Schmälzle und die Kräuter des Todes - Linda Graze - E-Book
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Schmälzle und die Kräuter des Todes E-Book

Linda Graze

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Beschreibung

Hätte das nicht bis morgen Zeit gehabt! «Im Lebe net», meint die Putzfrau des Polizeipostens von Bad Wildbad. Aber sie täuscht sich: Der neue Kommissar aus Karlsruhe heißt Justin Schmälzle, er ist schwarz, vegan und liebt (außer seiner Frau Claudia) kaum etwas mehr als seinen Reismilch-Macchiato. In Karlsruhe hat er noch einen Drogenring ausgehoben. In Bad Wildbad werden allenfalls Blumenkübel in die Enz geworfen. Wenn es hoch kommt. Schaden: 250 Euro. Doch dann treibt ein toter Mann im Fluss unter dem Lindenbrückle. Wenig später verschwindet eine junge Frau im Bannwald. Schließlich tauchen auch noch Tütchen mit Kräutern auf, die an die Jugendlichen von Bad Wildbad verkauft werden. Was ist hier los? Justin Schmälzle wird es herausfinden. Aber erst nach seinem Reismilch-Macchiato.

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Linda Graze

Schmälzle und die Kräuter des Todes

Ein Schwarzwald-Krimi

Über dieses Buch

Hätte das nicht bis morgen Zeit gehabt!

 

«Im Lebe net», meint die Putzfrau des Polizeipostens von Bad Wildbad. Aber sie täuscht sich: Der neue Kommissar aus Karlsruhe heißt Justin Schmälzle, er ist schwarz, vegan und liebt (außer seiner Frau Claudia) kaum etwas mehr als seinen Reismilch-Macchiato. In Karlsruhe hat er noch einen Drogenring ausgehoben. In Bad Wildbad werden allenfalls Blumenkübel in die Enz geworfen. Wenn es hoch kommt. Schaden: 250 Euro.

 

Doch dann treibt ein toter Mann im Fluss unter dem Lindenbrückle. Wenig später verschwindet eine junge Frau im Bannwald. Schließlich tauchen auch noch Tütchen mit Kräutern auf, die an die Jugendlichen von Bad Wildbad verkauft werden.

 

Was ist hier los? Justin Schmälzle wird es herausfinden. Aber erst nach seinem Reismilch-Macchiato.

Vita

Linda Graze verbrachte ihre Kindheit im Nordschwarzwald. Nach einer Ausbildung zur Dolmetscherin beschloss sie: nicht die Texte anderer übersetzen, lieber selber schreiben! Sie wurde Werbetexterin und arbeitete für die großen Agenturen des Landes, von München über Hamburg bis Frankfurt. Sie schrieb Kampagnen für Kameras und Kosmetik, textete für Sahnebonbons, Schokoriegel und Schrauben. Inzwischen betreibt sie eine Recruiting-Agentur für die Werbebranche in Stuttgart.

Es ist nicht alles, wie es scheint,

und was scheint, ist nicht immer die Sonne.

Donnerstag, 1.9.2016

Die Spatzen sind schon bei der sechsten Strophe

Schlag sieben Uhr dreißig fährt Justin Schmälzle in der Bätznerstraße vor, lehnt sein Rad an das ehemalige Forsthaus und nimmt die wenigen Stufen mit einem Satz. Dann stößt er die schwere Tür auf, durchquert den schmalen Flur und steht im düsteren Türrahmen, das Desaster direkt im Visier. Über die gesamte Bodenfläche breitet sich Flüssigkeit aus, schwappt in dem Moment aus dem Eimer, in dem er einen Fuß in den Raum setzen will. Schaum verteilt sich in der Stube. Bläschen eilen vorwitzig hin und her, bis sie müde sind und platzen.

«Das ist doch ein Holzboden!» Schmälzle hält beide Hände an den Hinterkopf, als wollte er ihn vor der Sintflut bewahren.

Eine imposante Gestalt steht mitten im Raum und beäugt den Eindringling, der mit einer Leidensmiene vor ihr steht, als wäre er ein Staubsaugervertreter.

«Das Asylantenheim isch drüben, im Windhof», sagt die blonde, üppige Frau, die in einen pinkfarbenen Jogginganzug gequetscht ist. Hinter wachen blauen Augen, die abwechselnd zwischen ihm und der Überschwemmung hin- und herspringen, lauert der Argwohn. «Oder in die Uhlandshöhe, wollet Sie vielleicht dahin?»

Die Perle des Polizeipostens von Bad Wildbad baut sich zu stattlichen eineinhalb Metern auf und weist mit dem Stiel ihres Flachwischers den Weg. Zur Tür. Dabei kneift sie die Augen zusammen. Als wollte sie ihr Inneres schützen vor dem exotischen Unbekannten, der soeben ihr Universum betreten hat.

«Oh», sagt Schmälzle. «Ermitteln die Kollegen in den beiden Asylbewerberheimen?»

Dann setzt sein Denkapparat ein. Nett sei es hier, hatte Claudia ihm vorgeschwärmt, und die Menschen: unglaublich freundlich. Aha. Stumm schaut ihn die Putzfrau an. Lange. Nicht erschreckt, nein, sie wirkt nicht, als würde sie sich vor dem schwarzen Mann fürchten. Vielleicht ist es sein Dialekt, den sie nicht verstehen will. Obwohl es sich um astreines Badisch handelt.

Irgendwann findet sie ihre Sprache wieder. «Die Kollege!», ruft sie. «Es wär besser, wenn Sie verschwunde wäret, wenn der Chef kommt, dies isch nämlich die Polizei.»

Mit einer wischenden Bewegung versucht sie, Schmälzle fortzuscheuchen. Wie konnte sich Claudia so täuschen, wie konnten wir Sam nur nach Bad Wildbad locken, wo um alles in der Welt bin ich gelandet – der Strom finsterer Gedanken will kein Ende nehmen.

Schmälzle sagt: «Eben drum.»

«Ihr Deutsch isch ja tadellos.» Die Putzfrau klingt verwundert. «Lernt mer des in der Schul, bei euch in Eritrea?», fragt sie neugierig.

«Eritrea?» Schmälzle zieht sein Smartphone aus der Tasche und sucht einen Kontakt. Dann watet er durchs Wasser und setzt sich auf einen der drei gepolsterten Schreibtischstühle vor einen der drei Holzschreibtische.

Die Perle presst die Augen zu schmalsten Schlitzen. «Es hat gheiße, es tät schwarze Schafe geben unter den Flüchtlingen …»

«Was?», fragt Schmälzle, während das Freizeichen, das seine Ohren traktiert, der Lebenslänglichkeit entgegenstrebt.

Dann legt er seine Füße auf den frisch geputzten Schreibtisch. Die Putzfrau saugt die Luft ein und pumpt ihren Oberkörper auf. Schmälzle blickt zur vertäfelten Holzdecke. Kurz Atem holen, nachdenken, Strategie entwickeln, sich leidtun. Würde er Claudia nicht so lieben, säße er jetzt in Karlsruhe bei seiner Truppe, und sie würden darauf anstoßen, dass sie den Schutzgeldring von Zoran Zapronić haben hochgehen lassen.

Wie gut, dass zwei Zeiger die Aufmerksamkeit der Perle einfordern: Zehn vor acht, behauptet die Wanduhr. Mit der Kraft von mindestens zwei Herzen fährt sie fort, den Boden zu bearbeiten. In Windeseile zieht der Wischmopp Bahn für Bahn, langsam die Flüssigkeit in sich aufnehmend, um sie zurück in den Blecheimer zu befördern. So geht das zwei Minuten, drei Minuten, vor Schmälzle und hinter ihm, bis die Perle sich mit einem angriffslustigen Hüftschwung zu ihm schiebt und mit einem silbern glitzernden Zeigefinger auf die muskulöse Schulter des Eindringlings tippt.

«Sen Sie immer noch da?»

«Ja. Und ich bleibe auch hier. Mein Name ist Justin Schmälzle. Ich bin der neue Kommissar aus Karlsruhe und heute ist mein erster Arbeitstag. Wann fangen die Kollegen denn morgens an?»

Es muss am Reismilch-Macchiato-Mangel liegen, dass ihm das nicht früher eingefallen ist! Die Putzfrau schüttelt die blonden Locken. Wieder und noch mal. Dann lässt sie ihre Blicke über seinen fast kahlen Ober- und Hinterkopf schweifen, bleibt an dem heute Morgen rasch gebügelten weißen Hemd hängen, streift eine gut sitzende Jeans über blau-rot-grünen Sportschuhen.

«Sie sen im Lebe net der neue Kommissar aus Karlsruhe», sagt sie und geht, bevor er protestieren kann, in druckreifes Hochdeutsch über: «Wenn Sie ein Gelbfüßler sind, fresse ich meinen Wischmopp.»

Kaum hat sie den langen Satz ausgewrungen, öffnet sich wie von magischer Hand die Tür zur Polizeistube.

«Dann tun Sie auch viel Pfeffer drauf, Frau Meichle», sagt eine tiefe Stimme. «Entschuldigen Sie, unsere Frau Meichle ist ein Vorbild an Sauberkeit, die kärchert sogar unsere Kriminellen weg.»

Die sichtbaren Hautpartien der Frau gehen eine Symbiose mit ihrem grellen Outfit ein. «Herr Scholz, ich …»

«Sie machen einen Abflug! Und zwar dalli, zack.»

Die Putzfrau schmollt, verduftet durch die Hintertür und hinterlässt nichts als ein Näschen voll frischer Zitrone.

Schmälzle nimmt den gut zehn Jahre älteren Polizeipostenleiter von Bad Wildbad in Augenschein: dunkle, gegelte Haare, Polizei-Shirt, schwarze Jeans, dunkle Nylon-Classics. Sein neuer Chef knackt die Finger. Einzeln. Nacheinander. In einer Geschwindigkeit, die dem historischen Gebäude nicht zu Gesicht steht. «Scholz», knack, Daumen links, knack, Daumen rechts. «Harald Scholz», sagt Harald Scholz und reicht dem neuen Kollegen die Hand. Der nimmt die Füße vom Tisch und zeigt entschuldigend auf den Fußboden.

«Schmälzle», stellt er sich vor.

«Ich weiß», sagt Scholz. «Justin Schmälzle. Wie der Timberlake.»

Schmälzle rümpft die Nase. Dann sagt er: «Meine Freunde nennen mich Just.» Er spricht es amerikanisch aus: Tschast.

«Dann bleiben wir bei Schmälzle. Ich bin Scholz an Guter-Bulle- und Polizeipostenleiter Scholz an Böser-Bulle-Tagen.» Ein breites Grinsen trennt das gebräunte, säuberlich rasierte und mit feiner Lotion getränkte Gesicht des Wildbaders in zwei Hälften. Schmälzle sieht sich aufmerksam in der Polizeistube um.

«Prähistorisch», sagt Scholz, «wie vieles in unserem hübschen Kurstädtchen.»

«Zum Beispiel mein Wohnzimmer», meint Schmälzle grinsend. «Meine Frau hat sich gefragt, ob sie in Creedence-Clearwater-Revival-Zeiten wiedergeboren wurde.» Kurz schweifen seine Gedanken ab, er sieht das Innenleben seines neu erworbenen Hauses vor sich: Blümchentapeten, Nachtspeicheröfen, einen wandfüllenden Nussbaumschrank, denn das Inventar war zwangsinklusive.

Scholz holt ihn zurück in den Polizeiposten, indem er ein wildes Solo auf seinem Schreibtisch trommelt und ein «Uuuuuh!» hinterherschickt, an dem John Fogerty seine helle Freude gehabt hätte.

Oje, denkt Schmälzle, ein Altrocker. Dann fragt er: «Was gibt es hier denn so für Fälle?»

Der Kollege beendet seine Zeitreise widerwillig. «Schaffelle», sagt er dann, «Ziegenfelle, vielleicht findest du auch mal ein Kaninchenfell.»

Schmälzle wird das Gefühl nicht los, in einem ganz üblen B-Movie eine ganz miese Rolle zu spielen. Gleich wird er aufwachen, weil die Filmspule zu Ende ist, oh ja, bestimmt.

«Harald, verwirre den Kollegen doch nicht so.» Eine junge Frau schreitet vorsichtig in löchrigen Sommerboots samt lässiger olivfarbener Hose über den glitschig nassen Fußboden. Sie wirft ihren Rucksack auf einen der beiden Schreibtische am Fenster, schüttelt ihren dunklen Bob, als wollte sie ihn vom Feinstaub befreien (was nicht sein kann, weil es den hier nicht gibt), kommt auf Schmälzle zu und streckt ihm eine zartgliedrige Hand entgegen.

«Ich bin Leo. Leonie Uhlig. Polizeisekretärin», sagt sie. «Wir duzen uns hier, wenn das für dich kein Problem ist.»

«Im Gegenteil! Ich bin Justin», sagt er.

«Wie der Timberlake», fügt Scholz hinzu. «Aber bass uff, Leo, den mag er nicht.»

«Der ist doch schnucklig», sagt die Kollegin und checkt den neuen Kollegen von oben bis unten ab wie ein Körperscanner. Sie streift gut definierte Bizepse und Trizepse, die sich unter seinem frisch gebügelten weißen Hemd abzeichnen. Dann passieren ihre Augen ein glatt rasiertes, ebenmäßiges dunkles Gesicht, ausgeprägte Wangenknochen und einen hellwachen Blick. Sie kommt zur Sache: «Du hast nach unseren Fällen gefragt, Justin. Jetzt sag’s ihm, Harald.»

«Enzkübel, Schmälzle, machen uns zu schaffen.»

«Blumenkübel, die man in die Enz geworfen hat. Jugendliche, vermutlich», ergänzt Leonie.

«Nicht zu verwechseln mit Samstagsabendbesoffenen, die regelmäßig in die Enz kübeln. Das ahnden wir nicht.» Scholz schiebt Schmälzle das Wildbader Anzeigenblatt zu.

«Die Polizei berichtet: Blumenkästen in die Enz geworfen», liest der laut vor. «Unbekannte haben über das Wochenende in Bad Wildbad sechs am Geländer des Lindenbrückle hängende Blumenkästen in die Enz geworfen und damit einen Schaden von rund zweihundertfünfzig Euro angerichtet. Der Polizeiposten Wildbad hat die Ermittlungen wegen Sachbeschädigung aufgenommen und bittet um Hinweise.»

Stille. Gedanken jagen durch verzweigte Hirnkanäle. Nur ein Ächzen der Holzvertäfelung ist zu hören. Allein der Zitronenduft erzählt von der Leichtigkeit des Daseins.

«Aha», sagt Schmälzle, weil er nichts anderes zu sagen weiß.

«Jep», sagt Scholz.

«Wie weit seid ihr?»

«Wir haben auf dich gewartet. Dein Ruf eilt dir voraus.» Scholz wippt auf seinem Schreibtischstuhl auf und ab.

«Ich war für Mord zuständig», sagt Schmälzle, «und für Drogendelikte. Um Blumenkübel hat sich der Gärtner gekümmert.»

Dann wendet er sich Leonie zu. Die lacht so breit, dass ein Diamant auf dem Eins-Vierer-Zahn hervorblitzt.

«Was für Fälle habt ihr denn in Karlsruhe zuletzt gelöst?», fragt sie.

«Riesen-Razzia im Rotlicht- und Rockermilieu nach Mordversuch in Bruchsal. Wir haben gegen dreiundzwanzig Tatverdächtige ermittelt, vierzehn Wohnungen wegen Verdacht auf Rauschgifthandel, Inverkehrbringen von Falschgeld und Betrug durchsucht. Lest ihr keine Polizeiberichte?»

«Keine Zeit, Schmälzle», sagt Scholz.

«Man hat also Kübel in den örtlichen Fluss geworfen, keine Person ist dabei zu Schaden gekommen. Und um diesen gigantischen Fall kümmern wir uns zu dritt?» Schmälzle hat sich wieder über den Artikel gebeugt.

«Du kümmern, ich Frühstück, Leo Protokoll.» Scholz stellt eine Vesperbox und eine Thermoskanne auf seinen Schreibtisch.

«Gibt es Hinweise aus der Bevölkerung?», fragt Schmälzle.

«Taugen nix», sagt Scholz.

«Stell ich zusammen, hast du heute Nachmittag.» Leonie macht sich an ihrer Schreibtischschublade zu schaffen.

Scholz öffnet seine Vesperbox, riecht kurz in die Auslegeware und zieht die Nase hoch. «Vorher habe ich was mit dem neuen Kommissar zu besprechen.» Mit ernster Miene fügt er hinzu: «Beim Frühstück.»

Er steuert die Tür an und würdigt seine Polizeimütze, die am Garderobenhaken hängt, keines Blickes. Schmälzle, froh, die düstere Stube verlassen zu können, ist dicht hinter ihm. In der Tür dreht er sich noch einmal um. «Sagt mal, ist euer Telefon kaputt? Es hat nicht einmal geschellt, seit ich hier bin.»

«Isches kaputt?», ruft Leonie.

«Kannst ja mal durchbimmeln», krakeelt Scholz zurück.

«Ihr müsst euch selber anrufen, damit es hier klingelt?» Schmälzle fährt sich über die Stoppelhaare und versucht, seine Gedanken abzuschalten, denn die bemühen schon wieder den Heiligen Vater.

Kaum passieren die beiden Beamten, Hauptkommissar zum einen, Polizeipostenleiter zum anderen, die Eingangstür des denkmalgeschützten Gebäudes, meldet sich wie von Geisterhand das Telefon.

Leonie starrt verwirrt auf den Apparat. Schmälzle lacht, ohne Scholz die Zähne zu zeigen. Dann lässt er sein Smartphone unbemerkt in die Hosentasche gleiten.

Dienstag, 13.9.2016

Zur Schwarzwälder-Kirschtorten-Stunde

«Muss i denn, muss i denn zuhum Städtele hinaus, Stääääädtele hinaus, uhund …», singt Meißner und breitet beide Arme aus. Er beginnt, langsam um sie herumzutanzen, sie in weiten Bögen einzukreisen. Widerspenstig steht mausblondes Haar von seinem Kopf ab. Seine Lippen sind fleischig, doch der Klang der Worte, die ihnen entströmen, ist von unerwarteter Schönheit. Dennoch ist es, als liefe Yvonne ein kühler Schauer die Wirbelsäule hoch, und die feinen, blassen Härchen auf ihrem Nacken stehen auf einmal senkrecht.

«Lass das, Wolfram!», sagt sie und schaut ihn missmutig an. Später wird sie sagen, dass es nicht der viel zu große Kopf mit dem kindlichen Ausdruck war, der sie erschreckt hat, und dass es nicht die Hände waren, die wie kleine Schaufeln von seinem massigen Körper herabhängen und ungelenk in der Luft herumwirbeln. Selbst an die helle, durchscheinende Haut und die spärlichen Haare hat sie sich längst gewöhnt. Aber dieser Blick! Sie hat ihn nie zuvor an ihm wahrgenommen.

«Uhund du mein Schatz bleibst hier», singt dieser Blick. Graublaue Augen starren unablässig in Yvonnes Gesicht, als wollten sie es sich einverleiben. Angst steigt in ihr empor, setzt sich als Knoten in ihrem Hals fest und lässt sich nicht herunterschlucken. Yvonne fragt sich, was sie mit dem Mann in dieser Einöde von Kaltenbronn will, in der seit zwanzig Minuten keine Menschenseele zu sehen gewesen ist und die gefährlich nahe an der Hochmoorgegend liegt.

«Wenn er keine Schübe hat», hat der Professor gesagt, «ist er völlig harmlos, Frau Lauer.»

Völlig Harmlos singt jetzt lauter: «Uhund du mein Schatz bleibst hier!» Dabei hämmert er mit seinem rechten Zeigefinger den Takt ins Firmament und verleiht dem lauen Spätsommerabend eine unverdient aggressive Note.

«Was soll das, Wolfram? Lass das! Gleich kommen Ausflügler, die nehmen mich mit! Dann musst du allein in die Klinik finden.»

«Heute kommen keine Ausflügler. Es ist nicht Sonntag, Yvonne. Es ist auch nicht Samstag. Es ist Dienstag, und alle arbeiten.»

«Die Rentner arbeiten nicht.»

«Die sind Kaffee trinken und Kuchen essen. Oder sie machen einen Mittagsschlaf.» Natürlich weiß Yvonne, die auf sechsundzwanzig Jahre Lebenserfahrung zurückblicken kann, dass Wolfram recht hat und die meisten Ausflügler am Wochenende hier unterwegs sind. Auch bestaunen viele den vor einem Jahr eröffneten Baumwipfelpfad, der gut zwei Stunden Fußmarsch entfernt ist. Und sie haben erst das Wildgehege passiert, sind also keinen Kilometer weit gekommen.

«Wonnchen, mein Schatz», sagt der Begleiter und leckt mit seiner großen Zunge über die feuchten Lippen. Dabei glotzt er sie ununterbrochen an, fixiert ihre bernsteinfarbenen Augen, den zart geschwungenen Mund, die dunkelblonden lockigen Haare, die ihr weich auf die Schultern fallen.

«Ich bin nicht dein Schatz, Wolfram.» Yvonne fasst sich mit der Hand ans Schlüsselbein und bemerkt, dass ihre Finger zittern. Eine kühle Brise streift durch ihr Haar. Hier oben auf dem Kaltenbronn ist es meist zwei, manchmal auch drei Grad kühler als unten im Tal, eine begehrte Erfrischung im Hochsommer. Dennoch hat die innere Hitze ihr Gesicht gerötet. «Wir», sagt Yvonne, «wir … könnten in den Kurpark gehen, wie letzten Dienstag, es war schön da.»

«… meihein Schatz bleiheibst hier!» Wolfram ändert die Stimmlage. Die Melodie weicht und macht einem Ton Platz, der keinen Widerspruch duldet. «Wer ist denn dein Schatz, Wonnchen, wenn ich es nicht bin?»

«Wolfram, lass uns umkehren. Es ist spät, sie werden bald anrufen, wo du bleibst.»

«Es wird keiner anrufen.» Wolfram stülpt die Taschen seiner hellen Hose nach außen. Es ist seine Sonntagshose, erkennbar an frisch gebügelten Bundfalten. Ein zerknülltes Taschentuch fällt auf den weichen Waldboden. «Siehst du, Wonnchen, kein Telefon, das uns stören kann.»

«Aber du musst dein Telefon dabeihaben, du sollst immer erreichbar sein!» Yvonnes Stimme erklimmt schwindelnde Höhen. «Mir ist das zu blöd, ich dreh jetzt um und hole Professor Werner.»

«Dann hol ihn doch, dann hol ihn doch, du hast mal wieder kein Telefon dabei.»

«Ich finde schon jemanden, der eins hat!»

«Uhund du mein Schatz bleibst hier.» Wolfram breitet wieder seine Arme aus und beginnt erneut, um die Begleiterin herumzutanzen, sie mit ausladenden Schritten zu umrunden, einzukreisen, einzufangen.

«Was soll denn das? Hör auf! Warum machst du das?» Yvonnes Stimme wird schriller, lauter und dann leise, weinerlich. «Warum tust du mir das an?»

«Wenn i komm, wenn i komm …»

«Du bist eklig, Wolfram, richtig widerlich.» Yvonne dreht sich weg und versucht, Wolframs immer engeren Kreisen zu entkommen. Als sein Arm sie streift, kreischt sie auf und drischt auf ihn ein, ungezügelt schlägt sie auf die kräftigen Oberarme, die sie noch niemals berührt hat. Diese unheimlichen Muskelpakete! Sie schnappen plötzlich zu und umfassen grob ihre schmale Taille.

Wolfram zieht sie an sich heran, und seine Phantasie wandert über die Haut ihres Halses. «Wieder, wieder komm!!», singt er, und Speicheltröpfchen sprenkeln ihr Gesicht.

Yvonne reißt den Kopf mit einem verzweifelten Ruck zur Seite, und ihr Magen eilt ihr zu Hilfe. Eruptionsartig ergießt sich ihr Frühstück auf die rehbraunen Sonntagsschuhe des Begleiters. Kleine braune Stücke, gemischt mit trübem Rot-Orange, breiten sich auf dem blank polierten Leder aus.

Wolfram erstarrt. Ein, zwei Sekunden lang verliert er die Kontrolle, seine Arme fallen von ihr ab, und er blickt reglos auf seine Schuhe. Yvonne fährt sich mit dem Ärmel ihrer hellblauen Sommerbluse über den Mund, zieht die beigen Sandalen mit den filigranen Absätzen aus und packt einen mit jeder Hand. Wolfram hebt gerade den Blick, als ihn der erste Schlag trifft, dann der nächste und wieder einer. Mit beiden Schuhen schlägt sie auf ihn ein, auf seinen Kopf, auf Schultern, Hals und Oberarme, völlig wahllos, bearbeitet ihn mit der geballten Energie, die ihrem zierlichen Körper zur Verfügung steht. Wolfram hält sich beide Arme schützend vor Gesicht und Oberkörper, während Yvonne die vielleicht einzige Sekunde nutzt, die sich ihr bietet, um die Freiheit zu suchen. Ein letzter Schlag auf Wolframs Brust, und schon jagt sie in langen Schritten den Hügel hinauf zum Wald. Die Sandalen in der Hand, eine rechts, eine links, versucht sie, Geschwindigkeit zu errudern, rennt barfuß über den Wanderweg, trotzt den spitzen Steinen, die überall auf dem Boden liegen, spürt nicht, wie sie sich in ihre Fersen bohren, bemerkt nicht, dass sie beinahe auf eine Blindschleiche tritt. Sie hat nur eine Chance – schneller zu sein als ihr Verfolger. Und sie weiß nicht, wie schnell er ist. Yvonne weiß nur eins: Sie muss auf dem unbefestigten Weg geschätzte zwei Kilometer vorankommen, in den Wald laufen, immer geradeaus, bis sie den Bohlenweg erreicht, der nach rechts abbiegt und sie nach weiteren drei Kilometern zur Waldgaststätte bringt. Dort wird jemand sein, dort wird man ihr helfen, denn in die beliebte Hütte zieht es im Sommer Scharen von Ausflüglern. In Gruppen, in atmungsaktiven Thermojacken und derben Trekkingschuhen, mit denen man den Mount Everest bezwingen könnte, traben sie am Moor entlang, singen, lachen, witzeln und erfreuen sich an der Wildseeidylle, sehen nur, wie sich die Wasseroberfläche sanft kräuselt. Sie sehen nicht den Abgrund, der sich darunter auftut. Nur Yvonne wird ihn erahnen – er wird alles sein, was sie wahrnehmen kann, wenn sie am See vorbeihechtet. Doch noch ist sie weit, weit entfernt.

Sonntag, 4.9.2016

Der frühe Vogel jagt seinen ersten Wurm

Schmälzle steht am XXL-Fenster seines XXL-Wohnzimmers und schaut auf weiße Wattewolken, die über dem Sommerberg ihr Spektakel aufführen. Fluffigen Federn gleich umhüllen sie die Tannenwipfel, bedecken sie erst vorsichtig, zaghaft, dann mutiger, um sie schließlich komplett zu bedecken und verschwinden zu lassen. Dann lösen sie sich auf, als hätte es sie nie gegeben, bevor sich die Buchen, Tannen, Fichten, Kiefern von der nächsten Wolke einlullen lassen.

Verschwinden, genau das will Schmälzle auch, der Schock sitzt ihm in den Knochen. Für Claudia hat der Umzug nach Bad Wildbad Sinn ergeben, sie ist nun Oberärztin an der renommierten Rommel-Klinik. Er hat sich so für sie gefreut und ist begeistert gewesen von der Vorstellung eines lauschigen Kurorts samt Wald zum Joggen direkt vor der Haustür. Auch gibt es hier einen gigantischen Bikepark mit iXS-Downhill-Strecke für ihn und Sam, ein legendäres Thermalbad für Claudia, eine Stadtbahn nach Karlsruhe für seine Adoptiveltern, die nicht mehr so gerne im Stau stehen. Und jetzt das.

Er schlürft einen Reismilch-Macchiato und ist froh, dass Claudia seinen Gedankenfilm unterbricht. Zehentrenner aus Plüsch an den Füßen, eine giftgrüne Maske um Mund und Nase, kommt sie summend aus dem Schlafzimmer. Vielleicht war es richtig hierherzuziehen, so entspannt hat sie lange nicht mehr gewirkt.

Zielstrebig steuert sie die Küche an. «Ich mach Frühstück!», spricht es aus dem Gurkengrün, und Schmälzle nimmt die Spuren der Zehentrenner auf.

«Pfannkuchen, Just?», fragt sie.

Seine Nasenflügel setzen sich in Bewegung.

«Ich brate echten Schwarzwälder Schinken dazu. Für mich und Sam», sinniert sie. «Weckst du ihn?»

«Gibt es keine Biodinkelflocken mit frischem Apfelmus und Rosinen?» Seine Nasenflügel haben sich zu ihrer maximalen Breite ausgedehnt. «Und warum soll ich Sam wecken? Heute ist Sonntag!»

«Ich habe mir eingebildet, einen Kerl geheiratet zu haben.»

Claudia öffnet den Kühlschrank. Schmälzle späht über ihre Schultern in das weiße Loch, das prall gefüllt ist mit dreistelligen Nummern, die je ein E zum Vorzeichen haben, Stabilisatoren, Emulgatoren und gemeine Backtriebmittel. Er legt die Stirn in fünf präzise übereinander platzierte Falten. Als hätte er die Götter beschworen, ihn von den Versuchungen der bunten Warenwelt zu befreien, vibriert das Handy in seiner Sporthose.

«Harald», ruft er Claudia zu. Und stellt fest: «Ich muss in die Wirtschaft, Schatz.»

«Du frühstückst in der Wirtschaft?», wundert sich Claudia.

«Harald will mich sehen.»

«Am Sonntag?»

«Keine Ahnung, was es gibt.»

«Biodinkelflocken mit frischem Apfelmus und Rosinen sicher nicht.»

«Wer weiß.»

«Und die Radtour mit Sam?»

«Du fährst nicht auf den Trail mit mir?» Ihr Sohn hat sich barfuß ins Wohnzimmer geschlichen. In einer gepunkteten Schlafhose und einem T-Shirt des US-Rappers 21 Savage steht der Zehnjährige, noch ein wenig trunken vom letzten Traum, vor Schmälzle.

«Später, Sam, sorry. Ich muss ermitteln.»

«Ohne Abschied?», fragt Claudia.

Schmälzle küsst die Gurkenmaske flüchtig, ignoriert sein schlechtes Gewissen und eilt dem Ausgang entgegen. Lässig lässt er die Haustür ins Schloss fallen, schnappt sein Bike und macht sich auf zum Downhill ins Zentrum. Der raue Wind weht ihm ins Gesicht, und seine Lungen nehmen den Sauerstoff gierig auf. Hier, wo die Ozonwerte weit unter der Grenze von hundertzwanzig Milligramm pro Kubikmeter liegen, hat das etwas Erhabenes.

 

Als er kurz darauf sein Stahlross gegen die Blumentröge lehnt, die vor der Wirtschaft stehen, schwappt ihm eine Überdosis heile Welt entgegen. Das Flüsschen plätschert lieblich vor sich hin, in der Sonntagsluft schwirrt, sirrt, surrt und summt es. Ein paar Frühpromenierer schlendern an ihm vorbei.

Schmälzle öffnet eine dunkle Holztür mit getöntem Glaseinsatz und lässt mit Geranien geschmückte Tische unter ausladenden Sonnenschirmen rechts wie links liegen. Nach ein paar Stufen passiert er die Lobby und biegt in die Gaststube ab. Fünf Männer und Frauen fortgeschrittenen Alters sitzen beim Frühschoppen am Stammtisch. Am Tisch gegenüber hat sich ein einzelner Mann tief über einen gigantischen Teller gebeugt. Zwei Bedienungen unterhalten sich am Tresen. Durch milchige Scheiben dringt wenig Tageshelle in den Raum. Unzählige Lampenschirme baumeln von schweren Ästen und hüllen die Tische in heimeliges Licht. Es riecht nach hohen Cholesterinwerten.

Schmälzle steuert den einsamen Gast an. Es ist Scholz, der in eine braune Polsterbank versunken ist und sich über eine riesige Portion Rührei hermacht. Er nickt dem Kollegen zu.

«Gefrühstückt?»

«Verweigert.» Schmälzle nimmt auf einem Stuhl Platz. «Zu viel Fett, zu viel Speck.»

«Hört sich gut an.» Scholz widmet sich dem nächsten Bissen, in den er einen Brocken Schwarzbrot wirft.

«Was gibt’s?»

Der Kollege schiebt ihm die Speisekarte rüber. Schmälzle studiert die Seiten. Mit jeder Zeile, die er überfliegt, mutieren seine Augen zu schmaleren Schlitzen. Als er auf der finalen Seite mit den Schnäpsen angelangt ist, lassen sie nur noch Blitze hindurch.

«Es geht um die Enzkübel», sagt Scholz.

Schmälzle schlägt die Speisekarte zu. «Du hast mich wegen dieser idiotischen Kübelsache vom Familienfrühstückstisch weggeholt?»

Scholz spricht unbeirrt weiter: «Wir haben eine Leiche gefunden. Genau da, wo man die Kübel im Wasser geborgen hat.»

«Geht doch!» Schmälzles Miene hellt sich auf. Er wendet sich der herannahenden Bedienung zu: «Einen Teller Dinkelflocken, aber Bio, mit Apfelkompott. Und Rosinen, bitte.»

«Hammer net», sagt die Bedienung, zeigt auf die Speisekarte und ist wieder weg.

«Der Erwin Müllerschön», sagt Scholz und widmet sich wieder seinem Frühstück.

«Ja, und?»

«Dem gehört eines der vielen Ladengeschäfte. Er hat den Fall mit den Enzkübeln gemeldet.»

«Und?»

«Heute Morgen klingelt der an meiner Haustür. ‹Da schwimmt einer unter dem Lindenbrückle, direkt am Rand, sodass man ihn fascht net sieht›, sagt er. ‹Soll er doch›, sag ich. ‹Wie ein toter Mann›, sagt er. ‹Nur wie oder tot?›, sag ich. ‹Weiß net›, sagt er, ‹aber der bewegt sich nemme und schwätzt nix. Weil’s Gsicht ins Wasser zeigt, nach unten.› Sunny side down, Schmälzle.»

«Wie beim Spiegelei.» Gutes Stichwort, denn die Bedienung steht wieder neben Schmälzle und wippt vor und zurück. «Haferflocken?», fragt er, ohne auf eine Antwort zu warten.

«Den Mann muss in der Nacht einer in den Fluss geworfen haben, schließlich ist keiner so blöd, freiwillig in die Enz zu hüpfen, die ist auch im Sommer eisig kalt. Vielleicht ein Aushäusiger», doziert Scholz weiter, «die Haare sind lang, weit über die Schulter hängen sie dem, und das T-Shirt, total fleckig, und die Jeans: heavy used.»

Die Bedienung nutzt die Gunst der Atempause und sagt: «I könnt Ihne feine Eier mache, mit frischem Schwarzwälder Schinke!» Sie scheint sich daran zu erfreuen, den Gast mit einem regionalen Gericht zu beglücken, und wartet offensichtlich auf den Moment, in dem dieser realisiert, dass ihm hier das Paradies droht.

«Haben Sie nichts, für das kein Regenwald gerodet, kein Artensterben vorangetrieben und die Kohlendioxidbalance nicht aus dem Gleichgewicht gebracht wurde?»

Die Bedienung schaut irritiert von Schmälzle zu Scholz. Zurück. Und gleich noch mal.

«Lachsbrötchen?», schlägt sie vor.

«Vegan», sagt Schmälzle und schaut die Frau an, die mit einem Stift Herzchen auf ihren Block kritzelt, die sie sofort wieder durchstreicht.

«Hajaa …», sagt sie langsam. «Butterbrezel hammer au. Oder a Marmeladenbrot.»

«Gerne. Aber die Marmelade bitte ohne Zucker.»

Die Bedienung fixiert Schmälzle, schnappt sich die Karte und verduftet.

«Und weiter?» Schmälzle wendet sich wieder dem Kollegen zu.

«Wie, ‹und weiter›?»

«Wo ist der Tote jetzt?»

Scholz blickt Schmälzle verwundert an. «Na, unter dem Lindenbrückle.»

«Harald!» Schmälzle springt auf und rennt zur Tür.

Dienstag, 13.9.2016

Die Schwarzwälder Kirschtorten sind verdaut

Sie hat ihn abgehängt. Vorläufig. Doch der Boden ist voll kleiner Steine, die sich in ihre nackten Fußsohlen bohren. Auch wachsen rechts und links des Weges stachlige Sträucher – Heidekrautgewächse wie Heidelbeer-, Moosbeer- und Rauschbeerbüsche. Wenn sie dem Geröll ausweicht, tauscht sie das eine Übel gegen ein anderes ein. Immer wieder hält sie kurz inne, zieht Stacheln aus ihrer Haut und tupft das Blut mit dem Taschentuch ab. Sie hat versucht, in den Sandalen weiterzukommen, doch die schmalen Absätze haben sie beim Laufen umknicken lassen. Zweimal. Der Schmerz war so groß, dass sie eine Weile nur humpeln konnte. Dann hat sie das nutzlose Schuhwerk ausgezogen und ins Gebüsch geworfen.

«Wenn ich in dem Tempo weitermache, hat er mich, bevor ich den Wildsee erreiche», murmelt Yvonne vor sich hin. Mit sich selbst zu sprechen, besänftigt sie ein wenig. Sie versucht, schneller zu laufen, aber es will ihr nicht gelingen. Permanent rufen ihre Füße: «Halt an! Setz dich auf den weichen Waldboden! Heul so lange und laut, bis einer kommt und dich in die Arme nimmt!» So wie früher, ganz früher, es ist so lange her, sie kann sich kaum erinnern, dass man sie in den Armen gewiegt hat. Die Mutter war es nicht, denn die hatte andere Dinge im Kopf gehabt, als ein Kind zu herzen.

Yvonne zwingt sich weiter. Sie verbietet sich, stehen zu bleiben und nach ihrem Verfolger zu sehen. Sie muss an Lots Frau denken, die zur Salzsäule erstarrt ist, weil sie trotz des Verbots der Engel zurückgeschaut hat. Sie wird es nicht aushalten, dem Verfolger ins Gesicht zu sehen, will dem Mann, für den sie so viele Dienstage geopfert hat, nie wieder in die Augen blicken.

Yvonne erinnert sich, wie sie ihn zum ersten Mal in der psychiatrischen Klinik abgeholt und der Professor lange ihre Hand geschüttelt hat. «Das ist schön, Frau Lauer», hat er gesagt, «dass Sie als junge hübsche Frau, die einen kräftigen, gesunden Burschen an ihrer Seite haben könnte, mit einem unserer Patienten ausgehen.»

«Wir haben das im Kirchenkreis beschlossen», hat sie ihm erklärt. «Jeder übernimmt eine Aufgabe, eine gute Tat, die ihn Demut lehrt. Ich habe erfahren, dass Wolfram keine Angehörigen und keine Freunde hat, die mit ihm spazieren gehen.»

«Ja, gehen Sie ruhig mit ihm raus an die frische Luft. Da kommt er auf andere Gedanken», hat der Professor gesagt.

Was das für Gedanken waren, hat sie nicht gefragt.

Sie lauscht in den Himmel des späten Nachmittags und versucht, Atemgeräusche auszumachen, Schritte – Zeichen, dass Wolfram hinter ihr ist. Sie kann ihn fühlen, ganz nah, die Vorahnung breitet sich in ihrem Körper aus, nistet sich in ihren fünfundzwanzig Billionen Blutkörperchen ein und fährt wie eine Welle durch ihre 780000 Kilometer Nervenfasern.

Trotzdem gönnt sich Yvonne eine kurze Pause. Ein paar Sekunden lang innehalten, bevor sie die letzten vierhundert, fünfhundert Meter Geröll bewältigt und in den Bohlenweg abbiegt, der sie mühelos in die Freiheit tragen wird. Auf dem warmen Holz wird es ein Leichtes sein, die wenigen Kilometer barfuß zurückzulegen. Sie wird hüpfen, ja, tanzen will sie auf dem Weg zur Waldgaststätte und dabei fröhlich singen. – Nein, singen wird sie nicht. Auf keinen Fall.

Sonntag, 4.9.2016

Die Mittagstische füllen sich

«Hätte das nicht bis morgen Zeit gehabt!», murrt Scholz, der – nachdem er der Bedienung ein «Petra, schreib’s an!» zugerufen hat – Schmälzle zum Lindenbrückle gefolgt ist. Der Kollege steht mitten auf der Brücke, die so schmal ist, dass sie nur ein Auto in der Breite und maximal fünf in der Länge fasst. Breitbeinig, den Oberkörper auf dem Geländer abgelegt, neigt sich Schmälzle weit nach vorn und stiert ins Wasser. Die Enz plätschert munter vor sich hin, als wollte sie dem Toten eine Sonntagsmesse lesen.

«Man sieht fast nichts», sagt Schmälzle.

«Hab ich doch gesagt. Der Müllerschön hat gemeint, er kann sich schon denken, warum man den düsteren Hallodri nachts in den eiskalten Fluss geworfen hat.»

«Warum Hallodri?», will Schmälzle wissen und beugt sich noch weiter über das Geländer. Der Tote hat sich in einem Ast verfangen, der kahl ist. Dennoch ist der Mann mit Pflanzen bedeckt, sodass man ihn kaum sehen kann, obwohl das Wasser an der Stelle nicht tief ist. «Was ist das für Grünzeug um den rum? Das liegt sogar auf ihm drauf.»

«Wie es aussieht, sind das Kräuter», sagt Scholz, der nicht weniger breitbeinig neben Schmälzle steht, sodass sie die Brücke quasi vollumfänglich einnehmen.

«Was macht einer mit so vielen Kräutern im Fluss?»

«Das ist nichts Besonderes bei uns, Kraut und Beeren sind die zweiten und dritten Vornamen von Wildbad. Bei uns gibt es faszinierende Kräuterwanderungen. Wenn du willst, könntest du hier sogar deinen Wildkräuterführerschein machen, Schmälzle.»

«Wildkräuterführerschein …»

«Dann nehm ich dich eben zum nächsten Heidelbeerfest mit. Auch wenn die deutsche Heidelbeerkönigin aus dem Höllengebirge kommt – das ist eine Riesensauerei. Bei uns gibt’s so viele krumme Rücken vom Pflücken, dass unsere Orthopäden fürstlich davon leben können – da hätten wir uns eine Heidelbeerkönigin verdient!»

«Und warum ist er ein ‹Hallodri›, wenn er nur in Kräutern badet?»

«Keine Ahnung.»

«Willst du die Leiche da liegen lassen? Das gibt doch einen Skandal, wenn die Kurgäste hier vorbeikommen!»

«Du hast recht, Schmälzle! Gegenüber ist auch noch das Altersheim, die trifft der Schlag, wenn sie einen Toten in unserem Flüsschen sehen. Wir rufen den Leichenwagen.»

«Wäre die Rechtsmedizin nicht eher angebracht?»

«Wir können nicht wegen jedem Selbstmord die Rechtsmediziner bemühen, Schmälzle.»

«Keiner wirft einen Sack Kräuter in den Fluss, um sich anschließend darin zu ertränken, Harald.»

Scholz schaut Schmälzle an. Dann nickt er. «Wir sollten erst mal nachsehen, ob er überhaupt tot ist.»

Schmälze rastet aus. «Das hast du noch nicht gecheckt? Ich dachte, der Tod ist längst festgestellt worden!»

«Der Erwin ist Gemischtwarenhändler, Schmälzle, kein Arzt.»

«So einen Dilettantenverein hab ich noch nie gesehen!»

«Obacht, Schmälze. Der Chef hier bin ich.»

Einige Passanten bleiben stehen und schauen belustigt den beiden wild gestikulierenden Herren zu, die offenbar zwei, drei Frühschoppen zu viel zu sich genommen haben.

Schmälzle marschiert die Brücke auf und ab und ab und auf. Er motzt vor sich hin. Eine lange Weile. Als Scholz seinen Kopf umfasst und mit einem Ruck zur Seite schiebt, bis es im Halswirbel knackt, der vom vielen Gucken wohl steif geworden ist, sagt Schmälzle, ohne zu zucken: «Vielleicht haben wir es mit Kräuterdrogen zu tun. Gras und Koks sind von gestern. Heute stehen die Kids auf Herbal Highs. Im letzten Jahr haben synthetische Rauschmittel, die als Kräutermischung getarnt waren, unzählige Leute mit Kreislaufkollapsen in die Notaufnahme gebracht. Soweit ich weiß, hat es fünfundzwanzig Tote gegeben.»

Scholz zieht ein Taschentuch aus der Gesäßtasche seiner Hose. Er wischt sich die Schweißperlen von der Stirn. Während die Sonnenbräune aus dem gefurchten Gesicht des Polizeipostenleiters weicht, um einer vornehmen Blässe Platz zu machen, holt Schmälzle sein Smartphone aus der Bomberjacke und wählt die Nummer seiner Frau.

«Claudi! Wir brauchen dich hier. Du musst den Tod einer Wasserleiche feststellen.»

«Ganz bestimmt muss ich das nicht, Just», sagt Claudia. «Es ist Sonntag, und ich habe ausnahmsweise keinen Dienst.»

«Dann schicke einen Kollegen.»

«Habt ihr keinen Notarzt, der für solche Fälle zuständig ist?»

«Keine Ahnung. Ich zähle auf dich! Ich ruf jetzt den Staatsanwalt an.»

«Vergiss es, Schmälzle», sagt Scholz. «Der ist auf dem Golfplatz. Um diese Zeit dürfte er vier Löcher durchhaben. Vor dem achtzehnten geht er nicht ans Handy. Nie.»

«Und der Notstaatsanwalt?»

«Wegen einem, der zu lang gebadet hat, rufe ich bestimmt keinen Notstand aus.»

«Wir müssen eine Obduktion anordnen!»

«Korrekt», sagt Scholz. «Das machen wir. Morgen. Wenn wir wieder Dienst haben.» Dann dreht er sich um und geht.

Schmälzle starrt ins Wasser, und sein Blick bleibt an einer leeren Plastiktüte hängen. Aufschrift: Super-Markt.

Montag, 5.9.2016

Der Wochenend-Schlendrian ist noch im Einsatz

Als Schmälzle beim Anbinden seines Stahlrosses Scholz vor dem Polizeiposten abfängt, winkt Leonie mit der linken Hand wild aus dem Fenster. Sie deutet auf den Hörer, den sie unter das Kinn geklemmt hat. Schmälzle und Scholz stürmen in den Posten, und Leonie schaltet den Lautsprecher ein: «… keine Spuren äußerer Gewalteinwirkung. Abgesehen von ein paar Schnittwunden am rechten Handgelenk ist die Leiche unversehrt.»

«Was für Schnittwunden?», fragt Schmälzle.

«Eh, Just!», ruft es durch den Hörer. «Was treibst du in Bad Wildbad?»

«Lange Geschichte, Lothar», erklärt Schmälzle. «Erzähl ich dir, wenn wir den Fall gelöst haben.»

«Fall, was für einen Fall?», fragt Scholz und stänkert weiter: «Du hast im Alleingang die Rechtsmedizin eingeschaltet? Hast die Kollegen in Heidelberg bemüht, die am Sonntag auch Besseres zu tun haben, als in Leichen zu fleddern? Schmälzle, Schmälzle.»

«Also, die Schnittwunde stammt eindeutig von einem Messer!» Der Rechtsmediziner Lothar Meier, mit dem Schmälzle in seiner Karlsruher Zeit ständig zusammengearbeitet hat, spricht unbeirrt weiter. «Das muss eine gezackte Klinge gewesen sein. Die ist recht tief eingedrungen, die arme Sau hat vermutlich geblutet wie ein Hällisches Landschwein. Nur lebensgefährlich ist die Wunde nicht gewesen. Und es hat auch nicht unmittelbar zum Todeszeitpunkt stattgefunden, ich vermute, es ist eine ältere Geschichte. Aber, und jetzt kommt’s: An beiden Armen waren jede Menge Einstichstellen.»

«Ein Junkie», sagt Schmälzle.

«Und die Grünpflanzen?», fragt Scholz.

«Ach ja, die Grünpflanzen», sagt Lothar. «In denen hat er nicht nur gebadet, er hat auch davon genascht. Wir haben ein Viertelpfund in seinem Magen gefunden. Das müssen Küchenkräuter gewesen sein. Eine Portion Salbei, nicht viel weniger Basilikum, Petersilie und Dill. Die Liste ist aber keineswegs vollständig.» Er rate zu einer toxikologischen Untersuchung bei den Kollegen in Stuttgart. Diese würde auf Anordnung des Staatsanwalts vorgenommen werden, fügt er noch hinzu.

«Was versprechen wir uns davon?», fragt Scholz.

«Die Kräuter könnten wild gepflückt worden sein», erklärt Lothar.

«Sie meinen, es könnte sich was Giftiges daruntergemischt haben?», vermutet Leonie.

«Stimmt. Es gibt Kräuter, daran brauchst du nur lecken, und dein Höllentrip über den Jordan ist inklusive», weiß Scholz.

«Wer leckt denn an Kräutern?», fragt Schmälzle.

«Ich mach mal weiter», sagt Lothar und verabschiedet sich.

«Das Blaue Eisenkraut kann man gut und gerne mit Petersilie verwechseln», klärt Scholz auf und fügt hinzu: «Aber merkwürdig ist das schon.»

«Was ist merkwürdig?», fragt Schmälzle.

«Das mit den Kräutern.»

«Weil sich Wildbader mit Kräutern auskennen?»

«So isches Schmälzle, so isches.»

«Ein Ausländer?»

«Bekommt derart viel Sozialhilfe, dass er Kraut und Rüben im Laden kauft.»

«Haben Vorurteile gerade Saison?», fragt Leonie und gewährt einen Blick auf ihren Eins-Vierer-Diamanten. Dann nickt sie Schmälzle zu und sagt: «Vergiss nicht, wir sind auch Ausländer!»

Schmälzle hat ein Fragezeichen im Gesicht.

«Born in the DDR», sagt sie.

«Auch wenn du in Zwickau geboren bist, weißt du nicht, wie eine Mauer aussieht, Leo», sagt Scholz.

Schmälzle grinst. Kurz. Denn Scholz hat mehr auf Lager:

«Das ist ein Ritual! Aus einem fremden Land! Du hast selbst gesagt, Schmälzle: Hier irren so viele Menschen aus allen Teilen dieser Welt umher, da kann es gut sein, dass die ein Kräuterritual abgehalten haben, aus Heimatgefühlen quasi, und der Mann ist versehentlich dabei hopsgegangen.»

«Vielleicht wurde er umgebracht? Ritualmord einer aufstrebenden Subkultur?» Auch Leonie nimmt Anlauf auf ihre Hochform.

Die Ernüchterung lässt wenige Sekunden auf sich warten. Scholz spricht ein Polizeipostenleiterwort: «Leo, maile das ans Polizeipräsidium, die haben bestimmt eine Soko für Ritualgeschichten.»

«Was?» Schmälzle schlägt seine Rechte gegen die Stirn.

«Wir müssen jetzt zur Tagesordnung übergehen», sagt Scholz.

«Und wie lautet die?», erkundigt sich Schmälzle.

Leonie lacht: «Mittagessen.»

Schmälzle nimmt einen tiefen Atemzug, überlegt, holt noch einmal tief Luft, doch der Frust lässt sich nicht wegatmen. Er kann nicht anders. «Das kann nicht sein, dass wir hier einen Fall haben, um den wir uns nicht kümmern, ich kann nicht fassen, dass wir so eine Lahmarschnummer schieben, statt uns zu fragen: Wer ist dieser Tote, was hat er in der Enz verloren, und was ist das für ein Ritual, bei dem man Basilikum und Thymian einsetzt?»

«Eben drum brauchen wir eine Soko, die sich mit geheimen Ritualen auskennt», sagt Scholz.

Schmälzle schimpft leise vor sich hin.

Scholz mustert ihn lange und intensiv. «Was bruddelst du denn so!», sagt er. Dann scheint er sich zu besinnen, dass Schmälzle ja Badener ist und nicht wissen kann, dass ein Schwabe bruddelt, weil er Schwabe ist, und nicht, weil er sich wichtigmachen will. Er sagt: «Du hast es vernommen, Schmälzle: Salbei, Petersilie, Basilikum und Dill.»

Leonie öffnet das Fenster. Weit. Dann fragt sie in die dicke Luft: «Kannst du kochen, Justin?»

«Klar», sagt der.

«Kreolisch!», freut sich Scholz.

«Ich mache gerne Zucchini-Spaghetti für euch. Aber erst, wenn wir den Fall gelöst haben.»

«Das ist doch kein Fall!», sagt Scholz.

«Soße?», fragt Leonie.

«Smokey Butternut-Squash.»

«Schmälzle, wir befinden uns im Spätzle-Territorium! Dazu isst man Bratensoße. Mit einem Brocken Fleisch.»

Schmälzle lässt sich nicht beirren: «Erst will ich wissen, wer der Tote ist. In welchem Drogenmilieu er unterwegs war. Was dieser Firlefanz mit den Kräutern soll. Wer oder was ihn in die Enz getrieben hat. Dann koch ich Spaghetti für euch. Vegan und glutenfrei.»

Dienstag, 13.9.2016

Die Temperatur klettert auf knapp 30 Grad Celsius

«Das Ninchen heißt Sabinchen, das Bienchen hat ein Grübchen», reimt Wolfram stolz und versieht die Worte flugs mit einer passenden Melodie. Nur auf Wonnchen kann er sich keinen Reim machen. Warum hat sie ihn einfach stehen lassen? Ist weggelaufen? Zwei geschlagene Stunden lässt sie ihn hier schon herumirren, spielt Hase und Igel mit ihm. Warum tut sie das? Der Ärger weicht Wut, die langsam in ihm aufsteigt, sich ausbreitet und sein verwundbares Inneres ausfüllt, so sehr, dass er meint zu platzen.

Luder, denkt er, Schlampe, Pampe, dieses elendige Miststück! Kommt dich jeden Dienstag besuchen, macht dir schöne Augen, fasst dich an der Hand, streicht dir über den Kopf, kratzt den Rost von deiner Hoffnung, kotzt dir dann die frisch gewichsten Schuhe voll und lässt dich stehen. Immer wieder taucht dieses Bild vor ihm auf, wie eingefroren. Yvonne, sein Wonnchen, speit ihm das Frühstück auf die glänzenden Lederschuhe.

Wolfram verwünscht die Angebetete. Und gleich sein ganzes versautes, beschissenes Leben. Aber natürlich hat er keine Wahl. Er hat ihr alles gegeben. Große Gefühle und alle Zeit der Welt. Aber die ist jetzt verstrichen. Er wird sich endlich holen, was ihm gehört. Er wird mit ihr machen, was er mit ihr machen muss.

Der Professor hat gesagt, dass er seinen Phantastereien nicht mehr automatisch folgen muss. Dass sie kein Eigenleben führen, sondern er sie sehr wohl beeinflussen und davonjagen könne. Anschauen und ablegen wie einen Anorak, den er nicht mehr brauche, er sei schließlich Herr über seine Gedanken. Auch das hat der Professor gesagt. Immer wieder hat er mit ihm über seine Wut geredet und ihm gut zugesprochen, den Arm getätschelt, ihn angelächelt. Wolfram hat genickt, «Ja, ja» gesagt und «Nein, nein» gemurmelt und gedacht: Meine Träume gehen dich einen Scheißdreck an. Es sind meine Bilder. Sie gehören mir. So wie Wonnchen. Auch das gehört mir. Mir alleine. Und schon reimt es in ihm: «Heile, heile Segen, wer kann was dagegen?»

Dienstag, 13.9.2016

Die Kreuzotter lauert einer Bergeidechse auf

Yvonne atmet ein. Atmet aus. Lauscht in die Stille. Und hört ihn. Weit entfernt. Er schreit. Er hat die Stimme nie erhoben in ihrer Gegenwart. Aber es ist seine Stimme. So hell, ungewöhnlich für einen Mann. Sie kann die Worte nicht verstehen, aber er klingt wütend, nein, erschrocken. Wo ist er? Seit sie mit dem Onkel auf die Jagd gegangen ist, kann sie die Distanz von Geräuschen vorhersagen. Er ist höchstens dreihundertfünfzig Meter entfernt.

Bemüht, ihre Nervosität zu besänftigen, sucht sie die Gegend nach einem Versteck ab. Er kann sie nicht ausmachen, sein Sehvermögen ist nicht gut, und er weigert sich, eine Brille zu tragen. «Das steht mir nicht», hat er gesagt. Sie hatte vorgeschlagen, mit ihm Kontaktlinsen kaufen zu gehen. Wie bescheuert.

Im Abseits entdeckt sie einen weitläufigen mannshohen Busch, dicht mit sattgrünen Blättern behängt und mit Blüten übersät. Wenn sie sich zwischen die Äste zwängt, ist sie vor seinen Blicken gefeit. Aber Wolfram wird vor dem Busch stehen, lauschend, wird hören, wie sie atmet. Sie wird es nicht aushalten, ihn anzuschauen. Vor lauter Aufregung wird sie sich verraten. Ihr Herz wird so laut klopfen, dass es der ganze Wald hören kann, und Wolfram wird sie schnappen und wer weiß was mit ihr anstellen.

Sekunden sind vergangen. Yvonne hat kein Telefon dabei, keine Menschenseele scheint in der Nähe zu sein. Warum ist denn keiner unterwegs? Es hilft nur eines: Weiterlaufen.

Sie überlegt. Die Tafel mit der Aufschrift Bannwald hat sie vor einer guten halben Stunde passiert. Wandern Sie auf dem Weg Nr. 8 der Beschilderung Wildsee nach und erreichen Sie die Leonardhütte. Gehen Sie auf den Bohlen weiter zur Weißensteinhütte. Nun haben Sie die Waldgaststätte bald erreicht, hat sie gelesen. Auch Wolfram wird diese Anweisungen gelesen haben. Auch wenn er sich kaum auskennt hier oben, wird er vermuten, dass sie auf dem Weg zur Waldgaststätte ist. Jeder kennt die Waldgaststätte. Sie ist die einzige Hütte, die bewirtschaftet ist. Der Hauptweg führt direkt dort hin. Auch wenn sie hier am ehesten auf eine Wandergruppe oder einzelne Spaziergänger trifft, muss sie ihren Plan überdenken. Das Risiko, dass Wolfram sie entdeckt, ist viel zu hoch. Sie kann sich immer noch nicht erklären, warum heute niemand unterwegs ist. Der Bohlenweg, vom Schwarzwaldverein errichtet, schleust jedes Jahr fast eine Million Besucher durch die Moorlandschaft! Das Wetter ist herrlich, warum ist bloß keiner da?

Das Grübeln tröstet nicht, sie muss weiter. Den erhöhten Puls ignorieren und Distanz gewinnen. Dem Mann davonlaufen, der üble Dinge im Schilde führt. Der eben laut geschrien hat, verärgert, vielleicht aber auch ängstlich, ja verzweifelt geklungen hat. Wer weiß, womöglich hat er erkannt, dass er zu weit gegangen ist, vielleicht spürt er Reue. Yvonne ist so müde. Vielleicht hat er nach ihr gerufen, um sie um Verzeihung zu bitten, wartet auf sie, um sich für sein schlechtes Benehmen zu entschuldigen. Oder er ist verletzt und braucht Hilfe?

Nein, sie darf diese Gedanken nicht zulassen, nicht die brave Yvonne geben. Auch wenn sie diese Rolle spielt wie ein Profi, hat sie ihr nie genützt. Wolfram ist nicht der, als den der Professor ihn ausgegeben hat.

Sie muss schneller vorankommen. «Aber die Füße schmerzen», klagt das Mädchen in ihr. «Wenn du nicht weitergehst, werden nicht nur die Füße schmerzen», antwortet ihr Vernunftzentrum. «Er wird nicht so schnell aufgeben. Er wird dich finden, packen, auf den Boden werfen, direkt hier im Gestrüpp. Worauf wartest du!»

Es ist so heiß! Yvonne reibt sich mit der Hand die Schweißperlen von der Stirn. Dann zieht sie ihre Sommerbluse aus und fächelt sich mit dem zarten Chiffon Mut zu. Dass sie nur noch ein winziges Spaghetti-Shirt und ihren bunten Sommerrock trägt, ist jetzt egal. Sie muss los! Sie will laufen, fliegen, zur Waldgaststätte, um dort ihre Freundin Aline anzurufen. Der Wirt oder einer der zahlreichen Besucher wird ein Telefon haben. Aline wird sie abholen, mit ihrem alten Suzuki wird sie über die Enztalstraße zum Lautenhof und am Rollwasserbach entlang zu der lauschigen Hütte im Wald fahren, sie wird Yvonne unterhaken, sie in ihre kleine Wohnung am Meisternhang bringen, ihr einen Eistee zubereiten und ihr zuhören, die halbe Nacht.

Dass es mitten im Wald vielleicht keinen Empfang gibt? Auf die Idee darf sie nicht kommen. Dass die Gaststätte um achtzehn Uhr die Pforten schließt? Das kann sie nicht wissen. Woher auch.