Schlussblende - Val McDermid - E-Book
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Schlussblende E-Book

Val McDermid

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Beschreibung

Der zweite Band der spannenden Thriller-Serie der Bestseller-Autorin und Crime-Queen Val McDermid ist ein gnadenloser Pageturner: Der Polizei-Psychologe und Profiler Tony Hill händigt einem Elite-Polizeiteam zu Schulungszwecken eine Liste mit 30 verschwundenen Mädchen aus. Womit er nicht gerechnet hat, ist der Ehrgeiz der jungen und brillanten Shaz Bowman, die tatsächlich überraschende Zusammenhänge bei gleich sieben der Mädchen aufspürt. Als sie den berühmten TV-Star Jacko Vance der Mädchenmorde verdächtigt, dessen Veranstaltung die Opfer kurz vor ihrem Verschwinden besuchten, wird Bowman nicht ernst genommen – und ausgelacht. Das Lachen vergeht Tony Hill jedoch, als er die Polizistin wenig später entsetzlich verstümmelt in ihrer Wohnung auffindet. Lag Shaz Bowman mit ihren waghalsigen Behauptungen etwa doch richtig? Spätestens jetzt macht der spannende Thriller "Schlussblende" seiner Beschreibung als Pageturner alle Ehre: Denn als ein weiteres Mädchen verschwindet, beginnt ein Katz-und-Mausspiel, bei dem nicht klar ist, wer Jäger ist und wer Gejagter. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, denn es gibt noch eine geringe Chance, dass das Mädchen noch lebt. Doch wo wird es gefangen gehalten? Nach dem Bestseller "Das Lied der Sirenen" ist dies der zweite spannende Thriller in der Carol Jordan & Tony Hill-Serie von Krimi-Queen Val McDermid. McDermids Fähigkeit, in die gestörte Psyche eines Kriminellen einzudringen, ist furchterregend ... Eine Autorin, die immer besser wird. The Times Wieder ein unglaublich spannender Thriller. Büchertreff.de Atemlos spannend mit einer beeindruckenden Art, Spannung aufzubauen und zu halten! Lovelybooks.de Weitere Pageturner der spannenden Thriller-Serie um Tony Hill und Carol Jordan: Bd. 1: Das Lied der Sirenen Bd. 2: Schlussblende Bd. 3: Ein kalter Strom Bd. 4: Tödliche Worte Bd. 5: Schleichendes Gift Bd. 6: Vatermord Bd. 7: Vergeltung Bd. 8: Eiszeit Bd. 9: Schwarzes Netz Bd. 10: Rachgier Bd. 11: Der Knochengarten

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Seitenzahl: 641

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Val McDermid

Schlussblende

Roman

Aus dem Englischen von Klaus Fröba

Knaur e-books

Über dieses Buch

Shaz Bowman ist Mitglied eines Elite-Polizeiteams und soll das Verschwinden von dreißig Mädchen aufklären. Als sie einen berühmten TV-Star verdächtigt, wird sie ausgelacht – und wenig später ermordet. Für den Polizeipsychologen Tony Hill beginnt ein persönlicher Rachefeldzug, bei dem nicht klar ist, wer Jäger ist und wer Gejagter …

Inhaltsübersicht

Ein Wort des DankesMottoPrologTEIL EINSCarol wischte mit einem [...]Wer etwas erreichen will, [...]Endlich waren Tim Coughlans [...]Die kühle Dunkelheit schien [...]Tony ging, die Hände [...]Der Sergeant vom Dienst [...]Die Entscheidung war gefallen, [...]Pauline Doyle starrte auf [...]Links der Straße dämmerte [...]Pauline Doyle war verzweifelt. [...]Während Shaz Bowman gefesselt [...]Auch Donna Doyle war [...]Der Wagen hielt. Shaz [...]TEIL ZWEISooft sie ein paar [...]Tony saß nach vorn [...]So schlecht war ein [...]Von Leons offenem, forschem [...]Die Steinplatte war so [...]Carol riß die Tür [...]Donna Doyle fühlte keinen [...]Schon als er ausgestiegen [...]EpilogLeseprobe »Der Knochengarten«
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Ein Wort des Dankes

Ich glaube kaum, daß ich es geschafft hätte, dieses Buch ohne die Hilfe all derer zu schreiben, die mit ihrem reichen Fachwissen und ihrem Rat für mich da waren. Dafür möchte ich mich bei Sheila Radford, Dr. Mike Berry, Jai Penna, Paula Tyler und Dr. Sue Black bedanken. Edwina und Lesley muß ich nachträglich um Entschuldigung bitten, sie haben als rastlose Spürnasen nach Textpassagen gefahndet, die mir bei der Überarbeitung irgendwie verlorengegangen waren. Ohne Jim und Simon von Thornton Electronics und ohne Mac und Manda hätte ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Nervenzusammenbruch erlitten, als mein Computer abgestürzt ist. Letztendlich aber habe ich es der Beharrlichkeit und dem Scharfsinn dreier Frauen zu verdanken, daß ich bis zum Schluß durchgehalten habe. Deshalb widme ich dieses Buch in Liebe

 

Julia, Lisanne und Brigid.

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Verborgen unter alten Narben

Mahnt stumm in deinem Blut ein Menetekel,

Das dich versöhnt mit lang vergess’nen Kriegen.

 

Four Quartets,

Burnt Norton

T. S. Eliot

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Prolog

Mord ist wie Magie, dachte er. Die Geschicklichkeit seiner Hand hatte das Auge bisher noch immer getäuscht, und dabei sollte es auch bleiben. Er war wie der Postbote, der etwas in den Briefkasten wirft, und später schwören alle Stein und Bein, daß niemand an der Tür gewesen war. Eine Begabung, die ihm eingepflanzt war wie ein Herzschrittmacher. Ohne diese magischen Fähigkeiten wäre er tot gewesen. Oder so gut wie.

Schon beim ersten Blickkontakt war ihm klar gewesen, daß sie die nächste sein würde. Es war diese spezielle Kombination, die seinen Sinnen signalisierte, daß alles genau zusammenpaßte. Unschuld und Reife, nerzbraunes Haar und tänzelnde Augen. Er hatte sich noch nie geirrt. Ein Instinkt, der ihn am Leben hielt. Oder so gut wie.

Er merkte, daß ihr Blick auf ihm ruhte, und sofort fing über das Murmeln der Menge hinweg in seinem Kopf der alte Kindervers zu rotieren an: Nick und Bell klettern schnell einen steilen Fels bergan. Doch auf einmal stolpert Nick, stürzt und bricht sich das Genick. Was wird nun aus der armen Bell? Die schlichte Melodie schwoll an und überflutete sein Hirn wie eine gewaltige Woge einen Wellenbrecher. Ja, was wurde denn aus Bell? Oh, er wußte, was aus ihr wurde. Das Wissen rotierte in seinem Schädel wie der grausame Kindervers. Aber es war nie genug. Sogar der Umstand, daß die Strafe dem Vergehen exakt gerecht wurde, konnte ihn nicht endgültig versöhnen.

Darum mußte es immer wieder eine nächste geben. Und da stand er nun, nahm mit lauernden Augen wahr, daß sie ihn mit Blicken verschlang, und las in ihren Augen die Botschaft: »Ich bin dir ganz nahe. Nimm Kontakt auf zu mir, dann werden wir uns bald noch näher sein.« Kein Zweifel, sie las seine Gedanken. Und war doch selbst so durchschaubar. Das Leben hatte ihre Sehnsüchte noch nicht glattgehobelt. Ein wissendes Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel, dann tat sie den ersten Schritt auf der langen, zumindest für ihn so erregenden Expedition zu den Abgründen des Schmerzes. Schmerz war aus seiner Sicht eine der unabdingbaren Begleiterscheinungen.

Es entging ihm nicht, daß sie kleine Umwege machte. Genau wie er. Neben zielstrebigen, kühnen Schritten aufeinander zu gab es ausweichende, zögernde, für den Fall, daß sie falsch gedeutet hatten, was sie in seinen und er in ihren Augen zu lesen glaubte. Sie wählte die spiralförmige Annäherung, die mit jedem Schritt ein Stück weiter nach innen führt, als bewege sie sich im schraubenförmigen, hier natürlich ins Riesenhafte verzerrten Gehäuse eines Tintenfischs auf ihn zu. Und dabei ruhten ihre Augen unablässig auf ihm, als gäbe es auf ihrem Weg nichts, was sie aufhalten, und niemanden, der sie ablenken konnte. Selbst als sie schon hinter ihm war, spürte er ihren festen Blick im Rücken. Alles war exakt so, wie es sein mußte.

Ihre Art, auf ihn zuzugehen, verriet ihm viel über sie. Sie wollte die Annäherung auskosten, wollte ihn aus jedem denkbaren Blickwinkel in sich aufnehmen und den Anblick in ihrer Erinnerung speichern, weil sie glaubte, eine solche Gelegenheit werde sich nie wieder ergeben. Hätte sie geahnt, was sie wirklich erwartete, wäre sie auf der Stelle in Ohnmacht gefallen.

Schließlich führte der enger werdende Orbit sie bis auf Armlänge an ihn heran. Nur die zwei, drei Reihen seiner hartnäckigsten Verehrer trennten sie noch von ihm. Seine Augen verhakten sich mit ihren, er ließ seinen ganzen Charme spielen, bedachte die Umstehenden mit einem höflichen »… ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern. Würden Sie mich nun bitte entschuldigen« und ging, als die Menge brav eine Gasse bildete, die letzten Schritte auf sie zu.

Unsicherheit irrlichterte über ihr Gesicht. Erwartete er, daß sie ihm wie die anderen auswich? Oder sollte … mußte sie im Bannstrahl seiner hypnotisierenden Augen ausharren? Es war kein Wettstreit mit gleichen Waffen, es konnte keiner sein. Er hielt sie mit den Augen fest. »Hallo«, sagte er. »Hast du auch einen Namen?«

Noch nie war sie so sehr auf Tuchfühlung mit dem Ruhm gewesen, das machte sie sekundenlang sprachlos. Bis sie schließlich »Donna« stammelte. »Donna Doyle.«

»Was für ein wunderschöner Name«, sagte er mit warmer Stimme und erntete dafür ein Lächeln, das er strahlend erwiderte. Mitunter kam ihm alles zu einfach vor. Menschen hören, was sie hören wollen, besonders, wenn es ihre Träume wahr werden läßt. Mit seinem Lächeln merzte er alles Mißtrauen aus, jedesmal. Sie kamen zu diesen Abendveranstaltungen mit ganz bestimmten Erwartungen, das Bild von Jacko Vance vor Augen, das das Fernsehen ihnen vermittelte: ungezwungen, fröhlich und so vertrauenswürdig, daß ihnen nie in den Sinn gekommen wäre, das Abgründige in ihm zu suchen. Warum auch, wenn die Medien ein so überaus positives Image von ihm zeichneten?

In der Beziehung war Donna Doyle genau wie alle anderen. Sie verhielt sich, als folge sie einem eigens für sie geschriebenen Drehbuch. Nachdem er sie nun gewissermaßen in die Enge getrieben hatte, tat er, als sei es ihm nur darum gegangen, ihr eines der handsignierten Hochglanzfotos des Megastars Vance zu schenken. Dann jedoch folgte ein doppelbödiger Schachzug, den er so unübertrefflich natürlich auszuführen wußte, daß selbst De Niro vor Neid erblaßt wäre. »Mein Gott!« stieß er mit schwerem Atem hervor. »Ja doch! Natürlich!« Der verbale Ersatz für die flach an die Stirn geschlagene Hand.

Ihre Finger – nur noch Zentimeter von dem Foto entfernt, das er ihr beinahe überreicht hätte – erstarrten. Sie runzelte rätselnd die Stirn. »Wie bitte?«

Seine Mimik verriet, wie sehr er mit sich selbst haderte. »O nein, entschuldige. Du hast sicher interessantere Zukunftspläne als das, was jemand wie ich dir anbieten kann.« Beim ersten Mal hatte er den Satz nur mit schwitzenden Händen und hämmerndem Herzschlag über die Lippen gebracht. Weil es sich so plump anhörte, daß nicht mal ein Volltrunkener darauf reinfallen konnte. Und doch hatte er recht daran getan, auf seine Instinkte zu hören, obwohl es andererseits die waren, die ihn zum Abrutschen auf den Weg gemeingefährlicher Kriminalität verleitet hatten. Das Mädchen, bei dem er den dummen Satz zum ersten Mal erprobt hatte, war genauso darauf angesprungen wie Donna. Sie witterten, daß er ihnen etwas anbot, was für gewöhnliche Sterbliche – Leute wie die Fans, mit denen er vorhin geplaudert hatte – unerreichbar war.

»Was meinen Sie?« Atemlos, auf der Hut und nicht bereit, zuzugeben, daß ihre Ahnungen sich bereits in eine bestimmte Richtung bewegten. Denn es war immerhin möglich, daß sie ihn mißverstanden hatte und am Ende beschämt, mit hochrotem Kopf irgendeine Erklärung zusammenstottern mußte.

Sein Achselzucken war nicht mehr als eine Andeutung, so beiläufig, daß sich auf seinem maßgeschneiderten Anzug kein einziges Fältchen kräuselte. »Vergiß es.« Das strahlende Lächeln war erloschen, sein kaum merkliches Kopfschütteln galt unverkennbar ihm selbst.

»Nein, sagen Sie’s mir.« Schon schwang verzweifeltes Drängen in ihrer Stimme mit. Schließlich wollten alle Fernsehstars werden, egal, ob sie’s zugaben oder nicht. Er konnte ihr doch nicht im letzten Moment den schon halb versprochenen Zauberteppich wegziehen, auf dem sie aus ihrem öden Alltag in die Wunderwelt seines Lebens geschwebt wäre.

Er vergewisserte sich mit einem raschen Blick nach links und rechts, daß niemand zuhören konnte, dann legte er Eindringlichkeit in die Stimme, ohne den betörenden Ton zu vernachlässigen. »Ein neues Projekt, an dem wir arbeiten. Du wärst dem Aussehen nach wie geschaffen dafür. Wirklich, du bist perfekt. Ich habe auf den ersten Blick gesehen, daß du die Richtige wärst.« Ein bedauerndes Lächeln. »Nun, zumindest trage ich bei den Vorstellungsgesprächen mit all den – wie ihre Agenten glauben – vielversprechenden Talenten jetzt dein Bild im Kopf mit mir herum. Vielleicht haben wir mit einer anderen Glück ….« Seine Stimme brach, ein feuchter Film legte sich auf seine Augen. Sie sollte ruhig merken, wie schwer es ihm fiel, auf sie zu verzichten.

»Könnte ich nicht … ich meine, nun ja …« Ein Hoffnungsschimmer huschte über ihr Gesicht, mischte sich mit Verblüffung über ihre eigene Kühnheit und dann mit Angst, als ihr klar wurde, daß sie eine einmalige Chance verpaßte, wenn sie nicht sofort mutiger wurde.

Ungeduld floß in sein Lächeln. Wäre sie älter gewesen, hätte sie’s für herablassend gehalten, aber sie war zu jung, um empfindlich zu reagieren, wenn sie von oben herab behandelt wurde. »Ich glaube nicht. Es wäre ein immenses Risiko. Bei einem solchen Projekt, in einem so frühen, heiklen Stadium … Ein einziges Wort in ein unberufenes Ohr könnte zu einem kommerziellen Desaster führen. Und du hast doch keinerlei Erfahrung in diesem beruflichen Umfeld, oder?«

Der Hinweis auf diese Klippe, an der alles scheitern konnte, was womöglich ihre Zukunft gewesen wäre, ließ einen Vulkan heißer Hoffnungen ausbrechen, in dessen Lavastrom die Worte nur so aus ihr heraussprudelten. Preise beim Karaoke im Jugendklub … und eine sehr gute Tänzerin, das könne ihm jeder bestätigen … und wenn sie in der Schule aus Romeo und Julia vorlas, hielten alle den Atem an …

Er grinste. »Na gut, du hast mich überzeugt.« Er sah ihr mit gesenktem Kopf tief in die Augen. »Aber kannst du auch ein Geheimnis für dich behalten?«

Sie nickte, als hinge ihr Leben davon ab. Daß es tatsächlich so war, konnte sie nicht wissen. »O ja.« Donnas dunkelblaue Augen funkelten, ihre Lippen brachen auf, die winzige pinkfarbene Zunge zappelte aufgeregt zwischen ihnen. Er wußte, daß sie einen trockenen Mund hatte. Nur – und auch das wußte er – es gab andere Körperöffnungen, in denen in diesem Augenblick völlig entgegengesetzte Reaktionen abliefen.

Er sah sie nachdenklich an. Ein abschätzender Blick, der ihr nichts zu rätseln, aber alles zu hoffen aufgab. »Nun ja«, sagte er, und es hörte sich fast wie ein Seufzen an, »dann bleibt nur die Frage … kannst du dich morgen früh mit mir treffen? Sagen wir, um neun Uhr?«

Einen Moment lang runzelte sie die Stirn, dann glättete sich ihr Gesicht, ihre Augen spiegelten Entschlossenheit wider. »Ja, das kann ich«, sagte sie und verbannte damit die Schule in den Bereich, der für ihr Leben irrelevant geworden war. »Und wo?«

»Kennst du das Plaza Hotel?« Er mußte sich beeilen. Die Reihen seiner Fans rückten schon wieder näher. Sie hatten alle irgendein Kreuz zu tragen, und da sie sich nichts sehnlicher wünschten, als daß er ihnen dabei half, mußten sie beim Gerangel um ihren persönlichen Platz an der Sonne notfalls die Ellbogen einsetzen.

Sie nickte.

»Die haben dort eine Tiefgarage. Benutze den Eingang Beamish Street. Ich werde im Parkdeck zwo auf dich warten. Und laß nirgendwo etwas verlauten. Kein Wort, ist das klar? Nicht bei deiner Mum, nicht bei deinem Dad, nicht bei deiner besten Freundin, nicht mal bei deinem Hund.« Sie kicherte. »Wirst du das schaffen?« Wieder ein tiefer Blick in ihre Augen. Der hundertmal erprobte Blick des Fernsehprofis, der selbst der mißtrauischsten Seele Vertrauen einflößen mußte.

»Parkdeck zwei, um neun«, wiederholte Donna, fest entschlossen, um keinen Preis diese einmalige Chance zu verpassen, der Enge ihres Lebens zu entrinnen. Dafür hätte sie alles hergegeben, selbst ihre unsterbliche Seele. Hätte ihr aber jemand zugeflüstert, daß sie auf dem besten Wege dazu sei, hätte sie ihn nur verständnislos angestarrt.

Gut so. Sie war fasziniert vom Glanz all dessen, was er ihr in Aussicht stellte und was die Verwirklichung ihrer Träume bedeutete. Konnte es eine idealere Ausgangsposition geben?

»Und kein Wort, versprochen?«

»Ich verspreche es«, versicherte sie mit feierlichem Ernst. »Meine Lippen sind versiegelt bis zum Tod.«

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TEIL EINS

Tony Hill lag im Bett und sah das langgezogene Wolkenband über einen Himmel wandern, dessen Farbe irgendwie an Enteneier erinnerte. Wenn es etwas gab, was ihn mit diesem schmalgeschnittenen, eng ans Nachbargrundstück grenzenden Haus versöhnte, dann das im Dachgeschoß gelegene Schlafzimmer mit den beiden schrägen Oberlichtern, die ihm, wenn er wach im Bett lag, spektakuläre Ausblicke boten. Ein neues Haus, ein neuer Wohnort, eine neue Aufgabe, und doch fiel es ihm noch immer schwer, abzuschalten, und sei’s auch nur für acht Stunden.

Er hatte nicht gut geschlafen, wie üblich. Heute beginnt der Rest deines Lebens, ermahnte er sich mit einem verkniffenen Lächeln. Das Netz aus Falten, das sich dabei um seine tiefblauen Augen zog, hätte nicht mal sein bester Freund als Lachfältchen gedeutet. Für Lachfältchen lachte er zu selten. Und solange es sein Job war, sich mit Morden zu beschäftigen, würde sich daran wohl nichts ändern.

Sicher, es war immer die beste Ausrede, alles auf den Job zu schieben. Er hatte sich zwei Jahre hart darauf vorbereitet, im Auftrag des Innenministeriums eine landesweit operierende Spezialgruppe aus psychologisch geschulten Profilern aufzustellen, die bei komplexen Mordfällen die Sokos der Polizei durch die Erstellung von Täterprofilen unterstützen und dadurch die Aufklärungsrate erhöhen und die Ermittlungen beschleunigen sollte. Eine Aufgabe, in die er nicht nur seine fachlichen Erfahrungen einbringen mußte, sondern auch sein in vielen Jahren seiner Tätigkeit in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt erworbenes psychologisches Geschick.

Es war verlockend gewesen, der Tretmühle eintöniger Schreibtischarbeit und immer wieder um dieselben Themen kreisender Besprechungen hinter Gefängnismauern zu entrinnen, und so hatte er sich dazu verleiten lassen, seinen alten Job aufzugeben und sich einer neuen Aufgabe zu stellen, die ihn prompt mitten in einen Fall führte, dem schon auf den ersten Blick das Etikett des Außergewöhnlichen anhaftete. Daß dieser Fall tatsächlich alle Normen sprengen und ihn kaputtmachen sollte, hatte er allerdings nicht mal in seinen schlimmsten Alpträumen ahnen können.

Er preßte sekundenlang die Lider zusammen, um all die Erinnerungen auszublenden, die ständig am Rand des Bewußtseins darauf lauerten, daß seine Wachsamkeit nachließ und sie sich seiner bemächtigen konnten. Auch ein Grund dafür, daß er so miserabel schlief. Das Wissen, was Träume in ihm anrichteten, war wahrhaftig kein Anreiz, einzudösen und ihnen die Kontrolle über sein Unterbewußtsein zu überlassen.

Das Wolkenband glitt wie ein träge durchs Wasser dümpelnder Fisch aus seinem Blickfeld. Er schwang sich aus dem Bett, tapste nach unten in die Küche, goß Wasser in den unteren Teil der italienischen Kaffeemaschine, löffelte dunkelbraun geröstetes Pulver in das Mittelteil, schraubte das leere Oberteil auf und stellte den Aluminiumtopf auf den Gasherd. Wie gewöhnlich dachte er dabei an Carol Jordan. Sie hatte ihm den Topf mitgebracht, seinerzeit, als der Fall gelöst und er aus dem Krankenhaus entlassen worden war. »Sie werden sich eine Weile schwertun, ins Café zu spazieren«, hatte sie gesagt. »Mit dem Ding können Sie sich wenigstens zu Hause einen anständigen Espresso machen.«

Es war ein paar Monate her, seit er und Carol sich zuletzt gesehen hatten. Sie hatten nicht mal Gelegenheit gefunden, ihre Ernennung zum Detective Chief Inspector zu feiern. Was deutlich zeigte, wie fremd sie sich geworden waren. Am Anfang, nach seiner Zeit im Krankenhaus, war sie, wann immer die Hektik ihres Jobs es zuließ, bei ihm vorbeigekommen. Aber allmählich war ihnen beiden klargeworden, daß ihre Gedanken bei diesen Begegnungen nur um das Spektrum des gerade abgeschlossenen Falles kreisten, und das beherrschte ihr Denken derart, daß es alles andere, was vielleicht zwischen ihnen möglich gewesen wäre, im Ansatz erstickte. Er hatte rasch begriffen, daß Carol besser als andere zu interpretieren vermochte, was sie beim Blick in sein Ich sah. Und er wollte einfach nicht das Risiko eingehen, sich einem Menschen wie ihr zu öffnen. Denn wenn sie erkannte, wie sehr er sich bei seiner Arbeit infiziert hatte, würde sie sich womöglich von ihm abwenden.

Und wenn das geschah, mußte er befürchten, daß er seine Aufgabe nicht mehr erfüllen konnte. Aber seinen Job zu tun war zu wichtig für ihn, als daß er das riskieren wollte. Was er tat, rettete Menschen das Leben. Und er machte es gut. Möglicherweise war er sogar einer der Besten, weil er die Abgründe in einem Menschen verstand. Das alles aufs Spiel zu setzen wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen – erst recht jetzt, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Zukunft der neugegründeten Profilergruppe von ihm abhing.

Was manch einer für einen Opfergang hielt, war lediglich die Dividende aus seiner bisherigen Arbeit. Man ließ ihn tun, worauf er sich besonders gut verstand, und bezahlte ihn auch noch dafür. Ein müdes Lächeln huschte über sein Gesicht. Mein Gott, hatte er ein Glück.

 

Shaz Bowman hatte volles Verständnis dafür, daß Menschen Morde begehen. Die Erkenntnis hatte nichts mit ihrem neuen Job oder dem durch ihn bedingten Umzug in eine andere Stadt zu tun, sondern ausschließlich mit dem Pfusch, den sich die Klempnerkolonne bei der Installation der Wasserleitungen in der neuen Wohnung geleistet hatte. An sich hatten die Bauherren bei der Umgestaltung des viktorianischen Herrenhauses eines Grubenbesitzers in abgetrennte Wohnungen eine geschickte Hand bewiesen. Sie hatten die Fassade erhalten und nicht den Fehler begangen, durch allzu kleinliche Raumaufteilung die Stimmigkeit der inneren Proportionen zu zerstören. Auf den ersten Blick gab es an Shaz’ Wohnung nichts auszusetzen – perfekt bis hin zu den Sprossenfenstern, aus denen der Blick auf den Garten fiel – ihr ganz persönliches, kleines Refugium.

Nach Jahren in den mit Kommilitonen geteilten Studentenbuden mit bekleckerten Teppichen und vor Schmutz starrenden Waschbecken, gefolgt von spartanischen Unterkünften in der Polizeischule und ihrem letzten Domizil, einer schäbigen, sündhaft teuren Schlafkammer in Londons Westen, war sie neugierig geworden, ob ihr der Begriff Wohnkultur überhaupt noch etwas bedeutete. Und nun bot ihr der Umzug nach Nordengland endlich die langersehnte Gelegenheit, das herauszufinden. Leider erwies sich die Idylle schon am ersten Morgen als trügerisch.

Sie war, weil sie früh zur Arbeit mußte, noch halb verschlafen, mit trüben Augen aus dem Bett gekrochen, hatte die Dusche laufen lassen, bis die Temperatur stimmte, und in der Vorfreude auf ein mollig warmes Duschbad den Vorhang hinter sich zugezogen. Doch schon nach wenigen Sekunden verwandelte sich der bis dahin angenehm warm sprudelnde Wasserstrahl in ein stotterndes, zudem siedend heißes Geplätscher, so daß sie schleunigst Reißaus nahm. Sie rutschte auf den Fliesen aus, verrenkte sich das Knie, stieß sämtliche in drei Jahren bei der Metropolitan Police gelernten Flüche aus und starrte fassungslos auf den Dampf, der genau da aufstieg, wo sie eben noch gestanden hatte.

Kurz darauf war der Dampf verschwunden, die Temperatur fühlte sich auf wundersame Weise wieder normal an. Zweiter Versuch. Zögernd, mit angehaltenem Atem griff sie nach dem Shampoo. Als sie sich jedoch gerade eingeseift und Schaum ins Haar gerieben hatte, prasselte aus dem Duschkopf urplötzlich ein winterlicher Eisregen auf sie nieder. Unglücklicherweise reagierte sie auch diesmal falsch, und mit der scharf eingesogenen Luft schluckte sie so viel Seifenschaum, daß sie eine Weile damit beschäftigt war, gegen den drohenden Erstickungstod anzuhusten.

Als Detective kam sie rasch dahinter, daß sie den morgendlichen Leidensweg handwerklicher Schlamperei verdankte. Diese Erkenntnis der ursächlichen Zusammenhänge vermittelte ihr allerdings kein ausgeprägtes Glücksgefühl. Statt den ersten Tag in der neuen Umgebung ruhig und durch ein Duschbad entspannt anzutreten, war sie ein wütendes, frustriertes Nervenbündel. Die verspannte Nackenmuskulatur war ein unverkennbarer Vorbote langanhaltender Kopfschmerzen. »Großartig«, grollte sie vor sich hin und kämpfte gegen die Tränen an, die wohl eher auf ihre aufgewühlten Emotionen zurückzuführen waren als auf das Shampoo, das ihr in die Augen gelaufen war.

Shaz kletterte mutig zurück in die Wanne, stellte mit einem energischen Ruck die Dusche ab und drehte statt dessen den Hahn für das Badewasser auf. An einen ruhig und entspannt begonnenen Tag war nicht mehr zu denken, aber sie mußte sich ja wenigstens das Shampoo aus den Haaren waschen, wenn sie am ersten Arbeitstag nicht wie ein gerupftes Huhn aussehen wollte.

Als sie in der Wanne kauerte und den Kopf ins Wasser tauchte, versuchte sie, etwas von ihrer positiven Einstellung zurückzugewinnen. »Mädchen, du kannst von Glück sagen, daß du hier bist«, redete sie sich zu. »Alle, die was zu sagen hatten, waren einverstanden. Du hast nicht mal irgendwelche Testbögen ausfüllen müssen. Allgemeines Kopfnicken, und schon gehörst du zur handverlesenen Elite. Jetzt zahlt sich’s aus, daß du alles mit verbissenem Lächeln geschluckt hast. Sollen die Flegel, die ständig auf dir rumtrampeln wollten, doch zusehen, wo sie bleiben. Dahin, wo du jetzt bist, schaffen die’s so schnell nicht. Was verstehen die schon von der Erarbeitung von Täterprofilen?« Wobei noch hinzukam, daß sie unter dem absoluten Spitzenprofiler arbeiten würde – Dr. Tony Hill, Examen in London, promoviert in Oxford, Verfasser einer als das britische Standardwerk geltenden Studie über Serientäter. Hätte Shaz zur Heldenverehrung geneigt, wäre diesem Tony Hill eine Ehrenloge im Pantheon ihrer persönlichen Halbgötter sicher gewesen. Kein Opfer wäre ihr zu groß gewesen für die Chance, sein methodisches Denken zu studieren und sich seine Tricks und Kniffe abzugucken. Aber sie mußte gar kein Opfer bringen. Die Chance war ihr einfach in den Schoß gefallen.

Als sie sich das Haar gefönt und zurechtgebauscht hatte, war ihr Ärger so gut wie verflogen, nur ihre Nerven flatterten noch ein wenig. Sie sah in den Spiegel, versuchte, die Sommersprossen auf ihren Wangen zu ignorieren, nicht darauf zu achten, daß ihre Nase zu zierlich geraten war, so zu tun, als sähe sie nicht, daß ihre Lippen zu streng aussahen, um sinnlich zu wirken, und sich ganz auf das eine Schmuckstück zu konzentrieren, das die Natur ihr geschenkt hatte: ihre aufregenden Augen. Die dunkelblauen Iris waren von rätselhaften Riefen durchzogen, in denen das Licht sich brach wie in den Facetten eines Saphirs. Augen mit dem gewissen Etwas. Manchmal beschlich Shaz der Verdacht, ihr früherer Chef habe sich unter ihrem durchdringenden Blick so unbehaglich gefühlt, daß er trotz ihrer beachtlichen Erfolge bei Festnahmen und Verhören froh gewesen war, sie loszuwerden.

Ihrem neuen Chef war sie erst einmal begegnet. Irgendwie kam ihr Tony Hill nicht vor wie jemand, der sich leicht durch Augen einschüchtern ließ, wie blau sie auch waren. Und wer weiß, was er alles hinter dem Tarnschleier dieser blauen Augen ausmachte. Eine bange Vorahnung kroch ihr über den Rücken, sie wandte sich schnell vom Spiegel ab.

 

Detective Chief Inspector Carol Jordan zog das Original aus dem Fotokopierer, nahm die Kopie aus der Auswurfschale, durchquerte energischen Schritts das Großraumbüro der Kriminalabteilung und rief den beiden Detectives, die bereits an ihren Schreibtischen saßen, ein lässiges »’n Morgen, Jungs« zu. Notorische Frühaufsteher. Oder, was sie für wahrscheinlicher hielt, zwei, die bei ihr Eindruck schinden wollten. Arme Teufel.

Sie schloß die Tür, setzte sich an den Schreibtisch, heftete das Original in den Sammelordner mit Meldungen über Vorkommnisse während der Nacht und legte ihn in den Ausgangskorb. Die Kopie heftete sie in einem anderen Ordner ab, der schon vier ähnliche Meldungen enthielt und den sie ständig in ihrer Aktenmappe aufbewahrte. Fünf, entschied sie, waren die kritische Größe. Zeit, etwas zu unternehmen. Aber nicht hier und jetzt.

Das einzige Stück Papier, das sonst noch auf ihrem Schreibtisch lag, war ein langatmiges Memo des Innenministeriums, durch das in geschraubtem Behördenenglisch die Einsetzung der »National Offender Profiling Task Force (NOP Task Force)« bekanntgegeben wurde. »… ist dienstrechtlich Commander Paul Bishop unterstellt und wird fachlich von dem Psychologen und Profiler Dr. Tony Hill geleitet.« Dann folgten Festlegungen zu Detailfragen, angefangen von der disziplinarrechtlichen Zuständigkeit bis zur Zahlung von Bezügen.

Carol seufzte. »Eine von denen hätte ich sein können, o ja.«, murmelte sie in sich hinein. Nicht, daß sie offiziell aufgefordert worden war, aber ein Wort von ihr hätte genügt. Tony wollte sie in seiner Gruppe haben. Er hatte ihre Arbeit aus der Nähe miterlebt und ihr mehr als einmal versichert, sie sei genau aus dem richtigen Holz geschnitzt, um in seiner neuen Profilergruppe für Effektivität zu sorgen. Aber so einfach war das Ganze nicht. Das eine Mal, bei dem sie gemeinsam einen Fall bearbeitet hatten, war für sie beide zermürbend und persönlich belastend gewesen. Die Gefühle, die sie für Tony Hill hegte, waren immer noch zu verworren, als daß sie sich uneingeschränkt für die Idee erwärmen konnte, seine rechte Hand zu werden. Zumal die Fälle, die dann auf sie zukamen, mit Sicherheit wieder zu einer ebenso starken emotionalen Belastung und intellektuellen Herausforderung geführt hätten wie beim ersten Mal.

Trotzdem, es war eine Versuchung gewesen. Doch dann war ihr das Angebot dazwischengekommen, die Leitung der Kriminalpolizei in einer neuen Dienststelle in Yorkshire zu übernehmen. So eine Chance konnte sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Wobei die Ironie darin lag, daß sie auch dieses Angebot im Grunde der Zusammenarbeit mit Tony Hill verdankte. John Brandon war während ihrer Jagd auf den Serienmörder Assistant Chief Constable in Bradfield gewesen, und nach seiner Ernennung zum Chief Constable der neuen Dienststelle hatte er sie unbedingt in seiner Crew haben wollen. Sein Timing hätte nicht besser sein können, dachte sie, obwohl sie sich andererseits eines leichten Bedauerns nicht erwehren konnte. Sie stand auf und ging die wenigen Schritte, die sie in ihrem kleinen Büro vom Fenster trennten, stand da und starrte auf die tief unter ihr liegenden Hafenanlagen, in denen rastlos hin und her hastende, zwergenhaft kleine Gestalten weiß Gott welchen Geschäften nachgingen.

Carol hatte ihr Handwerk zuerst bei der Londoner Met und danach bei der Bradfield Metropolitan Police erlernt – beides Mammutdienststellen, in denen die Großstadtkriminalität den Adrenalinspiegel der Mitarbeiter ständig bis dicht unter den Siedepunkt aufheizte. Jetzt, bei der East Yorkshire Police, war sie in der Beschaulichkeit der Provinz angekommen, was ihren Bruder Michael zu dem spöttischen Kommentar veranlaßte, in Yorkshire genüge es vollauf, wenn Polizisten beim Büroschlaf ein Auge offenhielten. Mit raffinierten Mördern, aus fahrenden Autos feuernden Maschinenpistolen, Bandenkriegen, bewaffneten Raubüberfällen und Drogenhandel im großen Stil mußte sich die Seaforder Kripo bestimmt nicht herumschlagen.

Nicht, daß es in den Kleinstädten und Dörfern von East Yorkshire keine Kriminalität gegeben hätte, aber das spielte sich alles auf einem so niedrigen Level ab, daß ihre Mitarbeiter ohne weiteres damit fertig wurden, sogar in mittelgroßen Orten wie Holm, Traskham oder in ihrem neuen Dienstort, dem Nordseehafen Seaford. Die jungen Officer mochten es nicht sonderlich, wenn Carol sie an die kurze Leine nahm. Mein Gott, was wußte ein Großstadtmädchen wie sie schon von Viehdiebstählen im Schafzüchterland oder von gefälschten Ladepapieren? Außerdem ahnten alle, daß sie einstweilen hinlänglich damit beschäftigt war, die Spreu vom Weizen zu trennen, also herauszufinden, wer nur eine große Klappe hatte und laut herumposaunte und bei wem wirklich Substanz dahintersteckte. Und sie hatten recht. Es dauerte länger, als sie erwartet hatte, aber allmählich zeichnete sich ein ziemlich klares Bild davon ab, auf wen sie in ihrem Team bauen konnte.

Carol seufzte noch einmal und fuhr sich mit der Hand durchs zerzauste blonde Haar. Ein verdammt hartes Stück Arbeit, nicht zuletzt deshalb, weil die rauhbeinigen Yorkshireburschen, mit denen sie’s zu tun hatte, sich von einer Frau nur zähneknirschend sagen ließen, wo es langging. Was sie dazu führte, sich – nicht zum ersten Mal – zu fragen, ob sie nicht aus Ehrgeiz eine vielversprechende Karriere aufgegeben hatte und nun in einer Sackgasse gelandet war.

Sie wandte sich achselzuckend um und nahm den Ordner mit den Kopien der nächtlichen besonderen Vorkommnisse aus ihrer Aktenmappe. Auch wenn sie sich gegen eine Mitarbeit in Tonys Profilergruppe entschieden hatte, die Gelegenheit, bei ihm den einen oder anderen neuen Trick zu lernen, wollte sie sich nicht entgehen lassen. Sie wußte, woran man die Handschrift eines Serientäters erkannte, und konnte nur hoffen, daß sie es hier nicht mit einem zu tun hatte und plötzlich nichts dringender brauchte als ein Team von Spezialisten, um ihn zur Strecke zu bringen.

 

Die Doppeltüren schwangen dicht vor dem Gesicht auf, das – laut letzter Zuschauerumfrage – in achtundsiebzig Prozent aller britischen Wohnzimmer auf Anhieb erkannt worden wäre. »… habe ich doch überhaupt nichts zu tun«, sagte die Frau, zu der das Gesicht gehörte, zu Betsy Thorne, die einen halben Schritt hinter ihr folgte. »Sag also Trevor, daß er gefälligst die Einstellungen zwei und vier im Drehplan austauschen soll, okay?« Und damit stöckelte sie auf hochhackigen Pumps und Beinen, die ihr glatt einen Werbevertrag für Pantyhöschen eingebracht hätten, ins Allerheiligste der Maskenbildnerin.

Betsy nickte gelassen. Mit dem Fernsehen hätte sie wohl niemand in Verbindung gebracht, dafür sah sie zu bieder aus. Dunkles, hier und dort von Silbersträhnen durchzogenes Haar, blaues Stirnband und darunter ein Gesicht, das die Summe all dessen zu sein schien, was man gemeinhin mit dem Begriff »englisch« verbindet: die klugen Augen eines Schäferhunds, den Knochenbau eines hochgezüchteten Rassepferds und eine Apfelhaut à la Cox’ Orange. »Kein Problem«, behauptete sie und machte sich eine Notiz auf ihrem Klemmbrett.

Micky Morgan, Moderatorin und Star des zum unangefochtenen Quotenrenner eines Privatsenders aufgestiegenen Mittagsmagazins Morgan am Mittag, ging zielstrebig auf ihren angestammten Sessel zu, setzte sich, strich das honigblonde Haar zurück und unterzog ihr Äußeres einer letzten kritischen Prüfung im Spiegel, als Marla, die ungekrönte Königin der Maske, auftauchte, um ihr den Schutzumhang umzulegen.

»Marla, du bist wieder da!« rief sie entzückt aus. »Gott sei Dank. Ich habe gebetet, daß du außer Landes wärst und nicht sehen konntest, was sie mir angetan haben, solange du nicht dagewesen warst. Ich verbiete dir strikt, je wieder in Urlaub zu fahren.«

Marla lächelte. »Immer noch der alte Nonsens.«

Betsy, die sich neben dem Spiegel auf den Schminktisch geschwungen hatte, sagte trocken: »Dafür wird sie ja bezahlt.«

»Ich komm zur Zeit einfach nicht an die Jungs von der Redaktion ran«, beklagte sich Micky. Sie mußte es ziemlich breitlippig tun, weil Marla angefangen hatte, Grundierung auf ihre Haut aufzutragen. »An der rechten Schläfe wächst übrigens ein Pickel ran.«

»Prämenstrual?« fragte Marla.

»Ich hätte gewettet, daß ich die einzige bin, die so was aus einer Meile Entfernung sieht«, stichelte Betsy.

»Die Haut ist eben nicht mehr so straff«, meinte Marla. Eine der Unbarmherzigkeiten, die ihr, weil sie sich professioneller Wahrheit verpflichtet fühlte, gelegentlich herausrutschten.

»Die Anmoderation«, wandte sich Micky an ihre Freundin Betsy, »lies mir die noch mal vor.« Sie schloß die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, was Marla Gelegenheit gab, sich mit Mickys Augenlidern zu beschäftigen.

Betsy zog ihr Klemmbrett zu Rate. »Vor dem Hintergrund der Enthüllungen in der Klatschpresse, derzufolge abermals ein junges Kabinettsmitglied im falschen Bett erwischt worden ist, beschäftigen wir uns heute mit der Frage: Was kann Frauen daran reizen, eine Geliebte zu sein?« Sie las die Namen der zu diesem Thema eingeladenen Talkgäste vor, den letzten ließ sie sich geradezu auf der Zunge zergehen. »Das wird dich besonders freuen: Dorien Simmonds, deine bevorzugte Romanautorin, im übrigen professionelle Mätresse und Verfechterin der These, es mache nicht nur eine Menge Spaß, Geliebte zu sein, sondern verrate überdies soziales Mitgefühl gegenüber den Frauen, die das eheliche Sexjoch bis zum Erbrechen ertragen haben.«

Micky kicherte. »Brillant – die gute alte Dorien. Was meinst du, ob’s irgendein Thema gibt, das sie ausläßt, wenn sich’s zu einem Buch auswälzen läßt?«

»Sie ist einfach neidisch«, sagte Marla. »Bitte, Micky, die Lippen!«

»Neidisch?« hakte Betsy nach.

»Wenn Dorien Simmonds einen Ehemann wie den von Micky hätte, käme sie nie auf die Idee, eine Lanze für außereheliche Liebschaften zu brechen«, sagte Marla überzeugt. »Sie ist doch bloß sauer, weil sie nie bei einem wie Jacko landen konnte. Wozu ich nur anmerken kann: Wer wäre das nicht?«

»Hm«, gurrte Micky.

»Hm«, äffte Betsy sie nach.

Die Publicitymaschine hatte Jahre gebraucht, um im Bewußtsein der Nation die Überzeugung zu verankern, daß Micky Morgan und Jacko Vance so unzertrennlich zusammengehörten wie … nun, wie Fish und Chips. Eine im Quotenhimmel geschlossene und daher unauflösbare Prominentenehe. Selbst die hartnäckigsten Klatschkolumnisten hatten es aufgegeben, dazwischenzufunken.

Der Witz dabei war, daß es die Angst vor Gazettenklatsch gewesen war, die die beiden ursprünglich zusammengebracht hatte. Micky hatte kurz vorher Betsy kennengelernt. Ein einschneidender Bruch in Mickys Leben, und das, als ihre Karriere gerade zu ungeahntem Höhenflug ansetzte – eine Phase, die stets den Neid lieber, aber zu kurz gekommener Kollegen weckte. Da es professionell nichts an Micky auszusetzen gab, fixierte sich die Neiderschar auf ihre persönliche Lebensführung. Seinerzeit, in den frühen Achtzigern, galten lesbische Beziehungen noch nicht als schick, im Gegenteil, sie waren der sicherste Weg, sich die Feindschaft nahezu aller zuzuziehen, einschließlich der Steuerfahndung. Nachdem sie sich in Betsy verliebt hatte, dauerte es nur ein paar Monate, bis Micky aus eigener Erfahrung wußte, wie einem gehetzten Tier zumute ist.

Sie mußte Jacko dankbar sein. Er war, als sie sich zu einer radikalen Kehrtwende entschloß, ihr Rettungsanker gewesen. Und sie waren immer noch glücklich miteinander, dachte sie, während sie zufrieden ihr Spiegelbild begutachtete.

Perfekt.

 

Tony Hills Blick wanderte bedächtig an der Reihe der Detectives entlang. Er war sich darüber im klaren, woran es bei ihnen hakte. Sie glaubten, sie hätten sich sehenden Auges für diesen gefährlichen Job entschieden. Gestandene Cops halten sich nie für ahnungslos, dafür bringen sie aus ihrer Zeit auf der Straße zuviel Erfahrung mit. Sie hatten alles gesehen und alles erlebt. Sie waren angepinkelt worden und hatten sich aufs T-Shirt kotzen lassen. Sie bildeten sich ein, selbst den unvorstellbarsten Horror zu kennen – den, der einen nachts aus dem Schlaf hochschrecken läßt und beten lehrt; nicht um Vergebung, sondern um Heilung. Und nun mußte er ihnen klarmachen, daß sie bei ihrer Bewerbung nicht die geringste Ahnung gehabt hatten, worauf sie sich einließen. Niemand von ihnen, ausgenommen vielleicht Paul Bishop.

Eine der als Bitte verbrämten Bedingungen, die Tony bei der Aufstellung der Gruppe gestellt hatte, war die Forderung, einen Mann an die Spitze zu berufen, der genau wußte, welche Bürde er sich auflud. Paul Bishop war auch für die politisch Verantwortlichen kein unbeschriebenes Blatt, schließlich hatte er mit dem Bahncard-Vergewaltiger und dem Metroland-Killer zwei der meistgesuchten Verbrecher zur Strecke gebracht und sich damit selbst bei den hartgesottensten schweren Jungs der Londoner Unterwelt Respekt verschafft. Für Tony stand es außer Frage, daß ein Mann wie Bishop wußte, welche Horrorszenarien ihn erwarteten. Einziger Lohn dafür war das Wissen, durch beharrliches Bemühen Massenmörder hinter Schloß und Riegel gebracht und so Menschen das Leben gerettet zu haben.

Paul Bishop begrüßte die Detectives und erläuterte ihnen das Ausbildungsprogramm. »Wir werden Ihnen die Methodik bei der Erarbeitung von Täterprofilen vermitteln, so daß Sie sich, darauf aufbauend, selbst die für Sie zweckmäßige Vorgehensweise erarbeiten können.« Das Ganze lief auf einen Crashkurs in Psychologie hinaus, der sich natürlich auf Grundkenntnisse beschränken mußte. Aber wer das Zeug zu einem echten Profiler hatte, würde bald herausfinden, welche Art des methodischen Vorgehens ihm am meisten lag, und vor allem, auf welches Teilgebiet der Erarbeitung von Täterprofilen er sich spezialisieren wollte.

Wieder sah Tony sich seine neuen Kollegen der Reihe nach an. Alle hatten Erfahrung als Ermittler und alle – bis auf einen – ein abgeschlossenes Studium. Ein Sergeant und fünf Constables, zwei davon Frauen, eine geballte Ladung Fachwissen und Lebensklugheit. Und sie wußten, daß ihnen, wenn sie bei ihrer Arbeit Erfolg hatten, der Weg bis ganz nach oben offenstand.

Irgendwie hätte er sich gewünscht, daß Carol Jordan dabeigewesen wäre. Andererseits wußte er, daß auch ohne diese zusätzliche Komplikation genügend Probleme auf sie zukamen. Hätte er eine Wette eingehen müssen, wer sich zum Star der kleinen Gruppe mausern würde, dann wäre die junge Frau mit dem kalten Feuer im Blick sein heißester Tip gewesen. Sharon Bowman. So eine war imstande zu töten, wenn ihr keine andere Wahl blieb.

Wie alle guten Jäger. Und wie er’s selbst getan hatte.

Paul Bishop war fertig, er gab Tony das Zeichen, daß er dran wäre. Tony lehnte sich demonstrativ entspannt zurück. »Das FBI«, begann er, »veranschlagt zwei Jahre für die Schulung seiner Profiler. Wir sind da bescheidener.« Seine Stimme wurde ätzend. »Wir lassen uns in drei Wochen die ersten Fälle aufs Auge drücken, und nach drei Monaten Schonfrist erwartet das Innenministerium von uns, daß wir voll im Geschäft sind. Was Sie bis dahin zu bewältigen haben, läßt sich so zusammenfassen: Verdauen Sie einen Wust von Theorie, lernen Sie eine Wagenladung Regeln und Vorschriften auswendig, machen Sie sich mit dem eigens für unsere Arbeit entwickelten Softwareprogramm vertraut, und entwickeln Sie einen Riecher für Mitmenschen, die – wie wir das in Fachkreisen nennen – total durchgeknallt sind.« Sein Grinsen kam für die Detectives, die mit ernsten Mienen vor ihm saßen, offensichtlich etwas überraschend. »Irgendwelche Fragen?«

»Kann man noch abspringen?« Die Bowman – scheinbar todernst, aber in ihren lebhaften Augen funkelte hintergründiger Humor.

»Die akzeptieren hier nur einen Kündigungsgrund, und der muß von einem Pathologen bestätigt werden«, warf Simon McNeill ein. Psychologieexamen in Glasgow, vier Dienstjahre bei der Polizei in Strathclyde, rekapitulierte Tony und stellte zufrieden fest, daß er sich solche Dinge immer noch mühelos merken konnte.

»Vollkommen richtig«, sagte er.

»Und im Krankheitsfall?« fragte ein anderer aus der Gruppe.

»Viel zu durchsichtig, als daß wir uns darauf einlassen würden«, ließ Tony ihn wissen. »Aber ich bin froh, daß Sie das angeschnitten haben, Sharon. Das gibt mir quasi das Stichwort für die Dinge, über die ich zuerst mit Ihnen sprechen will.« Wieder sah er sie der Reihe nach an, bis sich der Ernst seines Tonfalls in ihren Gesichtern widerspiegelte. Es verblüffte ihn immer noch, wie leicht sich gestandene Detectives manipulieren ließen. Aber er ahnte, daß das in ein paar Monaten ganz anders aussehen würde, sonst hatte er irgend etwas falsch gemacht.

Er schlug den Ordner mit handschriftlichen Notizen auf, und als er zu dozieren anfing, hörte sich das eher wie lautes Nachdenken an. »Isolierung. Entfremdung. Verdammt hart, damit fertig zu werden. Menschen sind ihrer Natur nach gesellig. Wir sind Herdentiere. Wir jagen im Rudel und feiern im Rudel. Nehmen Sie jemandem jeglichen menschlichen Kontakt, und sein ganzes Verhalten wird sich schlagartig verändern. Sie werden in den kommenden Monaten und Jahren in diesem Punkt eine Menge Erfahrungen sammeln.« Sie hingen wie gebannt an seinen Lippen. Zeit für den Schlag in die Magengrube.

»Ich rede nicht von Serientätern, sondern von Ihnen. Sie alle sind Officer mit Erfahrung in kriminalpolizeilicher Arbeit, an Teamarbeit, Kameradschaft und Rückendeckung durch das System gewöhnt, und daran, gemeinsam Erfolge zu feiern und sich gegenseitig Trost zu spenden, wenn’s mal kein Erfolg war. Vergleichbar einer großen Familie, nur ohne den großen Bruder, der dauernd auf einem herumhackt, und ohne Tanten, die ständig fragen, wann man endlich heiraten will.« Alle nickten, die Frauen etwas zögernder als die Männer.

Er machte eine kleine Pause, dann beugte er sich vor. »Hiermit spreche ich Ihnen mein Beileid aus. Das alles haben Sie nun verloren. Die große Familie ist tot, Sie können nie, nie wieder nach Hause gehen. Das hier – das ist von jetzt an Ihre Familie und das einzige Zuhause, das Sie haben.«

Und dann erklärte er ihnen, warum das so war.

»Ihr Leben wird sich sehr bald von Grund auf verändern. Ihre Prioritäten geraten ins Wackeln wie Los Angeles bei einem Erdbeben. Wenn Sie sich ständig in ein fremdes, auf Mord programmiertes Gehirn hineindenken müssen, werden Sie sehr bald feststellen, daß Dinge, die Sie bisher für wichtig gehalten haben, auf einmal völlig irrelevant geworden sind. Wer so was noch nie erlebt hat, kann sich kein Bild davon machen, wie das ist. Sie zermartern sich pausenlos das Gehirn nach dem einen Hinweis, den Sie bisher übersehen haben. O ja, es gibt einen Zeugen, der den Mörder gesehen hat. Nur, der kann sich an nichts erinnern. Wie hätte er auch ahnen sollen, daß einer der Jungs, die nachts an derselben Tankstelle wie er gehalten haben, einen Mord begehen wird? Sie können diesen Zeugen an den Schultern packen und durchschütteln, sooft Sie wollen, er spuckt nichts aus. Dafür ist der Detective, der Ihre Arbeit sowieso für den letzten Unsinn hält, um so redseliger. Er sieht überhaupt nicht ein, warum Sie’s leichter haben sollen als er. Also gibt er Ehefrauen, Lovern, Eltern, Kindern und Neffen Ihre Telefonnummer, und die rufen dann verzweifelt bei Ihnen an, weil sie irgendeinen Hoffnungsfunken brauchen. Und als wäre das nicht genug, sitzen Ihnen auch noch die Medien im Genick. Und dann schlägt der Mörder wieder zu.«

Leon Jackson, der es geschafft hatte, sich aus dem Liverpooler Schwarzenghetto über ein Oxford Stipendium zur Londoner Met hochzuarbeiten, zündete sich eine Zigarette an, hängte den Arm über die Stuhllehne und murmelte: »Hört sich cool an.«

»Eiskalt«, sagte Tony. »Das war also ein knapper Exkurs darüber, wie andere Ihren Job sehen. Und was ist mit Ihren ehemaligen Kollegen? Nun, die werden vor allem feststellen, daß Sie ein komischer Vogel geworden sind. Sie gehören nicht mehr zur alten Crew, Sie haben den Stallgeruch verloren, also werden sie Sie links liegenlassen. Wenn Sie dann bei der Bearbeitung eines Falles mit ihnen zu tun haben, prallen Sie auf eine Mauer der Ablehnung. Verlassen Sie sich drauf, die alten Kollegen wollen nichts mehr mit Ihnen zu tun haben und haben nicht die geringste Scheu, Sie das spüren zu lassen.«

Daß Leon skeptisch grinste, erklärte Tony sich damit, daß er als Schwarzer daran gewöhnt war, von einigen Kollegen geschnitten zu werden. Was er dabei wahrscheinlich nicht bedachte, war, daß seine Vorgesetzten unbedingt eine schwarze Erfolgsstory von ihm erwarteten.

»Und noch etwas«, fuhr Tony fort, »glauben Sie ja nicht, daß Ihr Boß Ihnen den Rücken stärkt, wenn es Scheiße regnet. Entweder haben Sie Erfolg, oder Sie sind unten durch. Ohne vorzeigbaren Erfolg machen alle einen großen Bogen um Sie, weil Sie an einer ansteckenden Krankheit leiden, die Mißerfolg heißt. Egal, wie nahe Sie der Wahrheit sind, solange Sie sie nicht beweisen können, sind Sie ein Aussätziger. Ach ja – und übrigens«, fügte er hinzu, als wäre ihm das gerade erst eingefallen, »falls der Mistkerl, hinter dem Sie her waren, dank Ihrer Arbeit überführt wird … Sie werden nicht zur Erfolgsparty eingeladen.«

Die Stille war so lähmend, daß man das Knistern des brennenden Tabaks hören konnte, als Leon einen Zug an seiner Zigarette tat. Tony stand auf. »Vielleicht denken Sie, daß ich übertreibe. Aber ich versichere Ihnen, ich habe Ihnen allenfalls eine erste Ahnung davon vermittelt, wie beschissen Sie sich mitunter in Ihrem neuen Job fühlen werden. Wenn jemand glaubt, das sei nichts für ihn – noch ist Zeit zum Aussteigen. Keiner wird Sie zurückhalten, keiner macht Ihnen Vorwürfe. Wenden Sie sich einfach vertrauensvoll an Commander Bishop.« Ein kurzer Blick auf die Uhr. »Zehn Minuten Kaffeepause.«

Er vermied es, irgendeinen aus der Gruppe anzusehen, als die Frauen und Männer die Stühle zurückschoben und sich auf den Weg zum kleinen Pausenraum machten. Als er schließlich doch hochsah, traf sich sein Blick mit dem von Detective Constable Shaz Bowman. Sie lehnte neben der Tür an der Wand.

»Noch was, Sharon?« fragte er.

»Sagen Sie bitte nicht Sharon zu mir. Nennen Sie mich Shaz. Ich wollte Ihnen nur noch sagen, daß Profiler nicht die einzigen sind, die wie der letzte Dreck behandelt werden. Was Sie uns bisher erzählt haben, hört sich nicht schlimmer an als das, woran Frauen im Polizeidienst ohnehin gewöhnt sind.«

»Das höre ich nicht zum ersten Mal«, erwiderte Tony und mußte unwillkürlich an Carol Jordan denken. »Und wenn das stimmt, müßten Sie bei diesem Spiel eigentlich im Vorteil sein.«

Shaz grinste zufrieden, sagte: »Warten wir’s ab« und war einen Moment später – lautlos und geschmeidig wie eine Dschungelkatze – durch die Tür verschwunden.

 

Jacko Vance beugte sich vor und deutete stirnrunzelnd auf den aufgeschlagenen Terminkalender. »Du siehst doch, Bill, ich hab für Sonntag zugesagt, am Halbmarathon teilzunehmen, Montag und Dienstag drehen wir, Dienstag abend ist diese Kluberöffnung in Lincoln – da kommst du doch hin, oder? …« Und nachdem Bill genickt hatte: »Ich habe bis Donnerstag einen Termin nach dem anderen, und dann fahre ich nach Northumberland – mein freiwilliger karitativer Einsatz. Ich sehe wirklich nicht, wie ich die noch unterbringen soll.« Er lehnte sich zurück und beklagte im stillen einmal mehr, daß die Sitzbank in diesem Produktionscaravan ein derart unbequemes Möbelstück war.

»Darum geht’s doch, Jacko.« Bill Ritchie, der Produzent von Besuch von Vance, kannte den Star seiner Sendung lange und gut genug, um zu wissen, daß Überredungsversuche bei ihm wenig Sinn hatten. »Die Dokumentation soll ja gerade zeigen, wie beschäftigt du bist und daß du dennoch Zeit für Wohltätigkeitsaktivitäten findest.« Er tauchte mit zwei Bechern Kaffee aus der winzigen Kochnische auf.

»Tut mir leid, Bill, aber das ist nicht drin.« Jacko wollte einen Schluck Kaffee trinken, stellte den Becher aber rasch wieder ab. Höllisch heiß, das Zeug. »Wann stellst du hier jemanden ein, der einen ordentlichen Kaffee macht?«

Bill grinste. »Wenn’s nach mir geht, nie. Der lausige Kaffee ist die einzige Möglichkeit, dich auf andere Gedanken zu bringen, wenn du wieder mal irgendwas ausbrütest.«

Jacko fühlte sich ertappt, blieb aber bei seinem bedauernden Kopfschütteln. »Ich tu’s trotzdem nicht. Erstens will ich die Kameraleute nicht auch noch an drehfreien Tagen auf den Hacken haben. Zweitens mache ich nicht in Wohltätigkeit, damit das zur besten Sendezeit über die Mattscheiben flimmern kann. Drittens will ich nicht, daß die armen Teufel, um die ich mich kümmere, ihre ausgemergelten Kehlen für die Kamera hinhalten müssen. Ich mach gern irgendwas anderes für dich, zum Beispiel zusammen mit Micky, aber ich will keinen von denen zum Objekt für die Kamera machen, bloß damit unsere Zuschauer ihr schlechtes Gewissen entdecken und ein paar Tausender mehr spenden.«

Bill spreizte abwehrend die Hände. »Ist ja schon gut. Sagst du’s ihnen, oder soll ich das tun?«

»Tu du’s lieber, Bill. Erspar mir den Ärger.« Jacko lächelte sein antrainiertes Lächeln, das brave Ehefrauen vor Augen hatten, wenn sie mit ihren Männern Liebe machten, Teenagersehnsüchten ein leibhaftiges Zielobjekt gab und alternde Damen ins Schwärmen geraten ließ.

Männer mochten ihn auch, aber mehr, weil sie in ihm den guten alten Kumpel sahen. Schließlich war der Liebling der Sportpresse einmal Europameister im Speerwerfen und sicherer Anwärter auf olympisches Gold gewesen. Bis er dann eines Nachts auf dem Rückweg von einem Sportlertreffen in Gateshead auf der A 1 in eine Nebelbank gerast war. Nicht als einziger.

Die Zahlen in den Morgennachrichten schwankten zwischen siebenundzwanzig und fünfunddreißig in den Unfall verwickelte Wagen. Und trotzdem, die Schlagzeile waren nicht die sechs Toten, die Schlagzeile waren Großbritanniens Goldjunge Jacko Vance und seine tragische Heldentat. Trotz dreier gebrochener Rippen und zahlreicher Schnittwunden war er aus seinem völlig demolierten Wagen gekrochen und hatte zwei Kinder von den Rücksitzen eines Autos gerettet, das Sekunden später in Flammen aufging. Als die Kinder hinter der Leitplanke in Sicherheit waren, hatte er versucht, einen zwischen dem Lenkrad und der verbeulten Tür eingeklemmten Trucker aus der Fahrerkabine zu befreien.

Aber dann hatte sich unter dem Druck der zusammengeschobenen Fahrzeuge plötzlich das Dach der Fahrerkabine nach unten eingebeult. Der Fahrer hatte keine Chance und Jackos nach vorn gereckter Arm ebensowenig. Erst nach drei Stunden gelang es den Feuerwehrleuten, seinen zerschmetterten Arm aus dem Gewirr aus Blech und schweren Metallteilen herauszuschneiden. Das schlimmste war, daß Jacko als durchtrainierter Sportler das alles bei vollem Bewußtsein erlebte.

Einen Tag nachdem ihm die Ärzte die erste Prothese angepaßt hatten, kam die Meldung von der Verleihung des George-Kreuzes. Ein geringer Trost für jemanden, der den Traum vieler Jahre begraben muß. Aber er war zu klug, um sich Verbitterung anmerken zu lassen, außerdem kannte er die Launenhaftigkeit der Medien. Er erinnerte sich nur allzugut an die Schlagzeilen, als der erste Versuch, Europameister zu werden, mißlungen war. JACK ABGESCHMIERT war noch der freundlichste Kommentar gewesen. Von demselben Blatt, das noch am Vortag JACK, UNSER HERZBUBE getitelt hatte.

Er wußte, daß er aus seinem Ruhm rasch Kapital schlagen mußte, oder er war bald einer der vergessenen Helden von gestern. Er knüpfte also an frühere Kontakte zu Bill Ritchie an und wurde Fernsehkommentator bei ebenden Olympischen Spielen, bei denen ihn alle auf dem Siegertreppchen erwartet hatten. Ein Anfang. Gleichzeitig begründete er seinen Ruf als rastloser Wohltäter – ein Mann, der nicht müde wurde, sich um Mitmenschen zu kümmern, denen das Glück weniger hold gewesen war als ihm.

Heute konnte er all die Narren, die ihn schon abgeschrieben hatten, auslachen. Sein Charme und seine Wortgewandtheit ließen ihn schnell zu einem der beliebtesten Sportmoderatoren werden, wobei er den zerschmetterten Arm geradezu schamlos immer wieder ins Bild zu bringen verstand, damit seine Heldentat auf der A 1 nicht in Vergessenheit geriet. Bald wurde er zum Star einer Unterhaltungssendung, die drei Jahre lang der Quotenrenner war.

Als sie im vierten Jahr auf Platz drei abrutschte, ersetzte Jacko sie durch Besuch von Vance – eine Show, die vorgab, daß es sich um »spontane Besuche bei Menschen wie du und ich« handele, obwohl das Bildschirmspektakel natürlich mit der gleichen Akribie wie die öffentlichen Auftritte von Mitgliedern des Hauses Windsor vorbereitet wurde. Ein Dauerbrenner, besonders seit er mit Micky verheiratet war.

Und trotzdem genügte ihm das nicht.

 

Carol bezahlte den Kaffee – ein Privileg ihrer Dienststellung. Eigentlich wollte sie bei den Schokokeksen abwinken, aber ihre Detectives hätten das vielleicht mißverstanden. Also bezahlte sie die grinsend mit und führte ihre kleine, sorgfältig ausgewählte Gruppe in eine durch Plastikpalmen abgeschirmte Ecke der Kantine. Sie mochte sich irren, aber ihrem ersten Eindruck nach waren Detective Sergeant Tommy Taylor, Constable Lee Whitebread und Constable Di Earnshaw der harte Kern, auf den sie in der Seaforder CID-Zentrale setzen konnte.

»Ich will gar nicht erst so tun, als wäre das ein harmloses Plauderstündchen, damit wir uns besser kennenlernen«, legte Carol beim Verteilen der Schokokekse von vornherein ihre Karten auf den Tisch. »Ich habe eine Aufgabe für Sie. Ich habe mir mal die Meldungen über nächtliche besondere Vorkommnisse angesehen und bin etwas irritiert wegen der hohen Zahl der ominösen Brände in unserem Zuständigkeitsbereich. Unserem Meldebuch nach war allein im letzten Monat in fünf Fällen der Verdacht auf Brandstiftung nicht auszuschließen, und beim Blättern im Meldebuch der uniformierten Polizei bin ich auf noch mal ein halbes Dutzend solcher Fälle gestoßen.«

Tommy zuckte die Achseln. »So was kommt eben im Hafenbereich immer wieder vor.«

»Das glaube ich«, sagte Carol. »Trotzdem frage ich mich, ob nicht mehr dahintersteckt. Bei dem einen oder anderen kleineren Brand kann Fahrlässigkeit oder ein technischer Defekt die Ursache gewesen sein, aber es könnte auch sein …« Sie wartete gespannt, wer zuerst darauf ansprang.

»Denken Sie an einen Feuerteufel, Ma’am?« Di Earnshaw – höflich im Ton, aber ihre Miene war eine einzige Unverschämtheit.

»Einen Serienbrandstifter, ja.«

Allgemeines Schweigen. Carol ahnte, was in ihren Köpfen vorging. Die Kripodienststelle East Yorkshire war neu eingerichtet worden, aber für ihre Officer bedeutete das gleiche Arbeit unter einer anderen Adresse. Neu war nur sie.

»Es gibt ein gewisses Muster«, sagte sie. »Alle Brände brechen in den frühen Morgenstunden aus, wenn hier gähnende Leere herrscht. Betroffen sind kleinere Objekte. Schulen, mittelständische Betriebe, Lagerhäuser. Nie Großbetriebe, wo das Wachpersonal dem Täter in die Quere kommen könnte. Aber es sind jedesmal größere Brände. Mit Schäden, die den Versicherungen ziemlich weh tun dürften.«

»Ich hab noch nie was davon gehört, daß hier ein Feuerteufel wüten soll«, warf Tommy mit ruhiger Stimme ein. »Gewöhnlich geben die Feuerwehrleute uns einen Wink, wenn sie argwöhnen, daß irgendwas nicht mit rechten Dingen zugeht.«

Lee, der gerade an seinem zweiten Schokokeks kaute, nuschelte mit vollem Mund: »Oder einer von den örtlichen Oberfuzzis macht uns die Hölle heiß.«

»Ich denke, daß wir bestimmen, worum wir uns kümmern, nicht der Stadtrat oder die Feuerwehr«, sagte Carol kühl. »Brandstiftung ist kein Kavaliersdelikt. Sie kann ebenso verheerende Folgen haben wie Mord, und wie Mord die unterschiedlichsten Motive. Rache, Beweisvernichtung, Versicherungsbetrug, Ausschalten der Konkurrenz. Und bei abartig veranlagten Tätern sexuelle Befriedigung oder krankhafter Zerstörungswahn. Auch Brandstifter folgen, genau wie Mörder, einer Logik, die nur sie selbst nachvollziehen können und durch die sie ihre Tat gerechtfertigt sehen. Zum Glück sind Serienmörder seltener als Serienbrandstifter. Die Versicherer schätzen, daß etwa jeder vierte Brand in Großbritannien vorsätzlich gelegt wird. Gott sei Dank ist nicht jeder vierte Tote ein Mordopfer.«

Tommy Taylor sah gelangweilt aus. Lee Whitebread starrte sie mit leerem Blick an. Di Earnshaw machte sich immerhin die Mühe, etwas zu dem Thema beizutragen. »Ich hab gehört, die Häufigkeit von Brandstiftungen ist ein Index für die wirtschaftliche Lage eines Landes. Je mieser es aussieht, desto mehr Brände werden gelegt. Na ja – und wir haben hier ’ne Menge Arbeitslose.«

»Auch ein Punkt, den wir berücksichtigen sollten«, sagte Carol. »Also, wir machen folgendes: Sie sehen noch mal alle Meldungen über nächtliche Feststellungen während der letzten sechs Monate durch, befragen erneut die Opfer von Brandstiftungen sowie die Versicherungsgesellschaften und achten dabei besonders auf auffällige Übereinstimmungen. Wer was macht, überlasse ich Ihnen. Ich spreche mit dem Chef der Feuerwehr, und danach sehen wir uns – sagen wir: in drei Tagen? – wieder. Noch Fragen?« Sie stand auf. »Sehr schön. Danke.« Und weg war sie.

Taylor kratzte sich das Kinn. »Die sagt uns, wo’s langgeht. Na, Lee, denkst du immer noch, daß du mit der ’ne Nummer schieben kannst.«

Di Earnshaw grinste gehässig. »Nur wenn du darauf aus bist, hinterher im Falsett zu singen.«

»Ich glaub nicht, daß mir hinterher überhaupt noch nach Singen zumute ist«, brummelte Lee. »Jemand scharf auf den letzten Schokokeks?«

 

Shaz rieb sich die müden Augen und sah eine Weile nicht auf den Bildschirm. Sie war heute früh gekommen, um sich ein bißchen in der Anwendung der Software zu üben, die Tony Hill ihnen gestern erklärt hatte. Zu ihrer Überraschung saß er, als sie kurz nach sieben die Dienststelle betrat, bereits vor seinem Computer.

»Hallo«, begrüßte er sie, »ich dachte, ich wäre der einzige schlafgestörte Workaholic.«

Shaz grinste verlegen. »Ich brauche bei einer neuen Software immer doppelt so lang wie die anderen.«

Tonys Augenbrauen schnellten hoch. Cops gaben vor Außenseitern nicht gern zu, daß sie Schwächen hatten. Entweder war Shaz Bowman die große Ausnahme, oder sie sah in ihm keinen Außenseiter mehr. »Und ich dachte, alle unter Dreißig sind mit dem Computer auf du und du.«

»Ich war wohl bei der Verteilung der Trümpfe gerade mal für kleine Mädchen.« Shaz setzte sich vor den Bildschirm, schob die Ärmel des Pullovers hoch und hoffte, daß Tony ihr leise gemurmeltes »Erst das Paßwort eingeben« nicht mitbekam.

So ruhig und gelassen sie gewöhnlich wirkte, es gab zwei beherrschende Kräfte in ihrem Leben. Die eine war ihr mangelndes Selbstvertrauen, die Furcht zu versagen. Sooft sie in den Spiegel sah, entdeckte sie in ihrem Gesicht nur das, was nicht perfekt war, nie etwas Anziehendes. Und wenn sie ihre dienstlichen Leistungen Revue passieren ließ, fielen ihr nur Dinge ein, die sie schlechter konnte als andere. Dem wirkte die andere Kraft entgegen, ihr Ehrgeiz. Und das Resultat aus beidem war zwangsläufig ein ständiges inneres Spannungsfeld.

Die Berufung in diese Spezialgruppe war die Erfüllung eines langgehegten Traums, manchmal glaubte sie, es sei so etwas wie eine schicksalhafte Fügung gewesen. Aber daß sie das Ganze deswegen lockerer angegangen wäre – nein, das kam für sie nicht in Frage. Ihre langfristige Karriereplanung verlangte von ihr, daß sie besser war als die anderen. Sie mußte sich Tony Hills Denkweise so perfekt aneignen, daß sie sie wie einen Generalschlüssel benutzen konnte. Und weil ihrer Überzeugung nach alle anderen in der Gruppe besser waren als sie, mußte sie sich noch mehr anstrengen.

Stirnrunzelnd klickte sie sich durch das Übungsprogramm, bei dem es darum ging, einem fiktiven Tathergang diejenigen im Computer gespeicherten Tätermerkmale zuzuordnen, die für den angenommenen Fall relevant sein konnten. Aus dem Augenwinkel bekam sie mit, daß Tony von seinem Computerplatz aufstand und hinausging. Und kurz danach roch sie dicht hinter sich den maskulinen Duft seines After-shaves.

»Kaffeepause«, ordnete er an und stellte zwei Becher Kaffee, beide mit einem Stück Blätterteig zugedeckt, auf den Tisch zwischen ihren Arbeitsplätzen. Sie rieb sich die müden Augen, murmelte »danke« und kam zu ihm herüber.

»Keine Ursache. Irgendwas unklar? Ich helfe Ihnen gern, wenn Sie wollen.«

Sie zögerte. »Es ist nicht so, daß ich’s nicht verstehe. Ich trau bloß dem Ergebnis nicht.«

Tony schmunzelte. »Sie wissen, daß zwei und zwei vier gibt, wollen aber den empirischen Beweis dafür, ja?«

»Ich hatte schon immer eine Schwäche für Beweise. Was meinen Sie, warum ich Cop geworden bin?«

»Da müßte ich spekulieren. Aber hierher haben Sie sich vermutlich gemeldet, weil wir uns auf unerforschtem Neuland bewegen.«

Shaz legte das Gebäck beiseite und nahm den Deckel vom Kaffeebecher. »Eher auf einem bereits umgepflügten Acker. Die Amerikaner machen das schon so lange, daß sie mittlerweile sogar Filme über die Arbeit von Profilern gedreht haben. Wir hinken, wie üblich, hinterher. Und die Pionierarbeit bei uns haben Sie ja schon geleistet, da bleibt nicht mehr viel Neuland übrig.« Ein herzhafter Biß in ihr Gebäck … hm, das Aprikosenaroma der Zuckerglasur war ganz nach ihrem Geschmack.

Tony setzte sich wieder vor seinen Computer. »Oh, sagen Sie das nicht. Es hat lange gedauert, bis die Polizei unsere Arbeit als nützlich akzeptiert hat, und jetzt nehmen uns die Medien in die Mangel. Noch vor ein paar Jahren haben sie Profiling als so was wie das Ei des Kolumbus gefeiert, aber plötzlich mäkeln sie an der Erfolgsquote herum. Und wir müssen als Sündenböcke für ihre überzogenen Erwartungen herhalten.«

»Ich weiß nicht«, sagte Shaz, »der Durchschnittsbürger erinnert sich doch sowieso nur an die großen Erfolge. Zum Beispiel an den Fall, den Sie letztes Jahr in Bradfield bearbeitet haben. Wäre das nicht ein Thema für eines Ihrer Seminare? In großen Zügen kennen wir den Fall aus der Presse, aber da es nun mal um ein Musterbeispiel für erfolgreiches Profiling geht …«

»Wir werden diesen Fall nicht behandeln«, fiel Tony ihr entschieden ins Wort.

Shaz sah verdutzt hoch. Offenbar hatte sie in irgendein Wespennest gestochen. »’tschuldigung«, murmelte sie irritiert.

»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, sagte er. »Sie haben recht, die Lösung dieses Falls war so etwas wie ein Durchbruch. Aber ich könnte das Thema nicht emotionslos behandeln. Möglich, daß es Ihnen eines Tages bei irgendeinem Fall ähnlich geht. Was ich Ihnen allerdings nicht wünschen möchte.« Er starrte angewidert auf seine Blätterteigtasche. Die Erinnerungen hatten ihm den Appetit verdorben.

Shaz hätte das Band am liebsten bis zu dem Moment zurücklaufen lassen, als er mit dem Kaffee und dem Gebäck hereingekommen war. Zu spät, sie konnte sich nur noch entschuldigen. »Ich bitte Sie aufrichtig um Entschuldigung, Dr. Hill.« Sie merkte selber, daß das übertrieben förmlich klang.

Tony zwang sich zu einem Lächeln. »Ehrlich, Shaz, das müssen Sie nicht. Und das mit dem Dr. Hill – könnten wir das ein bißchen runterschrauben? Ich wollte das schon gestern sagen, hab’s aber dann vergessen. Ich möchte nicht, daß Sie nur den Lehrer in mir sehen. In Kürze werden wir Seite an Seite zusammenarbeiten, da sollte es keine Barrieren zwischen uns geben. Also, von jetzt an Tony, ja?«

»Ja, Tony.« Sie las in seinen Augen, daß er ihr nichts nachtrug. Beruhigt verschlang sie mit Heißhunger den Rest ihres Gebäcks und wandte sich dann wieder dem Bildschirm zu.

Jetzt ging es nicht, weil Tony ein paar Meter neben ihr saß, aber wenn ich allein vor dem Computer sitze, nahm sie sich vor, klicke ich mich ins Internet ein, wähle die Zeitungsarchive an und lese alles nach, was ich über die Serienmorde in Bradfield finden kann. Wozu ist man schließlich Detective?

 

Carol Jordan kämpfte mit den technischen Tücken der verchromten neuen Kaffeemaschine, ein Geschenk ihres Bruders Michael anläßlich des Umzugs nach Seaford. Dafür hatte er – das heißt, genaugenommen die Rechtsanwältin, mit der er neuerdings das Schlafzimmer teilte – ihr mit Freuden ihre Hälfte der auf ihren und Michaels Namen ins Grundbuch eingetragenen Wohnung abgekauft. Ein wahrer Glücksfall, so wie die Preise für Wohneigentum immer mehr in den Keller sackten.