Schluss mit dem täglichen Weltuntergang - Prof. Dr. Maren Urner - E-Book
SONDERANGEBOT

Schluss mit dem täglichen Weltuntergang E-Book

Prof. Dr. Maren Urner

0,0
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Warum wir vor lauter News die Nachrichten übersehen - in ihrem Sachbuch erklärt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner, warum uns die Informationsflut der modernen Medien überfordert und welche Auswege es gibt. Egal ob morgens in der Zeitung, abends im TV oder gleich den ganzen Tag im Liveticker auf dem Smartphone: Kriege, Skandale, Terroranschläge, Katastrophen. Der Welt scheint es so schlecht zu gehen wie noch nie, und in Zukunft wird alles noch schlimmer. Diese Sicht der Dinge drängt sich auf, wenn wir uns in den Medien über den Zustand der Welt informieren. Maren Urner warnt vor den fatalen Auswirkungen dieser Art von Berichterstattung: Wir sind ständig gestresst, unser Gehirn ist dauerhaft im Angstzustand, und unsere Sicht auf die Welt wird durch Schwarz-Weiß-Malerei und Panikmache verzerrt. So gewinnen wir keinen Überblick über die Geschehnisse, sondern bleiben überfordert und hilflos zurück. Mit ihrer wissenschaftlichen Expertise erklärt die Autorin, was in der modernen Medienwelt schiefläuft und wie unser Steinzeithirn täglich von der digitalen Informationslandschaft überfordert wird. Als Gründerin von Perspective Daily berichtet Maren Urner aber auch von einer Alternative: von einem Online-Magazin, das lösungsorientiert berichtet. Als Neurowissenschaftlerin und Vorreiterin des Konstruktiven Journalismus in Deutschland erzählt sie von einer Berichterstattung, die uns nicht hoffnungslos zurücklässt, aber auch nichts schönreden will – inklusive interaktivem Crashkurs in kritischem Denken. Maren Urner studierte Kognitions- und Neurowissenschaften in Deutschland, Kanada und den Niederlanden und promovierte am University College London. 2016 gründete sie Perspective Daily mit, das erste werbefreie Online-Magazin für Konstruktiven Journalismus. Seit April 2019 ist sie Dozentin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln. »Sobald mich meine Berufskrankheiten Zorn, Angst oder Verzweiflung befallen, lese ich Maren Urner. Klug und mit frischer Schärfe zeigt sie, was ein verantwortungsvoller Journalismus leisten kann.« Hajo Schumacher

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 266

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Maren Urner

Schluss mit dem täglichen Weltuntergang

Wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne wehren

Knaur e-books

Über dieses Buch

Wir alle werden online und offline von einer konstanten Nachrichtenflut überfordert – und das hat gewaltige gesellschaftliche Auswirkungen. Unsere Medienkompetenz ist schlicht überstrapaziert: Jeden Tag Push-Nachrichten auf dem Smartphone, Liveticker zu Fußballspielen, Koalitionsverhandlungen und Terroranschlägen, ständig Breaking News checken und von Fake News unterscheiden – was macht diese Informationsflut mit uns?

Maren Urner warnt: wir verlieren den Überblick, setzen uns unter erheblichen Stress und können körperlich wie seelisch krank werden. Oder aber wir schauen ständig auf unser Smartphone und bilden uns ein bestens informiert zu sein, tatsächlich aber ist unsere Weltsicht durch die scheinbar täglich aufgedeckten Skandale, Katastrophenmeldungen und Hiobsbotschaften vollkommen verzerrt. Doch unsere jeweiligen individuellen Probleme massieren sich zu einer kollektiven Überforderung: Gesamtgesellschaftlich wird so ein Gefühl der antrainierten Hilflosigkeit gefördert, das bis zur Demokratieverdrossenheit führt.

Mit ihrer wissenschaftlichen Expertise und ihrer Praxiserfahrung aus dem Konstruktiven Journalismus zeigt uns die promovierte Neurowissenschaftlerin und Gründerin von perspective-daily.de, wie wir mit der Informationsflut souverän umgehen können.

Inhaltsübersicht

MottoVorwortKapitel 1 Süchtig nach dem nächsten Update: Nachrichtenkonsum im 21. JahrhundertEigentlich müssten wir richtig viel Zeit habenIch wollte doch nur ein Ticket kaufen ...Der Wert deiner AufmerksamkeitWie gut weißt du Bescheid?Wenn es knallt, wird es interessantKapitel 2 Abhängigkeit mit Folgen: Das macht die Informationsflut mit Gehirn und PsycheDie Macht unserer GewohnheitenEine neue Gewohnheit entsteht im GehirnGewohnheiten sind Segen!Gewohnheiten sind Fluch!Besser ängstlich und am Leben als fahrlässig und totNachrichten sind stressiger als die RealitätWir lernen, hilflos zu seinDas Versagen der Medien?Unsere InformationswutDie Sache mit dem MedienvertrauenObjektiver Journalismus ist eine Fata MorganaWas wir gewinnen, wenn wir uns auf den Weg machenKapitel 3 Weg von der Nadel: Konstruktiver Journalismus als AlternativeVon der Idee zum Medien-Start-up: Perspective DailyZutat 1: Ein neuer Blick auf die WeltZutat 2: FormsacheZutat 3: Das Handwerkszeug der Wissenschaft!Die geheime vierte ZutatKapitel 4 Deine einzige Chance: Das Rüstzeug gegen die tägliche InformationsflutLektion 1: Warum du denkst, dass du recht hast1. »Ich sehe die Welt, wie sie ist!«2. »Warum kapieren die das nicht?!«3. »Ich bin weniger voreingenommen als die anderen!«Wie kommst du da wieder raus?Lektion 2: Warum Fake News sich so gut in deinem Gedächtnis festsetzenKorrekturen haben es schwer in deinem KopfDein Gedächtnis ist kein Video der RealitätWenn der Schuss nach hinten losgehtDein Gehirn austricksenLektion 3: Warum uns unser Ego wichtiger ist als die WahrheitWenn dein Gehirn deine Identität verteidigtMechanismus 1: Rosinen rauspickenMechanismus 2: Aktive Informations-VermeidungDie Balance des ImmunsystemsMedikamente gegen das überaktive ImmunsystemLektion 4: So schnell sind dir die anderen egalBeginnt Nationalismus beim Fußball?Dein Gehirn signalisiert, wer dazugehört und wer nichtWie viele Gruppen bist du?Gruppengrenzen verstehen und verschiebenLektion 5: Warum du nicht alles frei entscheidestWarum dich zu viel Auswahl unzufrieden machtAlles Manipulation?!Entscheiden, wann du entscheiden willstLektion 6: Dieses Syndrom hat auch dich fest im Griff!Der Ignoranz-GipfelSo verbreitet ist SelbstüberschätzungDrei Gegenmittel gegen die IgnoranzLektion 7: Warum Bullshit gefährlicher ist als jede LügeDas ist Bullshit!Von Gurus und männlichen GeschlechtsorganenHast du eine gute Nase für Bullshit?Aufstehen gegen BullshitAnhangDank
[home]

»Unser Leben ist nichts anderes als das,

worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.«

 

William James, Begründer der Psychologie, 1890

[home]

Vorwort

In einer kleinen montenegrinischen Stadt begegne ich während einer Urlaubsreise der riesengroßen Puppe eines Mädchens, das jeder kennt. Es sitzt auf der Stadtmauer und lächelt in die Sonne. Unverkennbar sind die Sommersprossen und die geflochtenen Zöpfe links und rechts. Es ist das Mädchen, das sich die Welt macht, wie sie ihr gefällt, gemeinsam mit ihrem Affen Herrn Nilsson und dem Pferd Kleiner Onkel. Unweigerlich muss ich schmunzeln, als ich diese übergroße Pippi Langstrumpf erblicke und an ihre wohl bekannteste Liedzeile denke: »Ich mach mir die Welt, widde widde wie sie mir gefällt.«

Denn nicht nur das Mädchen mit den wilden Ideen macht sich die Welt, wie sie ihr gefällt, sondern wir alle machen das. Geboren mit unserem individuellen Erbgut und geprägt durch jeden einzelnen Moment unseres Lebens, nimmt jeder seine Umwelt ganz individuell wahr. Schuld daran ist niemand anderes als der beeindruckende Zellhaufen in unserem Kopf, unser Gehirn. Knapp zehn Jahre lang habe ich mich damit beschäftigt, wie sehr unser Oberstübchen die eigene Wahrnehmung beeinflusst und sich gleichzeitig ständig verändert, abhängig davon, womit wir unsere Zeit verbringen. Während meiner Promotion in Neurowissenschaften in London kam ich zunehmend ins Grübeln über meine Rolle in der Welt. Die wichtigste Frage dabei war für mich: Wie kann ich meinen Beitrag zu einer besseren Welt leisten? Und weil ich mich so viel damit beschäftigt hatte, was unser Gehirn mit den Informationen anstellt, die ihm begegnen, landete ich schnell bei der Frage, woher diese Informationen eigentlich kamen. Zeitung, Radio, Fernsehen, Internet: Ein Großteil kommt aus den Medien. Leider musste ich auch feststellen, dass unser Steinzeithirn im digitalen Zeitalter damit hoffnungslos überfordert ist.

Und dann? Dann habe ich ein Medienunternehmen mitgegründet. Klingt verrückt? Ist es aber nicht. Vielmehr war es für mich die logische Konsequenz aus der Erkenntnis, wie sehr unser täglicher Medienkonsum unser Gehirn und damit unser Weltbild und -verständnis beeinflusst. Denn mit Blick auf die Welt der Nachrichten und Berichterstattung da draußen war mir schnell klar: Die wenigsten Medienschaffenden sind sich ihrer Macht bewusst. Stattdessen sorgen sie mit ihrer Arbeit – häufig unbewusst – nicht nur dafür, dass wir schlecht informiert sind, sondern verstärken auch Vorurteile, Missverständnisse und Konflikte. Weil sie die wichtigste Zutat im Medien- und Informationsalltag vergessen: unser Gehirn.

[home]

Kapitel 1 Süchtig nach dem nächsten Update: Nachrichtenkonsum im 21. Jahrhundert

Eigentlich müssten wir richtig viel Zeit haben

Eigentlich müssten wir richtig viel Zeit haben. Jeder, der schon mal umgeben von Regalwänden voll mit Büchern und Ordnern nach einem bestimmten Satz gesucht hat, weiß, wie lange eine solche Suche dauern kann. Das Internet und gut programmierte Algorithmen, die riesige Datenbanken rasend schnell durchsuchen, haben uns Suchende arbeitslos gemacht – und jeden Menschen mit Internetzugang potenziell allwissend. Suchmaschinen werden immer cleverer, sodass wir mittlerweile einfach nur noch unsere Fragen in das Eingabefeld tippen müssen, um innerhalb von Millisekunden eine Antwort zu erhalten. Vorausgesetzt, die Netzabdeckung reicht aus, haben wir immer und überall Zugang zum Wissen der Welt. Die Ausrede »Das weiß ich nicht!« hat ausgedient und muss stattdessen lauten: »Ich habe keine Lust, nachzuschauen!«

So können wir unser Wissen über die Welt nach Lust und Laune erweitern und vergrößern. Und wer liefert dieses Wissen und bestimmt so auch unser Weltbild? Vor allem zwei Akteure. Da ist zum einen alles, was wir als Bildungseinrichtungen zusammenfassen. Schulen, Universitäten und andere Ausbildungsstätten vermitteln Jung und Alt das nötige Wissen für jede Grund- und Fachausbildung. Der zweite Akteur ist einer, der zwar auf den ersten Blick sehr greifbar wirkt, dessen Grenzen aber immer mehr verschwimmen: die Medien. Haben wir unsere Ausbildung abgeschlossen, werden sie zum dominanten Faktor, wenn es um die Prägung unseres Weltbildes geht: »Das hab ich in der Zeitung gelesen.« »Das kam im Fernsehen.« »Das haben sie im Radio gesagt.«

Die digitale Medienrevolution der letzten Jahre hat dafür gesorgt, dass Medien unseren Alltag grundlegend verändert haben: Smartphone und Internet haben Einzug in alle Lebensbereiche gehalten – und sind immer verfügbar, ob wir es wollen oder nicht. Gleichzeitig haben sich Form und Absender grundlegend verändert. Im Zeitalter von Zeitungen, Radio und Fernsehen konnten wir zwischen gedrucktem oder gesprochenem Wort und Bewegtbild wählen. Im Internet ist alles scheinbar gleichzeitig möglich. In der bunten Multimediawelt können wir einen Podcast hören, parallel der Live-Berichterstattung über Video und Ticker folgen und den interaktiven Wetterbericht überfliegen. Und das alles, wann immer wir wollen. Streamingdienste haben Videotheken und DVD-Rekorder abgelöst. In der Straßenbahn und am Bahnhof halten uns Videobildschirme gleichzeitig über die neuesten Nachrichten und das günstigste Brillenmodell auf dem Laufenden. Selbst im öffentlichen Raum werden wir mit den aktuellsten News versorgt, ohne danach fragen, geschweige denn suchen zu müssen.

Auch wenn der Begriff des Journalisten oder Reporters noch nie geschützt war oder keiner bestimmten Ausbildung bedurfte, sind wir im 21. Jahrhundert nicht nur scheinbar allwissend, sondern auch alle tatsächlich in der Lage, selbst zum Journalisten zu werden. Egal ob als Blogger mit eigener Website oder über einen unserer zahlreichen Social-Media-Kanäle, theoretisch können wir jetzt mit den einfachsten Mitteln der ganzen Welt unsere Ansichten mitteilen.

Formen und Absender von Nachrichten fallen also nicht mehr länger in feste Kategorien, die digitale Medienwelt ist dezentral, crossmedial, hochgradig heterogen und immer verfügbar. Wir müssen nicht länger auf die frisch gedruckte Zeitung warten, auf die volle oder halbe Stunde im Radio, auf den Gong zur Tagesschau. Diese dauerhafte Verfügbarkeit scheint das Schlüsselwort zu mehr Selbstbestimmtheit und besserer Informiertheit zu sein. Wenn wir es wollten, könnten wir jeden Tag 24 Stunden Neuigkeiten lesen, hören und schauen – und wären trotzdem nicht »fertig«. Denn die Zeiten der Zeitung, die irgendwann durchgelesen – oder zumindest durchgeblättert – ist, und die der Nachrichten, auf die im Radio Musik oder im Fernsehen der Spielfilm folgten, sind vorbei.

Warum also fühlt es sich so an, als hätten wir immer weniger Zeit? Ja, wir müssen nicht mehr Schrankwände voll mit Büchern durchsuchen, um Kants Kategorischen Imperativ zu finden oder um den Satz des Pythagoras nachzuschlagen. Doch immer, wenn wir gerade auf der Suche nach etwas sind, sei es im Büro am Computer oder unterwegs am Smartphone, wenn wir »nur kurz« etwas nachschauen wollen: Immer und überall werden wir verführt, zu klicken, zu scrollen und zu swipen. Aus dem einfachen Grund, dass die wertvollste Ressource im 21. Jahrhundert nicht mehr die Information, sondern unsere Aufmerksamkeit ist. Vom Suchenden sind wir zum Wählenden geworden, gefühlt immer und überall. Weil wir scheinbar wählen müssen zwischen der Push-Nachricht, der Netflix-Serie, dem Sparangebot für eine neue Regenjacke, dem YouTube-Video zur neuen Hit-Single und dem Hyperlink zum nächsten Text, der uns verrät, wie wir uns weniger ablenken lassen.

Dabei geben wir uns gern der Illusion hin, mehrere Aufgaben gleichzeitig lösen zu können und somit effizienter und erfolgreicher zu sein. Doch das Gegenteil ist der Fall, weil sich unser Gehirn immer nur auf eine Sache wirklich konzentrieren kann.[1] Wenn wir meinen, drei Dinge gleichzeitig zu erledigen, betreiben wir also kein Multitasking, sondern eher ein schnelles »Taskswitching«, das heißt, wir springen mit unserer Aufmerksamkeit sehr schnell zwischen verschiedenen Aufgaben hin und her. Mal abgesehen davon, dass wir so mehr Fehler machen, brauchen wir dabei insgesamt auch länger für das, was wir erledigen wollen. Zu allem Überfluss macht uns das ständige Springen auch noch unzufriedener.

Den Wert unserer Aufmerksamkeit haben Online-Unternehmen und somit auch die Medien natürlich längst erkannt. Täglich optimieren sie die Algorithmen und Angebote ihrer Websites, um möglichst viel unserer Zeit und Zuwendung abzugreifen. Denn das Internet des 21. Jahrhunderts und die damit verknüpften Geschäftsmodelle basieren längst auf einem Kampf um unsere Aufmerksamkeit. Der hinterlässt zwar keine äußerlichen Wunden und Narben, aber Spuren in unserem Gehirn und unserer Psyche – um die es vor allem in Kapitel 2 gehen wird. Und weil es bei diesem Kampf um sehr viel Geld geht, wird hart gekämpft: Für die sogenannten Aufmerksamkeits-Händler[2] ist unsere gedankliche Zuwendung Gold wert: »Das grundlegende Ziel der meisten Datenanalysten bei Facebook besteht darin, die Stimmung und das Verhalten von Menschen zu beeinflussen. Sie tun das die ganze Zeit, sodass dir die Geschichten besser gefallen, du auf mehr Werbeanzeigen klickst, du mehr Zeit auf der Website verbringst. Genauso funktioniert eine Website, jeder macht das und jeder weiß, dass es jeder tut.« So beschreibt Andrew Ledwina, ehemaliger Datenanalyst bei Facebook, das »offene Geheimnis«.[3]

Ich wollte doch nur ein Ticket kaufen ...

Wenn du meinst, ich übertreibe oder du seist immun gegen die Tricks und Techniken der »Aufmerksamkeits-Händler«, erinnere dich einfach an das letzte Mal zurück, als es darum ging, »eben schnell eine E-Mail zu verschicken«, »nur gerade das eine Buch zu bestellen« oder »noch kurz ein Zugticket zu buchen«. Während also die Website der Deutschen Bahn lädt – auch wenn es nur Millisekunden dauert –, driftet deine Aufmerksamkeit schon ab, du springst zum E-Mail-Programm oder klickst auf die Schlagzeile einer Nachrichtenseite, überfliegst zwei Überschriften und springst wieder zurück zur Eingabemaske für dein Ticket. Während die Suchergebnisse für den gewählten Reisezeitraum vorbereitet werden, springst du zurück zu den Überschriften des Tages und googelst den Namen eines Unternehmens, das dort erwähnt wird und du noch nicht kanntest. In dem Moment kommt eine Nachricht eines Freundes bei dir an, und er fragt, ob es bei der Radtour nächste Woche bleibe. Gestern waren noch Regen und starker Wind vorhergesagt. Du willst dich vergewissern und öffnest schnell die Wetter-App. Während die lädt, checkst du Twitter, Xing oder Facebook. Ein Pop-up informiert dich über eine neue E-Mail mit dem Betreff: »Kurze Rückmeldung«. Das sollte schnell gehen, und du klickst vorher noch mal eben zum Browser, um … ja, um was eigentlich? Das Bahn-Ticket. Die Suche hat vier Ergebnisse geliefert, und du wählst das oberste aus. In dem Moment erscheint der verhasste Ladekreis, und du springst wieder zurück zu den Schlagzeilen des Tages. Irgendwo in den 42 offenen Tabs beginnt ein Song zu spielen, und verzweifelt startest du deine Suche nach ebendiesem Tab.

Eine halbe Stunde später hast du noch immer kein Ticket gekauft, und die verlorenen 30 Minuten sind das jüngste Opfer des Kampfes um deine Aufmerksamkeit, den im Hintergrund unzählige Unternehmen und Programmierer vorbereitet und ausgefochten haben. Indem sie Schriftfarben und -größen, Button-Texte und Links minimal angepasst haben. Stets optimiert für das eine Ziel, dich wie hypnotisiert weiterklicken zu lassen.

Angefangen hat der Kampf um unser teuerstes Gut, lange bevor der Großteil der Bevölkerung mit einem Smartphone in den Händen seinen Alltag zu bestreiten begann. In einer Zeit, in der Menschen tatsächlich noch viel Zeit damit verbrachten, in Regalwänden voll mit Büchern und gedruckten Zeitungen nach Informationen zu suchen.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren gedruckte Zeitungen ein Nischenprodukt, das gebildeten und wohlhabenden Menschen vorbehalten war. Reißerische Überschriften gab es noch nicht, die Artikel waren kompliziert und nicht besonders zugänglich geschrieben. Werbung war noch keine eigene Industrie; die Idee, damit Geld zu verdienen, kam gerade erst auf.

Diesen Status quo stellte ein findiger amerikanischer Verleger infrage. Im Alter von 23 Jahren witterte Benjamin Day eine Marktlücke und verkaufte seine New York Sun für einen statt die damals üblichen sechs Cent. Gleichzeitig erhöhte er die Auflage, sodass seine Zeitung für Unternehmen als Werbekunden interessant wurde. Plötzlich wollten alle eine Werbeanzeige in der New York Sun schalten, weil sie dadurch viele Menschen und damit potenzielle Kunden erreichen konnten. Das Ganze war wie so oft nur durch technologischen Fortschritt möglich. In diesem Fall durch dampfgetriebene Druckmaschinen, mit denen so schnell gedruckt werden konnte, dass jeden Tag eine frische Ausgabe der Zeitung verkauft werden konnte.

Dass der neue Massenmarkt der werbefinanzierten Zeitungen eine Goldgrube war, erkannten schnell auch andere, und das klassische race to the bottom begann: Im Wettlauf um die größtmöglichen Gewinne senkte die Regierung Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards, deregulierte fleißig und ermöglichte Unternehmen, Steuern zu vermeiden. Bei diesem Abwärts-Wettlauf konnte es, genau wie heute, auch schon mal passieren, dass etwas in der Zeitung landete, was Unfug ist. So gab es schon 1835 Fake News in der New York Sun: In einer Serie über astronomische Entdeckungen zeigte sie das Leben auf dem Mond. Inklusive entsprechender Zeichnungen, auf denen Lebewesen, halb Mensch, halb fliegende Dinosaurier, auf dem Erdtrabanten umherwandelten.[4]

Der Wert deiner Aufmerksamkeit

Die wildesten Geschichten über Mord und Totschlag, Kriege und Skandale, Ehebrüche und Intrigen verkaufen sich auch knapp 200 Jahre später noch am besten. Und klar ist auch: Wer mit einer Ressource – in diesem Fall unserer Aufmerksamkeit – Geld verdienen will, sollte möglichst viel davon sammeln. Massenmedien aller Art und Websites, die unsere Aufmerksamkeit gewinnbringend weiterverkaufen wollen, setzen also vor allem darauf, möglichst viele Augen- und Ohrenpaare so lange wie möglich in ihren Bann zu ziehen.

Ausgerechnet im Internet war das nicht immer so. Das World Wide Web bestand aus kleineren Netzwerken, in denen sich eine begrenzte Anzahl Menschen austauschte. Ganz ohne Werbung. Selbst die beiden Gründer von Google, Sergey Brin und Larry Page, verwiesen 1998, in der Anfangsphase ihres Unternehmens, auf die korrumpierende Wirkung von Werbung und wussten, »dass werbefinanzierte Suchmaschinen von Natur aus die Interessen der Werbekunden gegenüber denen der Konsumenten bevorzugen«.[5] Der anfängliche Idealismus hielt nicht lange an, und heute kämpft Google an vorderster Front mit um unsere Aufmerksamkeit. Kein Internet-Unternehmen verdient mehr Geld mit Werbeeinnahmen.[6]

Das funktioniert so gut, weil wir unsere wichtigste Ressource häufig unter Wert verkaufen. Während wir mit unserem Geld sehr viel sorgsamer umgehen und uns häufig zweimal überlegen, wofür wir es ausgeben, verschenken wir unsere Aufmerksamkeit eher freizügig. Du glaubst mir nicht? Dann lade ich dich ein, einen kleinen Test mitzumachen.

Wenn du das nächste Mal online unterwegs bist, stelle dir bei jedem Klick, jeder Website oder App, die du besuchst, die Frage: Ist das, was ich gerade konsumiere, voraussichtlich auch noch morgen, in einer Woche, einem oder gar fünf Jahren relevant? Mache dann einen Strich in einer von vier Spalten für den jeweiligen Zeitraum, in dem der Inhalt noch relevant sein wird.

Probiere das eine Stunde lang oder vielleicht sogar einen ganzen Tag lang aus. Wie viele Einträge stehen am Ende in welcher Spalte? Wenn du mit der Spalte »Schon morgen nicht mehr relevant« begonnen hast und ganz rechts die Spalte »Noch in fünf Jahren relevant« angelegt hast, nimmt die Anzahl der Striche von links nach rechts ziemlich sicher mit jeder Spalte ab.

Wie gut weißt du Bescheid?

Nun gut, magst du vielleicht sagen, es muss ja nicht immer alles eine lange Halbwertszeit haben – dafür bin ich aber stets bestens über den Zustand der Welt informiert. Denn im Gegensatz zur Zeitung oder Nachrichtensendung bietet das Internet unendlich viel Platz und hat eine unbegrenzte Sendezeit. Es ist nie »leer« und immer auf dem neuesten Stand. Noch vor wenigen Jahrzehnten dauerte es Tage, Wochen oder gar Monate, bis eine Neuigkeit einmal um den Globus gereist war. Politiker, Entscheider und auch Bürger waren also quasi gezwungen, eine langfristigere Sicht einzunehmen. Jetzt informieren uns Push-Nachrichten auf dem Smartphone in Echtzeit über den Rücktritt eines Bundestagsabgeordneten, den schweren Verkehrsunfall am anderen Ende Europas und das drohende Unwetter an der US-amerikanischen Küste. Wir sind also stets bestens informiert und wissen, wie es um die Welt bestellt ist, oder?

Auch hier lade ich dich auf ein kleines Experiment ein, um dein eigenes Wissen zu überprüfen. Wann immer ich Menschen erkläre, welche Verantwortung die Medien haben, stelle ich ihnen eingangs ein paar Fragen zum Zustand der Welt. Nachfolgend siehst du vier Fragen mit jeweils drei Antwortmöglichkeiten. Deine Aufgabe ist es, die jeweils richtige Antwort zu finden. Im Anschluss erfährst du die richtigen Lösungen und außerdem, wie rund 1000 Deutsche die Fragen beantwortet haben.[7]

 

1. Wie viel Prozent erwachsener Menschen können weltweit lesen und schreiben?

a) 80%

b) 60%

c) 40%

 

2. Wie hat sich die Zahl der Toten durch Naturkatastrophen seit 1970 weltweit entwickelt?

a) Mehr als verdoppelt

b) Ungefähr gleich geblieben

c) Auf weniger als die Hälfte gesunken

 

3. 1990 starben 9% der Kinder weltweit vor dem Erreichen des 5. Lebensjahres. Welche Linie zeigt die Entwicklung der weltweiten Kindersterblichkeit seitdem?

a) Linie A

b) Linie B

c) Linie C

 

 

4. Wie viel Prozent aller einjährigen Kinder auf der Welt sind gegen Masern geimpft?

a) 20%

b) 50%

c) 80%

Letzte Frage – quasi als Bonus: Glaubst du, du hast alle Fragen richtig beantwortet?

Die richtige Antwort auf die erste Frage lautet: 80%. So viele Menschen ab 15 Jahren können weltweit lesen und schreiben. Und weil der Anteil stetig wächst, waren es 2016 mittlerweile sogar schon mehr als 86%.[8] Allerdings hat von den 1000 befragten Deutschen weniger als ein Drittel die Frage richtig beantwortet:

Wie sieht es bei der Anzahl der Toten durch Naturkatastrophen aus? Seit 1970 ist sie tatsächlich auf weniger als die Hälfte gesunken.[9] Nur 6% der Befragten haben diese Frage richtig beantwortet:

Die richtige Antwort auf Frage Nummer 3 scheint einfacher zu sein, denn immerhin tippen gut 40%, dass die Kindersterblichkeit sich seit 1990 halbiert hat.[10] Mit Blick auf die aktuellsten Daten von 2016 ist sie sogar um 56% gesunken.

Bleibt die letzte Frage nach den Masernimpfungen. Vielleicht ahnst du es schon – auch hier ist die Antwort »unerwartet gut«. Vor allem durch den Einsatz einiger großer Stiftungen und Hilfsorganisationen sind mittlerweile sogar knapp 85% aller einjährigen Kinder weltweit gegen Masern geimpft.[11] Das ist allerdings bei den meisten Befragten noch nicht angekommen, nur jeder Zehnte der gut 1000 Deutschen wählte die richtige Antwort:

Fassen wir also zusammen: Bei drei von vier Fragen zum Zustand der Welt schneiden die Befragten schlechter ab, als wenn wir den Zufall hätten entscheiden lassen. Denn hätten wir rund 1000 Mal gewürfelt, wäre jede Antwortmöglichkeit im Durchschnitt auf gut 30 Prozent gekommen. Ein ähnliches Ergebnis könnten wir erzielen, wenn wir einen Affen oder Hund die Fragen beantworten ließen. Was ich damit sagen will: Wir alle haben wenig Ahnung von der Welt – zumindest, wenn es um wirklich wichtige, langfristige Entwicklungen wie Alphabetisierung und Kindersterblichkeit geht. Das ist nicht nur in Deutschland der Fall, sondern in allen Ländern, in denen Menschen die insgesamt zehn Fragen des sogenannten Ignoranztests der schwedischen Gapminder Stiftung[12] beantwortet haben.

Das gleiche Bild bietet sich mir, wenn ich bei öffentlichen Vorträgen, in Seminaren und Workshops, auf Messen und Festivals sowie in großen und kleinen Redaktionen die vier ausgewählten Fragen beantworten lasse. Egal, welchem Publikum ich die Fragen gestellt habe, die Ergebnisse waren mindestens genauso falsch wie in der Gapminder-Befragung. Bei einem Workshop in der Redaktion eines öffentlich-rechtlichen Senders fragte mich sogar eine der Teilnehmerinnen: »Schneiden Journalisten beim Test besonders schlecht ab?« Damit hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Denn auch Hans Rosling,[13] der Gründer der Gapminder Stiftung und Erfinder des Ignoranztests, hat schon früh festgestellt, dass Journalisten ein besonders negatives Weltbild haben. Also die Menschen, die uns den Zustand der Welt beschreiben sollen, haben ein noch negativeres Bild von der Welt als der Rest von uns. So entsteht ein System, das sich fortwährend selbst verstärkt. Denn Journalisten sorgen dafür, dass sich unser ohnehin schon zu negatives Weltbild weiter verschlechtert.

Wenn es knallt, wird es interessant

Die Vorliebe fürs Negative – gemäß dem Slogan »Only bad news are good news«, also »Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten« – ist in der journalistischen Arbeit weit verbreitet und ist auch empirisch gut untersucht. Haben Journalisten und Herausgeber die Wahl zwischen einem positiven oder negativen Aufhänger für ein Thema, erachten sie die Story mit negativer Aufmachung als wichtiger und sind geneigter, sie zu publizieren.[14] Diese Vorliebe ist in der Branche auch unter dem zuerst 1989 vom amerikanischen Journalisten Eric Pooley verwendeten Ausspruch »If it bleeds it leads« bekannt, also etwa »Wenn es blutet, steht’s auf Seite 1«. Pooley verwendete die Aussage in einem Artikel in der New York Times, in dem er lokale Nachrichten dafür kritisierte, sich zu sehr auf negative Ereignisse zu fokussieren. Nachrichten gelten unter Medienmachern besonders dann als »nachrichtenwürdig«, wenn sie von Kriegen, Korruption, Skandalen, Mord, Hungersnöten und Naturkatastrophen handeln.[15] Die hier zusammengefassten Ergebnisse stammen aus den unterschiedlichsten Studien der letzten 60 Jahre und zeigen, wie fest verwurzelt der Fokus aufs Negative unter Journalisten ist.

(Nur) was nicht funktioniert, hat einen Nachrichtenwert. Klassisches Beispiel ist der Flugzeugabsturz und die mehr als 99,9 Prozent der Flugzeuge, die sicher gelandet sind. Ersteres hat einen Nachrichtenwert, die zweite Zahl ist keine Schlagzeile wert. Der Journalismus als vierte Macht im Staat berichtet vor allem über Probleme, Skandale und Schandtaten. Gern ist auch schnell von Krisen – egal ob Flüchtlings-,[16] Staats-, Klima-, Euro- oder Trainerkrise – die Rede. Wann genau eine Krise eigentlich beginnt, sei an dieser Stelle mal dahingestellt (mehr dazu im dritten Teil des Buches), Hauptsache Krise.

Der Fokus der Journalisten aufs Negative lässt sich in zweierlei Hinsicht erklären: Zum einen ist dieser Hang tief in uns allen verankert (dazu mehr in Kapitel 2), zum anderen will sich kein Journalist den Vorwurf gefallen lassen, Schönwetter-Journalismus oder Hofberichterstattung zu betreiben. Indem sich die Zunft auf das konzentriert, was schlecht läuft, soll der Journalismus seiner Wächterfunktion gerecht werden. Er soll die Mächtigen in Schach halten und sie an ihre Verantwortung erinnern; er soll informieren, damit Bürger aktiv an der Gesellschaft teilhaben können. Genau das sind die essenziellen Funktionen des Journalismus in unserer Gesellschaft. Dabei schießen die Redakteure und Herausgeber mit ihrem Hang zum Negativen aber häufig über das Ziel hinaus, weil sie am Ende nur einen Teil der Welt abbilden. Vor allem in der tagesaktuellen Berichterstattung wird kaum über mögliche Lösungsansätze und positive Entwicklungen berichtet. So rückt alles, was schiefläuft, unverhältnismäßig stark in den Fokus der Berichterstattung und damit auch unserer Wahrnehmung. Ganz konkret nachvollziehen können wir das zum Beispiel mit Blick auf die Berichterstattung über den Arbeitsmarkt in Deutschland: Obwohl sich die wirtschaftliche Lage von Ende 2000 bis Ende 2008 signifikant verbessert hatte, fanden Wissenschaftler im Wirtschaftsteil der Welt zwanzigmal so viele negative Beiträge zur Situation des Arbeitsmarktes wie positive.[17] Ein weiterer Faktor beim Hang zum Negativen ist übrigens die Geschlechterverteilung in den Chefetagen der Medienhäuser. Zeitungen mit überwiegend männlichen Herausgebern veröffentlichen einen höheren Anteil an Nachrichten mit negativem Fokus als solche, in denen mehr Frauen mitentscheiden.[18] Das Übermaß an negativer Berichterstattung ist aber nicht der einzige Grund für unser verzerrtes – überall auf der Welt verbreitetes,[19] zu negatives – Weltbild, das nicht der Realität entspricht.

Weil ein Flugzeugabsturz in vielen Fällen nicht in Zusammenhänge eingeordnet wird und wir nicht erfahren, wie sicher Flugreisen im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln sind, bleiben wir mit der »Erkenntnis« zurück: Fliegen ist gefährlich. Obwohl in Wahrheit sämtliche anderen Verkehrsmittel viel gefährlicher sind, gemessen anhand der tödlichen Unfälle pro zurückgelegte Kilometer.[20] Weil wir aber alle die Bilder von wild verstreuten Flugzeugteilen und menschlichen Überresten nach einem Flugzeugabsturz kennen, haben viel mehr Menschen Angst vor dem Fliegen als davor, jeden Morgen in ihr Auto zu steigen.

Der Negativ-Fokus in der Berichterstattung ist also die eine Zutat für unser verzerrtes Weltbild, die andere hat weniger mit den ausgewählten Themen zu tun, sondern mehr mit der Tiefe, mit der sie behandelt werden. Die Nachrichten des Tages sind meist eine Aufeinanderfolge von Einzelereignissen, die wir wie einen Haufen Puzzleteile vorfinden. Und wie wir das mit Puzzleteilen so machen, versuchen wir sie zusammenzusetzen, damit wir am Ende ein Bild haben, das wir an die Wand hängen können, oder in diesem Fall, das unser Weltbild ergibt. Dumm nur, wenn die Teile nicht zusammenpassen und wir sie notfalls mit viel Drücken und Gewalt irgendwie aneinanderpressen, damit am Ende doch nicht nur ein bunter Haufen Puzzleteile liegen bleibt, sondern ein Bild herauskommt. Das ist der Kraftakt, den wir aufwenden müssen, wenn wir versuchen, die Puzzleteile aus negativen Einzelereignissen, die wir aus den Nachrichten erfahren, zu einem Bild zusammenzusetzen: Wir füllen die Lücken mit ähnlichen – negativen – Dingen, sodass am Ende dabei ein verzerrtes, zu negatives Weltbild rauskommt. Denn was in der tagesaktuellen Berichterstattung meist untergeht, ist die Einordnung der Einzelereignisse. Was bedeutet es, wenn eine bestimmte Zahl gesunken oder gestiegen ist? Sei es das Wahlergebnis einer Partei, die Zahl der Arbeitslosen im Monat Mai oder die Zahl der Verkehrstoten?

Der Fokus in den Medien auf Negatives und Einzelereignisse hat noch eine weitere Folge, die in der Wissenschaft als sogenannte Optimism Gap[21] – also Optimismus-Lücke – bekannt ist: Nach dem Zustand unserer direkten Umgebung gefragt, schätzen wir den meist recht realistisch ein. Klar, wird ab und an mal irgendwo eingebrochen, es stirbt jemand, oder es brennt ein Restaurant. Aber im Großen und Ganzen haben wir ein realistisches, manchmal sogar zu positives Bild unseres eigenen Zustands und unserer alltäglichen Umgebung. Mit Blick auf den Zustand unserer Nation oder gar auf internationale Zusammenhänge ist unsere Einschätzung, wie eben gezeigt, sehr viel negativer. Sie ist besonders schlecht, wenn es um Zusammenhänge geht, die wir in den Medien aus zweiter oder dritter Hand erfahren. Diese Kluft ist die Optimism Gap.

Die Ironie der Gesamtsituation könnte kaum offensichtlicher sein: Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hatten wir Zugang zu so vielen Informationen, und dennoch kreiert das schier unbegrenzte Informationsangebot eine Bevölkerung, die ein verzerrtes, zu negatives Weltbild hat. Ein Paradox!

Denn obwohl wir eigentlich bestens über den Zustand der Welt informiert sein könnten, ist das nicht der Fall. Da der Tag aber nur 24 Stunden hat und unsere Zeit und Aufmerksamkeit, uns mit der Lage der Welt zu beschäftigen, beschränkt ist, sind wir auf Vermittler angewiesen. Das sind heutzutage in den meisten Fällen digitale Medienangebote unterschiedlichster Art – von klassischen (Online-)Zeitungen bis zu Blogs, Social-Media-Feeds und Newslettern. Die sind in den meisten Fällen zumindest anteilig über Werbung finanziert. Die Werbekunden sind zufriedener – sprich: zahlen mehr –, wenn wir möglichst viel Zeit auf ihren Websites verbringen, die sie als Werbefläche nutzen. Das hat dazu geführt, dass unsere Aufmerksamkeit zur wichtigsten Ressource im Online-Handel geworden ist. Die medialen Angebote sind also darauf aus, die Schlagzeilen zu bringen, die uns zum Klicken und Bleiben motivieren.

So wird der Kampf um unsere Aufmerksamkeit online zum Wettrennen um die attraktivsten Aufmacher. Während die wertvollste Ressource im 21. Jahrhundert also nicht mehr Informationen, sondern unsere Aufmerksamkeit ist, hat sich auch unsere wertvollste Fähigkeit verändert. Wenn Informationen immer und überall verfügbar sind, besteht die Kunst nicht mehr darin, Informationen zu finden, sondern sie zu filtern, zu evaluieren, einzuordnen und auch kritisch zu hinterfragen. Na ja, das kann so schwer ja nicht sein, denkst du vielleicht. Doch bei all diesen Aufgaben macht uns unser Gehirn einen dicken Strich durch die Rechnung. Denn es funktioniert nicht wie eine Festplatte, die alles fein säuberlich abspeichert, was wir an Eindrücken und Informationen jeden Tag so konsumieren. Und es kann Fehler, die sich gegebenenfalls eingeschlichen haben, nicht einfach löschen.

Im Gegenteil.

Nur wenn wir das verstehen, können wir Informationen und Medien so nutzen, dass sie uns weiterbringen.

[home]

Kapitel 2 Abhängigkeit mit Folgen: Das macht die Informationsflut mit Gehirn und Psyche

Unsere aktuelle – häufig ungefilterte – Informationswut, in der wir abwechselnd oder am besten gleichzeitig auf mehrere Bildschirme starren, Kopfhörer im Ohr haben und uns durch Websites klicken oder wischen, ist wie eine Sucht. Mit entsprechenden Folgen für unser Gehirn und unsere Psyche.

Beginnen wir also mit der Frage, wie wir neue Informationen verarbeiten und welche Rolle dabei unsere bisherigen Erfahrungen spielen. Genau das habe ich während meiner Doktorarbeit in Neurowissenschaften wissenschaftlich untersucht. Ich war besonders daran interessiert, wie unser sich ständig veränderndes Gehirn und unsere Wahrnehmung miteinander agieren. Könnte es tatsächlich möglich sein, dass neue Erfahrungen unser Gehirn so verändern, dass wir die Welt daraufhin anders wahrnehmen?

Als ich mit meinen Untersuchungen begann, war bereits bekannt, dass unser Denkapparat im Kopf viel plastischer ist als lange angenommen. Selbst im fortgeschrittenen Alter verändert er sich anatomisch, wenn wir neue Dinge lernen. Angenommen, ich würde zum Beispiel jetzt eine Aufnahme deines Gehirns mit einem Kernspintomografen (MRT) machen, dich dann für ein paar Wochen wegschicken, damit du Jonglieren erlernst, und anschließend erneut eine Aufnahme deines Gehirns machen. Dann könnte ich beim Vergleich der beiden Aufnahmen deines Gehirns anatomische Veränderungen sehen: das sogenannte neuronale Korrelat deiner neuen Fähigkeit zu jonglieren.[22]

Die Macht unserer Gewohnheiten