Schwarzwälder Morde - Linda Graze - E-Book

Schwarzwälder Morde E-Book

Linda Graze

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Beschreibung

Schwarzwald-Kennerin Linda Graze: originell und schlagfertig, mit einem hintergründigen neuen Fall für den unverwechselbaren Kommissar Justin Schmälzle. Genießen Sie die erfrischende Schwarzwaldluft - mit einem Hauch von Mord und Verbrechen. Flaute im Polizeiposten Bad Wildbad. Kollege Scholz bastelt Papierflieger, Kommissar Justin Schmälzle – Veganer, Reismilch-Macchiato-Fan und Badener mit haitianischen Wurzeln – langweilt sich. Bis eine Moorleiche mit eingeschlagenem Schädel gefunden wird, bei ihr eine beträchtlichen Anzahl Goldmünzen und eine große Flasche Kirschschnaps. Schmälzle reibt sich die Hände: endlich ein neuer Fall! Aber die Frau lebte im vorletzten Jahrhundert, meldet die Pathologie. Täter tot, seufzt Schmälzle … Wenigstens erzählt die Putzfrau des Postens von illegal verschobenen Grenzsteinen zwischen der Schnapsfabrik und der geplanten Wildbader Ferienanlage. Dann schießt jemand dem Investor der Anlage in den Fuß. Wer war das? Warum? Und bestimmt nicht immer die Vergangenheit die Gegenwart?

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Linda Graze

Schwarzwälder Morde

Kommissar Justin Schmälzle ermittelt

Über dieses Buch

Eine Jessassauerei

 

Flaute im Polizeiposten Bad Wildbad. Kollege Scholz bastelt Papierflieger, Kommissar Justin Schmälzle – Veganer, Reismilch-Macchiato-Fan und Badener mit haitianischen Wurzeln – langweilt sich. Bis eine Moorleiche mit eingeschlagenem Schädel gefunden wird, bei ihr eine beträchtliche Anzahl Goldmünzen und eine große Flasche Kirschschnaps. Schmälzle reibt sich die Hände: endlich ein neuer Fall! Aber die Frau lebte im vorletzten Jahrhundert, meldet die Pathologie. Täter tot, seufzt Schmälzle …

 

Wenigstens erzählt die Putzfrau des Postens von illegal verschobenen Grenzsteinen zwischen der Schnapsfabrik und der geplanten Wildbader Ferienanlage. Dann schießt jemand dem Investor der Anlage in den Fuß. Wer war das? Warum? Und bestimmt nicht immer die Vergangenheit die Gegenwart?

 

«Schauplätze, Waldgebiete, Hochmoore, Namen, Gebäude, Straßen und Einrichtungen, in denen der Krimi in und um Bad Wildbad spielt, sind authentisch ... Die Handlung jedoch ist natürlich frei erfunden. Es macht Spaß, sich mit dieser spannenden, in flottem Stil geschilderten Geschichte auf die Couch zurückzuziehen.» «Schwarzwälder Bote» über «Schmälzle und die Kräuter des Todes»

Vita

Linda Graze verbrachte ihre Kindheit im Nordschwarzwald. Nach einer Ausbildung zur Dolmetscherin beschloss sie: nicht die Texte anderer übersetzen, lieber selber schreiben! Sie wurde Werbetexterin und arbeitete für die großen Agenturen des Landes, von München über Hamburg bis Frankfurt. Sie schrieb Kampagnen für Kameras und Kosmetik, textete für Sahnebonbons, Schokoriegel und Schrauben. Inzwischen betreibt sie eine Recruiting-Agentur für die Werbebranche in Stuttgart. Mit «Schmälzle und die Kräuter des Todes» legte Linda Graze ihr furioses Krimidebüt vor, rasant, sehr lustig, mit einem unverwechselbaren Ton. «Schwarzwälder Morde» ist der zweite Band um Justin Schmälzle: Veganer, Badener mit haitianischen Wurzeln, ehrgeiziger Kommissar von Bad Wildbad.

Weil was wird ist was war

Montag, 6. Mai

Während im Bannwald die frühen Vögel zwitschern

«Du musst unten anfangen zu graben, Harald. Im Keller. Da liegt die erste Leiche. Um die geht es, bei jeder Serie.» Schmälzle nippt an seinem Reismilch-Macchiato und bringt den Schreibtischstuhl in Schräglage. Aus den Augenwinkeln betrachtet er den Polizeipostenleiter, der am anderen Schreibtisch sitzt und sich über eine aufgeschlagene Zeitung beugt. Schmälzle glaubt, zwei, drei neue Silberfäden in den dunklen Haaren des Kollegen auszumachen. Könnte aber auch am Licht liegen – der Posten ist sonnendurchflutet.

Scholz fragt: «Von welcher Serie sprichst du? Wir haben nicht mal einen einfachen Mord.»

«Noch nicht, Kollege.» Schmälzle fährt sich über die Stoppelhaare und seufzt. «Wenn sich mal die Särge vor uns stapeln, finden wir bei der ersten Leiche das Motiv.»

Der Postenleiter sieht ihn scharf von der Seite an. «Ist alles okay mit dir, Schmälzle?»

«Das ist Polizeipsychologie, Harald.»

«Aha.»

«Es ist symbolisch gemeint. Metaphorisch. Also im übertragenen Sinne.»

«Übertragene Leichen. Metaphorische Tote. Soso.» Scholz legt die Zeitung weg und knackt seine Finger.

Das Seminar gestern war gut, fand Schmälzle. Er hat die alten Kollegen getroffen, sie haben über Täterprofile und Tatmotive diskutiert und danach zwei Bier über den Durst getrunken. Er vermisst das Dezernat 1.1 Kapitalverbrechen, Selbsttötungen, Brände und Beamtendelikte der Kriminalinspektion Karlsruhe. Hätte die Rommel-Klinik nicht gerufen und seine Frau nicht geklagt – «Justin, ich kann dieses Angebot nicht ablehnen!» –, er säße heute noch dort. «Wir könnten pendeln», hatte er vorgeschlagen. «Und Sam geht im Zug zur Schule?», hatte sie entgegnet.

Seitdem sitzt Schmälzle in der Bätznerstraße 2, im Posten des beschaulichen Bad Wildbads, wo ihn eine tiefe Stimme ermahnt: «Während du nach symbolischen Leichen gräbst, Kollege, kümmere ich mich um die Anzeige.» Mehrmals tippt Scholz auf ein Papier, das auf seiner Zeitung liegt.

Schmälzle kann nicht lesen, was auf dem Papier steht, weil Scholz’ Schreibtisch zwei Meter von seinem entfernt steht. Quer. Also fragt er höflich: «Was für eine Anzeige, Harald?» Dabei streicht er das blaue T-Shirt über seinen Bauchmuskeln glatt. Es spannt – er hatte viel Zeit zum Trainieren in den vergangenen Monaten.

«Eine echte Anzeige, Schmälzle. Aus dem Hier und Jetzt.»

«Okay, Harald. Du kümmerst dich um die Anzeige, und ich löse die Kriminalfälle.»

Scholz hebt die Brauen.

«Also wieder nichts Neues.» Frustriert leert Schmälzle den Macchiato.

«Der Reichsbürger sitzt im Knast. Und der böse Wolf ist fort», sagt Scholz.

«Der Flüchtling aus Norddeutschland. Wie hieß der noch mal?»

«GW852.»

«Du hattest doch so großes Verständnis für ihn, Harald.»

«Der war ja auch ein einsamer Wolf.» Mit diesen Worten hebt der Postenleiter das Papier auf seiner Zeitung hoch und faltet es der Länge nach.

«Er hat dreißig Schafe gerissen. In einer einzigen Nacht.» Schmälzle fragt sich, was der Kollege wohl vorhat?

Scholz klappt die rechte obere Ecke zur mittigen Linie um. Grummelt: «Es war eine blutrote Nacht.» Dann wiederholt er das Ganze mit der linken Ecke.

Schmälzle erinnert sich gut an den Tag, an dem vierundvierzig Schafe auf der Landstraße zwischen Bad Wildbad und Enzklösterle getötet wurden. «Wildbad wird Wolfsland», unkte die Presse. Danach gab es noch Probleme mit einem renitenten Reichsbürger. Bei dessen Festnahme im Ortsteil Calmbach wurde ein Kollege angegriffen und musste im Krankenhaus behandelt werden. All dies geschah im letzten Jahr. In diesem Jahr gab es bisher nur eine Drogenrazzia. Hundert Kollegen waren beteiligt, die über sechzig Kilo Marihuana, zudem Ecstasy, Bargeld sowie Waffen sichergestellt und eine Cannabis-Aufzuchtanlage trockengelegt haben. Sieben Gebäude wurden allein in Bad Wildbad durchsucht, weitere im Raum Böblingen und im Ortenaukreis. Wochenlang waren sie dran. Schmälzle hatte Blut geleckt. Inzwischen ist das Blut wieder getrocknet.

Scholz holt ihn zurück in die Gegenwart. «Die Anzeige betrifft dich, Schmälzle.»

Sein Schreibtischstuhl dotzt auf dem Holzboden auf. «Mich? Wieso mich?»

Scholz faltet das Papier jetzt längsseitig und lässt eine Ecke die erste Tragfläche bilden. Dann wendet er das Blatt und widmet sich der zweiten Tragfläche. Vorsichtig nimmt er das Konstrukt in die Hand und schlägt die Enden zu Stabilisatoren um. Danach schickt er es auf die Reise. Flugrichtung Schmälzle. Der fängt den Papierflieger mit Daumen und Zeigefinger ab und lässt ihn zum Postenleiter zurücksegeln. Flach über die Schreibtische hinweg jagt das Objekt durch den Luftraum. Mit einem kühnen Hechtsprung schnappt Scholz nach dem Flieger und ruft: «Was du wieder für ein Glück hast, Kollege.»

Schmälzle taxiert Scholz. Warum dieser vor einem halben Jahr seine Uniform gegen Schwarz eingetauscht hat, weiß er bis heute nicht. Aber es ist jeden Tag das Gleiche: schwarzer Pulli zur schwarzen Stoffhose. Schwarzes Hemd zur schwarzen Cargohose. An diesem Tag steht schwarzes T-Shirt zu schwarzen Jeans auf dem Kleiderzettel.

«So einen Chef hatte ich nie», sagt Scholz. «Hätt ich immer gern gehabt.»

«Wie meinst du das, Harald?»

«So, wie ich es sage, Schmälzle. Weder symbolisch noch metaphorisch.»

Bevor Schmälzle Zeit hat, das Gesagte in seinem Hirn zu verarbeiten, düst das Flugobjekt über seinen Kopf hinweg. Weil die Fenster weit geöffnet sind – das Thermometer kletterte schon am Vormittag auf 20 Grad –, segelt der Flieger in die Freiheit. Er passiert die Stacheln des Kaktus, windet sich ein-, zweimal in der Schwarzwaldluft und steuert geradewegs auf den Gehweg zu. Schmälzle ist ans Fenster getreten und starrt dem Flieger erschrocken nach. Dabei erspäht er eine Seniorengruppe, die mit Walkingstöcken bewaffnet das ehemalige Forsthaus mit den hübschen grünen Fensterläden bestaunt. Als der Flieger über ihre Häupter gleitet und hernach im freien Fall zu Boden geht, ruft ein Weißhaariger: «Ha, waaas!»

«Ha, no!», pflichtet ihm eine Seniorin bei, die sich nach vorne beugt, den Blick auf den Flieger gerichtet. Schmälzle schaut auf einen Rücken voller Rosen.

Ein ballonartiger Glatzkopf schleicht sich an das Papier heran und verkündet mit kehliger Stimme: «Des kommt von der Wildbader Bolizei!»

«Ha, ja!», antwortet die Rosenbluse. Beide gehen in die Hocke und taxieren den Flieger argwöhnisch. Doch der liegt reglos im Rinnstein und macht keine Anstalten zu explodieren.

«Die henn an schwarze Kommissar, henn ihr des gwusst?», fragt der vierte Senior. Sein gelbes Käppi lässt Schmälzle an den Schrecklichen Pfeilgiftfrosch denken.

«An schwarze Kommissar?» Der Weißhaarige klingt nicht erstaunt, er klingt belustigt.

«Der guckt grad zom Fenschter raus», berichtet Seniorin Nummer fünf. Den Kopf in den Nacken gelegt, schiebt sie ihr türkises Stirnband zum Haaransatz hoch.

Die Rosenbluse formt Daumen und Zeigefinger zu Kringeln und kreist damit ihre Augen ein, als befürchte sie, die bloße Sehkraft würde ihr ein Schnippchen schlagen. Sie mustert Schmälzle neugierig.

Der beugt sich weiter aus dem Fenster. Wedelt mit den Armen, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. «Entschuldigen Sie bitte!», schreit er. «Der Flieger da, also der ist uns versehentlich entwischt, ich hol ihn gleich, lassen Sie ihn einfach liegen.»

«Isch des ein Corpus Delicti?», fragt der Pfeilgiftfrosch.

«Net anfasse!», warnt die Rosenbluse. «Da könntet Spure drauf sei.»

«Entführet die Leut jetzt scho Papierflieger?», wundert sich der Glatzkopf.

In das laute Lachen der Senioren tönt der Bass von Scholz. «Schmälzle! Pass auf, dass die das nicht zu lesen kriegen.»

Schmälzle wird das Gefühl nicht los, erneut eine Karte aus dem Stapel gezogen zu haben, die mit dem Buchstaben A beginnt. Er überlegt, ob er springen soll. Es ist das Hochparterre, keine große Sache. Aber es würde komisch aussehen, wenn ein Hauptkommissar aus dem Fenster seines Postens hüpft, ohne dass im Hintergrund die Flammen lodern. Erleichtert stellt er fest, dass die mit dem türkisen Stirnband den Flieger aufgehoben hat.

Sie hält ihn triumphierend in die Luft. «Des isch net g’sund, wenn mer sich uffregt», sagt sie und nähert sich mit einem verschmitzten Zwinkern dem Fenster. Dann fügt sie hinzu: «Senn Sie mit dem, wie heißt der nomal, Werner, wie …»

«Will Smith», lacht der Pfeilgiftfrosch.

«Senn Sie mit dem verwandt?», fragt die Rosenbluse.

Schmälzle verneint. Dann beugt er sich weiter aus dem Fenster, tief hinab, bis er den Flieger zu fassen kriegt.

Auch Scholz ist inzwischen ans Fenster getreten und späht über Schmälzles Schulter auf die konzertierte Seniorenaktion. «Wollen Sie eine Meldung machen?», brüllt er in die Runde.

«Ha, noi», sagt der Weißhaarige.

«Wer weiß», fiept der Pfeilgiftfrosch, worauf wieder fünfstimmiges Lachen folgt.

Doch Scholz versetzt der heiteren Runde den finalen Stoß: «Die Arrestzelle ist gerade frei. Sie ist frisch geputzt, immer hereinspaziert.»

«Dankscheh», haucht die Rosenbluse.

«Mir esset unser Gnadenbrot lieber in der Wirtschaft», meint der Glatzkopf. Eiligst verabschieden sich alle Fünfe und stapfen schnellen Schrittes und schnaufend den steilen Berg hinauf, den Stöcken nach, die dockdockdock dockdockdock den Takt vorgeben.

Erst jetzt erfährt Schmälzle, dass der Papierflieger tatsächlich eine Anzeige ist. Eine anonyme. Sie betrifft einen Falschradler. Nicht nur am hellen Tag schände dieser den Kurpark, auch in finsterer Nacht sei er gesichtet worden, heißt es da. Schmälzle wird blass um die Nase, als Scholz weiterliest, während er das Blatt wie ein Akkordeon aufzieht: «Der Kurpark ist Fußgängerzone. Bis auf die Radwege, die deutlich als solche ausgewiesen sind. Vorne wie hinten und in der Mitte erst recht dürfen die idyllischen Fußwege nicht auf Zweirädern befahren werden. Das dunkle Erscheinungsbild des Täters, der kurzgeschorenes Haar trägt, um die 185 Zentimer groß und schlank ist, weist stark darauf hin, dass dieser im Polizeiposten der Stadt sein Brot verdient. Dies ist eine Jessassauerei, weil ein Staatsdiener Vorbild zu sein hat!»

Stille in der Bätznerstraße 2. Allein die Fliege, die hinter einem Fensterflügel umherschwirrt, surrt vor sich hin, aggressiv, wie irre in Anbetracht der vielen Sprossen auf der Scheibe. Dabei müsste sie nur um die Ecke fliegen, denn das Fenster steht nach wie vor sperrangelweit offen.

Schmälzle räuspert sich. «Das mit der Anzeige, Harald. Das ist ein Witz.»

Scholz schüttelt den Kopf. «Also?»

«Ich, äh …»

«Du bist nicht … oder etwa doch?»

Schmälzle ist natürlich nicht nur etwa, sondern sehr häufig mit dem Rad im Kurpark unterwegs, und das nicht nur auf Fußwegen, sondern mit größter Begeisterung wiesenauf und -ab. Die unzähligen Ausflüge im vergangenen Jahr haben seine Muskeln gestählt und obendrein seine Gedanken in Fahrt gebracht. Er hustet, hüstelt nach und fragt leise: «Was machst du damit?»

«Was wohl», sagt der Postenleiter und lässt den Flieger in einen Drahtkorb segeln.

«Danke, Harald.»

«Scho’ gschwätzt.» Mit einem energischen Fußtritt befördert Scholz den Papierkorb unter seinen Schreibtisch.

Mai 1869

In der Ferne schlug die Kirchturmuhr vier Mal. Es war finster in der Stube, kein Stern erhellte mein Dasein, keine Laterne warf ihren Lichtstrahl auf mein Bett. Stumm schlug ich die Decke zurück, verließ die Höhle der mich wärmenden Federn und schlüpfte in die alten Pantoffeln, deren Filz sich an den Rändern bereits auflöste. Dann richtete ich den Blick auf Gustav. Er regte sich nicht. Vorsichtig stopfte ich das Federkissen unter die Bettdecke, sodass sie sich wölbte. Gustav sollte glauben, ich schlafe, wenn er mit seinen groben Händen nach mir tastete. Halbwach schlich ich durch die kalte Stube zur Tür, warf einen letzten Blick auf den gleichmäßig Schnarchenden und tapste über das Holz. Beim ersten Knarzen verharrte ich und schielte zurück auf das Bett. Gustavs dicker Bauch hob und senkte sich mit jedem Atemzug, seine Lider waren fest geschlossen. Friedlich wirkte er, stattlich. Nur die groben Hände, die auf der Decke ruhten, verrieten, dass kein feiner Herr in meinem Ehebett lag.

Dienstag, 7. Mai

Die Bahnhofsuhr zeigt auf fünf vor, ups, auf fünf nach zwölf.

«Herr Scholz! Herr Schmälzle!»

Noch kann er sie nur hören, aber seine Phantasie läuft auf Hochtouren. Schmälzle imaginiert einen pinkfarbenen Jogginganzug den kargen Flur entlanghuschen.

Schon mit dem nächsten Wimpernschlag wird die Tür zu dem Raum aufgestoßen, in dem die Kommissare beschäftigt sind. Der eine mit seinem Smartphone, der andere mit seinen Fingernägeln.

Während die Perle des Polizeipostens Bad Wildbad eine Haarsträhne zurück in das blonde Nest auf ihrem Kopf befördert, sagt sie: «Gut, dass Sie da sind!»

«Es ist nicht Putztag, Frau Meichle», blafft Scholz.

Schmälzle reckt die Nase in die Luft. Ein süßlicher Duft umhüllt die füllige Figur der Frau. Maiglöckchen. Blitzschnell öffnen sich ihre Lippen, die farblich aufs Outfit abgestimmt sind. Sie schnappen nach Luft.

Frau Meichle sagt: «Sie henn doch nix zom do.»

«Wir haben immer was zu tun, Frau Meichle», erklärt Scholz. Schmälzle will die Beine vom Schreibtisch nehmen, da registriert er, dass sie den Flachwischer nicht dabeihat. Was ist los?

«S’isch was passiert», keucht sie. «S’isch ernscht!»

Scholz bricht in schallendes Gelächter aus. «Ist der Ernst nicht aus der Wirtschaft heimgekehrt?»

«Sie müsset nach Nonnenmiß, Herr Scholz. Da hat einer Steine versetzt», sprudelt es so schnell aus ihr hervor, dass sie sich fast verschluckt.

«Bei uns werden bloß Berge versetzt, Frau Meichle.» Scholz knackt die Finger seiner rechten Hand.

«Illegal, Herr Scholz, des waret Grenzsteine.»

«Was für Grenzsteine?», mischt sich Schmälzle ein.

«Die sind g’wandert, Herr Schmälzle. Zwei, drei Meter ins Nachbargrundstück nei. Heimlich! Mitte in der Nacht.»

«Sagten Sie Nonnenmiß, Frau Meichle?» Schmälzle hat ein Déjà-vu.

«Dort wohnt mei Tochter», erzählt sie.

«Da wohnen noch hundert andere Leute.» Scholz zieht die Finger seiner linken Hand lang, bis es auch da fünfmal knackt.

Frau Meichle betrachtet den Postenleiter missbilligend. Dann beugt sie sich weit über seinen Schreibtisch und sieht ihm in die Augen. Scholz rollt den Stuhl einen halben Meter zurück, als fürchte er sich vor einer Duftattacke der Maiglöckchen. «Des hat dem net g’falle!», zischt Frau Meichle.

Scholz wird ungeduldig. «Wem hat was nicht gefallen? Frau Meichle, Sie sprechen in Metaphern!» Er zwinkert Schmälzle zu. «Es sind symbolische Worte, die Sie von sich geben.»

Sie droht mit dem rechten Zeigefinger. «Herr Scholz! Dieser Inveschtor isch in Gefahr.»

«Was für ein Investor?», fragt Schmälzle.

«Sie meint einen Stäffelesrutscher, Kollege.»

«Einen, der im Benz über die A81 brettert?»

«Weil er glaubt, er kann sich alles einverleiben, was keine dreitausend Euro den Quadratmeter kostet.»

«Der fährt Porsche», unterbricht Frau Meichle. «A riesigs Schiff isch des, dem sei Fahrzeug.»

«Ein Cayenne», präzisiert Schmälzle.

«Weil man die Stäffele nicht mit dem 911er runterfahren kann», sagt Scholz.

«Deshalb braucht man in der Landeshauptstadt einen SUV.»

«Damit kann man sogar durch die Innenstadt brettern.»

«Wenn die Ampel ausnahmsweise auf Grün schaltet, ist man in vier Sekunden auf hundert.»

«Und fährt dem Feinstaub davon.»

Frau Meichle räuspert sich. «Also der hat a Grundstück kauft, dieser Inveschtor.»

Scholz winkt ab. «Das tun sie alle, Frau Meichle.»

«Nebe der Schnapsfabrik! Da willer a Villa nobaue. Und a Ferieanlage.»

«Nobaue?», echot Schmälzle.

«Hinsetzen, -stellen, -legen, such dir was aus», antwortet Scholz, dann fragt er Frau Meichle: «Was für eine Ferienanlage?»

«Ha, des Vorzeigeprojekt von unserm Bürgermeischter!» Die Putzfrau richtet ihre so kurz wie breit geratene Gestalt auf und stemmt die Hände in die Hüften. «Alles isch da passiv, die Öko-Werte – tipptopp. Weil die Ferienanlage mit Solarenergie und Windenergie betriebe wird. Bloß die Villa …» Sie stößt einen Seufzer aus. «Die … also des soll a neumodisch’s Designerhaus werde. Viereckig. Ällas wird grad. Sogar’s Dach.»

«Schön!», freut sich Schmälzle. «Es geht gut ohne Erker und Türmchen auf dem Wintergarten, Frau Meichle.»

«Henn Sie was gege Türmle und Wintergärte, Herr Schmälzle?»

«Worum geht’s, Frau Meichle?», bellt Scholz. Laut. Wie der GW852.

Die Putzfrau setzt eine bedeutungsschwere Miene auf. «Dem hat einer d’Reife uffgstoche. Und des isch strafbar nach dem Paragraphe, nach dem, welcher isch des nomal, des isch doch der 315b. Absatz, Absatz …»

«Der Paragraph 315b Absatz 1 betrifft die Beschädigung eines Gullideckels, Frau Meichle», klärt Scholz auf.

«Was meinen Sie mit ‹uffgstoche›?» Auch im zweiten Jahr seiner Tätigkeit in der Kurstadt ist Schmälzles Schwäbisch alles andere als perfekt. Bei seinen unzähligen Radausflügen ins Umland hat er Wörter gehört, deren Sinn sich erst beim Niederschreiben erschließt und in Fällen wie «Blaffo» oder «Schässlo» nur nach dem Heranziehen der französischen Sprache.

«Aufgestochen, Herr Schmälzle!» Frau Meichle zieht ein Schweizer Messer aus ihrer Hosentasche, öffnet es in Windeseile und sticht damit auf die Schreibtischplatte ein, hinter der Schmälzle sitzt. Der starrt auf das Messer, das vor ihm aus dem Holz ragt. Der rote Griff mit dem weißen Kreuz wiegt sich im lauen Sommerwind.

«Frau Meichle!», tadelt Scholz.

«Des isch Sachbeschädigung», sagt sie.

«Allerdings.» Schmälzle zieht das Messer aus seinem Schreibtisch und inspiziert die Klinge. Sie ist ziemlich scharf.

«Warum wissen wir nichts von dieser Reifenaufstecherei?», posaunt Scholz.

«I sag’s Ihne doch grad, Herr Scholz», flötet Frau Meichle und reißt Schmälzle das Messer aus der Hand. «Am beschte machet Sie Ihre Arbeit, on i mach meine», sagt sie. Dann beugt sie sich vornüber, wobei sie Schmälzle ihr Hinterteil entgegenstreckt, und beginnt, mit der Messerspitze ein paar festsitzende Staubkörner von den Sockelleisten zu kratzen.

«Okay, Kollege, schauen wir, was es damit auf sich hat.» Scholz steht auf und gibt Schmälzle ein Handzeichen, was nicht nötig wäre, denn der ist ihm bereits auf den Fersen. Fast wären sie mit einem groß- und breitflächigen Mann zusammengestoßen, der gerade den Posten stürmt, ein schwarzes Cap mit Porsche-Emblem auf dem Kopf.

«Sind Sie der Cayennefahrer?», fragt Scholz.

Der Großflächige lacht. «Beschäftigt die Polizei jetzt schon Hellseher? Sagen Sie jetzt bitte nicht, dass ich Zahnarzt bin.»

Schmälzle schaut den Mann fragend an.

«Na, der Pole knackt Autos, und der Zahnarzt fährt Cayenne», kichert der Mann. «Aber ich kann Sie trösten, ich bin Notar.»

«Praktisch», sagt Scholz. «Da bekommt man Wind von Anlageschnäppchen, bevor das Normalvolk davon erfährt.»

«Wär ja komisch, wenn es nicht so tragisch wäre.»

«Wir nehmen es zu Protokoll. Das mit den Reifen.» Scholz kehrt an seinen Schreibtisch zurück und zeigt auf den Besucherstuhl.

«Sorry, ich komme von der Baustelle.» Der Mann beäugt seine dreckigen Schuhe. Sie erinnern Schmälzle daran, dass er sein eigenes Haus endlich fertig sanieren muss.

«Name?», fragt Scholz, nachdem der Notar Platz genommen hat.

«Langner», sagt der Notar.

Scholz brüllt: «Leo. Protokoll!»

«Leonie ist im Urlaub», sagt Schmälzle.

«Was?»

«Andreas Langner», sagt der Notar.

«Wieso ist die im Urlaub? Unsere Assistentin kann doch nicht einfach …» Übellaunig fährt Scholz seinen Rechner hoch und wendet sich wieder an den Notar. «Kennzeichen?»

«BB-AL 100.»

«Sie sind gar kein Stäffelesrutscher?», fragt Schmälzle.

Andreas Langner grinst. «Sind die Stuttgarter hier so unbeliebt wie bei uns?»

«I kenn Böblinge gut, Herr Langner, da kommt mei Schwager her.» Frau Meichle reibt sich mit dem Ärmel ihres pinkfarbenen Oberteils über die erhitzte Wange. Der Griff des Messers liegt drohend in ihrer Faust, die Klinge ist spitz auf den Notar gerichtet. Der dreht sich zu ihr um. Seine dunklen Locken wippen mit, aber er scheint den Sachverhalt nicht zu begreifen.

«Feierabend, Frau Meichle!» Scholz scheucht die Putzfrau mit einer wedelnden Handbewegung aus seinem Blick und fasst zusammen: «Also, Herr Langner. Was ist wann, wie und weshalb vorgefallen?»

«Wie Sie vielleicht wissen, baut die Stadt eine Ferienanlage in Nonnenmiß.»

«Des isch in der Zeitung g’stande!», ruft Frau Meichle aus dem Hinterhalt.

«Ich gehöre zu der Investorengruppe, die das Projekt mitfinanziert», fährt der Notar fort und wirkt, als wisse er nicht, an wen er das Wort richten soll.

«I hab des dene Herre gsagt! Ällas hab i dene gsagt.»

«Tür zu!», befiehlt Scholz.

«Bin scho weg.» Die Putzfrau lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Schmälzle ermuntert den Notar weiterzusprechen.

«Der Architekt hat einen Verstoß aufgedeckt. Laut Bauplänen und Teilungserklärungen ist die Grenze um dreieinhalb Meter verschoben worden. Zu unseren Ungunsten.»

«Dafür ist das Ordnungsamt zuständig.»

«Bei der Stadtverwaltung war ich schon. Aber die Reifensache, die hängt irgendwie damit zusammen.»

«Welcher Reifen war es?», fragt Scholz.

«Alle vier», stöhnt Andreas Langner. «Wissen Sie, was so ein Reifen kostet? Dazu der Abschleppwagen, für den musste ich dreihundert Euro vorschießen.»

«Wann war das?», fragt Schmälzle.

«Gestern Vormittag.»

«Geht’s genauer?»

Der Notar hält sein Handy hoch. «Hier, sehen Sie, das war … um zwölf Uhr vierundzwanzig.» Schmälzle erkennt einen schwarzen Porsche Cayenne, Modell E-Hybrid. Die platten Reifen sind nicht zu übersehen. «Den Termin hatte ich um zwölf Uhr, also …»

«Ist es zwischen zwölf und zwölf Uhr vierundzwanzig passiert», schlussfolgert Scholz.

«Und vom Täter?», fragt Schmälzle.

«Keine Spur.»

«Warum sind Sie dann erst heute hier?», fragt Scholz.

«Ich hatte einen Gerichtstermin und musste weg. Da hab ich schnell ein Taxi genommen.»

«Weshalb waren Sie vor Ort, und wo waren Sie, als es passiert ist?», will Schmälzle wissen.

«Ich war mit dem Architekten, dem Bauleiter und dem Bürgermeister auf dem Platz, wir haben über die Anlage gefachsimpelt. Den Wagen hatte ich nicht im Blick, der stand unten, an der Straße.»

«Haben Sie eine Vermutung, wer das getan haben könnte, Herr Langner?» Schmälzle richtet seinen Drehstuhl so aus, dass er den Notar im Blick hat.

Der nickt. «Das war der Nachbar. Dieser Schnapsbrenner. Der verhält sich schon die ganze Zeit aggressiv, schleicht dauernd auf dem Platz herum und will uns vertreiben. Auch den Bürgermeister hat er angeblafft.»

«Der Willi ist manchmal ein Hitzkopf», beschwichtigt Scholz.

«Willi?» Schmälzle reibt sich die Nasenwurzel.

«Willi Hauck», klärt Scholz auf.

«Hauck! Ja, genau», sagt Andreas Langner.

«Der macht den besten Obstbrand in der Gegend», sagt Scholz.

«Hat er Sie bedroht?», fragt Schmälzle.

«Und ob! Ich hab ihn höflich darauf hingewiesen, dass sein gläserner Anbau viel zu weit ins Nachbargrundstück hineinreicht, da hat er vor mir auf den Boden gespuckt.»

«Aber Sie haben nicht gesehen, dass er die Reifen aufgestochen hat», mutmaßt Schmälzle.

«Leider nicht», sagt Andreas Langner.

«Gibt es sonst jemanden, dem Sie die Tat zutrauen?», fragt Scholz.

«Sie meinen, ob ich Feinde habe? Logisch. Jeder, dem ich eine Rechnung geschrieben habe.» Langner schmunzelt.

«Wir könnten die Reifen auf DNA-Material untersuchen», schlägt Schmälzle vor.

Scholz protestiert. «Viel zu aufwendig.» Dann wendet er sich an den Notar: «Sie haben doch eine Vollkaskoversicherung. Die zahlt bei Vandalismus.»

Andreas Langner bejaht. Dann nestelt er in seiner Hosentasche und zieht ein zerknülltes Papier hervor. «Jemand hat mir das unter den Scheibenwischer geklemmt …» Er faltet den Zettel auseinander. «Hau ab! Hier braucht dich keiner. Hier will dich keiner», liest er vor.

«Ein Drohbrief.» Schmälzle begutachtet das linierte DIN-A5-Blatt. Die Buchstaben sind rot. Mit einem Buntstift gekritzelt. Sam benutzt so was im Zeichenunterricht.

«Das ist ja eine Hiobsbotschaft nach der anderen!», ruft Scholz.

Hiob wäre froh gewesen ob des Inhalts dieser Nachrichten, denn es scheint kein Sohn in Gefahr zu sein, und eine richtige Tragödie ist das auch nicht, denkt Schmälzle. Und sagt: «Vielleicht waren es gelangweilte Kids. Im Pulk sind die besonders stark. Oder es war einer, dem die Nacht zusetzt.»

«Oder es waren die Geister, die er nicht loswird», lacht Andreas Langner.

Scholz spricht das Polizeipostenleiterwort: «Wer immer das getan hat, dem ziehen wir die Ohren lang.»

Nachdem sie den Notar verabschiedet haben, greift Scholz nach dem Schlüsselbund, der unter einem hohen Papierstapel auf seinem Schreibtisch verborgen lag. «Wir ermitteln morgen in der Sache. Ich hab jetzt einen Termin.»

Schmälzle starrt dem Postenleiter nach. Dann spaziert er in die winzige Küche, in Slow Motion, passend zu einer Western-Melodie von Ennio Morricone, die sich in seinem Kopf abspult. Er greift hinter den geblümten Vorhang und zieht ein ausrangiertes Milchkännchen hervor, füllt es mit kaltem Wasser und marschiert zur Fensterbank. Er trägt das Kännchen vor sich her wie John Wayne einst seine Knarre. Dann hebt er den Arm. Zweihundertfünfzig Milliliter Wasser rinnen über das vertrocknete Gewächs. Schmälzle hält erst inne, als die Flüssigkeit über den Rand des Kaktustopfes tritt und auf den Holzboden tropft. Er muss es tun. Heute ist einer jener Tage, an denen er Schreie vernimmt, die sonst keiner hört. Die Hilferufe aller Kreaturen. Wie Klumpen setzen sie sich in seinem Magen fest. Kurz bevor etwas Schlimmes passiert, flüstert ihm der Klumpen zu: «Der Sensenmann, der Sensenmann hat sein Opfer längst im Bann.» Schon in der Schule hat der Klumpen zu ihm gesprochen. Drei Tage bevor sein bester Freund vom Fahrrad gefallen ist und er außer seinen Cousinen wochenlang niemanden zum Spielen hatte.

Nach dieser Heldentat hat er einen Reismilch-Macchiato verdient.

Mai 1869

Die Uhr an der Wand zeigte Viertel nach vier, als ich in die Küche huschte und mir einen Kaffee zubereitete. Ich nahm nicht den Alltagskaffee aus Zichorie, sondern holte den Sonntagskaffee aus dem Buffet. Schon gestern hatte ich ihn gemahlen, als Gustav in der Rußhütte gewesen war. Ich roch an den Bohnen, und der Duft der Wohlhabenden kitzelte meine Nasenhärchen. Ich lächelte, als das Wasser durch den Filter sickerte. Heute gönnte ich mir nicht nur ein Stück Schwarzbrot mit ein wenig Butter, ich legte zwei Stück Schwarzbrot auf mein Frühstücksbrett und bestrich sie mit einer Messerspitze mehr Butter. Es war kein gewöhnlicher Montag oder Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag oder Samstag. Es war der erste Montag im Monat. Ein Monat ohne r. Ein Sonnenmonat. Gierig biss ich in das selbstgebackene Brot und schmatzte vor Vergnügen. Ich erschrak. Gustav durfte nicht aufwachen, ich musste mich still verhalten. Doch sein Schnarchen drang durch die geschlossene Tür an mein Ohr. Ich kaute mit Bedacht. Ich wusste, dass mich das Brot kaum stärken würde für den Weg, der vor mir lag. Aber der Hunger nagte an uns allen. In winzigen Schlucken schlürfte ich den heißen Kaffee. Er sollte mich von innen wärmen. Ich zog die Wolljacke enger, damit sie meinen Leib umarmte, von dem Gustav sagte: «Klapperdürr, wie du bisch, krieget mir nie a Kind.» Aber er tat nichts dafür, dass ich mehr Fleisch auf die Knochen bekam, denn sein Einkommen reichte kaum für das Allernötigste.

Ich strich das Unterkleid glatt, das mir weit über die Knie reichte, und streifte mein Winterkleid über. Es berührte fast den Boden. Darüber legte ich meinen warmen Mantel, den guten aus Wolle, den ich in die Kirche trug. Die Arbeitsstiefel schnürte ich so fest, dass mir die Knöchel schmerzten. Ich musste mich sputen. In einer Viertelstunde würde Gustav auf den Beinen sein. Ich huschte aus der Stube und legte mir im Gehen den Bausch auf den Kopf, den ich aus Stoffresten gefertigt und mit Spreu gefüllt hatte und der am Garderobenhaken hing. Das Mohrle stand an der Tür und kratzte am Holz, miaute laut. Ich hielt mir den Zeigefinger an die Lippen. «Psst, Mohrle, still!», flüsterte ich. Die Katze maunzte weiter, strich um meine Waden und wich mir nicht von der Seite. Ich streichelte sanft das weiche Fell und schlug seufzend die Tür hinter mir zu. Ich zerrte die große, bauchige Flasche aus dem dichten Holunderstrauch neben dem Schuppen, holte den Jutebeutel mit meinem Hab und Gut hervor und legte ihn mir am Lederriemen über die Schulter. Mit beiden Händen stemmte ich die Glasflasche hoch und stellte die schwere Last auf meinen Kopf. Ich rückte sie so lange zurecht, bis sie auf dem Tragring verharrte. Lautlos schlich ich die Ascherhau entlang in den Wald hinein. Wie ein Einbrecher, der in pechschwarzer Nacht auf Beutezug geht.

Dienstag, 7. Mai

Vom frühen bis in den späten Nachmittag

Während sie in Scholz’ altem Saab von der Bätznerstraße stadtauswärts cruisen und vom ersten Kreisverkehr geradeaus in den zweiten Kreisverkehr geradeaus in den dritten biegen, fällt kein Wort. Auch nicht, als Scholz in den Tunnel hinein und aus dem Tunnel heraus in die Kernerstraße fährt und den Kurpark rechts liegen lässt. Erst als die Zweispurige zur L351 wird und ohne nennenswerte Kurven und Ampeln an den wenigen Häusern von Christophshof und Sprollenmühle vorbei nach Nonnenmiß führt, schiebt der Polizeipostenleiter eine CD mit 1970er-Jahre-Rock ins Autoradio. Bald lauschen sie Lucky Man, The Wizard und Locomotive Breath.

Schmälzle wundert sich, dass der Schrammel- und Synthierock direkt in die Beine geht. Er stampft mit den Füßen auf den Wagenboden, fühlt den Rhythmus mit seinem Pulsschlag eins werden, während er einer samtigen Stimme lauscht. «He was the wizard of a thousand kings, and I chanced to meet him one night wandering, he told me tales, and he drank my wine, me and my magic man kinda feeling fine …» Er hängt seinen Gedanken nach. Bis die L351 zur Talwiesenstraße wird und eine rote Ampel seine Konzentration fordert. Scholz lenkt seinen Youngtimer in den Dietersbrunnenweg, lässt ihn steil den Berg hochkeuchen.

Schmälzle ruft: «Harald, wir sind im Wald! Hast du dein Navi falsch eingestellt?»

Der Youngtimer tuckert weiter. Bis er sich in eine Haarnadelkurve legt. Ascherhau, liest Schmälzle. Ein Abend kommt ihm in den Sinn: Es war kurz nach seinem Amtsantritt in der Kurstadt. Sie lagen am Waldrand, auf dem Asphalt, neben der Mauer, auf der Lauer in der Kräuterdrogensache und warteten auf Hintermänner, die nicht kamen. Der Abend steckt ihm noch in den Knochen – er war lang und der Untergrund hart.

Scholz parkt den Wagen vor einem Anwesen, das aus mehreren Gebäuden zu bestehen scheint, und der Sound verstummt. Schmälzle folgt dem Postenleiter auf einen breiten Kiesweg, der leise unter seinen weißen Sneakersohlen knirscht. Rechts und links des Wegs erheben sich mit der Nagelschere in Form geschnittene Buchsbäume, die den Zugang zum Haupthaus vom akkurat getrimmten Rasen abgrenzen. Nach zwölf, dreizehn Metern bleiben sie stehen. Schmälzle blickt auf einen majestätischen Buddha, der in ein weitläufiges Sandbeet gebettet ist. Ein Zengarten! Eine solche Begrüßung hätte er nicht erwartet, denn das Haus selbst ist verwinkelt und mit Erkern versehen. Neben der breiten Tür, die einen kugelsicheren Eindruck macht, erspäht er ein kleines Messingschild mit den Initialen W.H. Darüber prangt ein größeres Schild mit der Aufschrift Spirituosen Hauck GmbH. Scholz drückt den Knopf neben dem großen Schild. Dongdong, hallt es melodisch aus dem Haus.

Kurz darauf reißt ein knapp Fünfzigjähriger mit dunkelblonden Haaren die Türe auf. «Was verschafft mir die Ehre?», zwitschert er frohgelaunt.

Schmälzle erfasst graue Lederslipper, eine helle Leinenhose, ein weißes Leinenhemd. Und eine sportliche Figur. Einer der Typen, die ins Fitnessstudio gehen. Weniger, um Muskeln aufzubauen, als um jünger auszusehen. Willi Hauck verkörpert die Eitelkeit derer, die es geschafft haben.

«Kommet rei», sagt der Eitle uneitel. Er schreitet voran, einen breiten Flur entlang, von dem ein längerer Gang abbiegt. Das Innenleben des Hauses ist so minimalistisch wie der Zengarten. Keine Schuhe. Keine Jacken. Nur weiße Wände. Und eine leere schwarze Vase. Vor einer Glastür hält Willi Hauck an. Stolz deutet er auf den dahinterliegenden trapezförmigen Anbau, der ringsum Aussicht auf die idyllische Landschaft bietet.

«Das ist neu, Willi», sagt Scholz und pfeift anerkennend.

«Die Gäschte werdet anspruchsvoller», sagt Willi Hauck. «Die wellet net bloß a Verkoschtung, die brauchet einen Showroom. Alles musch inszeniere.»

«Früher ist man in einen Verein gegangen. Heute besucht man ein Event.» Scholz lacht.

Hauck betätigt einen unauffälligen Knopf in der Wand. Lautlos surrt das Glas zur Seite, der Schnapsbrenner geht voran. Scholz folgt ihm drei Stufen nach unten in den Showroom. Schmälzle nimmt eine Rampe wahr. Rollator- und rollstuhltauglich, denkt er. Er hängt sich an Scholz’ Fersen und reißt die Augen auf: Dieser Anbau käme bei einem Architekturwettbewerb gut weg. Er ist gut zweihundert Quadratmeter groß, unbehandeltes Holz überzieht Decke, Rückwand, Fußboden. Nicht im schnuckeligen Landhausstil oder im Retrolook wie in seinem Bungalow. Hier ist alles hypermodern. Er liebt diesen Stil. Seit er ab und zu in Claudias Wohnmagazinen blättert, kann er nicht genug davon bekommen. Während Scholz mit Hauck Familienangelegenheiten bespricht und Sätze wie «Schön, Willi» und «Ja, der Frühsommer ist zu kalt» und «Die Kinder werden älter» fallen lässt, wandert Schmälzles Blick durch den Raum.

An der rückwärtigen Wand bleibt er hängen. Fasziniert starrt Schmälzle auf eine Wasserwand, die es sicher nicht im Baumarkt für ein paar tausend Euro gibt. Sie ist circa vierzig Meter breit und gut vier Meter hoch, aus gebürstetem Edelstahl, und lässt ihre Flut nicht einfach in die Tiefe stürzen, sie führt eine Performance auf: Von unzähligen LED-Leuchten angefeuert, blubbert das Wasser in mystischem Purpur in ein Edelstahlbecken. Schmälzle lässt den Blick weiter schweifen, über meterlange Regalbretter, auf denen hohe Glasflaschen stramm nebeneinanderstehen wie Soldaten. Sie sind nach den Farben der enthaltenen Flüssigkeiten aufgereiht, von klar über Weiß, Gelb, Orange, Rot zu Dunkellilablau – es dürften an die hundert Gefäße sein. Daneben, darüber und darunter herrscht Weglasslook. Da ist nichts. Noch nichts. Schmälzle weiß zu gut, dass sich leere Räume mit den Jahren füllen. Er inspiziert die übrigen zwei Wände. Auch sie bestehen komplett aus Glas, nur schmale Rahmen deuten darauf hin, dass der Anbau irdisch und mit der Erde verankert ist. Er vermutet, dass sich die Front im Sommer öffnen lässt. In der Mitte des Raumes sind zwei Dutzend elegante Barhocker in apfelgrünem Leder um einen hohen, knapp vier Meter langen Eichentisch gruppiert. Jeder Sitz bietet freie Aussicht in die Natur. So soll dem Verkostenden wohl das Gefühl gegeben werden, dass er im Wald auf einem Designer-Hochsitz thront und sich Tropfen einverleibt, die der Himmel zusammengebraut hat. Gleich ertönt wahrscheinlich Vogelgezwitscher aus integrierten Lautsprechern, und eine Rauchschwade mit würzigem Tannenduft steigt auf.

Willi Hauck zupft an seinem Ärmel. «Bittschön», sagt der Schnapsbrenner und deutet auf die apfelgrüne Sitzgruppe. Scholz hat seinen Hocker bereits okkupiert und klopft auf das Polster neben ihm. Während Schmälzle auf den Hochsitz steigt, schreitet Hauck seine Regale ab. Entschlossen greift er nach einer klaren Flasche und füllt drei kleine Gläser bis zum Rand.

«Wir sind im Dienst», sagt Schmälzle, der weiß, dass ihm der Duft von Hochprozentigem leicht die Sinne vernebelt.

Hauck lacht. «I au», sagt er, «i bin au im Dienscht.»

«Der ist gut, Willi», sagt Scholz. Er rutscht auf dem Barhocker in eine bequemere Position, greift nach dem dargebotenen Glas und prostet dem Gastgeber zu. Der schnüffelt in sein Glas, nippt genüsslich, schmatzt ein wenig, nippt erneut. Erst dann neigt er den Kopf nach hinten und kippt den edlen Tropfen in seinen Rachen.

Schmälzle nimmt einen winzigen Schluck. Der Brand duftet nach Kirsche und schmeckt ungewöhnlich würzig.

«Unser Schwarzwaldgeischt wird nach altem Familienrezept gebrannt.» Hauck stellt das leere Glas auf dem Tisch ab. Dann bearbeitet er mit den Händen die Eichenplatte, wohl, um zu verhindern, dass Tropfen in das teure Holz sickern. «Des isch an Edelbrand auf Kirschebasis. Aber da isch viel mehr drin», schwärmt er. «Des Rezept isch streng geheim. Es gibt Spitzenkonditore, die nehmet nur unseren Schwarzwaldgeischt für ihre Schwarzwälder Kirschtorte.» Scholz schlürft den letzten Tropfen aus seinem Glas. Der Schnapsbrenner gießt nach. Und schwärmt weiter: «Mir exportieret nach Russland, China, USA, quer durch Europa. Und nach Bahrein.»

Schmälzle sieht ihn erstaunt an.

«Au die Diplomate en de arabische Länder henn Durscht.»

«Durscht.» Schmälzle späht in sein noch immer randgefülltes Glas. Er spürt den Blick des Schnapsbrenners auf sich.

Der rastert ihn wie ein Körperscanner Punkt um Punkt ab, während er leise weiterspricht: «Wer weiß, vielleicht liefret mir au bald nach Afrika.» Schmälzle weiß nicht, was soll das bedeuten.

Im Gegensatz zu Scholz, denn der Kollege johlt: «Du meinst, wenn die Leute nichts zum Fressen haben, haben sie wenigstens was zum Saufen!» Er kippt den zweiten Schnaps.

Hauck grölt mit, und Schmälzle versucht, den Groll in sich zu bändigen. Dieser Alltagsrassismus geht ihm fürchterlich auf den Senkel. Aber er lässt es sich nicht anmerken.

«Mir schbendet viel», sagt der Schnapsbrenner und sieht seinen Gast nachdenklich an.

«Wir sind nicht hier, um uns zu betrinken», sagt Schmälzle. «Es geht um Sachbeschädigung.»

«Sachbeschädigung! He, he. An meiner Leber oder an Ihrer?» Frohgelaunt zeigt der Schnapsbrenner auf Schmälzles Glas. Der schüttelt den Kopf.

«Willi», sagt Scholz. «Wir ermitteln tatsächlich in einer Sache. Ein gewisser Notar Langner hat aufgestochene Reifen gemeldet.»

«I kenn kein Notar Langner», sagt der Schnapsbrenner.

«Der will angeblich eine Ferienanlage bauen. Direkt neben deinem Glaskasten hier.»

«Ach so, des isch der Saukerle aus Böblinge! Der verbaut uns die ganze Aussicht.»

«Kein Grund, ihm die Reifen aufzustechen, Herr Hauck», sagt Schmälzle.

«Oder ihm einen Drohbrief zu schreiben, Willi!», schimpft Scholz. «Auch das ist nicht in Ordnung.»

«Reife aufsteche, Drohbrief schreibe – dass i net lach.»

«Ein Verbrechen ist selten komisch, Herr Hauck.»

«I hab koi Zeit für so an Scheiß.» Der Schnapsbrenner schaut auf Scholz: «Harry! Des weisch du so gut wie i. Wenn einer selbständig isch, isch er selbscht im Einsatz. Schtändig.» Er klopft dem Postenleiter auf die Schulter.

Schmälzle deutet auf die vordere Glasfront, die weit in den Wiesengrund hineinragt. «Ein Teil Ihres Anbaus steht angeblich auf dem Nachbargrundstück.»

«Des hab i dem Kerle scho g’sagt und dem Bürgermeischter au: Des isch mei Grund und Bode. Die sollet mi in Friede lasse.»

«Willi, das kann man nachweisen, dazu musst du nur in die Grundbücher schauen», sagt Scholz.

«I hann des Anwese geerbt, Harry. Von meim Vadder, und der hat’s von seim Vadder. Und der von seim und so weiter. Des weiß jeder in Nonnenmiß. Da senn halt a paar Leut neidisch, weil i den Showroom nobaut hab.»

Schmälzle lächelt spitzbübisch, weil er «nobaut» simultan übersetzen konnte. Er hustet. «Der Geschädigte hat aber Sie beschuldigt.»

«Soso, hat der des.»

«Willi! Du weißt, dass wir jeder Anschuldigung nachgehen müssen», sagt Scholz.

«Und Sie haben ein Motiv», fügt Schmälzle hinzu.

«Also eins sag i euch zwei Grashopfer: I hab mit der Sache nix zu tun.»

Schmälzle überhört das mit den Grashüpfern großzügig. Polizeibeamte tragen seit zehn Jahren keine grüne Uniform mehr. Er ist als Kriminalbeamter sowieso in Zivil unterwegs. Sneakers, Washed-out-Jeans, Hemd oder T-Shirt. Und Scholz trägt seine Uniform nur, wenn der Staatsanwalt kommt. Oder bei einer Ehrung. Heute ist kein Ehrentag. «Dann haben Sie ein Alibi», sagt er.

Der Schnapsbrenner sieht ihn stumm an, bevor er langsam weiterspricht: «Da müsset ihr mi mit de Füß z’erscht naustrage, bevor i mei Schnapsfabrik hergeb.»

«Keiner nimmt dir deine Schnapsfabrik», beschwichtigt Scholz. «Es geht um Recht und Ordnung, das muss ich dir nicht erklären.»

Schmälzle legt nach: «Wenn Sie in der Grundbuchdatenzentrale nicht fündig werden, ist das Katasteramt im Landratsamt Calw zuständig. Die wissen in jedem Fall, wo die Grenzen Ihres Flurstücks verlaufen.»

«Wenn i sag, des interessiert mi net, dann interessiert mi des net.» Willi Hauck rutscht vom Hocker und baut sich vor Schmälzle auf.

Der erhebt sich und funkelt den Schnapsbrenner an. «Sie sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen, Herr Hauck. Wenn Ihnen eine absichtliche Verschiebung der Grundstücksgrenze nachgewiesen werden kann, wenn Sie also Grenzsteine verrückt oder entfernt haben, um sich mehr Land zu verschaffen, als Ihnen zusteht, haben Sie sich strafbar gemacht. Sie müssen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren rechnen. Mit viel Glück kommen Sie mit einer Geldstrafe davon.»

Hauck schnaubt. «Bürschle!»

Schmälzle entgeht nicht, dass die Zähne im Unterkiefer des Schnapsbrenners in Bewegung sind. Perfekte Stimmung, um den Bohrer aus der Tasche zu holen. «Wo waren Sie am Montag zwischen zwölf und dreizehn Uhr?»

«Worom?»

«Im Moment stellen wir die Fragen, Herr Hauck.»

«Das ist die Tatzeit, Willi», sagt Scholz beschwichtigend.

Willi Hauck fuchtelt mit beiden Händen in der Luft. «I hab kei Tat begange, also gilt für mi au kei Tatzeit.»

Schmälzle hat schon andere Kaliber weichgekocht. «Wir erwarten Sie morgen früh um neun Uhr bei uns im Posten. Und vergessen Sie die Grundbuchauszüge nicht. Wenn Sie alles vorlegen können, haben Sie nichts zu befürchten.» Der Schnapsbrenner setzt zur Widerrede an, aber Schmälzle schneidet ihm das Wort ab: «Natürlich dürfen Sie Ihren Anwalt mitbringen.» Er stiert dem Schnapsbrenner in die Augen.

Der massiert mit der Zunge seine blütenweißen Vorderzähne. Geruch von Schnaps vermischt mit alkoholhaltigem Mundwasser steigt Schmälzle in die Nase. Sekunden später wendet sich der Schnapsbrenner an Scholz. Er klingt, als wähle er jedes Wort mit Bedacht. «Harry, dei Kolleg, des isch an scharfer Hund. Den musch z’rückpfeife. So einer beißt. Lang bevor er bellt.» Dann räumt er die Gläser weg.

Mai 1869

Erst nachdem die vierzehn Häuser von Nonnenmiß hinter mir kleiner wurden und von den hohen Tannen verschluckt waren, atmete ich langsam aus. Ich hielt inne, spürte die eisige Morgenluft in meinem Gesicht. Sie war so kalt, dass es fast schmerzte. Ich saugte den Sauerstoff durch die Nasenlöcher in mich hinein. Es war dunkel im Wald, aber ich war nicht alleine. Die Tiere waren munter. Ihr Zirpen, Ziepen, Fiepen, ihr Fauchen, Rascheln und Rufen beruhigten mich. Ich musste achtgeben, musste mich mit kleinen Schritten fortbewegen und den Kopf hochhalten, denn die Flasche auf meinem Bausch wog schwer. Sie drückte mich zu Boden, als fühlte ich mich nicht schon wie ein Wurm. Die Sonne würde sich bald erheben. Noch nahm ich nur Schatten wahr, die vage als Bäume auszumachen waren und mich kaum das Grau vom Schwarz unterscheiden ließen. An manchen Stellen lag noch Schnee, die Bäume standen dicht nebeneinander, und die Sonnenstrahlen erreichten kaum den Boden. Obgleich der kürzeste Übergang von Württemberg nach Baden keine eineinhalb Stunden von Nonnenmiß entfernt lag, wählte ich den Umweg, denn vor Weisenbach patrouillierte ein Zöllner, der in Kaltenbronn wohnte. Er war hinter jedem her, der sich in Grenznähe aufhielt. «Ein Denunziant», sagten die Leute, und ich nahm mich vor ihm in Acht, weil er mit den Männern abends im Wirtshaus saß. Auch mit Gustav, meinem Ehemann. Um diesen Abschnitt weit zu umgehen, musste ich in Richtung Hohlohsee und von dort weiter nach Gernsbach marschieren. Der Umweg führte vier Stunden durch die Wildnis. Dennoch kam ich hier, wo ein Pfad in den anderen gabelte und die Kreuzungen einander zum Verwechseln ähnelten, mit geschlossenen Augen zurecht. Sechzehn Kilometer lang. Ich hatte die Strecke zweiundzwanzig Mal genommen in den letzten acht Jahren, seit Mutter gestorben und ich den letzten Halt verloren hatte. Sie hatte sich nicht verabschiedet, hatte einfach die Augen geschlossen und nie wieder geöffnet. Doch sie spukte mir durch den Kopf, wenn der Teufel an meinen Eingeweiden nagte und mich von innen fraß.

«Was machst du, mein Kind?», sagte sie. «Du weißt, es ist unrecht.»

«Ja, Mutter», sagte ich.

«Noch kannst du es ungeschehen machen.»

«Nein, Mutter. Ich kann es nicht ungeschehen machen.»

«Kehr um. Martha! Geh zurück, nach Hause.»

«Ich habe kein Zuhause. Schon lange habe ich kein Zuhause mehr.»

«Warum, Kind? Ich verstehe dich nicht. Du bist keine von uns, du lehnst dich auf.»

«Es ist nicht deine Schuld.»

«Ich bin deine Mutter.»

«Es ist die Last, der Tag, es ist jeder Tag, er zehrt an mir, nagt an meinem Fleisch. Und es ist der Mann neben mir. Er ist mir ungeheuer.»

«So ist es, und so war es immer. Dein Leben wie meines wie das unserer Ahnen.»

«Ich bekomme kein Kind.»

«Es liegt in Gottes Hand.»

«Er will es aber.»

«Warum hast du den alten Rußbrenner zum Mann genommen?»

«Du weißt, dass Vater mich gezwungen hat. Und du hast mich alleingelassen. Allein in dieser Einöde. In dieser Kälte. In diesem Trübsinn.»

«Ich hätte dich schützen müssen, Martha. Vor dir selbst, mein Kind.»

«Ich war so jung, als du von mir gegangen bist.»

«Du bist bei deinem Mann.»

«Gustav ist nicht mein Mann. Ich kenne ihn nicht. Ich liebe ihn nicht. Mutter! Er redet kaum mit mir.»

«Er ist dein Schicksal, Martha.»

«Er tut mir nichts. Nichts Böses. Und nichts Gutes.»

Dienstag, 7. Mai

Vom frühen bis in den späten Abend

Harry, bedauere, habe morgen keine Zeit zum Kaffeekränzchen bei euch. Laut § 163a Abs. 3 Satz 1 der Strafprozessordnung kann das Erscheinen zu einer Vernehmung nur vom Staatsanwalt oder einem Gericht angeordnet werden. Aber netter Versuch. Wir sehen uns.

Soeben hat Scholz eine SMS von Willi Hauck erhalten und sie laut vorgelesen. Sie stehen mitten auf der L351. Es ist kurz vor fünf, Feierabendverkehr. Aber der Postenleiter hat den Saab einfach angehalten, als sein Handy surrte. Hat das Blaulicht – ein Flohmarktfund aus Paris, das hat er Schmälzle an einem langen Abend im Weinkeller erklärt – vom Rücksitz geholt und auf das Dach des Youngtimers gesetzt. Hat ohrenbetäubenden Lärm eingeschaltet. Und Schmälzle die vier Emojis gezeigt, die Willi Hauck hinter seine Nachricht gesetzt hat. Ein zähnebleckendes Mondgesicht mit Tränen in den Augenwinkeln. Ein fröhliches Gesicht mit klatschenden Händen. Daneben eine Clownsmaske, gefolgt von einem Smiley mit Heiligenschein.

Schmälzle ist, als stünde ihm Schaum vorm Mund. «Der verarscht uns!», blafft er.

«Der treibt’s Michele mit uns», bestätigt Scholz.

«S’Michele?»

«Lern endlich Schwäbisch, Schmälzle! Das heißt, er verseggelt uns.»

«Und das lassen wir uns gefallen?»

«Wir haben nichts Konkretes in der Hand.»

«Diese reichen Säcke glauben, dass sie mit ihren Stecken nur einmal durch die Waschstraße fahren müssen, und – Abrakadabra – ist alles klinisch rein.»

«Was für Stecken?»

«Wo der Dreck dranhängt, Harald.»

«Wart’s ab.» Scholz schiebt das Handy in die Brusttasche seines Hemds, dann holt er das Blaulicht vom Dach und wirft es auf den Rücksitz, beugt sich zum Beifahrersitz rüber, weit über Schmälzle, der nicht weiß, wohin, denn er ist schon ganz tief ins Polster gerutscht. Das Rasierwasser des Kollegen steigt ihm, mit Schweiß vermischt, in die Nasenlöcher – bei der prähistorischen Ausstattung des Saabs war keine Klimaanlage vorgesehen. Scholz fischt eine CD aus dem Handschuhfach, dann schließt er die Klappe wieder.

Schmälzle schnappt nach Luft. «Auf was soll ich warten, Harald? Dass er noch vier Reifen aufsticht?»

«Frühschoppen, Kollege. Nach dem dritten Viertele löst sich bei allen die Zunge. Sogar beim Willi.»

«Du meinst, wenn du ihn in die Wirtschaft vorlädst, gesteht er? Einfach so.»

«Den muss ich nicht vorladen. Der Willi kreuzt freiwillig auf.» Scholz dreht die CD in seiner Hand, kratzt mit dem Daumennagel Schmutzpartikel ab und wischt sie an seiner Hose sauber. Der Fahrer hinter ihm hupt und zeigt den Stinkefinger, während er überholt. Scholz winkt dem enervierten Fahrer mit der CD zu. Dann gibt er Gummi.

«Es ist Dienstag», sagt Schmälzle. «Und der Frühschoppen …»

«… ist am Samstag.»

«Das sind vier Tage!»

«Lieber kurz die Füße stillhalten als lang dumme Fragen stellen.»

«Zum Beispiel, ob Willi Hauck bis dahin jemanden gefunden hat, den er für ein Alibi bezahlt?»

«Macht der nicht.»

«Wieso nicht?»

Der Verkehr ist inzwischen dichter geworden. Scholz schaut stur geradeaus, als er sagt: «Weil wir im Ländle sind.»

Auch Schmälzle starrt stumm in die Ferne. Eine innere Unruhe hat von ihm Besitz ergriffen. «Ich werde nicht untätig rumsitzen bis zum Wochenende.»

«Besorgen wir uns Einblick in die Grundbücher. Leo kann sich drum kümmern.»

«Konjunktiv, Harald. Sie könnte und würde das super machen. Wäre sie nicht im Urlaub.»

«Die war doch gestern im Urlaub!»

«Das hat Urlaub so an sich, dass er länger dauert.»

«Hast du das genehmigt?»

«Ne, du, Harald. Hast gesagt, sie soll ihre Überstunden abbummeln.»

«Stunden, Schmälzle! Ich sagte Stunden, nicht Tage.»