnfahrten, Bruchpilot Quax und der Bombenkeller, der erste VW-Käfer, Familienfeiern, WG-Querelen und Coming-Out. Der Flugbaumeister und Erprobungsflieger Kurt Prensch bildet das unumschränkte Oberhaupt dieser Familie. Die dritte Familiengeschichte - die der aus Pommern stammenden Trelows - ließe sich zum Teil mit Hilfe folgender Stichworte skizzieren: Kuhmist und Kutschfahrten, Leben der Junker und Tod an der Front, Trümmerberlin, Wirtschaftswunder-Grillabend und Kurschatten, Nervenzusammenbruch und Love-Parade. Friedhelm Trelow, pommerscher Landwirt, fällt im ersten Weltkrieg. Seine Frau heiratet einen Junker und wird National-sozialistin. Sein Sohn Rainer studiert in Berlin und lernt dort Lea Lipsheim kennen. Nur an dieser Stelle kommt es im Verlauf des Romans zu einer Verbindung zwischen zwei der Familien. Nach 1945 besteht jedes dritte, der Familie Lipsheim vorbehaltene, Kapitel aus einer leeren Seite. Jede dieser leeren Seiten fordert zum Gedenken an die Ermordeten auf. In der Summe ergibt die Aneinanderreihung und Verknüpfung der Momentaufnahmen aus dem Leben dreier Familien, in die eine Vielzahl historischer Begebenheiten eingearbeitet ist, ein Jahrhundert-Panorama Deutschlands.

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Zu diesem Roman

Wilhelminisches Gymnasium, Bordell, Bälle, ‘Ich küsse Ihre Hand, Madame’ - erste Stationen aus dem Leben Viktor Lipsheims, Sohn aus großbürgerlichem, jüdischem Hause.

Die Familie Lipsheim ist eine dreier deutscher Familien, deren Schicksal der Roman ‘Schlaufen’ nachzeichnet. Von 1900 bis 2000 ist jedem Jahr eine Momentaufnahme zugeordnet, die im regelmäßigen Wechsel einen Vertreter der jeweiligen Familie zur Hauptperson hat.

Für Familie Prensch, die zweite der Familien, wären einige solcher ‘Snapshots’: eine Berliner Hüttensiedlung und elfeinhalb Stunden Fabrikarbeit, der Steckrübenwinter, Stocherkahnfahrten, Bruchpilot Quax und der Bombenkeller, der erste VW-Käfer, Familienfeiern, WG-Querelen und Coming-Out. Der Flugbaumeister und Erprobungsflieger Kurt Prensch bildet das unumschränkte Oberhaupt dieser Familie. Obwohl er nie Mitglied der NSDAP wird, macht er dank seiner Fähigkeiten im ‘Dritten Reich’ Karriere. Nach dem Krieg setzt sich diese im Verteidigungsministerium fort. Seine Schwester Irmgard, einst gläubige Nationalsozialistin, beginnt ein neues Leben in der DDR.

Die dritte Familiengeschichte - die der aus Pommern stammenden Trelows - ließe sich zum Teil mit Hilfe folgender Stichworte skizzieren: Kuhmist und Kutschfahrten, Leben der Junker und Tod an der Front, Trümmerberlin, Wirtschaftswunder-Grillabend, ‘68 und Kurschatten, Nervenzusammenbruch und Love-Parade. Friedhelm Trelow, pommerscher Landwirt, fällt im ersten Weltkrieg. Seine Frau heiratet einen Junker und wird Nationalsozialistin. Sein Sohn Rainer studiert in Berlin und lernt dort Lea Lipsheim kennen.

Nur an dieser Stelle kommt es im Verlauf des Romans zu einer Verbindung zwischen zwei der Familien. Rainer Trelows Liebe bleibt jedoch unerwidert. Und schließlich wird die Familie Lipsheim von den Nationalsozialisten im Konzentrationslager ermordet.

Nach 1945 besteht jedes dritte, der Familie Lipsheim vorbehaltene, Kapitel aus einer leeren Seite. Jede dieser leeren Seiten fordert zum Gedenken an die Ermordeten auf.

Erst Jahre nach dem zweiten Weltkrieg heiratet Rainer. Von den 60er Jahren bis in die Jetztzeit steht dann seine Tochter Lisa im Mittelpunkt des Geschehens.

In der Summe ergibt die Aneinanderreihung und Verknüpfung der Momentaufnahmen aus dem Leben dreier Familien, in die eine Vielzahl historischer Begebenheiten eingearbeitet ist, ein Jahrhundert-Panorama Deutschlands.

(Am Ende dieses Buches findet sich eine Familienübersicht.)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 0

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Familienübersicht

0

Wie langweilig! Durch den Fensterspalt drang kalte Luft ins Kinderzimmer. Viktor roch den Rauch der Kohleöfen. Auf dem Fensterbrett lag eine feine Rußschicht. Unten fuhr rasselnd eine Droschke vorbei. Wenn er jetzt dort drinnen auf den schmutzigen Polstern säße ..., nein, auch das wäre langweilig. Abenteuer müsste man erleben wie in Indianerbüchern. Obwohl er solche Bücher schon seit einiger Zeit nicht mehr las, beschloss er, wenigstens eine Art Kundschafter zu sein, der die Aufgabe hatte, sein Elternhaus zu erforschen.

Viktor begann mit dem Dachboden. Wie zu erwarten gewesen war, hing dort Wäsche an der Leine und tropfte. Daraufhin stieg er wieder in den zweiten Stock hinunter und ging leise den schmalen Flur entlang, bis er vor der nur angelehnten Tür des Dienstmädchenzimmers stand. Die Truhe für schmutzige Wäsche war aufgeklappt, und gerade segelte etwas Weißes hinein. Elli stand vor der Waschschüssel und wusch sich mit einem Schwamm unter den Achseln. Er sah ihre Brüste. Sie hatten lange dunkle Brustwarzen. Jetzt hörte er Herta hinter der Tür sagen, dass sie sich doch heute Morgen erst gewaschen habe. Elli antwortete, sie gehe tanzen. „Och! Und ich werd hier wohl den ganzen Abend mit Nadel und Faden sitzen.“ „Näh nicht liebes Mütterchen am roten Sarafan. Nutzlos wird die Arbeit sein, drum strenge dich nicht an.“ Plötzlich zerrte eine Hand Viktor ins Zimmer, Elli warf ihn aufs Bett und presste ihre Knie auf seine Oberarme, so dass er sich nicht befreien konnte. „Spionierst du mir nach?“ Viktor wusste nicht, wohin er schauen sollte. Sie wand sich ein Handtuch um ihre Brust. Er fühlte, wie er rot wurde und wandte schnell den Blick zur geblümten Tapete. Nahe an seinem glühenden Ohr sagte Elli, dass er ja ganz rot sei, und mit einem Mal fühlte er ihren Mund auf seinen Lippen. Entsetzt riss er sich los, stürzte zur Tür, wischte sich den Mund und lief davon, während er die Mädchen lachen hörte. Wie von selbst und rasend schnell trappelten seine Füße die Stufen hinunter, die sie schon so lange kannten. Ein Stockwerk tiefer schaute er in sein Zimmer und wunderte sich gleichzeitig darüber, dass Ellis Mund einen bestimmten Geschmack hatte. Da standen die Spielsachen, mit denen er nicht mehr spielte, weil er schon lange zu alt dafür war, und da lagen die Bücher, die er nicht mehr las, weil er sie alle schon kannte. Nebenan, das hatte er oft genug beobachtet, lag seine Großmutter unter ihrem Federbett und starrte an die dunkler werdende Decke, bis Herta die Gaslampe über dem leeren Tisch angezündet hatte. Dann sah die Großmutter auf die flackernden Schatten. Viktor ging an der geschlossenen Tür vorbei und betrat einen großen Raum, der mit Teppichen ausgelegt war. Er wusste genau, welchen Ranken des Teppichmusters er folgen musste, um zu vermeiden, dass die Holzdielen darunter knarrten. Eine Zeit lang lauschte er den Frauenstimmen und dem gelegentlichen Klicken, mit dem eine Tasse auf die Untertasse zurückgestellt wurde. Von großen Topfpflanzen verdeckt, saß Viktors Mutter mit zwei Bekannten in einer Sitzecke vor den Erkerfenstern. Viktor pirschte sich noch dichter heran und sah durch die wächsernen Blätter, wie seine Mutter die Frisurenmode vorführte, indem sie ihre braunen Haare lose hochsteckte. Dann entfernte sie ihr Halstuch und schob die Ärmel ihres Kleids so weit hinauf, bis ihre weißen Unterarme frei waren. Eine der Besucherinnen sagte, dass jetzt cremefarbene Spitzenkleider à la mode seien, außerdem Mousselineüberwürfe. „Dazu lange Halbhandschuhe“, schwärmte die andere Dame, „und schneeweiße Hüte mit Straußenfedern.“ „Staubfänger“, meinte die Mutter. Nun ging es um Voraussagen für die nächste Saison, aber anstatt sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wollte die eine Dame lieber eine heiße Schokolade mit Schlagsahne bei Hillbrich trinken. Doch nun stellte die Mutter fest, dass es bereits zu spät sei, um dorthin zu fahren. Viktor zog sich auf Zehenspitzen zurück und ging die Treppe zum Salon hinab, aus dem er die laute Stimme seines Vaters hörte. Zigarrenqualm stieg ihm entgegen. Die Schritte des Vaters stampften über das Parkett. Der Kaiser sei ein Dummkopf, rief der Vater entrüstet, wenn er dazu auffordere, dass sich deutsche Soldaten in China wie die Hunnen unter König Etzel benehmen sollten. „Keine Gefangenen. Rücksichtslos vorgehen! - Schwachsinn!“ Der Gast gab zu bedenken, dass sich unsereins rechtzeitig mit gebotener Härte gegen die Aufständischen stemmen müsse, wenn ... „Unsereins? Papperlapapp! Diplomatie ist das jedenfalls nicht. - Noch einen Cognac, Appelrath?“ Viktor stellte sich das Gesicht Appelraths vor. Der Compagnon seines Vaters hatte die Angewohnheit, die Backen aufzupusten, während er nachdachte. Dadurch schob sich sein kleiner Oberlippenbart so weit in sein Blickfeld, dass er schielend nur noch darauf glubschte. Dieses Bild sich auszumalen, wurde Viktor jedoch auch schnell fade, weshalb er ins Souterrain hinabstieg, von wo der Duft gebratener Zwiebeln heraufkam. Bald würde zum Nachtmahl gerufen, und von der dampfenden Küche aus würde der Speisenaufzug kreischend hinauffahren. Viktor schaute von hinten auf den riesigen Leib der Köchin, die gerade, ohne ihn zu bemerken, einen Schnaps hinunterstürzte. Er fragte sich, wie sie zusammenzucken würde, wenn er sie erschreckte, und tat es im selben Moment auch schon. Sie warf das Schnapsglas fort und fuhr herum. Als sie ihn erkannte, bekreuzigte sie sich und stieß keuchend etwas von Kaiser und Vaterland hervor. „Der Kaiser ist ein Dummkopf“, posaunte Viktor heraus, als ihn auch schon ihre Pranke packte. Unter den grauen Stoppeln ihres Damenbarts blies sie ihn mit Schnapsatem an: „Hübsch vorsichtig, Jungchen. Weeßt nich, wasse mit so eim Bürschchen machen, det seene Majestät beleidjen tut? Eener, war viel jünger als du, zeene, vom Jymnasjum jeschmissen hamse den.“ Damit stieß sie ihn fort und wandte sich wieder den prasselnden Bratkartoffeln zu.

1

Im Schlaf hatte sich Luise, Helgas kleine Schwester, wieder einmal breit gemacht und lag fast auf ihr. Mit schmerzendem Rücken kroch Helga aus dem durchgelegenen Bett. Eigentlich war es noch zu früh, um aufzustehen, aber sie war froh, wenn sie hier herauskam. Die Luft in dem niedrigen Raum war schlecht, sie roch nach altem Schweiß und den faulen Zähnen des Vaters, der in der Ecke schnarchte. Wie immer pfiff neben ihm die Mutter bei jedem Atemzug durch die Nase. Helga nahm den Beutel mit den Stullen und trat mit dem Wasserkrug in der anderen Hand vor die Hütte. Es war noch kühl, und die Sonne kam gerade erst in einer Lücke zwischen den Mietskasernen am Horizont hervor. Helga wusch sich das Gesicht, putzte sich die Zähne und spuckte auf einen kümmerlichen Busch.

Schon von weitem roch sie die Fabrik. Von den Becken, in denen sich die Lumpen zersetzten, stieg ein fauliger Geruch auf. Sie ging daran vorbei und gelangte zur Halle. In der Ferne war das Kreischen von Kreissägen zu hören. Schweigend stieg sie neben verschlafenen mürrischen Frauen in ihre Arbeitskleidung. Die Stechuhr klingelte. Ein Knirschen erfüllte die Halle, das waren die Mahlwerke. Stampfend und pfeifend spuckte die Maschine vor ihr Papierbögen aus. Helga musste unreine Exemplare aussortieren, indem sie an einem Hebel zog. Der Leimgeruch stieg ihr zu Kopf, und schon nach einer Stunde fragte sie sich, ob das Knirschen, das sie hörte, vom Mahlen ihrer eigenen Zähne kam. Der Lärm bildete Schlieren unter ihrer Schädeldecke. Er wuchs an, ebbte wieder ein wenig ab und nahm erneut zu, bis ihre Ohren schmerzten. Die heißen Maschinen verbreiteten den Geruch verbrannten Öls, das abgewetzte Gestänge, die blanken Kolben zuckten, und an den Gelenken klumpte Schmierfett wie an metallenen Knochen. Das weiße Papier blendete sie. Schmutzige Einschlüsse erinnerten sie an Sehnen oder Knorpel in zähem Fleisch. Fasern schwebten durch die Luft, bildeten Flocken. Staubteilchen stachen in der Nase. Stunde um Stunde hockte sie mit verspanntem Nacken vor der Maschine. Ihre Augen brannten, und teilnahmslos sah sie ihren Händen, die viele kleine Schnitte von den scharfen Papierkanten hatten, zu, wie sie sich hin- und herbewegten.

In der Pause aß sie ihre Stullen und alberte mit Henriette herum. Sie machten sich den Spaß, absichtlich mit vollem Mund zu sprechen. Einer der Männer vom Mahlwerk kam herüber und fragte, ob sie heute Abend zum Sommerfest gehen wollten. Sie schüttelten den Kopf, er rauchte schweigend seine Zigarette zuende und zog ab. Noch fünf Stunden, dann waren die elfeinhalb Arbeitsstunden geschafft, die drei Mark zweiundzwanzig Tageslohn verdient.

Jetzt brannte die Sonne senkrecht auf das Hallendach herab. Helga schwitzte und dachte an nichts, während sie das Auffächern der Blätter beobachtete und der heiße Wind aus der Maschine ihr ins Gesicht blies. Mit einer scharfen Klinge musste sie immer öfter aneinanderklebendes Papier lösen. Dauernd zog sie am Hebel, große Blöcke Ausschuss bildeten sich in den Drahtkörben. Der Vorarbeiter beobachtete sie und schrie etwas, das sie im Lärm nicht verstand. Nun griff er über ihre Schulter in die Maschine, riss etwas heraus, wie hatte sie das übersehen können? Plötzlich hatte sie Angst vor den sich drehenden Flügeln, den aufklaffenden Lamellen, den zuschnappenden Spalten und der niederstoßenden Presse. Sie bekam kaum noch Luft und merkte, dass sie keuchte. Von ihrem Platz aus konnte sie die große Uhr über dem Halleneingang nicht sehen, so dass ihr nichts übrigblieb, als auf das Schrillen der Sirene zu warten. Sie hoffte, dass es fast sechs war, aber die Sirene blieb stumm. Als sie schließlich doch losheulte, wankte Helga benommen in den Umkleidekeller. Sie hängte den Arbeitsanzug in ihren Spind und wusch sich an einem der Wasserhähne. Jette und sie gingen dann hinaus in die Abenddämmerung. Noch kreischten ein paar Schwalben am tiefblauen Himmel, und in Helgas Kopf vermischte sich ihr Schreien mit dem nachlassenden Lärm der Fabrik. Sie fühlte sich auf angenehme Weise leer. Doch dann, während sie am Kanal entlanggingen, musste sie mit einem Mal an zu Hause denken, an den schimpfenden Vater, die schuftende Mutter, die schreienden Geschwister. Das ewige Einerlei. Nein, dort wollte sie nicht hin! Sollte das ihr Leben sein? Sie schlug Jette vor, sich an die Uferböschung zu setzen. Es roch nach Sand, dürrem Gras und modrigem Wasser. Gelegentlich sirrte eine Mücke um sie herum, ohne sich zu setzen. Sie redeten ein bisschen. Plötzlich ließ sich eine lange Gestalt neben ihnen auf die Kiesel sinken. Es war Helmut, der Schnorrer, wie Jette ihn nannte, weil er nur selten Arbeit hatte. Helga fiel zum ersten Mal auf, wie blau Helmuts Augen in seinem braungebrannten Gesicht leuchteten. Eine Holzsammlerin schob einen voll bepackten Leiterwagen vorbei. Helga schaute auf Helmuts Mund, der an einem Grashalm kaute. Das Gras war mit rotgelbem Sandstaub überzogen. Helmut meinte, der Sand käme aus der afrikanischen Wüste. Er lag mit unter dem Kopf verschränkten Händen auf der Böschung und sah zum Himmel hinauf, an dem sich langsam eine schneeweiße Wolke bewegte. Seine Hose war etwas schmutzig. Ob sie zum Fest auf die Heide mitgingen, fragte auch er. Henriette lehnte ab, aber Helga dachte an zu Hause. Wozu sollte sie jetzt schon in der dumpfen Hütte sitzen? Warum nicht für den Augenblick leben? Wie ein Tier unter freiem Himmel.

Helmut begleitete sie am Kanal entlang. Nachdem Henriette abgebogen war, gingen sie schweigend nebeneinander weiter. Wozu auch reden? Sie kamen an Hofeinfahrten vorbei, aus denen spätes Teppichklopfen hallte.

Auf der Jahrmarktswiese schämte sich Helga unter all den herausgeputzten Frauen mit tiefen Dekolletés und korsettierten Taillen. Sie wollte nach Hause gehen, aber Helmut spendierte ihr ein Bier und sagte, sie sei die Hübscheste und solle sich nicht zieren. Weil sie durstig war, trank sie, obwohl es ihr nicht gut schmeckte. Der Lärm der Karussells, Schießbuden und einer Kapelle machte sie plötzlich schwindlig. „Mumpitz det Janze“, sagte Helmut plötzlich. Er führte sie zu einer ruhigen Wiese. Die grünen Bäume stießen heftig ihre Düfte von sich. Ein Schmetterling entgaukelte. Sie merkte kaum, dass Helmut begonnen hatte, sie zu küssen, und schaute an seinem Ohr vorbei auf die Glühwürmchen, die nun wie Sternschnuppen über ihnen auftauchten; unter den wirklichen Sternen, die inzwischen hervorgekommen waren und von denen sie einen fallen und verglimmen sah. Sie wünschte sich etwas, hielt Helmut fest in ihren Armen und wunderte sich, dass um die Liebe so viel Aufhebens gemacht wurde.

Als sie aufwachte, war Helmut fort. Das Gras war feucht unter ihr, und ihr war kalt, obwohl seine Jacke über ihr lag. Sie ordnete ihre Kleidung und machte sich auf den Heimweg.

2

Es war Friedhelm, als senkte sich die Kruppsche Panzerplatte auf ihn, von der er im Kolberger Blatt gelesen hatte, und er schlug die Augen auf. Er hoffte, dass seine Mutter nebenan noch schlief. In der Dunkelheit trommelte der Regen an die Butzenscheiben. Ein Geschmack im Maul, als hätte er Gülle getrunken und dazu Kuhscheiße gefressen. Seit dem Tod des Vaters schlief die Mutter kaum noch, betete viel. Leise öffnete er die Tür und sah zu ihrem Bett hin. Mit großen Augen schaute sie ihn an. Er sagte ihr, sie solle sich noch ein wenig ausruhen, aber sie schien ihm gar nicht zuzuhören. Ihr verrunzelter Mund bewegte sich etwas, und als er die Tür wieder schloss, hörte er sie beten. Den Vater hatte bei der Arbeit auf dem Feld der Schlag getroffen. An einem warmen Sommertag, im letzten Jahr. Als sie ihn endlich im Haus hatten, war sein Körper schon ganz kühl. Er hatte ihn in eine Decke eingewickelt.

Vor der Tür räusperte er sich und spuckte aus. Ließ es sich in den Mund regnen, spuckte noch einmal aus und stapfte den matschigen Weg entlang zum Pferdestall. Der Wind zurrte von hinten an seiner Jacke, kam vom Meer. Pfiff um die beiden großen Getreidespeicher herum. Ob das hier etwas für eine junge Frau war? Helene war die Stadt gewöhnt. Um ihre Hand anhalten. Streletz, sein Geschäftspartner, würde nicht ablehnen, aber sie selbst vielleicht. Die Pferde schnaubten, als er sich ihnen näherte. Der Haarflaum in ihrem Nacken. Sie trug die Haare im Dutt. Der Pferdeknecht hatte noch nicht gefüttert. War wahrscheinlich noch betrunken. Wenn sie sie für ihn fallen ließe, ihre dichten schweren braunen Haare. Er gab den Pferden Hafer und hörte dem Mahlen ihrer Zähne zu. Ihre braunen Augen. Er striegelte einem Pferd das Fell. Kokett vielleicht, wie sie die seidigen Wimpern niederschlug, während sie ihm Tee einschenkte. Im Stall musste dringend ausgemistet werden. Gleich würde er den Knecht aus seiner Koje zerren. Einstweilen nahm er die Mistgabel selbst in die Hand und begann zu arbeiten, weil er sich dessen dumme Visage mitsamt der Schnapsfahne so lange wie möglich ersparen wollte. Er dachte an die Geschäftsbücher, die er gestern durchgesehen hatte. Ein guter Sommer war es gewesen. Sein erstes Jahr allein. Besonders der Weizen. Jetzt könnte er sich den Ivel-Traktor leisten, das mechanische Pferd. Mit Rohöl betrieben, zwei Zylinder, dreirädrig, gleich mit drei Pflugscharen zu bestücken. Das würde eine Ernte werden. Schon sah er Weizen im Wind wogen, gelbe Wellen, soweit das Auge reichte. Wenn es nur den Verwalter vom Nachbargut nicht gäbe. Diesem Wiesel stand die Raffgier ins Gesicht geschrieben. Noch schlimmer aber war der Junker, für den er arbeitete. Ein blasiertes Jüngelchen, das sich geckenhaft kleidete und ihn keines Blickes würdigte. Gelegentlich hatte er ihn in seinem eleganten Zweispänner gesehen, immer in Damenbegleitung. Der Geck mochte in seinem Alter sein, aber er poussierte wie ein liebestoller Jüngling, das rosige Schweinchengesicht mit dem auffallend roten Mund immer in Beißweite eines ihm zugeneigten, liebreizenden Öhrchens. Das Weib gibt sich doch für alles her, ist nichts als Körper, bereit zu sündigen. Wo der Mann Tat und Idee ist, ist das Weib Hingabe und Natur. Geschlecht. Ohne Charakter, wenn man mit Charakter wirklichen Charakter und nicht irgendeine Art Wesen meinte. Er merkte, dass seine Gedanken in Kraut und Rüben schossen. Helenes hübscher Mund, die kleinen Zähne. War sie nicht rot geworden, als er sie nach ihren Plänen fragte? Was hatte sie geantwortet? Von Weser und sein Verwalter beanspruchten einen Teil seines Landes und beriefen sich auf alte Kaufurkunden. Sie bekamen den Hals nicht voll. Friedhelm brauchte jede Parzelle. Der andere hatte doch das Zehnfache an Boden. Seine Jagdpartien, Picknicks und Tanzgesellschaften. War Helene nicht auch nur ein Weib? Eines dieser Weiber? Nicht besser und nicht schlechter als die jungen Mädchen, mit denen sich von Weser die Zeit vertrieb. Nein, so war sie nicht! Unverdorben war sie, und er würde ihren Vater fragen und sie fragen, und wenn sie ja sagte, wie sehr würde es die Mutter freuen.

Vor allem wenn Enkelkinder das Haus belebten. So war ja doch alles leer. Es galt zu handeln. Er beschloss, den Pferdeknecht auf der Stelle zu entlassen, ging in den Anbau hinüber und weckte ihn. Es war genauso, wie er es erwartet hatte. Als er dem Säufer sagte, er solle seine Sachen packen, begann dieser zu wimmern und schwor, das würde nicht wieder vorkommen. Zu oft hatte er das schon gesagt, also blieb es dabei. Bis zum Ende der Woche müsse er seine Sachen packen und verschwinden. Da beschimpfte der Knecht ihn und wollte sogar mit zittriger Hand nach ihm schlagen. Aber Friedhelm packte ihn und hielt ihn fest. Und als er ihn so nah vor sich hatte, merkte er, dass er dem anderen kaum in das gedunsene Gesicht mit den verschmierten Augen sehen konnte. Das verstörte ihn, denn er fragte sich, warum das so war, und fand keine Antwort darauf. Also stieß er ihn von sich und ging hinaus. Dem Kutscher, einem vierschrötigen Mann, gab er Anweisung, dafür Sorge zu tragen, dass der Pferdeknecht noch heute vom Hof verschwinde. Den Lohn für diese Woche solle man ihm noch auszahlen.

Als er durch den Schlamm auf das Haus zupatschte, dachte er an die Mutter, die sich sicher schon für ihre Fahrt zur Kirche gerüstet hatte. Dort würde sie im klammfeuchten Dunkel niederknien und inbrünstig den Dunst des Weihrauchs in sich hineinsaugen. Er beschloss, ihrem Anblick aus dem Weg zu gehen und einen Rest Weizen, der noch in einem der Getreidespeicher lagerte, auf Schimmel und Pilzbefall zu untersuchen. Anfang nächster Woche würde er nach Rostock fahren und um die Hand des Mädchens anhalten. Außerdem würde er gegen den Junker einen Prozess anstrengen. Bis zum bitteren Ende. Dass man ihm Land wegnahm, durfte er sich nicht gefallen lassen.

3

‘Ein Wink des Auges oder der Ausruf ‘Achtung - Klasse!’ müssen genügen, um die gesamte Schulordnung herzustellen. Die Schüler sollen ihre Füße parallel nebeneinander auf den Boden stellen. Auf ein Zeichen des Lehrers legen sie die Schulbücher geräuschlos auf ihr Pult, schließen die Hände und blicken den Lehrer an.’ Dessen wichtigtuerische Visage, durch die sich ein Schmiss zog, konnte Viktor nur schwer ertragen. Ein Wink des Auges, das Auge winkte, ein winkendes Auge, wie sollte das gehen? Wedelte das Lid? Blinzelte Herr Brackensen? Herr Brackensen blinzelte tatsächlich, aber wohl eher vor Ergriffenheit. Diese befiel ihn bei seiner Darstellung des Deutsch-Französischen Krieges. So wie er es beschrieb, konnte es selbstverständlich nicht gewesen sein, dachte Viktor. Nichts war so, wie es beschrieben wurde. Eine Binsenweisheit, oft schon gedacht, und vielleicht allein deshalb schon falsch. Falsch aber auch dieser Gedanke. Mit der keineswegs neuen, ihn langweilenden Erkenntnis, wie müßig das ganze Geklimper im Kopf war, wandte er seine Aufmerksamkeit den langen schmalen Händen seines Nachbarn zu. Von deren Gestalt hätte man auf einen musischen, vergeistigten Charakter schließen wollen, doch wie sehr solch physiologische Äußerlichkeiten in die Irre führen konnten, davon hatte Viktor sich bis zum Überdruss ein ums andere Mal überzeugen können. Der Eigentümer dieser ausdrucksvollen Greifapparaturen war nichts anderes als eine hölzerne Marionette, deren energische Kinnlade sich wie bei einem Nussknacker senkte, worauf aus dem Spalt Lahmheiten daherknödelten. Dabei verfügte die Puppe über das, was man einen Charakterkopf nannte. Vielleicht war ‘Kopf’ etwas zu weit gegriffen, und man hatte es lediglich mit einem Charakterprofil zu tun. Sah man nämlich dem Mensch, das übrigens den Namen Hensel trug, in die Augen, entsprach die Wirkung beim Betrachter in etwa dem forschenden Blick auf zwei Glasmurmeln. Inzwischen hatte sich Brackensen den Krieg betreffend wieder einmal in Rage geredet, bronchiales Gedonner entrang sich seiner hühnernen Brust, Speicheltropfenkaskaden bestrichen die vorderen Reihen wie Sperrfeuer. Indem Viktor dem Lehrer zuhörte oder auf Hensels Hände sah, versuchte er, sich von zwei besitzergreifenden Gedankenketten abzulenken. Vergeblich. Vor etwa einem halben Jahr hatte seine Mutter begonnen, ihr Zimmer nur noch zu den Abendessen zu verlassen. Sie hatte nichts gegessen, nur den Vater mit bohrendem Blick angesehen und unverständliche Bemerkungen gemacht. Manchmal gezischte, verletzende Sätze. Der Vater war betroffen gewesen und hatte nicht gewusst, was er sagen sollte, was zu tun war. Und immer schlechter hatte sie ausgesehen, verändert, hatte ihr Äußeres vernachlässigt. Welch ungleich einnehmendere Erscheinung bot dagegen sein stets tadellos gekleideter Mitschüler Eugen Fogesch, den er auf der Bank hinter sich wusste. Genauso oft wie um die Mutter kreiste Viktors Denken um diesen Kameraden. Der schlanke Körper, vor allem die Eleganz jeder seiner Bewegungen und seiner Haltung begeisterten ihn. Vergeblich versuchte er, sein Idol nachzuahmen. Als er gemerkt hatte, dass ihm dies nicht gelang und niemals gelingen würde, weil er Fogesch nicht nur gleichen, nein, weil er Fogesch sein wollte, wandte er all sein Streben darauf, ihn zum Freunde zu gewinnen. Doch immer, wenn er irgendeine Gemeinsamkeit zwischen ihnen herzustellen sich bemühte, wurde ihm bewusst, wieviel ihn von Fogesch trennte, wie distanziert ihn jener wahrnahm. Dunkel fühlte er, dass er eine schroffe Zurückweisung von Fogesch nicht ertragen hätte. Er musste ihm nahe sein. Er träumte von ihm, lustwandelte Seite an Seite mit dem Auserwählten in einer elysischen Landschaft, verständigte sich mit ihm nur durch Blicke ...

Das andere war der Blick der Mutter, ihre zusammengekniffenen Lippen. Eine fremde Person. Schließlich war sie nicht mehr zum Nachtmahl erschienen, und erst da hatte ihn der Vater, über dessen Hilflosigkeit Viktor sich ärgerte, beiseite genommen und ihm erklärt, die Mutter sei krank. Als hätte er das noch nicht gemerkt! In dieser Zeit war er nach der Schule oft unruhig im Haus umhergeschlichen. Einige Male hatte er die Stimme der Mutter aus dem Zimmer gehört, sie rief etwas in großer Erregung, recht laut, doch verstand er es nicht. Einmal hatte er gemeint, seinen Namen zu hören und war in ihr dunkles Zimmer hineingegangen. Viktor! hatte sie gerufen. Viktor! rief sie.

„Lipsheim. - Herr Lipsheim!“ Darf ich Sie bitten, einmal näher auf Bismarcks Verhalten in diesem Punkte einzugehen. Herr Brackensen fixierte ihn.

Starr hatte sie im Bett gelegen, die kleinen Hände ordentlich auf der Bettdecke, wie ein Kind.

„Bismarck, Lipsheim!“

Und ein merkwürdiger Geruch war im Raum gewesen, ein Geruch nach ... Viktor musste den Versuch abbrechen, sich zu erinnern, wonach es eigentlich gerochen hatte in der Stille hinter den zugezogenen Vorhängen, unter den schweren Portieren ... Herr Brackensen bedrängte ihn. Und weil Viktor sich nicht anders zu helfen wusste, erzählte er davon, dass Bismarck zum Frühstück für gewöhnlich fünfzig Austern gegessen hatte. Und einen ganzen Rinderbraten. Er wollte Fogesch nicht langweilig erscheinen. Doch dann hielt er inne und errötete, denn ihm wurde bewusst, dass derartigen Dingen in Fogeschs Sicht keinerlei Bedeutung zukam, sie waren stillos, er stand weit über ihnen ... Viktor fühlte, wie ihm ein wenig Schweiß unter den Achseln hervorlief, das gehörte sich nicht und war banal. Währenddessen war Herr Brackensen immer noch sprachlos. Erst als einige Mitschüler leise lachten, glühte sein Schmiss karmesinrot auf und unterhalb des bebenden Backenbarts böllerte eine Breitseite los. Während die Tirade auf ihn niederging, sann Viktor bereits wieder dem Geruch im Zimmer der Mutter nach. Das war nicht der Fliederduft, der sie sonst umgeben hatte; ein schweres Aroma war es gewesen, etwas geradezu Tierhaftes ... Das war die Mutter nicht mehr, in deren Rock er sein Gesicht gepresst hatte, dessen Duft und Weichheit ihn getröstet hatten. Kraftlos lagen ihre Arme an den Seiten, die Arme, die ihn einst weich umfangen hatten und deren Schutz er sich immer hatte anvertrauen können.

Viktor sah auf sein Pult hinab, eine Haltung, die als Beschämung deutbar war. Er war jedoch vollkommen geistesabwesend und hatte jene Sturmesnacht im April vor Augen, in der er aus dem Schlaf aufgeschreckt, aus seinem Zimmer gelaufen war, die Geräusche, den mächtigen Duft des Windes und der aufbrechenden Knospen ... Die Mutter konnte ihm nicht helfen, sie lag in ihrer Starre. Wie Blasen war etwas in seinem Kopf emporgestiegen, die Angst hatte ihn vorangetrieben, er hatte nicht mehr gewusst, was er tat, aber das Gefühl, außer sich zu sein, genossen, wie in einem Spiegel sah er sich durch den dunklen Flur in Ellis Zimmer laufen und zu ihr ins Bett kriechen, wo, während der Wind das Haus umtobte, im Schutz ihrer Arme eine dunkle Welle aufstieg und alles niederriss.

4

Helga nähte jetzt bei Ernst & Compagnie. Gestern Vormittag Taft, nachmittags Chintz. Heute Crèpe de Chine und Chiffon. Lila und rosa. Während die Stichel niederratterten, den Stoff durchlöcherten und mit Faden durchschossen, stellte sie sich vor, welche Herrschaften später einmal diese Stoffe tragen würden. Sie sah eine Dame ihren vom Mieder eingezwängten Leib in das kühle Gewand hüllen. Ihre faltige Hand schob sich aus dem Ärmel hervor, um nach einem Likörglas zu greifen. Zwei junge Adelsfräulein tauschten ihre Kleider, und die eine glitt mit ihren jungenhaft schmalen Armen in die aufgebauschten, gefältelten Schulterteile. Eine beringte Mannes-Pratze strich über den glänzenden, fleischgefüllten Stoff voller Besitzerstolz hin. Dem Eigentum saß außerdem eine große gereffte hellblaue Tüllschleife am Hals, Seidenbesatz wogte um Knöchel. Helga dachte an Irmchen, ihr kleines Töchterchen, das jetzt in ihrem Matrosenanzug bei den Eltern zuhause saß. Die blauen Jungs. Der Kaiser und seine Marine. Für einen Moment sah sie Irmchen an Deck eines Segelschiffes sitzen und musste lächeln. Labskaus. So, das Mündchen auf und noch ein Löffelchen. Kam ganz nach dem Vater, aber dick und zufrieden. Pausbäckchen anstelle von hohlen Wangen. Immerhin hatte er sie geheiratet. Eigentlich hatte sie ja gar nicht wollen, aber die Eltern hatten gedrängt. Ein gefallenes Mädchen. Die Hochzeit nur in Familie. Die Einzige, die sich freute, war ihre kleine Schwester Luise gewesen. Helmut betrunken, Vater dann auch. Hatten sich in die Wolle gekriegt. Immer mehr getrunken. Sie hatte sich draußen auf eine Bank gesetzt, mit den Händen auf ihrem gewölbten Bauch, und auf die Mietskasernen am Rand des Brachfelds gestarrt. Solange, bis alles weg war: die Kasernen, die paar krüppligen Pappeln, der blaue Himmel. Bis sie nur noch ihr Kind sah. Helmut bekam sie kaum zu Gesicht. Zu reden hatten sie nur über Geld. Manchmal brachte er ihr welches. Er trieb sich herum, arbeitete bei Gelegenheit. Sie hatte ja gewusst, dass er ein Taugenichts war. Aber das Schlimmste war das Geschimpfe der Eltern.

Helga sah zu Henriette hinüber, die vier Tische weiter an der Maschine saß. Zusammen hatten sie im Papierwerk gekündigt und hier in der Großnäherei angefangen. Jette war konzentriert bei der Sache und klemmte dabei wie immer die Zungenspitze zwischen den Vorderzähnen ein. Es sah dämlich aus, so dass Helga lächeln musste. In der Pause heute hatte sie Jette ihre rauen Finger gezeigt, an deren Spitzen sich die Haut pellte. „Hart sein im Schmerz, wie der Kaiser gesagt hat“, fing die Freundin an, und prustend hatten sie zusammen Wilhelms Worte heruntergebetet: „Für tausend bittere Stunden sich mit einer einzigen trösten.“ - „Det ha’ ick ja jemacht, und dabei is Irmchen rausjekomm.“ „Immer sein Bestes geben, wenn es auch keinen Dank erfährt.“ - „Deen Bestes haste ooch hinjejehm, wa?“ “Wer das lernt und kann, der ist ein Glücklicher, Freier und Stolzer; immer schön wird sein Leben sein.“ - „Na, det wüsst ick aber.“ Jette hatte dann begonnen, vom Wertheim-Warenhaus in der Leipziger zu schwärmen. Sie war gestern gleich am Tag nach der Eröffnung hineingelaufen in das Riesenhaus mit dem Kuppelbaldachin und Markisen, hinein in das Gewirr der Gänge, in den Luxus, dort gab es alles, die vielen Stockwerke hinauf, Jette hatte sich verirrt und am Ende fast geweint. Sie hatten dann überlegt, was sie dort kaufen würden. Kleider, einen neuen Kinderwagen und einen Porzellanhund.

Als Helga am Abend Irmchen mit zermatschten Kartoffeln fütterte, dachte sie immer noch an das Warenhaus Wertheim. Der Vater saß zwar vorwurfsvoll, aber ausnahmsweise einmal nicht schimpfend in seiner Ecke, und die Mutter ließ sie auch in Ruhe. Ja, Wertheim würde sie sich mal ansehen wollen, aber wozu eigentlich, wenn doch alles zu teuer für sie war. Und so jemand wie sie gehörte da sowieso nicht hin. Sie nahm Irmchen auf den Arm und wartete auf das Bäuerchen. Aber wenn sie sich fein anzog? Und vielleicht konnte sie ja doch eine Kleinigkeit kaufen? Man ist ja kein Unmensch. Man verdient doch sein Geld. Sie ging vor die Hütte und staunte über den Sommerabend. Leise begann sie für Irmchen zu singen: „Der Mann hat jelbe Zehne, sieht aus wie ne Hyene, hat ooch noch krumme Beene, keen Wunder, det ick jehne.“ Sie gab Irmchen einen Kuss auf die Backe und begann ein anderes Lied: „Wenn ick in deene Augen schau, wird gleich der Himmel veilchenblau, um mich is allet grau in grau, det is det Los der Ehefrau.“

5

Sie nahmen den Einspänner. Sein Sohn lag in einem Tragekorb neben seiner Frau auf dem Sitz. Knirschend rollten die Räder unter der langen Reihe der Pappeln die Allee entlang. Ihre geheimnisvoll duftenden Blätter warfen flirrende Schatten auf den Schotterweg. Schaum flog vom Maul des Pferdes fort und klatschte gegen das Brett des Kutschbocks. Es war heiß, und die Flanken des Hengstes waren salzverkrustet. Friedhelm wandte sich kurz um und schaute zurück: Seine Frau sah zur Seite und beschattete mit der behandschuhten Hand ihre Augen. Wie er wusste, stand dort in der Ferne auf einem künstlich aufgeschichteten Hügel das Herrenhaus des Junkers. Es versetzte ihm einen leisen Stich, dass Helene danach Ausschau hielt. Ein Bauer am Wegesrand grüßte sie auf polnisch. ‘Panstwo’, verstand er und ‘pagoda’, sicher hatte der Mann die Herrschaften begrüßt und auch etwas zum Wetter gesagt. Warum sprach der nicht Deutsch? Bald würden die alle Deutsch sprechen müssen. Pommersch, wie in Schlesien Schlesisch. Schlesisch. Wullen m’r wieder tanza? Wer legt m’r sei Poatschla auf de Brust? Woher hatte er das nur?

Als sie die Wiese am Flüsschen erreicht hatten, bezogen sie einen Platz im Schatten der Kirschbäume. Er trug das Kind, die Decken und den Picknickkorb durch das zum Teil kniehohe Gras. Helene folgte ihm ängstlich und fragte, ob es hier viele Holzböcke gebe. Er wusste es nicht, sagte aber nein. Sie schien ihm nicht so recht zu glauben und musterte mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen die Gräser. Am Wasser rauschte das Schilf in einer leichten Brise. Das Kind schlief und träumte wohl, denn sein Mund bewegte sich saugend und die geschlossenen Lider flatterten. Die winzigen Händchen mit den fast durchscheinenden Fingern lagen halbgeschlossen und reglos an seiner Seite.

Schweigend aßen sie etwas kaltes Huhn und Petersilie. Dazu tranken sie von der Limonade, die die Haushälterin zubereitet hatte. Einmal nicht zu arbeiten, wie seltsam fühlte sich das an. Friedhelm trank einige Schlucke Weißwein und pustete Löwenzahn in Richtung seiner Frau. Die Samen sahen aus wie winzigkleine gerade Bäume mit wenigen dünnen weißlichen Zweigen. Sie umschwebten Helene und brachten sie zum Niesen, woraufhin sie schmollte. Friedhelm sah seine junge Frau genauer an: Wie zart sie war! Die recht dunklen Augen verrieten ihre Gedanken nicht. Ein paar Sommersprossen sprenkelten die kleine Nase, die rosafarbene Oberlippe wies in der Mitte eine Art Knospe auf. Das zeigte sich besonders deutlich, wenn Helene sie - wie jetzt - muckschend spitzte. Sie trug ein leichtes Sommerkleid. Weiß wie das Brautkleid. Eine Decke aus Schnee. Die Fläche glitzert und blendet. Der Schnee ist verharscht, die kristallharte Decke kratzt an den Fingerkuppen, die über sie hinstreichen, zerschneidet die Lippen, wenn man sie küsst. Doch er küsst sie trotzdem. Bis der Schnee schmilzt. Rosafarbener Marmor kommt darunter zum Vorschein. Kalt und nass liegt er vor ihm. Dann erkennt er das feine Aderngeflecht, das den Block durchzieht. Und während er sich noch wundert, wird der Stein plötzlich zu Fleisch. Fleisch, das beginnt sich zu winden. Das wächst, und in dem sich Mulden bilden, zwei Augen aufklappen ...

Ein sirrender Naturlaut. Er sah die Brust seiner Frau, an der das Kind saugte. Mit halbgeschlossenen Augen schaute er zu und bewegte sich nicht. Als das Kind satt war und aufgestoßen hatte, legte Helene es in den Korb zurück. Ihre Brust pendelte dabei etwas, und aus der Brustwarze lief noch ein wenig Milch. Er packte die Erschreckende um ihre schmale Taille, sah ihre weit aufgerissenen Augen, kümmerte sich nicht darum und umschloss mit seinem Mund Helenes feuchte Brust. Er schmeckte ihre süße Milch und versuchte, an der Warze zu saugen, da hörte er seine Frau seltsam wimmern und wurde im selben Moment zurückgestoßen. Sie sprang auf, bedeckte ihre Brust und lief taumelnd durch das hohe Gras davon. Erst am Flüsschen holte er die Weinende ein. Sie ließ sich nicht von ihm berühren und schlug um sich. Dann lief sie zum Kind zurück. Er folgte ihr.

6

Sie saßen bei Schadow in Steglitz. Wie üblich war in extenso über einige der Geschichtsprofessoren gespottet worden: über Professor Diehmel, der am Katheder ununterbrochen auf seinen vor ihm liegenden Tiroler-Hut starrte und in jeder seiner Veranstaltungen völlig unabhängig vom Thema bereits nach wenigen Sätzen auf sein Spezialgebiet, die Karolinger, kam, zu denen er Vorlesungen und Seminare wegen seines übergroßen Wissenstands schon seit langem nicht mehr halten konnte. Und auch über Professor Krohl, der jegliches freie Sprechen vermied und alles monoton, langsam und umständlich von bereitgelegten Blättern ablas. Viktor hatte ausgemalt, wie er auf ebendiese Art zu Hause seine Frau begrüßte: Gu - ten A - bend Ver - ehr - te - ste. Er - folgt das Es - sen zu der ge - wöhn - li - chen Stun - de?

Mit einem Mal schien jedoch der Gesprächsfaden gerissen. Durch den Rauch, der im Mansardenzimmer hing, sah Viktor zu Grüpp hinüber, der am Fenster saß, in die Dunkelheit hinausschaute und wieder einmal träumte. Grüpp, den er noch im vorigen Semester am wenigsten beachtet hatte, war ihm inzwischen der liebste von den dreien. Jeder von ihnen entwickelte sich in eine andere Richtung. Schadow beschäftigte nur noch die militärische Sicht der Dinge, und Markwart hatte sich die Gedanken seiner Corpsbrüder zu eigen gemacht. Für lebhafte Auseinandersetzungen, wie Viktor sie liebte, und wie es sie früher gegeben hatte, fehlte es nun an einer gemeinsamen Grundlage.

Viktor dachte an zu Hause. Der Mutter ging es besser. Ihre treueste Freundin besuchte sie gelegentlich und hielt sie bei Törtchen und Tee auf dem Laufenden, vor allem was Klatsch und Mode betraf. Danach allerdings war Mutter einige Male so angestrengt gewesen, dass nach Doktor Schnelle, dem unangenehm soldatischen Hausarzt, hatte geschickt werden müssen. Der Vater war froh über Mutters Genesung und arbeitsam wie gewohnt. Wenn Viktor seine Eltern zum Abendessen oder am Sonntag zum Frühstück traf, langweilte er sich schnell, weil nur über Unwesentliches gesprochen wurde. Dies hatte zugleich aber auch etwas Beruhigendes, denn bedeutete es nicht, dass es keine ernsten Familienschwierigkeiten gab?

Während Viktor sich bemühte, Schadow nicht zuzuhören, der sich in Begeisterung hineingeredet hatte über das deutsche Heer, dachte er an seinen ehemaligen Mitschüler Eugen Fogesch. Manchmal sah er ihn in der Universität -, er studierte Philosophie und schien von einem bohèmehaften Kreis umgeben ... Nun aber war der Gastgeber dazu übergegangen, die Haltung des deutschen Heeres in Südwestafrika zu rühmen. Das reichte Viktor jetzt: von wegen ‘Schutzgebiet’! Das deutsche Militär begehe Verbrechen gegen die einheimische Bevölkerung, stellte er fest. Innerhalb der deutschen Grenze würden alle Hereros erschossen, habe General von Trotha letztes Jahr in einem Aufruf verlauten lassen, auch Frauen und Kinder. Ob sie so etwas gutheißen könnten? Markwart fragte provozierend, was es sie denn anginge, wenn dort irgendwelche Hottentotten ihr Leben ließen. Daraufhin schwieg Viktor.

Erst nach einer Weile kam das stockende Gespräch wieder in Gang, als Markwart davon erzählte, wie er versucht hatte, eine der wenigen Kommilitoninnen anzusprechen. Sie wäre vor Angst erstarrt, hätte ihn nicht angesehen, sich entschuldigt und wäre davongelaufen. Das könne er gut verstehen, äußerte sich überraschend Grüpp, der sich bis dahin nicht beteiligt hatte. Die jungen, behüteten Frauen wüssten doch, dass viele von uns schon von den Vätern ins Bordell geführt worden seien. Für sie seien wir Tiere. Markwart entgegnete, dass er nicht so viel in die Frauen hineingeheimnissen solle. Frauen wollten nicht verstanden, Frauen wollten besessen werden, das sei alles. Und Führung sei es, was sie bräuchten, fügte Schadow hinzu. Wieder zum Fenster hinaussehend sagte Grüpp höhnisch, dass sie wohl deswegen mit viel älteren Männern verheiratet würden, die sich die Hörner schon abgestoßen hätten.

Kurz darauf fing Schadow unvermittelt von der ‘Franzosenkrankheit’ an und erzählte von einem Studenten, dem der Syphiliserreger vom Rückenmark aus das Gehirn erweichte. Dieser sei wie üblich mit Quecksilber eingerieben worden, woraufhin ihm sämtliche Zähne und Haare ausgefallen seien. Am Ende habe sich der Student mit letzter Kraft aus dem Fenster zu Tode gestürzt. Wenigstens habe der nicht zu den Homosexuellen gehört, urteilte Markwart und zog über den Stadtkommandanten Kuno Graf Moltke her. Viktor, den das kaum interessierte, überkam plötzlich die Sehnsucht nach seinen Büchern. Abrupt stand er auf, verabschiedete sich und ging.

7

Angestrengt starrte Helmut in die verschwimmende Dezemberdämmerung. Die Kälte trieb ihm Tränen in die Augen. Seine Schritte klopften seltsam auf dem gefrorenen Boden. Jetzt war hier schon niemand mehr unterwegs. Die Leute hatten sich in ihren Hütten verkrochen. Es roch nach verbranntem Holz. Kohlenknappheit. Die Hände hatte er in die Taschen seines dünnen Jacketts gesteckt, um sie ein wenig aufzuwärmen. Alles an ihm war kalt, wie tot kam er sich vor, nur in seinem Magen spürte er ein Brennen, das kam vom Schnaps. Wann hatte er seinen letzten gehabt? Er konnte schon wieder einen brauchen. Aber eigentlich war er es leid, diese ertränkten Tage, diese abgesoffenen Wochen, von denen er nichts mehr wusste und nichts mehr wissen wollte. Betrunkene Handlungen tauchten in seinem Kopf auf. Missgestaltete Schlangenwesen, die sich unter der Oberfläche eines brackigen Weihers drängten und mit einem Licht angeleuchtet wurden. Er sah sich selbst, wie er als Betrunkener war, und der Anblick quälte ihn. Wenn er doch nur schon tot wäre. Oder tausend Jahre schlafen, das wollte er. Schreckliche Dinge. Er versuchte, sich die Erinnerung daran zu verbieten. Nicht zurückblicken, das hielt er nicht aus und musste gleich an Schnaps denken. Nach vorne schauen! Hier musste die Hütte doch irgendwo sein. Er hielt nach den zwei Lichtlein Ausschau, den feinen Vorhängen. Aber die Hütten und wenigen Lichter hier sahen doch alle gleich aus. Oder war er schon zu betrunken? Er hätte irgendetwas essen sollen, um den Geschmack in seinem Mund zu vertreiben. Sie würde es sicher sofort riechen und ihn beschimpfen. Als er daran dachte, begann er sich nach einem weiteren Glas zu sehnen. Sie hatte ja recht, vor allem jetzt, wo das zweite Kind von ihm da war. Warum hatte sie ihn überhaupt noch einmal rangelassen? Das verstand er nicht. Obwohl es mit der Sauferei ja erst seit dem Streik so schlimm geworden war. Ohne Arbeit, da fiel ihm eben nichts Besseres ein. Und im Mai, als es in der Holzfabrik weitergegangen war, hatten sie ihn nicht mehr genommen. Seine Hände waren zu Klauen erstarrt, Vogelklauen, dachte er und stellte sich vor, wie er Helga damit über das Haar strich. Oder noch furchtbarer: Wie er mit seinen kalten Krähenklauen versuchte, den Sohn aus dem Bettchen zu heben. Nicht weit war eine Kneipe. Ob Helga ihm etwas Geld geben würde?

Das war doch die Hütte. Er sah zum Fenster hinein und wirklich: Da saß sie, ihre schönen Haare hingen über ihren vorgebeugten Hals, und nähte wie immer. Etwas zog ihm die Brust zusammen, als er sie so da sitzen sah, und die Scham trieb ihn fort, vorbei an der niedrigen Tür. Aber dann blieb er doch stehen, ging die wenigen Schritte zurück. Klopfte, nahm sich zusammen, bemühte sich um Haltung. Ihre Mutter öffnete die Tür, ließ ihn aber nicht gleich hinein, fragte erst nach hinten, ob sie ihn sehen wollte. Ihre stumpfen Knopfaugen schienen ihn gar nicht anzusehen. Dann ging er ein paar Schritte hinter der Schlurfenden her, roch ihre muffigen Kleider, bemerkte den Geruch nach gekochtem Kohl und den vertrauten Dunst von Schnaps. Der kam vom Vater, der schwer atmend in der Ecke lag und wohl eine Erkältung mit seinem einzigen Hausmittel bekämpft hatte. Der weiße Bart ragte empor, und Helmut musste sich vorstellen, wie der Alte Frau und Töchter geprügelt hatte, seine Frau mit der Hand, die Kinder mit dem Riemen. Dann war die jüngere Tochter gestorben. Helga warf ihm einen kurzen Blick zu und vertiefte sich wieder in ihre Näharbeit. Natürlich durchschaute sie ihn. Sicher hatte er ein gerötetes Gesicht und diesen etwas glasigen Blick, den sie so hasste, den sie schon an ihrem Vater immer gehasst hatte. Aber der fraß jetzt sein Gnadenbrot in seiner Ecke. Helmut merkte, wie angespannt seine Nerven waren und stand ganz steif in der Mitte des Raums, um das Zittern, das in ihm ausbrechen wollte, zu unterdrücken. Die Geräusche schmerzten ihm in den Ohren. Die Mutter kramte und klapperte. Wie um ihn zu ärgern, schepperte sie mit einem Blecheimer und zerrte dann rumpelnd einen Kübel mit eingeweichten schmutzigen Windeln über den Boden. Er starrte auf Helgas Rücken, wartete und konnte nur an den rettenden Schnaps denken. Nun fing auch noch die kleine Irmgard an, um ihn herumzuspringen und auf ihn einzuplappern. Ihre geflochtenen Zöpfe hingen wie zwei Taue herab. Sie erzählte wohl von der Mädchenschule, dass sie jetzt wie die Jungs Grammatik und Mathematik lernte, und Helmut erinnerte sich, dass er irgendwo gelesen hatte, die Herzensreinheit und Gemütstiefe deutscher Frauen und Mädchen solle dadurch nicht beeinträchtigt werden. Er sah auf die gestärkte Bluse, an der Helga nähte. Wie ein ausgestopfter Schwan lag sie vor ihr, die vielen Reihen roter Knöpfe wie Blut im Schnee. Schneewittchen über den sieben Bergen bei den sieben Zwergen. Nun schrie auch noch der Säugling. Helmut warf einen Blick in seine Richtung, sah aber nur zwei fuchtelnde Ärmchen. Vielleicht erwartete Helga, dass er hinüberging und versuchte, seinen Sohn zu trösten. Aber er stand wie angewurzelt, das alles wurde ihm zuviel. In seinem Kopf gingen Bilder und Gedanken durcheinander. Er sah Federboas und plötzlich ganz deutlich die ehebrecherische Kronprinzessin Luise mit ihrer Boxernase, den auseinanderstehenden Augen, dem schmalen Mund. Auf ihrem Riesenhut waren Federn, und dort türmte sich auch eine Art Vorhang auf, zusammengerollt wie eine Schlange, den sie hinunterlassen konnte, wenn sie ihre Ruhe haben wollte. Helga war inzwischen aufgesprungen und, ohne ihn anzusehen, zum Kind gelaufen. Hier würde er heute kein Geld bekommen. In Gedanken ging er schnell die Ausschänke durch, vielleicht konnte er in einem doch noch einen kleinen Kredit bekommen. Er räusperte sich, sagte etwas mit belegter Stimme, machte sich von Irmgard los, die an seinem Ärmel hing, und verließ schnell den Raum. Während er draußen mit unsicheren Schritten und ohne zurückzusehen davonging, erschien ihm die Kälte an seinen heißen Ohren einen Moment lang fast angenehm. Doch so sehr sie ihm dann auch in die müden Knochen fuhr, von dem Engegefühl in seiner Brust lenkte ihn nur der Gedanke an eine Schenke im Tiergarten ab, wo er vielleicht noch einen Schnaps anschreiben lassen konnte.

8

Sofort als er aufwachte, wandte er sich suchend um. Helene lag in dem Bett neben dem seinen und schlief. Durch den Vorhangspalt sickerte Morgendämmerlicht in das geräumige Schlafzimmer des neuen Hauses. Er hatte es ihretwegen gebaut, weil sie nicht mit der Mutter zurechtkam, die allein im alten Haus nebenan wohnen geblieben war. Letztes Jahr war es fertig geworden. Es hatte ihn in arge Geldnöte gebracht. Arbeiten, das war alles, was half, das war alles, was er konnte, aber es würde nicht reichen. Wahrscheinlich musste er einen Teil seiner Felder verpachten, vielleicht sogar verkaufen. Er beugte sich über die Schlafende. Ihr Gesicht war ganz entspannt, die etwas aufgeschwollenen Lippen waren nicht wie sonst in den Mundwinkeln herabgezogen. Sie wirkte zufrieden. Wie leicht war alles, wenn sie schlief. Im Grunde war er froh, dass sie nicht wie die anderen Landwirtsfrauen mit ihren Männern gemeinsam in aller Frühe mit ihm aufstand. Nun bewegte sie sich, winkelte einen Arm an und legte ihren Kopf in die Beuge, das aufgelöste Haar umflutete das Kissen, ihr warmer Duft stieg zu ihm auf. Begierde regte sich in ihm, und er stellte sich vor, wie er sich zu ihr legte. Sie würde erschrecken, und gefallen würde es ihr auch nicht. Jetzt murmelte sie etwas, das er nicht verstand. War es ein Name? Wovon träumte sie? Vom Junker etwa, der sie so beeindruckte, den sie, als er in Kolberg war, besucht hatte, wenn er glaubte, was seine Mutter ihm zugeflüstert hatte, vom Junker, dem er vielleicht sogar sein Land verkaufen musste? Niemals. Da ginge er noch eher zum Juden. Seine Frau gehörte ihm.

Und wenn es wahr war, dass sie zu von Weser hinübergefahren war, würde er ... Arbeit. Arbeiten. Die beste Ablenkung, sagte er sich und ging am Kinderbett vorbei, wo sein Sohn ruhig schlief. Sie hatte ihm ein Kind geboren, aber wer sagte, dass es wirklich sein Kind war? Er musterte das Gesicht, das unter dem kleinen Federbett hervorlugte. Fünf Jahre. Warum bestand sie darauf, dass das Kind in ihrem Zimmer schlief? Wenn er sie besitzen wollte, musste er leise sein, um das Kind nicht zu wecken. Oft sagte sie auch, das Kind schlafe noch nicht. Er verglich die Nase des Kindes mit seiner Nase, den Mund mit seinem Mund, Stirn mit Stirn, Kinn mit Kinn und, obwohl er nicht so recht wusste, wie er selbst eigentlich aussah, fand er in den Zügen des Kindes nur seine Frau. Ihm ähnelte das Kind nicht, stellte er fest und versuchte sich das Gesicht des Junkers vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Er brachte Ruhe in seine Gedanken, indem er an die Arbeit dachte, die auf ihn wartete. Leise ging er die Treppe hinunter. Seit längerem schon hatte er ihre Blicke bemerkt, die zu von Wesers mächtigem Herrenhaus hinüberwanderten. Glaubte sie, dass er das nicht sah? Kaum ein lobendes Wort hatte sie zu ihrem neuen Haus gesagt, zu dem Heim, das er doch nur für sie gebaut hatte. Immer wenn er darauf zu sprechen kam, meinte er zu sehen, wie ihr Mund spöttisch wurde. Zu Besuch bei diesem Laffen. Sie hatte es nicht zugegeben. Er hätte sie umgebracht. Vielleicht log sie. Aber in dem Verhör, dem er sie unterzogen hatte, hatte sie sich nicht widersprochen. Obwohl er ihr Fallen gestellt hatte, so getan hatte, als habe sie ihm erzählt, sie habe in den Tagen seiner Abwesenheit einen Brief an die Eltern geschrieben. Dabei hatte sie ihm berichtet, den Mädchen beim Einkochen der Himbeeren geholfen zu haben. Verwundert berichtigte sie ihn. Den Brief habe sie doch erst geschrieben, als er schon wieder zurück gewesen sei, nein, sie habe Himbeeren eingeweckt. Ihre unaufgeregten Antworten hatten ihn beruhigt, aber nur für kurze Zeit, denn dann war ihm der Gedanke gekommen, ihre Ruhe wäre unnatürlich gewesen, sie hätte böse werden, von ihm enttäuscht sein, weinen müssen. Gerade ihre Gelassenheit war verdächtig und konnte daher rühren, dass sie sich auf seine Befragung innerlich vorbereitet, sich ihre Antworten zurechtgelegt hatte ... Nur die Arbeit konnte die Gedanken, die in seinem Kopf kreisten, in eine andere Richtung lenken. Aber als er vor die Tür trat und in die milchig graue Dämmerung unter dem bedeckten Himmel starrte, wusste er, dass er an diesem Tag nicht aus seinem Gedankenkäfig hinauskommen würde. Das alte Haus war leer, seine Mutter war schon zur Kirche aufgebrochen. Friedhelm begann, einen Knecht, der vor der Scheune eine Sense geschliffen hatte, herumzukommandieren. Ließ ihn Gerätschaften umräumen, damit Ordnung entstand. Es bereitete ihm Genugtuung, und er dachte daran, wie es wäre, wenn er seine Frau so in der Gewalt hätte, bis er bei einem kurzen Blick in das Gesicht des Knechts dessen freches Grinsen sah. Dieser Jerzy dachte sich wohl seinen Teil. Das war doch der Kerl, der es mit der Melkerin trieb. Obwohl er es nicht gesehen hatte, hatte er plötzlich vor Augen, wie die beiden im Stroh übereinander herfielen. Sprach kaum Deutsch, der verdammte Polack. Den würde er Mores lehren. Deutschtum. Die strenge Ostmarkenpolitik von Bülows - völlig richtig. Die polnischen Blagen weigerten sich, ausschließlich Deutsch in der Schule zu sprechen. Und deren Eltern gingen dafür zwei Jahre ins Gefängnis. Dickköpfe. 50000 Kinder im Streik. Preußen muss durchgreifen. Er befahl dem Knecht, Sandsäcke, die er noch zum Bau einer Terrasse verwenden wollte, in einer anderen Ecke der Scheune aufzuschichten. Helene machte jetzt sicher ihre Morgentoilette und ließ sich von der Haushälterin Kaffee zubereiten. Dem Polacken würde das Lachen schon noch vergehen. Friedhelm überwachte die Arbeit des Mannes. Sie langweilte sich, das wusste er genau. Außerdem hatte sie es oft genug gesagt. Natürlich war das Leben auf einem Hof eintönig und einsam. Selbst ihm kam es oft so vor, aber man durfte dem nicht nachgeben. Doch mit wem konnte sie schon sprechen, außer mit den Bediensteten. Er mied die Feste, die gelegentlich auf den umgebenden Gütern gefeiert wurden. Wenn er mit sich ehrlich war, hatte er Angst davor, denn er wusste, dass er in Gesellschaft unbeholfen wurde und fürchtete Helenes Verachtung. Wann sollte er zu ihr ins Haus gehen? Wenn er ihr in dieser Verfassung gegenübertrat, führte das nur zu Vorwürfen seinerseits. Seine Stimme würde in die Höhe klettern, während er ihr Vorhaltungen machte. Dabei zeigten diese Verdächtigungen nur sein Misstrauen. Und was war das für eine Liebe, die den anderen des Verrats für fähig hielt? Eine Liebe, die auf tönernen Füßen stand. Und die vielen Kleinigkeiten, die er alle in Bezug zu sich und ihrer Ehe setzte, die er bis in den letzten Winkel auszudeuten versuchte. Wenn sie ihn ohne ein Lächeln begrüßte, schossen ihm wieder alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Dass sie ihn nicht liebte. Ja, das vor allem. Sie liebte ihn nicht. Dass sie ihm zwar gestattete, sie zu besitzen, dass sie ihn aber nicht liebte. Dessen war er sich sicher. Und wenn er klobig vor ihrer Schönheit stand, würde er sich wieder all seiner Schmutzigkeit bewusstwerden und an seine Schnüffeleien in ihren Briefen und persönlichen Sachen denken. Aber musste sie ihn nicht so lieben, wie er war? Hässlich, schmutzig, nicht lustig und eifersüchtig? „Los! Keine Müdigkeit vorschützen!“, rief er. Und weil er sah, mit welcher Gelassenheit der Knecht die Säcke von einer Ecke in die andere trug, und sich selbst sah, wie er dumm dabeistand, und weil er hoffte, er werde mit anstrengender Arbeit seinen ruhelosen Kopf betäuben können, packte er nun mit an.

9

Schadow verknöchert, Markwart ein Schwein. Grüpp, der einzige, mit dem Viktor sich wirklich noch verstand, war nicht mitgekommen. Viktor sah die befreundeten Kommilitonen jetzt wie in einem grellen Licht: Schadow und Markwart hatten alles Jugendliche abgestreift. Ersterer hielt sich nur noch soldatisch steif und hatte sich eisern feste Meinungen zugelegt, die er mit knarrender Stimme und seltsam zuschnappendem Unterkiefer von sich gab, Letzterem lief immer ein wenig Speichel aus dem infolge eines Schmisses nach unten verlängerten Mundwinkel, den er sich mit einem Läppchen abtupfte. Zudem zeigte der Corpsstudent selbstgefälliges Gehabe und tätschelte sich fortwährend irgendwie drohend den Bierbauch.

Die Huren saßen auf abgewetzten Fauteuils und zwei Sofas. Die Mehrzahl rauchte und schaute die Neuangekommenen teilnahmslos an. Sie waren nachlässig in Seidenmorgenmäntel oder Chalats gehüllt, die ihre Körper unzureichend bedeckten. Jede Bewegung gab kurze Blicke auf das Dekolleté, ihre Unterwäsche, die Beine oder sogar das nackte Fleisch oberhalb des Strumpfbands frei. Es war warm im Salon und roch erstickend nach verschüttetem Sekt, von Parfüm überdecktem Schweiß und Zigarrenrauch. Die Madame war vor ihnen hergeschritten. Ihre Taille wirkte wie von den Pranken eines unsichtbaren Kraftmenschen zusammengedrückt, und sie setzte Fuß vor Fuß wie eine junge Ballett-Elevin. Als sie sich umwandte, erschrak Viktor aber über ihr Gesicht. Es ähnelte einem verschrumpelten Bratapfel, dem an nahezu beliebiger Stelle zwei Augen und ein Mund aufgemalt worden waren. Madame klatschte in die Hände, und im Hintergrund erhob sich missmutig schnaufend eine beleibte Frau in viel zu engem Serviererinnenkleid. Sie walzte heran und fragte, was für Getränke gewünscht seien. Markwart orderte die Hausmarke, und sie trollte sich. Viktor dachte darüber nach, wieviel lieber er jetzt in Fogeschs eleganter Wohnung gewesen und den fesselnden Gedankenflügen des Freundes gefolgt wäre. Inzwischen hatte Markwart eine der Prostituierten herübergewinkt, indem er gebieterisch auf den Platz neben sich zeigte. Kaum saß sie neben ihm, streichelte er ihr kurz den Hals, griff sie dann plötzlich grob im Nacken und zog ihren Kopf in Richtung seines Schoßes. Viktor wandte den Blick zur Seite auf Schadow, der mit grimmiger Miene zu ignorieren versuchte, dass sein übergeschlagenes Bein immer wieder seltsam zuckte. Wiehernde Stuten erdrückte sein Schenkel. Im selben Augenblick drang ein Zischen zwischen Madames künstlichen Zähnen hervor, das Markwarts Benehmen rügte. Der Salon sei nicht der Ort für so etwas, sagte sie und wies ihn an, auf ein Zimmer zu gehen. Markwart kniepte ihnen zu und zog das etwas bockende Mädchen, das ihn anscheinend kannte, die Treppe hinauf. Während Viktor die Frauen anschaute, von denen ihm keine gefiel, dachte er an die vielen Geschichten, die ihm Onkel Leo, der Bruder seiner Mutter, erzählt hatte. Der kleine, quicklebendige Onkel Leo, der wie ein Akrobat wirkte, hatte seit seinem Bankrott vor einigen Jahren bei ihnen gewohnt. Nach einem heftigen Streit mit Viktors Vater zog er nun aus. Eine der Frauen, die Viktor mit ihrer fürchterlich forcierten Lache abstieß, ging mit Schadow hinauf. Zu der Auseinandersetzung war es gekommen, weil der Vater ganz entgegen seiner gewohnten Art insistiert hatte, der Onkel trage die alleinige Schuld am eigenen Ruin. Daraufhin hatte der Onkel dem Vater unlautere Geschäftspraktiken vorgeworfen, was diesen nur hatte lächeln lassen. Infolge dieser Reaktion noch gereizter, hatte der Onkel den Vater beschuldigt, der eigentliche Grund für das Nervenleiden seiner Ehefrau, seiner geliebten Schwester Emilie, zu sein. Bevor er eingezogen sei, wäre in diesem Haus doch nie gelacht worden. Emilie habe keinmal unter einem ihrer Zustände leiden müssen, seitdem er bei ihnen wohne. Mit plötzlich ganz leiser Stimme hatte der Vater ihn daraufhin des Hauses verwiesen, und als der Onkel auf sein Zimmer gegangen war, hatte des Vaters zitternde Hand, etwas, was Viktor nie zuvor gesehen hatte, die Hand von Leos Mutter, die erstarrt am Tisch saß, gesucht. Eine der Huren zog ihren Mund beim Rauchen unangenehm schief. Vielleicht vertrugen sich Onkel und Vater ja wieder, dachte Viktor. Die Nachbarin der Schiefmäuligen hatte Ringe unter den Augen. Abwechselnd knabberte sie an ihren Fingernägeln und hustete. Die Geschichten und bizarren Geschäftspläne des Onkels, sein munteres Wesen würden sicher auch dem Vater sehr fehlen. Andererseits wollte Viktor selbst in jedem Fall bald eine eigene Wohnung beziehen. Und wie würde die Mutter damit fertigwerden? Ach, wer konnte schon in die Zukunft sehen. Die einzige der Frauen, die ihn ansah, hatte etwas Strenges an sich. Vielleicht weil ihre dunklen Haare so eng an den Kopf gesteckt waren. Oder weil sie auf dem Sofa saß, ohne sich anzulehnen?

Während er hinter ihr die Treppe hinaufging und bemerkte, dass sie nicht nach Parfüm roch, dachte er daran, dass es ja nun ein Medikament gegen die Syphilis gab. Wie hieß es noch? Salvarsan? Die Frau führte ihn in ein düsteres Zimmer, zündete eine Petroleumlampe an und zeigte ihm, wo er sich waschen sollte. Die Seife roch nach Fett. Als er sich wieder von der Waschschüssel umwandte, hatte sie sich schon ausgezogen, und er sah, dass sie wenig Brust und breite Schultern hatte. Im Bett dachte er an Elli, das Dienstmädchen seiner Eltern. Wie anders doch die wenigen Male mit ihr gewesen waren. Kurz darauf hatte sie das Haus verlassen. Ellis tastende Lippen und ihre starke Zunge. Hier wurde nicht auf den Mund geküsst.

Viktor zog sich an. Aber er ging noch nicht, obwohl dafür Extrabezahlung gefordert wurde, denn er wollte Markwart und Schadow nicht mehr begegnen. Also setzte er sich auf einen Stuhl und wartete. Und weil das stille Warten ihm unangenehm wurde, erzählte er dem Mädchen, das bald in Halbschlaf fiel und nur ab und an knurrte, vom Studium. Dass die Gegenwart mehr in die Geschichtsbetrachtung einbezogen werden müsse, dass man versuchen solle, die Zeiten einander gegenüberzustellen, um Aufschlüsse über allgemeine Gesetzlichkeiten menschlichen Lebens zu erhalten und Ähnliches. Und während er so redete, betrachtete er die jungenhaften Schultern der inzwischen Schlafenden. Dann fiel ihm auf, dass ihre strenge Frisur in Unordnung geraten war, und verwundert fühlte er, wie sehr er sie plötzlich begehrte.

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Herr Sterig, der stellvertretende Leiter der Nähabteilung, bemühte sich höchstpersönlich zu Helga, um die umgenähten Kleidungsstücke abzuholen. Mit herausgedrücktem Hinterteil stand er in der Tür und spitzte streng den Mund. Sodann ließ er sich von Helga einen Stuhl ans Fenster rücken, den er misstrauisch beäugte und vorsorglich mit dem Taschentuch abwischte.