Schwarzwälder Verschwörung - Linda Graze - E-Book

Schwarzwälder Verschwörung E-Book

Linda Graze

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Beschreibung

Keiner ruht, alles wacht ... Schlaflos im Schwarzwald! Kurstadt außer Kontrolle: Um die «Schlafschafe» zu wecken, besetzen Ruhestörer den idyllischen Kurpark von Bad Wildbad. Bald hinterlassen sie ihren Unrat im Rosengarten, ziehen lärmend durch die Fußgängerzone, krakeelen vom Baumwipfelpfad. Als immer mehr Leute aus der S-Bahn stolpern, dämmert es Justin Schmälzle und seinen Kollegen: Sie haben es mit Aluhutträgern und Chemtrailverschwörern zu tun! Dann werden drei Schafe tot aufgefunden. Und ein Mensch. War das Mord? Wann ist endlich wieder Ruhe? Und warum um alles im Ländle weiß die Putzfrau mehr als die Polizei? Das Team um Kommissar Schmälzle schläft nicht mehr. Bis alle Fragen geklärt sind. Hochaktueller Stoff für einen hintergründigen Regiokrimi: der 3. Band um den unverwechselbaren Kommissar Justin Schmälzle – den der Zufall (und die Liebe) in das nur vermeintlich idyllische Bad Wildbad brachte.

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Seitenzahl: 461

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Linda Graze

Schwarzwälder Verschwörung

Kommissar Justin Schmälzle ermittelt

 

 

 

Über dieses Buch

Keiner ruht, alles wacht … Schlaflos im Schwarzwald!

 

Kurstadt außer Kontrolle: Um die «Schlafschafe» zu wecken, besetzen Ruhestörer den idyllischen Kurpark von Bad Wildbad. Bald hinterlassen sie ihren Unrat im Rosengarten, ziehen lärmend durch die Fußgängerzone, krakeelen vom Baumwipfelpfad. Als immer mehr Leute aus der S-Bahn stolpern, dämmert es Justin Schmälzle und seinen Kollegen: Sie haben es mit Aluhutträgern und Chemtrailverschwörern zu tun! Dann werden drei Schafe tot aufgefunden. Und ein Mensch. War das Mord? Wann ist endlich wieder Ruhe? Und warum um alles im Ländle weiß die Putzfrau mehr als die Polizei?

Das Team um Kommissar Schmälzle schläft nicht mehr. Bis alle Fragen geklärt sind.

 

Die Presse über «Schmälzle und die Kräuter des Todes» und «Schwarzwälder Morde»:

 

«Wer Bad Wildbad kennt, sieht schnell, wie akribisch Linda Graze recherchiert hat. Da stimmt jedes Detail!» Schwarzwälder Bote

 

«Ein unterhaltsamer Regionalkrimi, spannend und im heiteren Linda-Sound.» Die Oberbadische

 

«Unterhaltsamer Krimi mit Lokalkolorit, der sich durch seinen Ausnahme-Kommissar angenehm vom Regiokrimi-Einerlei abhebt.» Apothekenkurier

 

«Ein herrlich unangepasstes Buch, bei dem haitianische Wurzeln auf Schwarzwald-Dörflichkeit und schwäbische Originale auf Zen-Buddhismus treffen.» Reisetravel

Vita

Linda Graze verbrachte ihre Kindheit im Nordschwarzwald. Nach einer Ausbildung zur Dolmetscherin beschloss sie: nicht die Texte anderer übersetzen, lieber selber schreiben! Sie wurde Werbetexterin und arbeitete für die großen Agenturen des Landes, von München über Hamburg bis Frankfurt, schrieb Kampagnen für Kameras und Kosmetik, textete für Sahnebonbons, Schokoriegel und Schrauben. Parallel zum Schreiben betreibt sie eine Recruiting-Agentur für die Werbebranche in Stuttgart. Mit «Schmälzle und die Kräuter des Todes» legte Linda Graze ihr furioses Krimidebüt vor, rasant, sehr lustig, mit einem unverwechselbaren Ton. «Schwarzwälder Verschwörung» ist der dritte Band um Justin Schmälzle: Veganer, Badener mit haitianischen Wurzeln, ehrgeiziger Kommissar von Bad Wildbad.

«Kaum lässt oiner an Furz, isch er scho im Internet.»

Sabine Meichle

Am Tag, den er am liebsten aus seinem Leben streichen würde

Auf einmal ist es still. Totenstill. Was hat er getan? Er blickt auf seine Hände. Sie sind voller Blut. Hektisch reibt er sie an seiner Hose ab, das Kakigrün verfärbt sich in ein dreckiges Braun, doch seine Handflächen sind immer noch rot. Wasser, er muss ans Wasser, der See! Da vorne liegt doch ein See, aber er kommt nicht ran, überall sind Steine, da ist ein Zaun, er muss drüberklettern, er wird stolpern, oh Gott, ist ihm schlecht. Zum tausendsten Mal blickt er auf diesen Körper, der reglos vor ihm sitzt. Er fasst nach seiner Schulter. Warum bewegt der sich denn nicht? Wieso ums Verrecken steht er nicht einfach auf, sagt: «Hey, doof gelaufen, aber lass mal, wir vergessen das einfach, du schuldest mir was», und grinst? Der grinst nicht mehr. Nie mehr. Mann! Er tritt ihm mit dem Fuß gegen das Schienbein, ganz sachte, es zuckt kurz, dann sitzt der Typ wieder völlig erstarrt in diesem bescheuerten Stuhl, sagt keinen Ton, stellt sich tot, dieser Idiot, warum tut der das, wieso macht der einen auf leblos? Ohne Leben. Er hat es ihm ausgehaucht. Hat er das? Nein, das war er nicht. Bullshit. Nie im Leben war er das.

Donnerstag, 14. Oktober

Das Fernsehprogramm ist mies, die Netflix-Serie ausgeguckt, der Thriller fertig gelesen. Claudia ist in der Klinik, und Sam schläft, zumindest brennt kein Licht im Zimmer des Dreizehnjährigen. Auch Justin Schmälzle ist in dieser Nacht außer Bereitschaft. Er schleicht leise über den Flur. Lautlos öffnet er die Haustür und zieht sie sachte hinter sich zu. Dann rückt er die Stirnlampe auf seinem Kopf zurecht und tritt in die Finsternis. Der Strahl der Lampe malt kleine Lichtpunkte in die Schwärze. Er muss nur den Punkten folgen. Und alles ist gut. Dass er sich nach der Idylle und der Stille, die ihn umgeben, bald sehnen wird, kann er nicht im Geringsten ahnen. Wie auch. Der Mensch kann Momente nicht vorausahnen. Er kann noch nicht einmal Vergangenes festhalten, in ein Einmachglas stecken und rausholen, wann ihm danach ist. Sogar einer wie Schmälzle merkt erst hinterher, wie gut es ihm vorher ging.

Im Aufwärmtempo nimmt er den schmalen Pfad durch den Garten hinauf zum Wald. Frische, kühle Luft steigt in seine Nasenlöcher. Er atmet tief ein, saugt den Sauerstoff mit dem hohen Ionengehalt gierig auf. An der guten Schwarzwaldluft kann er sich nicht satt atmen. Niemals. Er nimmt den Weg, der in Zickzacklinien von seiner Haustür zum Wald führt. Überall tritt er auf Geröll. Die losen Steine wollte er schon so lange beseitigt haben, dass er sie kaum mehr wahrnimmt. Als er das Holztörchen öffnet, das seinen Garten vom Wald trennt, hört er es quietschen. Es ist morsch. Hängt schief in den Angeln. Er wird sich darum kümmern, schon vor Wochen hat er sich das vorgenommen. Nachdem er sich um den Austausch der Heizung, die Renovierung der Einliegerwohnung und um die Sanierung der Terrasse gekümmert hat. Der Bungalow, den er vor wenigen Jahren im Liebesrausch gekauft hat, als Domizil für seine Familie, als Zeichen, dass sie endlich angekommen sind, erweist sich als Dauerbaustelle. Nur die Aussicht bedarf keiner Korrektur. Sie ist sagenhaft. Dieser Blick auf das Kurstädtchen, das schlafend unter ihm liegt, von Wald beschützt, der es von allen Seiten einrahmt, ist einmalig. Alles wäre gut. Hätte es sich nicht in sein Leben geschlichen, dieses neue Problem, das ein altes ist. Das ihn die ganze Nacht nicht ruhen ließ. Von links nach rechts wälzte er sich, von rechts nach links. Wie er es dreht und wendet, es lässt sich nicht reparieren. Er kann es weder sanieren noch austauschen – er kann nicht einmal damit umgehen. Schmälzle muss einen klaren Kopf bekommen. Sich sortieren. Dafür eignet sich nächtliches Joggen perfekt.

Er pustet seine Hände warm, reibt sie aneinander, dann schüttelt er sie aus. Es ist kalt in dieser Oktobernacht, die Temperatur ist bereits in den einstelligen Bereich gefallen. Über seiner Jogginghose trägt er nur ein dünnes Shirt. Er hätte eine Jacke anziehen sollen. Hier im Nordschwarzwald ist es stets vier, fünf Grad kühler als in Karlsruhe, wo er früher gewohnt hat. Im Sommer höchst angenehm, aber jetzt im Herbst … Lässig trabt er den asphaltierten Weg entlang, am dichten Wald vorüber, der rechts von ihm den Hang einnimmt. Wie die Kulisse für einen Heimatroman sieht das aus. Nur düsterer. Bedrohlich, fast. Von manchen Bäumen steht nur noch das Gerippe da. Sie sind verbraucht, alt, ausgetrocknet. Als wollten sie ihn warnen, ihm zurufen: «Pass auf, Schmälzle. So kann es dir auch ergehen! Das Schicksal schlägt zu, wenn du glaubst, alles im Griff zu haben. Von heute auf morgen, ach was, von einer Minute auf die andere kann dir alles entgleiten. Du hast es oft genug im Einsatz gesehen. Lass das nicht zu, hörst du?» Schmälzle hört im Moment gar nichts. Nur hier und dort raschelt es im Unterholz. Er ist derart in Gedanken, dass er die Umgebung kaum wahrnimmt. Er hat kein Auge für die Lichtblicke, die hoch über ihm in den Nachthimmel getupft sind. Myriaden von Sternen, die, winzigen Glühwürmchen gleich, den Höhenzug bewachen.

Am Tag, den er am liebsten aus seinem Leben streichen würde

Nur langsam kommen die Bilder wieder. Vage. Verschwommen. Sie laufen vor ihm ab wie ein mehrfach gerissener Film, der grob zusammengeschustert wurde. Der Mann, der vor ihm sitzt, hat den Mund leicht geöffnet, seine Augen sind starr. Ihm ist, als röchelte der, bevor er zusammensackte. Warum röchelte dieser Typ, was ist mit dem? Er kann ihm nicht ins Gesicht sehen, er sieht sowieso nur Nebel, in seinem Kopf ist alles Watte, als habe jemand einen Schleier vor das geschoben, was geschehen ist. Nur ein Bild steht vor ihm, wie eingefroren. Etwas glänzt, es ragt diesem Typen aus der Brust, er muss immer wieder hinschauen. Wieder fällt sein Blick auf seine Hände. Sie zittern. Und seine linke Hand … sie ist immer noch rot … wie Blut. Wieso … das kann doch nicht sein! Nein. Er war das nicht, er hat das echt nicht angefasst.

 

Er ist immer noch alleine. Um 1.45 Uhr ist kein Walker, kein Hundegassiführer, kein Waldläufer unterwegs. Man könnte meinen, die Menschen fürchten sich im Dunkeln, glauben, die Finsternis verschlucke sie, ziehe sie hinab in den Strudel des Unsichtbaren, wo die Lügen des Lebens verborgen sind, vergraben, fern der verstohlenen Blicke und neugierigen Fragen. So gespenstisch kommt ihm diese Nacht vor, geradezu mysteriös ist das heute.

Schmälzle konzentriert sich aufs Laufen. Langsam trabt er weiter. Seine Joggingstrecke führt kilometerlang durch den Wald. Dreht er den Kopf nach links, sieht er die schlafende Kurstadt, von steil aufsteigenden Hängen umgeben. Von oben betrachtet muss sie aussehen, als habe ein Riesenwesen mit der Axt eine Schneise in den Wald geschlagen, eine schmale, lang gezogene Ellipse, die es mit Häusern, Gärten und Garagen gefüllt hat. Dann hat es sein Werk betrachtet und den Kopf geschüttelt. «Da fehlt noch was», muss das Riesenwesen gesagt haben. «Ein Flüsschen!» Und dieses schlängelt sich jetzt durch die Schneise und teilt sie in zwei Hälften. Als Leitsystem, als Navigation, die dem Besucher erklärt, «bin ich linker Hand von dir, kommst du in den Kurpark und von dort nach Norden. Siehst du mich zu deiner Rechten, führe ich dich ins Städtchen rein, von da zum Polizeiposten, zum Bahnhof und danach in den Süden.»

Die nächsten Kilometer verlaufen fast kurvenlos, perfekt, um seine Gedanken in Fahrt zu bringen. «Die Sache», er hat sie so genannt, als sei eine leibliche Mutter eine Sache, sie lässt ihm keine Ruhe. Wieder hat sie ihre Ankunft angekündigt, doch diesmal hat sie ihren Besuch nicht, wie üblich, abgesagt. Die ganze Woche schon geht ihm «Die Sache» nicht aus dem Sinn.

Warum muss seine Leibliche ausgerechnet jetzt bei ihm auftauchen, und was meint sie damit: ihn besuchen? Hat sie ein Kaffeekränzchen im Sinn, plant sie, übers Wochenende zu bleiben, oder ist das Ende offen? Was soll er davon halten? Claudia kann er sein Leid nicht klagen. Seine Frau hat Stress, ungezählte Nachtschichten im Krankenhaus, jede helfende Hand wird gebraucht. In ihrer leitenden Position als Oberärztin kann sie von einer 40-Stunden-Woche nur träumen. Er sieht sie kaum noch. Und Sam? Sein Sohn zieht Computerspiele einem Gespräch mit seinem Vater vor, insbesondere wenn es über zwei Sätze hinausgeht. «Was, ich hab noch eine Oma?», hat er gesagt. «Cool!» Soll er seinem Sohn erklären, dass es nicht cool ist, sein Kind zu verlassen, irgendwo abzulegen, einfach zu vergessen und irgendwann zu sagen: «Ups, da war doch was?» Es wurmt Schmälzle. Nicht wissen, nicht kontrollieren, nicht planen können befindet sich außerhalb seiner Komfortzone. Damit kann er schwer umgehen. Er kann es nur wegatmen. Wegatmen hilft. Manchmal.

Der herbe Duft der Tannen steigt in seine Nase. Es riecht nach feuchtem Holz. Schmälzle liebt diesen Geruch, der nachts unglaublich intensiv ist. Tief nimmt er den Sauerstoff in sich auf, lässt ihn seinen Brustraum weiten, dann hält er den Atem an. Zählt. Eins, zwei, drei … und weiter sechs, sieben, acht. Laut hörbar stößt er die Luft aus und atmet ruhiger. Joggt gemächlicher. Im Tempo 3:10 min/km. Unter seinen Möglichkeiten. Abermals hält er die Luft an und gibt sie mit einem laut hörbaren Huh! huh! huh! ab. Danach schließt er die Augen. Endlich. Jetzt ist er im Moment, ganz bei sich, nur dieser Augenblick zählt. Es wirkt wie eine tiefe Meditation. Okay. Soll sie herkommen, sich bei ihm entschuldigen, auf die Knie fallen und sagen: «Sohn, verzeih mir, dass ich dich verlassen habe, als du ein Baby warst! Ich habe dir großes Unrecht angetan, es vergeht keine Minute, in der ich das nicht bereue, es tut mir unendlich leid.» Ja, es ist Zeit. Höchste Zeit. Er seufzt. Vielleicht wird am Ende doch noch alles gut?

Doch da! Was ist das? Ein durchdringender Ruf zerreißt die Stille und scheucht ihn aus seinem Gedankenfluss. Er lauscht. Es schreit immer noch. Das ist kein Käuzchen und auch kein Kuckuck. Obwohl er die Laute der Waldtiere nicht einordnen kann, weiß Schmälzle, dass, was zwitschert und piept, ein Lufttier und, was scharrt und brüllt, ein Bodentier ist. Aber dieses Geschrei ist kein Zwitschern und kein Brüllen. Was zu ihm dringt, sind Worte. Ein Mensch ruft. Um Hilfe? Die Stimme ist zu weit weg, sie klingt, als käme sie vom gegenüberliegenden Sommerberg. Er überlegt. Das sind gute zwei Kilometer Luftlinie in westlicher Richtung. Um dahin zu gelangen, müsste er erst den Meisternhügel, über den er joggt, hinunter, dann das Städtchen durchqueren, bevor er den Sommerberg hinaufkeuchen könnte. Obwohl er gut trainiert ist, ist das nicht einmal für ihn zu schaffen. Also stoppt er. Lauscht. Wieder ist alles still. Er hört nur noch ein leises Scharren. Eine Spitzmaus, eine Wühlmaus, irgendein Bodentier leistet ihm Gesellschaft.

Schmälzle macht kehrt. Trabt zurück. Kurz vor seinem Gartentor legt er einen Sprint ein, rennt schnell, schneller, treibt seinen Puls nach oben. Anschließend drückt er die Hände auf die Knie und dehnt sich nach allen Seiten aus. Jetzt freut er sich auf eine heiße Dusche, auf Wasser, das dampfend auf seinen eingeseiften Körper prasselt. Eine Weile noch wird er sich aufs Ohr legen. Danach will … kaum hat er das Gartentörchen erreicht, hört er es abermals. Laut. Undeutlich. «Bürger?» Schmälzle spitzt die Ohren. «Auf…?» Er kann sich keinen Reim drauf machen. Die Rufe fliegen über die Baumwipfel hinweg in den Himmel, gleich Zugvögeln, die vor dem nahenden Winter fliehen. Bald hallen sie nur noch nach. Die Welt ist wieder stumm. Sie sind verschwunden. Weit hinter dem Horizont.

Alte Steige – Bätznerstraße. Die Ruhe ist dahin!

Nach einem schnellen Frühstück, das aus einem dreifachen Espresso und einem Wortwechsel mit Sam bestand, der sich aus «Guten Morgen, Sam!», Gemurmel und «Tschüs, Papa» zusammensetzte, fährt Schmälzle in den Posten. Sein Rennrad brettert steil bergab. Während er geübt die Schlaglöcher in der Alten Steige umfährt, die sich von seinem Haus bis runter in die Bismarckstraße ziehen, denkt er über das Geschehene nach. Was war das in der Nacht? Wer schrie sich die Seele aus dem Leib? Er wird es erfahren. Die Kollegen vom Nachtdienst werden es ihm erzählen. Sie werden für Ruhe gesorgt haben. Er nimmt eine Linkskurve, eine Rechtskurve, zwei Kreisverkehre, bevor er den achteinhalb Kilogramm leichten Carbonrahmen nach fünfeinviertel Minuten in den Fahrradständer vor der Bätznerstraße 2 stellt. Noch während er die schwere Holztür in das auffällige Gebäude mit den grünen Fensterläden aufstößt – das ehemalige Forsthaus dient der Kurstadt lange schon als Polizeiposten –, dringt Gemurmel aus der Polizeistube, die er mit Harald Scholz und Leonie Uhlig teilt. Schmälzle stutzt. Normalerweise tritt er seinen Dienst als Erster an, löst er die Nachtschicht ab, die derzeit aus Daniela Schubert und Rico Mendez besteht. Doch der Postenleiter ist schon da: Sein tiefer Bass dringt an Schmälzles Ohr. Was ist geschehen? Scholz steht doch erst ab 8 Uhr im Dienstplan! Schmälzle hat sich auf eine halbe Stunde Alleinsein eingestellt. Zeit, um sich zu sortieren und den Tagesablauf zu planen. Er liebt diese Minuten nur für sich. Er schreitet über den Flur und späht durch die offene Tür. Scholz hämmert ein Trommelsolo auf den Schreibtisch und hält einen Monolog. Schmälzle kneift die Augen zusammen. Er täuscht sich nicht. Harald Scholz steckt in seiner Uniform. Auch wenn sie in einem Polizeiposten arbeiten, sind sie Hauptkommissare. Er ist Kriminalhauptkommissar (KHK), Scholz Erster Polizeihauptkommissar (E-PHK). Trotzdem trägt auch der Postenleiter meist zivil. Die Uniform ist für offizielle Termine vorgesehen.

«Schmälzle!» Scholz hört abrupt auf zu trommeln. «Da bist du ja.»

«Was ist los, Harald?»

«Sag’s ihm, Leo.» Scholz nickt der Assistentin zu, die hinter ihrem Rechner sitzt. Ihre Haare sind unter einer Wollmütze versteckt. Warum ist auch sie schon da?

Ohne aufzusehen, fragt sie: «Wolltest du nicht zum Flughafen, Justin?»

«Übermorgen», knurrt er. «Sie reist erst am Samstag an, Leonie.» Noch immer hofft er, dass seine Leibliche gar nicht kommt, es sich anders überlegt, dass er am Abend oder am nächsten Morgen eine Karte im Briefkasten findet, auf der sie ihre Ankunft mit einer Trauerkarte revidiert, dass sie schreibt: «Sorry, mir ist etwas dazwischengekommen.» Vorhin steckte wieder nur ein Werbeblättle im Kasten.

Leonie Uhlig rollt ihren Schreibtischstuhl zurück und verschränkt beide Arme hinter der Wollmütze. Sie sieht Schmälzle neugierig an. Als nähme sie zum ersten Mal wahr, dass ihr Kollege ein attraktiver Mann ist, einige Jahre jünger als ihr Chef, um einiges größer, muskulöser und üblicherweise besser gelaunt als Scholz, der nach dem schwäbischen Motto net bruddelt isch g’lobt g’nug lebt. Das pflegt er selbst von sich zu sagen.

«Wie lange hast du deine Mutter nicht gesehen?»

«Sie ist nicht meine Mutter, Leonie. Sie ist meine Gebär-Mutter.» Schmälzles Laune ist schon wieder unter dem Gefrierpunkt, das Stichwort «Mutter» genügt, mehr ist nicht nötig. Er steht immer noch im Türrahmen, die rechte Hand in seiner Jeanstasche. Die Hose sitzt eng. Der angefutterte Coronabauch ist so hartnäckig wie die Pandemie. Er räuspert sich. «Leonie. Hör zu. Ich habe sie nicht lange nicht mehr gesehen. Ich habe sie überhaupt noch nie zu Gesicht bekommen. Können wir von was anderem reden?» Er schaut zu Scholz, dann wieder zu Uhlig. «Was war da los heute Nacht?»

Sie lächelt.

Kaffee, all dies ist nur mit Koffein zu ertragen! Er dreht sich um und peilt die kleine Postenküche auf der anderen Seite des Flurs an. Das Fingerschnippen des Postenleiters holt ihn zurück.

«Schmälzle!», ruft Scholz. «Wenn du dann für mich auch eine Minute hast?»

Er dreht sich zu Scholz um. Wundert sich, wie müde der Kollege aussieht. Die Falten um seine Mundwinkel sind tiefer als sonst.

«Es gibt Meldungen.» Scholz klingt genervt.

«Was für Meldungen?»

«Ruhestörungen.»

«Multiple Ruhestörungen», ergänzt Uhlig.

«Ja», sagt Schmälzle. «Gebt mir eine Sekunde.» Er eilt in die Postenküche und lässt einen Kaffee durch. Nun trommelt auch er mit den Fingern, denn das Gebräu braucht seine Zeit. Die Maschine muss erst warmlaufen. Er fühlt sich schon wieder gehetzt. Er wird seinen Lungo ohne Reismilch trinken. Schwarz. Weiß passt nicht zu diesem Tag. Weiß ist sanft, und heute fühlt sich gar nichts sanft an. Er war also nicht der Einzige, der die Rufe in der Nacht gehört hat, offensichtlich gab es Beschwerden. Das bedeutet Arbeit. Arbeit ist gut. Obwohl diese Arbeit nach Routine klingt, und Routine ist langweilig. Sie ist von einem großen Fall so weit entfernt wie eine Schwarzwaldtanne von einer Kokospalme. Schmälzle fragt sich, warum Scholz so nervös ist, warum er immer noch auf den Schreibtisch einhämmert. Er kann es sogar hier in der Küche hören. Dabei ist Scholz gar nicht der hibbelige Typ, der Postenleiter ist eher der Coole. Böse Zungen behaupten, er reiße sich nicht um Arbeit, aber das stimmt nicht. Harald Scholz ist einfach effizient. Er erledigt das Nötigste, und das meistert er bravourös. Mehr muss er nicht tun. Seine Erfolgsquote gibt ihm recht. Wobei im beschaulichen Kurstädtchen Bald Wildbad nicht täglich eine Drogenbande hochzunehmen und schon gar kein Serienkiller festzusetzen ist. Hier ist Friedensländle. Kleinkriminellenparadies. Der Kaffee ist durch.

 

Die dampfende Tasse in der Hand, kehrt Schmälzle zurück in die Polizeistube. «Ruhestörungen also», sagt er.

«Das ging die halbe Nacht, Schmälzle.» Scholz sieht hoch.

«Es kam vom Sommerberg.» Uhlig nimmt ihre Wollmütze ab und legt sie neben die Computermaus. Waren ihre Haare gestern nicht rot – und schulterlang? Oder war das letzte Woche? Die junge Assistentin ist ein wandelndes Chamäleon. Nur beim Ermitteln bleibt sie stur auf Linie, ein zartes Geschöpf, fest wie ein Fels. Ein Fels, der heute Platin trägt. Kurz geraspelt. Maximal zwei Zentimeter. Nur sieben, acht Millimeter länger als Schmälzles Buzz Cut.

«Vermutlich haben ein paar Leute gefeiert. Bei dem ganzen Pandemiefrust muss man auch mal die Sau rauslassen», sagt sie.

«Das war keine Party», ächzt Scholz. «Ein Zeuge meinte, da hätte einer in ein Megafon gebrüllt.»

«Das war ein Megafon?» Schmälzle kapiert.

«Die Anwohner sind angefressen. Kurz nach zehn fing der Lärm an, ich kam gerade von einem Treffen mit dem Stadtrat. Die genervten Bürger riefen sogar auf meinem privaten Handy an.»

«Und warum hat die Nachtschicht nicht für Ruhe gesorgt?»

«Die musste zu einem Einsatz nach Dobel. Als Daniela und Rico auf dem Sommerberg ankamen, um nachzusehen, war der Spuk vorüber. Erst gegen Mitternacht ging es wieder los. Also haben sie mich angerufen. Seitdem bin ich im Einsatz.»

«Ich hab die Schreie auch gehört», sagt Schmälzle. «Das muss kurz vor zwei gewesen sein.»

«Da schlaf ich wie ein Murmeltier.» Leonie gähnt. «Ich würde nicht einmal einen Abbruchhammer mitkriegen, und wenn er den Boden unter meinem Bett aufhacken würde.»

«Da verarscht uns einer. Wir wissen noch nicht einmal, von wo der Lärm genau herkam. Das kann von der Skihütte gekommen sein, von der Saustallhütte, von den Fünf Bäumen, von wo auch immer. Es dauerte kaum mehr als fünfzehn Minuten, dann war wieder Schweigen im Walde. Das hatten wir schon mal, vor einer Woche.»

Schmälzle nickt. Es war eine einmalige Sache. Sie waren nicht davon ausgegangen, dass sich das wiederholt.

«Soll ich jetzt eine halbe Hundertschaft anfordern, die sich in einem kilometerweiten Waldgebiet auf die Lauer legt? Was wird das dann, die SoKo Trommelfell?»

Scholz’ Sarkasmus kann Schmälzle gut nachvollziehen. Er fragt: «Warum hast du mich nicht informiert? Auch wenn ich keine Bereitschaft habe, bin ich für dich immer in Rufbereitschaft, Harald, das müsstest du inzwischen wissen!»

«Es reicht, dass ich keine drei Stunden geschlafen habe. Und das noch nicht einmal zu Hause.» Scholz stöhnt.

Schmälzle schaut sich um. Keine Luftmatratze, die in eine Ecke gekickt wurde, noch nicht einmal ein hastig zusammengerollter Schlafsack. Hat der Postenleiter in seinem Drehstuhl vor sich hingeschlummert? Er kann seine Überlegungen nicht zu Ende führen, denn das Telefon klingelt. Er greift nach dem Hörer.

«Hauptkommissar Schmälzle, Polizeiposten Bad Wildbad, was kann ich für Sie tun?»

«Mir wellet ebbes melde», krächzt eine Stimme. Weiblich. Tief. Heiser, denkt Schmälzle. Älter, hört er heraus. Er betätigt den Lautsprecherknopf. Dann nickt er den Kollegen zu und fragt freundlich: «Worum geht es denn?»

«Um an Unruhestifter!»

«Auf dem Sommerberg?», ruft Scholz hinter ihm in den Hörer.

«Ha, woher wisset …»

«Sie sind nicht die Erste, die sich beschwert!»

«Dann haben Sie den verhaftet?» Diese Stimme ist weder heiser noch schwäbisch, sie ist barsch. Tief. Aggressiv. Offenbar hat der Gatte übernommen. Alte Macho-Schule. Hat seiner Frau den Hörer einfach aus der Hand gerissen.

Schmälzle spricht ruhig weiter. «Wir brauchen Ihre Aussage schriftlich. Kommen Sie zu uns in den Posten, dann nehmen wir das auf. Wir sind den ganzen Tag hier. Und Ihren Namen, den bräuchten wir bitte auch noch.»

Der Gatte schnaubt. «Junger Mann, ich habe fortgeschrittene Arthrose! Ich kann nicht schnell mal runter ins Tal, Sie müssen sich schon zu uns heraufbemühen, wir wohnen ja im Peter-Liebig-Weg. Ganz hinten. Am Wald. Klingeln Sie bei Bauer, Erwin und Wilma.»

«Können Sie uns schildern, was genau vorgefallen ist?», fragt Schmälzle.

«Ha, ja», sagt die Frau. «Mir waret scho em Bett, wo des G’schrei zum erschte Mal ang’fange hat. Mir henn uns nichts weiter dabei denkt und senn wieder eing’schlafe. Aber dann senn mir hochg’schreckt, weil des Theater wieder losgange isch. Des war mitte in der Nacht!» Sie ist immer noch schwer zu verstehen. Klingt nach einer fetten Erkältung, denkt Schmälzle. Als sei sie und nicht er durch die kühle Nacht gejoggt.

«Wir waren stinksauer!», bellt der Gatte. «Wir wollten nachsehen, was los ist. Also sind wir rüber zum Baumwipfelpfad. Von da kam der Lärm.»

Scholz hebt eine Braue.

Auch Schmälzle weiß, dass man den Aussichtsturm vom Wohngebiet Sommerberg aus nicht sehen kann, obwohl kaum hundert Meter Distanz dazwischen liegen. Erst hätten sie einen halben Kilometer den Peter-Liebig-Weg entlanglaufen müssen, Richtung Bergstation, dann wären sie am Auerhahn links abgebogen und weiter über unbefestigte Wege durch dicht bewaldetes Gelände gestapft.

«Wir hatten eine Taschenlampe», erklärt der Gatte. «LED mit hundertvierzigtausend Lux. Damit sieht man alles gestochen scharf.»

«Hundertvierzigtausend Lux», echot Scholz. «Soso.»

«Lärm in der Nacht macht unserer Generation Angscht!», sagt die Frau.

Schmälzle sieht sie vor sich. In seiner Fantasie ist er live dabei, als die beiden Betagten ihre dicken Jacken überzogen, kaum hatte sie das Gebrüll aus dem Bett gejagt. Die Augen weit aufgerissen, hasteten sie durchs Wohngebiet und schlichen dann vorsichtig durch die Finsternis, am knackenden Gebüsch vorbei, immer den Schreien aus dem Megafon nach. Stets am Lichtkegel der Taschenlampe entlang. Die Aufregung stärker als die Arthrose in den Knien.

«Mir henn uns die Ohre zug’halte», erzählt die Frau weiter. «So laut war des.»

«Was wollte er denn, dieser Rumkrakeeler?», will Scholz wissen.

«Ich dachte, Sie ermitteln in der Sache?» Der Mann mischt sich wieder ein.

Seine Frau, beschwichtigend: «Der hat an die Bürger von Wildbad appelliert. Hat g’sagt, dass mir aufwachen sollet. Dabei senn mir scho wach gwä! Gell, Erwin?»

«Ich habe ihn ermahnt aufzuhören. Mehrfach! Da hat der mich beschimpft.»

«Worte hat der g’sagt, die nehmet mir net en de Mund. I net. Und mei Erwin au net.»

«Was denn für Worte?», unterbricht Schmälzle die leidenschaftlichen Schilderungen der Frau.

«Die Endungen, Herr Kommissar! Die waret net druckreif.»

«…ick und …ack!», klärt der Gatte auf. «Und da war ein Buchstabe davor. Sie wissen schon.»

Schmälzle muss sich ein Lachen verkneifen. Sogar Scholz’ Mundwinkel zucken.

«Meine Frau ist Mitglied bei Hobbypoeten Eh Vau.»

«Dann haben Sie sich das ausgedacht?» Schmälzle mahlt mit den Zähnen. Wird er gerade vorgeführt? Es wäre nicht das erste Mal.

«Ha, noi!»

«Tun Sie was, damit das sich nicht wiederholt!» Schon macht es klick. Aufgelegt.

Scholz massiert seinen Nacken.

«Alles okay mit dir?», fragt Schmälzle.

«Versuch du mal, da unten ein Auge zuzubekommen», meckert er. «Die Pritsche ist ganz schön hart.»

«Du hast in der Arrestzelle geschlafen?» Schmälzle kann sich nicht erinnern, wann das finstere Loch im Untergeschoss zuletzt benutzt wurde. Ab und an mal für eine Ausnüchterung, okay. Aber Verhaftete werden unverzüglich in die JVA gebracht. Das kann man heute keinem mehr zumuten. Es gibt noch nicht einmal ein ordentliches WC in der Zelle, geschweige denn fließendes Wasser.

«Was blieb mir anderes übrig.» Scholz streicht über sein Gesicht. Für eine Rasur hat es nicht gereicht. Auf seinem Schreibtisch steht eine halb leere Packung Mundwasser.

«Ich will euer lauschiges Tête-à-Tête ja nicht stören», unterbricht Leonie. «Aber auf dem AB sind noch eine Menge nicht protokollierter Nachrichten.» Sie weist auf die Zahl, die neben dem blinkenden roten Licht am Telefon aufleuchtet: 22.

Sie lassen das Band laufen und lauschen. «Da ist ein Irrer auf dem Sommerberg!» – «Nehmen Sie den fest.» – «Wir haben kein Auge zubekommen!» – «Der zahlt seine Steuern net!»

Am Tag, den er am liebsten aus seinem Leben streichen würde

Das Blut ist immer noch da, obwohl er seine Hände wie verrückt am Gras abgerieben hat. Die Rötung ist verschwunden, doch das Blut lässt sich nicht abwischen. Es klebt an ihm, so wie das Unglück an ihm klebt. Es ist das Verderben, es hat sich an ihn geheftet wie ein gereizter Hund, der einem am Hosenbein hängt. Die Welt hat sich gegen ihn verschworen. Wieder mal. Logisch. Er ist das Opfer. Wie, wann und warum auch immer er in diese Rolle geschlüpft ist … er weiß es nicht … er weiß nur eins: der Schleier vor ihm, der lüftet sich nur langsam. Wie ein Theatervorhang wird er ein Stück weggeschoben. Plötzlich hat er Gewissheit. Er war das. Seine Hand, seine Finger umfassten diesen Griff. Aber was ist das überhaupt für ein Griff, und was ist das für ein Messer, gehört das ihm? Nein, das ist doch nicht sein Messer! Er hatte gar kein Messer bei sich, er hat nie ein Messer bei sich!

 

Den restlichen Vormittag über hören sie Anrufe ab, notieren Namen, Telefonnummern, stichwortartige Inhalte, auf der Suche nach einem brauchbaren Hinweis. Irgendwann sagt Scholz: «Schmälzle, lass uns rauffahren.»

Schmälzle nickt. Es wird nicht lange dauern. Das Wohngebiet Sommerberg ist nicht groß. Die paar Straßen, in denen die wenigen Zeugen wohnen, die ihre Adresse hinterlassen haben oder auch nicht, können sie stichprobenartig abklappern, hier an einer Wohnungstür klingeln, da in einen Hof spähen, dort über ein Gartentor rufen. Nach zwei, maximal drei Stunden werden sie durch sein. Kaum sind sie aufgestanden, setzen sie sich auch schon wieder hin. Sie müssen die Aktion vertagen. Das Telefon läutet Sturm. Auf allen Leitungen.

Freitag, 15. Oktober

Je näher der Termin rückt, desto weiter entfernt sich die Hoffnung, dass sie doch nicht kommt. Wie gestern  schon hat Schmälzle auch an diesem Morgen, bevor er in den Posten radelte, den Briefkasten geöffnet und erwartungsvoll nach einer Postkarte getastet. Als hätte in der Nacht jemand was eingeworfen. Obwohl die Hoffnung ein launisches Wesen ist, ist der Mensch ihr verfallen.

Fünf, sechs oder sieben Mal hat Manouche Deguis ihren Besuch angekündigt. Unregelmäßig verteilt über die letzten zehn Jahre. Jedes Mal hat sie ihre Ankunft verschoben. Hat die Aktion «Nach dreiundvierzig Jahren könnte ich doch mal nach meinem Sohn sehen, gucken, wie es dem so ergangen ist» wieder abgeblasen. Nur diesmal nicht. Keine Karte. Kein Anruf – wie auch. Seine Adoptivmutter hat ihm zwar die Zusammenführung mit seiner Leiblichen eingebrockt, mit der Person, die ihn im zarten Alter von sieben Monaten auf einem Platz in Port-au-Prince abgesetzt hat, ein Schild um den Hals, I am a lovely boy, please take care of me. Aber seine Handynummer hat Waltraud Schmälzle nicht weitergegeben. Hoch und heilig hat seine Adoptivmutter ihm das versprochen. Und seine Leibliche wird es nicht wagen, im Posten anzurufen. So muss er sich darauf einstellen: Sie steht morgen wahrhaftig auf dem Stuttgarter Flughafen, kommend aus Paris-Charles-de-Gaulle. Er vermutet, dass es ein Zwischenstopp ist, sonst hätte sie sicherlich den TGV genommen. Aber was weiß er schon von ihr? So gut wie nichts. Nicht, ob sie sich bei ihm einnisten möchte, wann sie wieder abreisen will, noch nicht einmal, ob sie geschieden ist, getrennt lebt, einen festen Wohnsitz hat, was sie für ein Leben führt. Was denkt sie sich dabei? «Mein Sohn ist Hauptkommissar in einer hübschen Kurstadt, der hat ein schönes Haus mit viel Platz!» Ja, das hat er. Sehr viel Platz. Nur nicht für sie.

Seufzend öffnet er die Tür zum Posten. Uhlig reibt sich die Schläfen, als sie ihn ansieht. «Schon wieder Anrufe, Justin», klagt sie, «das hört überhaupt nicht auf.»

«Gab es neue Ruhestörungen?»

Er mustert ihre silberfarbene Bluse. Voll der Space-Look, als wolle sie mit Jeff Bezos ins All fliegen.

«Zum Glück nicht. Ich bin noch nicht im Ansatz mit allen Beschwerden von gestern durch», stöhnt sie. Und ahmt einen Anrufer nach. «Wenn das noch einmal vorkommt mit der nächtlichen Ruhestörung, geh ich mit dem Gewehr raus und sorge dafür, dass das aufhört!»

«Was denn für ein Gewehr?»

«Das war wahrscheinlich ein Hobbyjäger, Justin.»

Hm. Wo es Hobbypoeten gibt, sind Hobbyjäger nicht weit.

«Schmälzle!», ruft Scholz von der Treppe. Er nutzt das eigene Amtszimmer, das ihm zusteht und eine Etage höher liegt, äußerst selten. Wenn er ungestört telefonieren will, zum Beispiel. Oder sich durch Akten wühlen muss. Er trägt Schwarz, wie üblich. Schnörkellos. Autorität strahlt er auch ohne Sterne auf den Schultern aus. Er winkt mit dem Schwarzwälder Boten, tippt aufs Titelblatt: «Hast du heute Zeitung gelesen?»

Schmälzle bekommt seine Nachrichten online. Er hat vorhin die Überschriften überflogen und schnell kapiert: Demonstrationen, Kundgebungen, Protestmärsche. Überall im Land und quer durchs Ländle.

Meisterntunnel – Innenstadt. Sabine und die Olgabrezel.

Sabine Meichle steht an der roten Ampel im Meisterntunnel, als ihr Handy vibriert. Natürlich weiß sie, dass es nicht erlaubt ist, zu fahren und zu telefonieren, aber sie steht ja noch. Dass ihr kleiner Corsa namens Pink Lady der freudigste Farbtupfer in diesem düsteren Betonschlauch ist, aus dem auch ungezählte Neonlichter keinen Lichtblick machen, interessiert sie heute nicht. Sie ist nicht gut drauf. Trotzdem nimmt sie den Anruf an.

«Hasch du des g’hört, Sabine?» Die schnattrige Stimme ihrer besten Freundin Margot holt sie aus ihrem Tief. «Den Lärm, gestern Nacht!»

«Des isch a Granadesauerei, Margot», erwidert Sabine Meichle und gähnt. Sie ist müde, hat kaum ein Auge zugetan, erwachte gerädert um 6 Uhr. Sie duschte kurz und kalt, dann streifte sie ohne nachzudenken eine Bluse über ihre Glitzerhose. Jetzt merkt sie, dass sie frieren wird in dem dünnen Stoff. Es ist Herbst geworden, in der Nacht fiel die Temperatur zum ersten Mal auf 3 °C. Immer noch vor der roten Ampel, wirft sie einen Blick in den Spiegel und korrigiert ihr Augen-Make-up.

«Wenn du im Poschte bisch», sagt Margot, «dann frag deine Chefs, was da los isch! Des isch net normal, dass des jetzt zum zweite Mal passiert!»

Sabine Meichle streckt dem Spiegel die Zunge raus, dann gibt sie Gas. Die Ampel ist grün. Sie hat ein wenig Mühe, den Lenker gerade zu halten und das Smartphone, das zwischen Schulter und Ohr klemmt, am Fallen zu hindern.

«Noi», antwortet sie. «I putz heut net im Poschte, i bin in Calmbach, im Bürgeramt. Und i muss jetzt auflege, i fahr doch Auto, und des isch net erlaubt.»

«Solang des keiner sieht, Sabine … und hör dich um, wenn du was erfährsch, gibsch Bescheid, gell?»

«Des mach i Margot! Und du au!»

Meichle drückt die Anruferin weg und wirft ihr Smartphone auf den Beifahrersitz. Dabei fällt ihr ein, dass sie vergessen hat zu frühstücken. Vor lauter Aufregung! Ohne Frühstück und ohne Schlaf ist sie nicht einsatzfähig. Sie fährt aus dem Tunnel raus in die Kernerstraße, die in die Olgastraße führt.

Am Rathaus biegt sie in den Kreisverkehr ein, der über die Brücke führt, dann geht’s rechts ab in die König-Karl-Straße. Sie parkt den Wagen vor der Bäckerei im Halteverbot und kauft eine Olgabrezel, die heute besonders üppig mit Mandelplättchen bedeckt ist. Nach dem ersten Bissen schließt sie die Augen. Bleibt einfach stehen, mitten auf der Straße. Manchmal muss es eben Zuckerguss sein. Und die Brezel ist von einer feinen Süße, die nur gute Bäcker zaubern können. Sie leckt ein Mandelplättchen von ihren Lippen. Der Tag kann kommen! Sie setzt sich in Bewegung. Klackklack öffnet sie die Fahrertür. Sie ist bereit. Sie wird herausfinden, was los ist in ihrem schönen Städtchen. Und ob sie das wird.

Posten – Sommerberg. Von Hobbypoeten und einer Kappe mit Ohrenklappen.

«Hört mal her, diese Nachricht dürfte für euch interessant sein.» Uhlig betätigt den Anrufbeantworter. Schmälzle lauscht einer hellen, gepressten Stimme, die etwas fiepst. «Hier ist Fritz Brodheck aus dem Heermannsweg. Wir wollen noch etwas zu der Lärmbelästigung von gestern Nacht sagen. Unser Sohn hat dem Verursacher aufgelauert. Er ist recht jung, mittelgroß. Schlank. Und trägt eine Mütze mit Ohrenklappen.»

«Na also», sagt Scholz.

«Eine Täterbeschreibung!», triumphiert Schmälzle.

«Schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Fahren wir erst in den Heermannsweg zu den Brodhecks. Und danach …»

«… statten wir den Hobbypoeten einen Besuch ab.»

Schmälzle klimpert mit den Autoschlüsseln.

«Ich meld euch besser an.» Uhlig greift zum Telefonhörer. Kurz darauf verkündet sie: «Ihr könnt am frühen Abend vorbeikommen. Die Brodhecks empfangen euch um 17.30 Uhr im Heermannsweg 24. Max, der Zeuge, wird da sein. Bei Erwin und Wilma Bauer könnt ihr eine Stunde später klingeln. Sie wohnen im Peter-Liebig-Weg 52.»

Scholz öffnet seine Vesperbox, schnuppert, verzieht das Gesicht, verschließt die Box wieder. «Machen wir solange unsere Schreibtischarbeit», sagt er. «Wir kommen eh kaum nach.»

Schmälzle schielt auf die oberste Akte auf seinem Stapel. Er wirft einen kurzen Blick darauf, es ist ein Verkehrsdelikt. Er studiert die Protokolle, plant die nächsten Schritte.

Als er mit Scholz aufbricht, weist Uhlig darauf hin, dass sie nach ihren Zeugenbefragungen gleich den nächtlichen Ruhestörer verwarnen sollten. «Wenn ihr schon vor Ort seid.»

«Glaubst du, der ist heute Nacht wieder auf dem Baumwipfelpfad? Das kann ich mir nicht vorstellen», bruddelt Scholz.

«Ich auch nicht», sagt Schmälzle. «Aber vorbeifahren können wir ja mal.»

«Okay, Schmälzle.» Scholz faltet die Zeitung zusammen und steckt sie ein. «Ein Versuch ist es wert.»

 

Der Sommerberg wirbt mit seinem milden Reizklima als willkommenem Kontrast zum Schonklima in der Kurstadt. Hier, 780 Meter über dem Städtchen, warten ungezählte Attraktionen auf Besucher, zuletzt von der Stadt aufgestellte Waldbadewannen, eine Aktion, die der Bürgermeister persönlich angeregt hat. Nur auf die Kommissare wartet keiner, denn ihr Klingeln wird nicht erhört. Weil sie zu früh dran sind, um die Zeugen aufzusuchen, haben sie beschlossen, weitere Anwohner zu befragen.

«Das sind alles Ferienwohnungen», klagt Scholz, nachdem sich auch am dritten Haus nichts gerührt hat. Wieder sind sie über einen kleinen Kies- oder Plattenweg spaziert, haben einen pittoresken Vorgarten hinter sich gelassen, um an frisch oder länger nicht mehr gestrichenen Fensterläden hochzuschauen, ob sich etwas hinter den Vorhängen rührt. Vergeblich haben sie auf die jeweils einzige Klingel gedrückt, an Häusern, die in Karlsruhe oder Stuttgart mehrere Haushalte beherbergen würden. «Manche sind nur an den Wochenenden da», sagt Scholz.

Es finden sich doch noch einige Dauerbewohner, die bereitwillig öffnen und ausführlich Auskunft geben. Sie bestätigen die Aussage der Hobbypoetin und ihres Gatten. Der Lärm kam aus dem Wald. Einige präzisierten die Richtung: Baumwipfelpfad. Die Störungen fanden um 22 Uhr, um 24 Uhr und um 2 Uhr in der Nacht statt. Anfangs noch ohne Verstärker, erst um zwei wurden die Worte des Störenfrieds durch ein Sprachrohr verstärkt.

Um 17.22 Uhr suchen sie die Brodhecks auf. Ein junger Mann, achtzehn Jahre alt, vielleicht auch neunzehn, wach, wichtig, wortkarg, öffnet die Tür. Mit einem Handzeichen bittet er die Kommissare in den Flur des flachen Bungalows, der fast so groß ist wie Schmälzles Esszimmer. Die Unterredung findet auf einer Bank statt.

«Ich kam von Freunden, als der Noise anfing.» Max Brodheck ist stehen geblieben und sieht auf die Kommissare herab.

Schmälzle fragt: «Ihre Eltern sagten, Sie haben den Lärmverursacher gesehen?»

Brodheck nickt.

«Wie konnten Sie den sehen, sind Sie rübergegangen, zum Baumwipfelpfad?»

Brodheck schüttelt den Kopf.

«Dann vermuten Sie das alles nur?», hilft ihm Scholz auf die Sprünge.

«Ich hab ihn fotografiert. Und zehn Mal vergrößert.» Umständlich zieht Brodheck sein Handy aus der engen Jeans, wischt hektisch über den Bildschirm, hält das Handy hoch.

Schmälzle steht auf und stellt sich neben den jungen Mann. Er blickt auf ein stark verpixeltes Foto. Auf Augen hinter einem Megafon. Auf eine braune Kappe. Auch Scholz hat sich erhoben. Neugierig schaut er über Schmälzles Schulter. «Sehr diffus», sagt er.

«Die Uhrzeit», sagt Schmälzle, der noch mal hingesehen hat. «Das war um 1.59 Uhr?»

«Kann sein. Aber gegangen ist er erst um halb drei.»

«Was heißt das genau? Geht es vielleicht etwas ausführlicher?» Scholz wird ungeduldig.

Der junge Mann hüstelt. «Ja. Okay. Also. Ich hab geparkt, weil ich mir anhören wollte, was der da ruft. Aber irgendwann bin ich links abgebogen, wollte heim, war müde. Da kam der mir entgegen. Mit seinem Megafon.»

«Zu Fuß?»

Brodheck nickt.

«Haben Sie das auch fotografiert?»

Brodheck zeigt auf zwei Fotos. Entschuldigend fügt er hinzu: «Besser ging’s nicht. Ich fuhr ja.»

Die Fotos sind verwischt. Schmälzle kann auch beim näheren Hinsehen nicht viel erkennen.

Scholz sieht auf. «Sie haben aus dem fahrenden Auto heraus fotografiert?»

Brodheck zuckt mit den Schultern.

«Können Sie die Person vielleicht beschreiben?», fragt Schmälzle.

«Schmale Figur. Nicht besonders groß. Und …»

«Und?»

«Er trug einen grünen Parka.»

«Danke.»

«Vielen Dank!» Sie verabschieden sich.

 

Auf dem Rückweg zum Auto fasst Schmälzle das Ergebnis in einem Satz zusammen. «Mit diesen Täterfotos können wir nicht viel anfangen.»

«Aber diese Kappe mit den Ohrenklappen, die trug der wirklich, sie war deutlich zu sehen.»

«Wir wissen noch nicht mal, ob es sich um einen Mann gehandelt hat.»

«Du meinst, wir suchen eine Frau?»

«Es gibt viele Geschlechter heute. Divers, nichtbinär, wir werden uns an die Begriffe gewöhnen.»

 

Um 18.15 Uhr stehen sie vor dem Haus von Erwin und Wilma Bauer. Noch bevor sie die Klingel betätigen, ruft ein Nachbar, auf einen Rechen gestützt, herüber: «Die senn net da! Die henn schnell wegmüsse, ins Krankehaus.»

Schmälzle nickt Scholz zu. Die Angaben genügen fürs Erste. Die Ruhestörungen, darin waren sich alle Zeugen einig, kamen vom Baumwipfelpfad. Nur ein paar Hundert Meter weiter reckt sich die Touristenattraktion 38,5 Meter in die Höhe. Sie wartet mit neun Windungen, Balancierbalken, einer zwölfeckigen Plattform und einer spektakulären Rutsche auf eine viertel Million Besucher, die jährlich aus einem Umkreis von 250 Kilometern hierherkommen.

Um 18.35 Uhr karrt Scholz seinen Saab 99 Turbo durchs Hochplateau. Sie schaukeln über holprige und für Fahrzeuge nicht zugelassene Pfade. Wenige Meter vor dem Turm bringt der Postenleiter sein Gefährt in Parkposition, mitten auf dem Geröll. Der bullige Kühlergrill des Wagens aus den 1970er-Jahren blickt wie eine zornige Clownsfigur auf das dicht bewaldete Gelände. Kein Besucher ist zu sehen. Ein- und Ausgang liegen weiter vorne. Schmälzle sieht auf die Uhr. Der Pfad schließt im Oktober um 18 Uhr. Er hat also schon zu.

Schmälzle wollte den Wagen auf dem offiziellen Parkplatz weiter unten abstellen und die fünfzig, sechzig Meter zu Fuß nehmen, ihn nervt das ewige Rumgegurke im Auto. Noch lieber hätte er die Strecke vom Posten aus mit dem Rad bewältigt. Steil wäre es den Berg hinaufgegangen. Zunächst wäre er locker in die Pedale getreten, wäre in das Gallengässle und die Sommersteige geradelt, hätte sich dann in eine 300-Grad-Kurve gelegt, an der Heermannshütte nach Luft geschnappt und den weiten Blick ins Tal genossen. Danach wäre er zum Baumwipfelpfad hochgekeucht. Aber Scholz protestierte. Er meinte, es sei nicht schicklich für Kommissare im Ermittlereinsatz, zu Fuß zu gehen, und mit dem Rad vorzufahren, ginge schon mal gar nicht.

«Der sieht uns doch», mault Schmälzle.

«Soll ich mein Schätzchen hochkant parken, damit es hinter eine Tanne passt? Zwei Räder am Boden und zwei in der Luft?»

Von diesem Moment an ist die Stimmung gut, nicht zuletzt, weil Schmälzle vegane Stullen auspackt, die er im Biergarten vor der Station der Sommerbergbahn geholt hat. Dazu hat er zwei Becher schwarzen Kaffee besorgt. Der heiße Kaffee wärmt von innen, und die Stullen schmecken sogar Scholz.

Bald kommt Leben in das Gelände. Ein paar späte Besucher schlendern plaudernd an ihnen vorüber. Danach breitet sich Stille aus. Die immergrünen Schwarzwaldtannen führen wieder Regie, doch sie sind nicht alleine: In dieser Jahreszeit leuchten goldgelbe Lärchen mit rostrotem Feldahorn um die Wette. Ein Farbenmeer, das für die frühe Dunkelheit entschädigt.

Nach einer Stunde steigt Schmälzle aus und vertritt sich die Beine. Eine Stunde später stellt sich Scholz neben ihn. Sie ahnen es, doch sie sprechen es nicht aus. Der Ruhestörer denkt nicht dran, ihnen in die Arme zu laufen. Ahnt er, dass zwei Beamte der Polizei Baden-Württemberg auf der Lauer sitzen? Kurz nach Mitternacht brechen sie die Aktion ab und machen sich auf den Heimweg.

Samstag, 16. Oktober

Knapp zwei Stunden, nachdem sie zum Flughafen STR nach Leinfelden-Echterdingen gefahren sind und lautstark diskutiert haben, wo sie Schmälzles leibliche Mutter unterbringen sollen, ob im Gästezimmer, das halbwegs renoviert ist, oder in der Einliegerwohnung, die Claudia nicht schick genug findet («da hängen noch alte Tapeten an den Wänden, Justin!», die für Schmälzle aber ausreichend ist, «sie stammt aus Haiti, Claudi, viele Menschen leben da so» – «ach, und woher willst du das wissen?»), also lange nachdem dies geschehen ist, steht das pralle Leben in der Ankunftshalle. Orangegelbe Farbverläufe, großflächige grüne Rauten und Spiralen auf wallendem Stoff kündigen eine Fröhlichkeit an, die sich vom kehrwochengepflegten Flughafen der Spätzlemetropole verdächtig abhebt. Eine hochgewachsene Gestalt schreitet durch die automatische Tür. Sie ist in Begleitung mehrerer großer Koffer. Schmälzle zählt. Das sind doch nicht … oder? Doch. Sie führt drei Koffer mit sich. Zwei davon werden von einem grauhaarigen Gentleman getragen. Mit neugieriger Miene begrüßt sie die Ländlehauptstadt.

«Wow», sagt Claudia.

«Ist das Oma?» Sam nimmt die Stöpsel aus seinen Ohren. Mit weit geöffneten Augen starrt der Dreizehnjährige auf die schwarze Frau, die soeben den Mann neben sich verabschiedet, sich umsieht und den Arm hebt, um wild zu winken und zu fuchteln. In ihre Richtung.

«Du hast schon zwei Omas, Sam.» Schmälzle kann seinen Satz kaum beenden, schon wird er von geschätzten achtundachtzig Kilogramm gedrückt und kurz darauf von einem großen Mund auf beide Wangen geküsst und kreuz und quer geherzt.

«Hallo, Kid!», ruft die Angekommene. Sie löst sich von ihrem verlorenen Sohn und betrachtet ihn wohlwollend.

Er öffnet den Mund, will etwas sagen, aber kein Ton kommt heraus. Claudia pufft ihm in die Seite. Schmälzle schweigt immer noch. Was um alles in der Welt soll er sagen?

Claudia springt für ihn ein. «Herzlich willkommen!», zwitschert sie und streckt die Hand aus.

Die Angekommene schlägt fröhlich ein. «Claudia!», ruft sie. «In Wirklichkeit bist du noch viel hübscher als auf den Fotos.» Sie lächelt und schüttelt Claudias Hand.

Dann entdeckt sie Sam, dessen Augen sie rasterartig abtasten. Im Gegensatz zu seinem Vater, der dasteht wie ein Baum. Einer, der auf dem Stuttgarter Flughafen Wurzeln geschlagen hat. Als ginge das, auf einem Betonboden.

«Du musst Samuel sein!»

Warum schreit sie so?

Sam flüstert seinem Vater ins Ohr. «Ist das wirklich deine Mutter?»

«Und ob des d’Mama is.» Sie zwickt dem Dreizehnjährigen in die Wange und flüstert: «Nenn mich ruhig Oma.»

«Ihr Deutsch ist perfekt», sagt Claudia anerkennend.

«Das ist eher perfekt Bayerisch.» Schmälzles Sprachvermögen ist wieder im Ermittlereinsatz.

«Mei.» Ihr Lachen ist so breit, dass die Sonne in ihrem Mund aufzugehen scheint. «Man hat so seine Liebhaber g’habt.»

Das darf jetzt nicht wahr sein. Schmälzles schlimmste Befürchtungen bestätigen sich nicht, sie werden locker übertroffen. Claudia scheint sich zu amüsieren. Wie ein Traktor, der gleich nach dem Start abgewürgt wird, gackert sie los. «Dckdckdck, chhrrr, dckdckdck, chrrr.» Claudia Mergenthaler ist nicht nur Schmälzles Angetraute, sie ist auch eine promovierte Frau – mit dem Lachen eines Bauarbeiters.

«Ich habe dreiundvierzig Jahre lang geglaubt, du lebst in Port-au-Prince!», pflaumt Schmälzle seine Leibliche an. «Als arme Frau, die ihr Kind nicht ernähren kann!»

«Sorry, Kid.» Sie seufzt.

«Warum nennst du Papa Kid?», fragt Sam.

«Na, er ist doch mein Kind, Samuel!» Sie streicht ihm über die kurzen Dreadlocks.

«Alle nennen mich Sam», sagt Sam.

«Es ist so schön, euch endlich kennenzulernen.»

«Lasst uns gehen, wir halten den Verkehr auf.» Schmälzle taxiert die Menschen, die dicht an ihnen vorbeigehen. Von wegen Abstand.

«Frau Deguis», sagt Claudia, «wir sollten aufbrechen.»

«Ich bin Manou», sagt Frau Deguis. «Und ich freu mich auf euer schönes Zuhause.»

«Es ist eine Baustelle», sagt Sam.

Manou winkt ab. «Ich brauche nicht viel.»

«Du siehst nicht aus wie eine anspruchslose Frau.» Schmälzle muss sich zügeln. Er will seinen Ärger verbergen, doch er hat ihn viel zu lange runtergeschluckt.

«Ich habe viel gesehen, Kid. Ich bin mein halbes Leben lang gereist», sagt sie und fügt leise hinzu: «Und jetzt bin ich einfach müde.»

«Ach. Und da fiel dir ein, dass irgendwo noch ein Sohn ist, den du vergessen hast?» Ohne eine Reaktion abzuwarten, dreht er sich um und peilt die Glastür an, die aus dem Flughafengebäude hinaus zum Parkplatz führt.

Manou seufzt. «Er ist böse. Weil ich mich vom Hof gemacht habe.»

«Das heißt vom Acker gemacht», korrigiert Sam.

Manou schnäuzt sich. «No allaweil», murmelt sie.

Schmälzle hört ein leises Schluchzen. Jetzt tupft sie sich die geheuchelten Tränen von den Wangen. Soll sie ruhig! Seit einer Woche fragt er sich, warum ihm seine Adoptiveltern verschwiegen haben, dass sich seine Leibliche aus Bayern meldete, dass sie am Chiemsee und danach in Paris war, während er sie im ärmsten Land Lateinamerikas wähnte. Haiti. Jenes Land, das sich mit der Dominikanischen Republik eine Insel teilt. Mit dem sonst keiner auch nur irgendetwas teilt. «Sie wollte nicht, dass ich es dir sage», behauptete Waltraud Schmälzle und seufzte mehrfach «ach, Schastin». Er grummelte: «Und wann wolltest du mir das sagen, Mutter, an deinem Sterbebett?»

Noch immer schmollt und grollt er. «Der Wagen steht im Parkhaus P4.» Er hebt die Hand. Obwohl er keinen Regenschirm mit sich führt, gibt er die Reiseroute vor.

 

Während er über die A81 und B296 – auf der schnelleren B295 ist mal wieder Baustelle – zurück nach Bad Wildbad in die Alte Steige fährt, weigert sich Schmälzle vehement, das Blaulicht einzuschalten. Nein, er will seiner Leiblichen nicht zeigen, was ein echtes «Cop-Car» alles draufhat. Auf gar keinen Fall! Und er hat auch keine Lust, ihr zu erzählen, was er in den vergangenen vier Jahrzehnten gemacht hat. Er überlässt die Konversation Claudia. Und Sam. Sie plappern, schwatzen und witzeln, als sei diese Person ein Familienmitglied. Schmälzle lässt es über sich ergehen, denn er ist sicher, dass sie sich nach den eineinhalb Stunden Fahrt schlafen legt. So ein Flug ist schließlich anstrengend. Auch, wenn er immer noch nicht weiß, woher sie wirklich kommt.

Schon am frühen Nachmittag ahnt er es, und am späten Abend hat er Gewissheit: Seine Leibliche ist tag- und nachtaktiv.

Nach einem kurzen Lunch, Claudia hat einen schnellen Salat gemacht, packt sie ihre Koffer aus. Das heißt, sie wirft den Inhalt auf ihr Bett und sagt: «Das erledige ich später, dafür ist noch viel Zeit.» Dann setzt sie sich in einem lilafarbenen Stoffgebilde, das an einen Kaftan erinnert, an den Esszimmertisch und zündet eine Shishapfeife an. Schmälzle kneift die Augen zusammen. Wieder fehlen ihm die Worte. Unverhohlen glotzt er die Person an, die in meditativer Ruhe einen Zug aus ihrer Pfeife nimmt. Rauchschwaden steigen zur Holzdecke empor. Er rennt zur Balkontür. Öffnet sie. Dann reißt er die Fensterflügel auf, alle vier, obwohl es kühl ist.

«Hier wird nicht geraucht!», blafft er.

«Kid», flötet Manou. «Kannst du die Fenster bitte schließen? Du willst doch nicht, dass ich mir den Tod hole.»

Es wäre eine Lösung. Eine nachhaltige Lösung. Es kann schließlich nicht sein, dass sie seine Wohnung einräuchert!

Geräuschvoll erhebt sie sich und schließt die Fenster. Dann nuckelt sie wieder an ihrem Mundstück.

Schmälzle weiß nicht, wohin mit sich. Er spaziert zum Sofa, rast ins Schlafzimmer, düst ins Untergeschoss, sucht was auch immer, kehrt zurück, reißt die Fenster abermals auf und stellt sich davor, um sie zu bewachen. Seine Gedanken fahren Achterbahn. Sie hat es wahr gemacht. Wie der Shinkansen, der schnellste Zug der Welt, kam sie in sein Leben gerauscht, mit 600 Kilometern pro Stunde. Und sie scheint es sich hier gemütlich machen zu wollen. Als sie das Gästezimmer sah, sagte sie lächelnd: «Ein richtiges Zuhause.»

Er wird Hausregeln einführen, ein Rauchverbot aussprechen, sie aussperren, sollte sie sich seinen Anweisungen widersetzen. Von ihm aus kann sie auf dem Balkon übernachten und dort weiterqualmen. Dass es jede Nacht ein halbes Grad kühler wird, ist das sein Problem?

Am Tag, den er am liebsten aus seinem Leben streichen würde

Er schreckt auf. Er muss eingeschlafen sein. Um ihn herum ist es stockfinster, kaum sieht er mehr die Hand vor seinen Augen.

Wo ist er? Was sind das für Schatten um ihn herum? Was will er hier, wieso liegt er auf dem Boden, mitten in der Wildnis, kauert unter einem Strauch oder Busch oder was auch immer ihn piesackt, was zur Hölle ist bloß los? Er zieht sein Handy aus der Tasche und leuchtet die Gegend aus. Der Strahl der Lampe huscht über ein Gewässer, ach ja, klar, vage erinnert er sich, sie waren an einem kleinen See! Er leuchtet weiter. Sein Blick fällt auf den Plastiksessel, der links neben dem Gewässer steht. Wie ein weißes Alien in einem Märchenland sieht das aus. Er springt auf, denn da sitzt einer. Ein Typ fläzt in diesem Plastiksessel. Der schnarcht nicht, aber er döst vor sich hin. Ist der weggetreten, wie er es gerade auch noch war? Wer ist das überhaupt? Er steht mühsam auf, geht einen Schritt auf den Mann zu. Starrt ihn an. Weicht zurück, die Hand vor dem Gesicht. Das kann nicht sein … er sieht noch einmal hin, tritt näher, schleicht ganz dicht heran. Stützt sich an dem Plastiksessel ab. Stutzt. Auf einmal weiß er es. Das ist … Tobias. «Tobias!» Er fasst an seine Schulter. Er schüttelt ihn. Sanft. Noch mal. Fester. Nichts. Tobias regt sich nicht. Warum regt der sich denn nicht? Das ist doch … das ist … Scheiße, Scheiße, Scheiße!

Sonntag, 17. Oktober

Als Schmälzle wach wird, tastet er nach Claudia, doch ihre Bettseite ist leer. Sein Smartphone zeigt 7.28 Uhr an. Warum ist sie so früh aufgestanden? Sie wird jetzt nicht für Manou Frühstück zubereiten? Die Anstrengung der Reise muss irgendwann zuschlagen, er hatte gehofft, dass sie den halben Tag im Bett verbringt.

Soll er ihr etwa ein Frühstückstablett mit einer Piccoloflasche Sekt ans Bett stellen, um sie zu beschäftigen? Er denkt nicht daran! Er hat endlich mal wieder einen freien Tag und will ihn genießen. Mit Claudia. Mit Sam. Nur sie drei, das wäre schön! So schön … wie sein Smartphone gerade vibriert. Leise. Er hat den Ton abgestellt. Verschlafen wischt er über den Bildschirm.

«Schmälzle», bellt Scholz aus dem Telefon. «Wo bleibst du?»

«Es ist Sonntag», brummt er.

«Ich brauch dich. Jetzt gleich.»

«Ich hab heute frei!»

«Hier ist der Bär los. Vielleicht auch ein Wolf, Genaueres wissen wir noch nicht.»

«Wolf, was denn für ein Wolf?»

«Zehn Minuten, Schmälzle.»

Was soll die kryptische Andeutung? War der Ruhestörer wieder im Einsatz? Wieso redet Scholz dann von einem Wolf? Schmälzle springt aus dem Bett und tapst ins Bad. Vielleicht tut ihm die Ablenkung gut. Sein Tagesplan ist sowieso dahin. Aber die Badtür, warum ist die nun auch noch abgeschlossen?

«Kid!», ruft Manou von innen. «Ich bin fast fertig.»

Er rauft sich die Stoppelhaare. Dann saust er quer über den Flur und sucht das zweite Bad auf, das nie einer nutzt, weil es dort noch aussieht wie in den 1970er-Jahren. Er spritzt sich kaltes Wasser ins Gesicht und huscht in die Küche. Claudia steht am offenen Tresen und bereitet vier Schalen Müsli zu. Er ahnte es! Er lässt einen Espresso aus dem Automaten, kippt etwas Reismilch dazu, nimmt einen Schluck. Der Kaffee entspannt ihn ein wenig.

Er fragt: «Schatz, warum bist du so früh auf?»

«Justin», sie dreht sich zu ihm um. «Wir haben Besuch. Schon vergessen?»

Er lässt seine Augen an ihrem langen Morgenmantel hochwandern. Verweilt auf einer vertikalen Falte, die sich zwischen ihren Brauen eingegraben hat. Er sieht ihr tief in die grünen Augen, in denen er sich so gerne verliert. Doch er hat schon genug verloren. Seine Privatsphäre, die ihm über alles geht. Wie kann diese Person, die er mehr liebt als alles andere, seine Leibliche als Besucherin ansehen, sie als solche behandeln und nicht wie ein lästiges Insekt? Er leert seine Kaffeetasse.

«Sorry, Schatz», haucht er. Dann nimmt er die Treppe ins Untergeschoss. Er steuert die Waschküche an, zieht Jeans und T-Shirt aus dem Trockner. Während er ins Erdgeschoss zurückkehrt, streift er die Kleidung über. Danach sucht er seinen Fahrradhelm, findet ihn auf der Ablage im Flur. Wahllos greift er nach einer Jacke, reißt sie vom Haken und bringt noch schnell hervor: «Bin am Nachmittag zurück.»

«Wo gehst du hin?» Claudia stellt sich ihm in den Weg.

«Ich muss in den Posten.» Er zieht die Jacke an. Sie ist zu eng. Zu bunt. Sie muss Sams sein. Er zieht sie wieder aus und nimmt eine andere vom Haken. Seine schwarze Funktionsjacke. Umständlich nestelt er am Reißverschluss.

«Ich dachte, du hast heute frei.»

«Scholz hat von einem Wolf gesprochen …»

«Ich werde auch zum Wolf, wenn du mich hier alleine lässt.» Sie schmollt.

Er drückt sie an sich. Drückt sie fester. Will sie gar nicht mehr loslassen, denn sie ist das Beste, was in seinem Erwachsenenleben passiert ist. Auch wenn ihr Essen ungenießbar und ihr Lachen peinlich ist – Claudia ist eine großartige Frau. Sie hat ihm Sam geschenkt. Sie nörgelt nicht an ihm herum. Also wenig. Quasi kaum. Und sie duftet nach Pfirsichshampoo. Er löst sich und flüstert ihr ins Ohr: «Ich beeil mich.» Als tauge dies als geheime Liebesbotschaft.

«Wir haben einen Gast, und du bist die Hauptperson in diesem Stück!», ruft sie ihm nach. Er registriert es kaum, flitzt immer zwei auf einmal nehmend die fünfundsechzig Treppenstufen runter zur Alten Steige.

 

In einem halsbrecherischen Tempo düst Schmälzle ins Tal. Er verlangt seinem Rennrad wirklich alles ab, versucht, die Bilder wegzutreten, bekämpft sie wie ein Fünfzehnjähriger seine Hormone. Es sind seine Dämonen. Sie sind aus ihrer Höhle gekrochen. Dreiundvierzig Jahre lang waren sie eingesperrt, saßen im Verlies, ohne Futter, ohne Streicheleinheiten, ohne Beachtung. Er hatte einen Riegel vorgeschoben. Jetzt muss er sich ihnen stellen. Aber er will es nicht. Noch nicht.