Tief unter der Alb - Linda Graze - E-Book
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Tief unter der Alb E-Book

Linda Graze

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Beschreibung

Drama unter der Alb: Ein Auftrag führt die junge Fotografin Laura Morgenstern in die Höhlenwelt der Schwäbischen Alb. Euphorisch macht sie sich mit dem Wissenschaftler Lasse Keyes für ein Fotoprojekt auf in ein unbekanntes System. Doch ihr Begleiter hat andere Pläne. Als er sie in dem unterirdischen Labyrinth zurücklässt, gerät sie an ihre Grenzen. Und darüber hinaus, denn die Dunkelheit lebt. Und sie singt …

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Linda Graze

Tief unter der Alb

Thriller

Zum Buch

Höhlenkoller! Endlich ein lukrativer Job für die Fotografin Laura Morgenstern. Obwohl sie Enge fürchtet, bricht sie mit dem Wissenschaftler Lasse Keyes auf in die Höhlenwelt der Schwäbischen Alb. Bald ist der Albtraum ihr Begleiter: Der Wissenschaftler ist unberechenbar, das Höhlensystem entpuppt sich als Labyrinth. Sie befindet sich mitten in einem Psychospiel! In einer ausweglosen Situation. In ewiger Nacht und endloser Stille. Was sie dann hört, lässt ihr das Blut in den Adern gefrieren. Denn was da ist, darf dort nicht sein. Es ist eine Stimme. Es ist …

„… deine Angst. Sonst hast du nichts. Sonst bist du nichts. Bald wirst du weniger sein als nichts, du wirst Staub, Asche. Dreck. Du wirst sie anlocken. Die Aaskäfer. Mit ihren Fühlern werden sie deinen Körper abtasten. Sie werden ihre Flügel aneinanderschlagen und Töne erzeugen. Trauerklänge. Klagelaute. Die keine Seele hören wird.“

Mit zwölf verfasste sie Texte zu den Karikaturen des Bruders. Ihre Leidenschaft fürs Wort war geboren: Nach einer Ausbildung zur Dolmetscherin/Übersetzerin startete Linda Graze als Werbetexterin in einer renommierten Münchener Agentur durch. Für Schokoriegel, Schrauben und Slipeinlagen schrieb sie sich quer durchs Land die Finger wund. Nach Ausflügen in den Journalismus machte sie sich in Stuttgart mit einer Personalberatung selbstständig. 2018 fiel der Startschuss zu ihrer kultigen Regiokrimiserie. Der erste Band der Reihe war für den „Wälderliebling“, den Preis der Schwarzwald Buchmesse »Blätterrausch«, nominiert. Graze ist Mitglied bei den Autorenvereinigungen „Mörderische Schwestern“ und „Syndikat“.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ivana cajina / Unsplash

ISBN 978-3-8392-7880-2

Spruch und Widmung

Vom Weg.

Vom Abkommen.

Vom Ankommen.

Vom Loskommen.

Von nichts

und allem …

Für Julia.

Für Katharina.

Prolog

Der Ring war alles, was von ihr geblieben war. Er hing an einer goldenen Kette um meinen Hals. Einmal, ein einziges Mal löste ich die Kette und drehte den Ring zwischen meinen Fingern. Ich spielte mit ihm. Dann holte ihn der Wind. Die Kette fiel aus meiner Hand, der Ring rollte über den Asphalt. Ich hörte auf zu atmen und starrte auf das funkelnde Gold. Der Ring rollte. Ich rannte ihm hinterher. Er rollte weiter, ich lief schneller, er rollte, ich lief, er rollte, ich stolperte, er hüpfte, ich fing mich – er war … verschwunden.

»Mama!« Mama. Sie war über eine kleine Kante gesprungen. Ich presste die Hand auf meinen Mund. Plötzlich war alles still. Kein Blatt bewegte sich. Nichts regte sich. Die Welt hielt ihren Atem an. Bis sich die graue Wolke auf mich zuschob. Da wusste ich: Es war hier. Es war zurück! Wie damals, als Mama nicht mehr heimgekommen war. Da hatte ich es zum ersten Mal gesehen.

Ich schrie, bis ich glaubte, die Zähne fallen mir aus dem Mund. Papa eilte zu mir. Er setzte sich in die Hocke und nahm mich in den Arm. Wir beugten uns gemeinsam über das Gitter. Meine Augen bohrten sich in die runden Löcher und suchten den Boden ab. Ich konnte nichts entdecken, alles war dunkel! Aber ich hörte es flüstern. Das Böse. Es saß in der Tiefe und lauerte. Es hatte sich den Ring geschnappt, hatte ihn in seiner großen Pranke versteckt.

»Wir müssen ihn holen!« Ich sprang in die Luft und klatschte in die Hände.

»Zu spät, mein Engel.« Papa sprach leise. Er hielt mich fest. Ich hämmerte mit beiden Fäusten auf seine Schultern. Papa hatte starke Schultern. Er konnte mich hochheben und durch die Lüfte fliegen lassen, warum konnte er den Ring nicht aus der Pranke des Monsters befreien? Er hatte doch das Häschen gerettet, als es in die Grube gefallen war! Er hatte es mir vorgesungen.

»Es geht nicht, Laura.«

Was sagte Papa?

»Der Ring ist im Gully.«

»Dann gehen wir in den Gully!«

»Es ist schmutzig im Gully. Und gefährlich.«

»Bitte, Papa.«

»Es tut mir leid, mein Schatz.«

Meine Fäuste hämmerten weiter, bis die Schläge schwächer wurden und ich nur noch Schluchzen war.

»Mama.« Tränen füllten meine Augen. Es waren meine Tränen, ihre Tränen. Unsere Tränen.

Papa seufzte. »Ich kauf dir einen neuen Ring.«

Dicke Tropfen kullerten über meine Wangen.

»Genau denselben, Laura.«

Die Tropfen wurden zum See.

»Du wirst keinen Unterschied erkennen.«

Der See wurde zum Meer. Ich ertrank in ihm, denn ich erkannte den Unterschied sofort. Papas Ring hatte keine Schnur.

Mamas Ring hing an einem unsichtbaren Faden, der in den Himmel führte. Er glitzerte in der Sonne wie ein endlos langes Glühwürmchen. Jedes Mal, wenn ich das Glühwürmchen sah, spürte ich einen Kuss von Mama auf meiner Wange. Doch von diesem Tag an gab es keinen Kuss mehr von ihr. Nie wieder. Mama war gegangen. Sie hatte mich verlassen.

Papa trocknete meine Tränen mit einem großen Taschentuch, den ganzen Abend lang. »Sie schaut von oben auf dich herab, Laura.«

Immer wieder sprach Papa so, wenn ich fragte, wo Mama war. Aber Mama schaute nicht von oben auf mich herab. Ich lag die ganze Nacht wach und suchte sie. Ich guckte zur Decke hoch, blinzelte durchs Fenster, bis der Mond kugelrund wurde und mir Salz in die Augen streute. Ich drückte Mimo fest an mich und weinte in das weiche Teddyfell.

»Papa lügt«, sagte ich. Mimo nickte. Mama hatte nie gelogen.

Einen Tag nach meinem fünften Geburtstag kam eine Frau aus dem Badezimmer. Sie hatte lockige Haare.

Sie sagte: »Ich bin jetzt deine Mama.«

Sie war nicht meine Mama. Sie war eine Hexe. Sie hatte Papa verzaubert. Ich sah es in seinen Augen.

Von nun hatte ich nur noch Mimo.

»Mimo«, sagte ich, »du bleibst bei mir. Für immer. Versprich es.«

Und Mimo versprach’s.

»Schwör’s!«

Und Mimo schwor’s. Beim Leben aller Bären, die nachts durch dunkle Höhlen streifen.

Nacht eins. 13./14. September

Tübingen

Als das Böse in ihr Leben zurückkehrte, glaubte sie nicht mehr daran. Was sollte das auch sein, dieses Böse? Laura Morgenstern war 27 Jahre jung und die Welt lag ihr zu Füßen. Sie war selbstständige Fotografin. Sie hatte üppige Locken, tiefgründige Augen und ein Grübchen am Kinn. Sie liebte ihren wundervollen Vater, ihren nervigen Bruder, ihre großartigen Freundinnen. Sie hatte eine lästige Beziehung beendet und war ungebunden. Frei! Und lebenshungrig.

Laura kickte die weißen Sneaker in eine Ecke, warf Jeans und Top aufs Bett und rubbelte im Bad ihr Gesicht mit Seife sauber, bis die letzte Wimper von Tusche befreit war. Als ihr Blick auf die Uhr ihres Smartphones fiel, erschrak sie. Sie hatte nur noch sechseinhalb Stunden! In 390 Minuten würde sie aufbrechen. In 23.400 Sekunden. Es ging alles viel zu schnell. Laura blieb keine Zeit, die Sache zu überdenken. Ihr blieb noch nicht einmal Zeit für einen regenerierenden Schlaf. Warum hatte sie zugesagt?

Sieben Tage würde sie unter der Erde verbringen, obwohl sie enge Räume eher mied. Lag es am Glückskeks? »Gehe dahin, wo du dich fürchtest«, hatte in ihrem gestanden. Sie hatten sich über den Spruch amüsiert, letzte Woche beim Chin Thai. Sie. Elina. Jess. Das Freundinnen-Trio. Seit der Grundschule waren sie unzertrennlich. Aber diese Aktion musste Laura alleine durchstehen.

Sie band die schulterlangen Haare zum Knoten und schlüpfte in ihren Lieblingspyjama. Er war aus erdbeerfarbenem Plüsch. Sie stellte sich vor ihren Kleiderschrank. Das Erbstück ihrer Oma bestand aus massiver Eiche. Es hatte Kriege überdauert. Hungersnöte. Und Fragen wie: »Was zieh ich morgen an?«

Der letzte wichtige Job lag drei Jahre zurück. Sie war mit einer Autorin und einem Bergführer zu den Drei Zinnen gewandert. Es ging um einen Bildband. Laura hatte einen Vorschuss auf die Tantiemen erhalten, der jedoch mager ausgefallen war. Fotobücher waren keine Bestseller. Dafür hatte sie einen Preis für ihre »dramatische Darstellung der Bergkuppen« eingeheimst.

Das Wetter hatte ihr in die Hände gespielt. Anfangs hatten die Wolken die Gipfel verhüllt. Als die Morgensonne die weißen Wolkenbäusche durchbrochen hatte, waren die Felsen in ein milchig gelborangenes Licht getaucht. Es war magisch gewesen. Ein Naturschauspiel wie in einem Bergfilm – kurz vor dem tödlichen Absturz. Die Wolken hatten ein Bild nach dem anderen geschaffen. Laura hatte nur auf den Auslöser drücken müssen. Auf einmal war es da gewesen. Dieses Foto war ein Volltreffer. Sie war angekommen – auf dem Weg zum Olymp der Profifotografen.

Kurz danach hatte die Pandemie ihre Träume nach Alaska geschleudert. Seitdem lag alles auf Eis. Sie war wie schockgefroren gewesen. Von einem Tag auf den anderen waren die Anfragen eingebrochen. Laura hatte sich beruflich nie davon erholt. Bis jetzt. Bis zu diesem Angebot.

Es war kurz nach Mitternacht, die Stimmung war gut und die Drinks waren kostenlos gewesen. Sein Auftrag war ihr vorgekommen wie ein Polarlicht am Nachthimmel. Sieben Tage hatte er gebucht, hatte über ihren Tagessatz von 500 Euro kein Wort verloren. »Freundschaftspreis«, hatte sie gesagt. Und die Tatsache weggelächelt, dass sie die Unterwelt fotografieren, unentdeckte Artefakte ablichten sollte. Meter unter der Erde. Viele Meter. Zu viele Meter. Sie brauchte diesen Job.

»Die Schwäbische Alb ist eines der höhlenreichsten Gebiete Europas! Die meisten Hohlräume sind unerforscht«, hatte er gesagt und zwei Gin Tonic bestellt. Sie hatte ihr Glas in der Hand gedreht und die feinen Schweißperlen auf ihrer Stirn ignoriert. Sieben Tage – sieben Nächte. Sie. Und er. Lasse Keyes. Professor. Anfang 50. Hornbrille. Winzige Lippenspalte. Gut gebaut. Länger nicht rasiert. Sie hatte gelächelt, ihren Drink geleert, die Zweifel ertränkt. Auf Ex.

Reutlingen

Hatte sie Ja gesagt? Er konnte es kaum fassen. Es war ein Kinderspiel gewesen, ein Klacks. Okay, auf die Floskeln aus dem kleinen Flirt-Einmaleins war sie nicht reingefallen. Die Drinks waren besser angekommen. Erst nachdem er dieses wissenschaftliche Zeug vom Stapel gelassen, über Archäologie gelabert und heruntergebetet hatte, was er sich in einem dieser Foren angelesen hatte, in denen sich jeder Alphagockel mit seinem Wissen profilierte, hatte er sie gehabt. Er hatte es in ihren Augen gesehen. Dieses flüchtige Flackern. Sie hatte Feuer gefangen. Sie hatte ihm einen Oh-gleich-ist-er-sauer-mal-sehen-ob-er-es-wirklich-ernst-meint-Blick zugeworfen und ihr Honorar genannt. Dabei hatte sie die Lider in Zeitlupe aufgeschlagen. Hatte sie echt geglaubt, er fiele auf diesen Weiber-Bullshit rein? Er hatte nicht einmal gezuckt. Natürlich nicht. 500 Euro am Tag. 3.500 für die ganze Woche. Ein paar läppische Lappen. Er würde sein Geld vervielfachen. Hundert Riesen, mindestens. Er würde sie ausnehmen, die lechzenden Hunde, die sich vor ihren Bildschirmen einen runterholten. Den einen wie den anderen. Sein Krypto-Konto wuchs. In wenigen Jahren würde er genug zusammenhaben, um sich auf eine Millionärsinsel in die Karibik abzusetzen und sich den Bauch von einer hübschen Einheimischen massieren zu lassen. Bahamas. St. Barth. Here I am!

Lasse öffnete die Tür zur Abstellkammer, der Rucksack stand bereit. Er war gerüstet. Sollte sie nicht aufkreuzen, hätte er eine Stunde für die Hin- und Rückfahrt zum Sonnenbühl vergeudet. Er rechnete damit. Die meisten sagten nicht einmal ab. Die Höflichen schickten eine SMS oder eine App-Nachricht. Mit diesen Pussys konnte er sowieso nichts anfangen. Laura war keine Pussy. Er schätzte sie ein wie die anderen drei. Sollte sie um 8 Uhr auf dem Parkplatz stehen, wäre sie Nummer vier. Zehn brauchte er. Mehr nicht. Er hätte nicht gedacht, dass es so gut laufen würde. Er grinste, ließ sich auf die XXL-Couch seiner scheißteuren Airbnb-Wohnung fallen. Es war der einzig freie Wohnraum auf Zeit gewesen. Er klappte seinen Laptop auf. Öffnete ein Computerspiel. Schoss ein paar Monster ab. Danach legte er sich aufs Ohr.

Tübingen

Laura rieb sich die schmerzenden Schläfen. Sie lag auf dem Bett, das Licht brannte, sie musste eingeschlafen sein. Wie spät war es? Schon 2 Uhr! Sie gähnte. Sah sich um. Der Kleiderschrank stand offen, der Trekking-Rucksack war noch immer ungepackt. Sie fasste sich an den Kopf. Er fühlte sich an wie ein Fußball, der auf dem Weg ins Tor an die Latte geknallt war.

Sie erhob sich und schlurfte ins Bad. Gähnend öffnete sie den Spiegelschrank und griff nach dem Pfefferminzöl. Statt es zu öffnen, stellte sie es zurück, sie brauchte was Stärkeres. Also griff sie nach den Schmerztabletten, drückte eine Tablette aus der Packung und schluckte sie ohne Wasser. Am liebsten hätte sie den kommenden Tag gleich mit runtergeschluckt, denn das gute Gefühl hatte sich verflüchtigt.

»Soll ich das wirklich tun?«, fragte sie ihr Spiegelbild.

»Du hast dich bereits entschieden«, antwortete das Spiegelbild.

Sie bemerkte die Schatten unter ihren Augen. Wenn sie ein paar Stunden Schlaf wollte, musste sie endlich packen!

Sie durfte nur mitnehmen, was in ihren Rucksack passte. Sie wusste weder, wie beschwerlich eine Höhlentour war noch was sie erwartete. Vermutlich glich der Trip einer Bergwanderung – bloß umgekehrt. Es ging nicht nach oben, es ging nach unten. Der Gedanke ließ sie frösteln. Es war nicht die körperliche Anstrengung, die machte ihr nichts aus, die Dolomitentour hatte ihr gezeigt, wie fit sie war. Sich zu einem Kreuz hochzuquälen gab ihr einen Kick! Auf dem Gipfel die Arme auszubreiten war magisch. Als würde sie die Schöpfung umarmen, in den Himmel tanzen, in einem Schnellboot über den Wolkenteppich gleiten. Unter der Erde jedoch war es finster. Da gab es Schluchten, Gänge, Schächte.

Die Höhlen der Schwäbischen Alb waren spektakulär, von dort stammten die ältesten Funde menschlichen Kunstschaffens. Die »Höhlen und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb« gehörten zum UNESCO-Welterbe.

Lasse hatte behauptet, der spannende Teil finge an, wo die felsigen Treppen, die ausgeleuchteten Pfade und bequemen Steigleitern aufhörten. »Beim Caving kriechst du durch Siphons und bezwingst Hohlräume, die so eng sind wie der Auspuff deiner Schrottkarre«, hatte er gesagt und sich über die feuchten Lippen geleckt.

»Keine Siphons, Lasse«, hatte sie erwidert. Sie wusste nicht viel mehr, als dass es sich dabei um unter Wasser stehende, röhrenartige Hohlräume handelte. Die bloße Vorstellung davon ließ sie schaudern. Wer zwängte sich freiwillig durch eine Röhre? Lasse hatte gelacht und ihr zugeprostet. Sie hatte zurückgeprostet und den Gedanken an den Siphon ertränkt.

Seufzend machte sich Laura ans Packen. Sie warf Ski-Unterwäsche auf ihr Bett, eine Trekkinghose, vier T-Shirts, einen Pullover, eine Softshell- und eine Hard­shelljacke, Handschuhe, eine Mütze, ihren Lieblingspyjama mit dem Teddybärenmuster obendrauf. Dann schüttelte sie den Kopf und legte den Schlafanzug zurück in den Schrank. Stattdessen zog sie einen schlichten blauen Pyjama aus einer Schublade. Neben Kleidung brauchte sie Proviant. Hygieneartikel. Und ihre Kamera! Sie griff nach der spiegellosen Systemkamera. Sie war leichter als die Spiegelreflex. Die Nikon Z6 II hatte ihr der Vater geschenkt, nachdem sie den Bachelorstudiengang Fotografie mit Auszeichnung bestanden hatte. Die Vollformatkamera erfasste Details auch im Dunkeln oder bei spärlicher Beleuchtung. Geringes Bildrauschen bei hohen ISO-Werten hieß das in der Fotografensprache. Technisch gesehen: 24,5 Megapixel. Sie verfügte über zwei Speicherkartenfächer und eine Energiesparfunktion. Kurz überlegte sie. Sollte sie lieber ihre alte Nikon 1AW1 mitnehmen? Sie war robuster als die Z6 und wasserdicht, also für die hohe Luftfeuchtigkeit in Höhlen besser geeignet. Auf der anderen Seite gelangen mit der Z6 die schärferen Bilder. Sie zögerte nicht lange. Was war mit Objektiven? Da es nicht um Weitwinkelmotive, sondern um Details von Gegenständen ging, wählte sie das Z 50mm F/1.8 S-line Nikkor. Die Lichtstärke war hoch genug für Aufnahmen bei schwachem Licht. Nur Akkus brauchte sie noch. Ein Stativ. Und Licht! Blitzlicht war zu grell, also packte sie eine Taschenlampe ein.

Geübt stopfte sie Kosmetikbasics, Handtücher, Seife, Zahnputzzeug, eine Kerze und Streichhölzer in die Fächer des Rucksacks. Plus Feuchttücher, eine Sechserpackung Taschentücher, Blasenpflaster. Sie musterte das Gepäckstück. Irgendetwas fehlte. Ihr Kompass! Unter der Erde gab es wahrscheinlich keinen Handyempfang. Der Kompass würde zumindest grob die Himmelsrichtung vorgeben.

Er war nicht an seinem angestammten Platz. Sie erinnerte sich daran, wann sie ihn zuletzt benutzt hatte. Es war bei einem Ausflug mit der Clique im letzten Sommer gewesen, sie waren eine Woche durch den Bayerischen Wald marschiert, die »deutschen Outbacks«, wie Jonas lachend gemeint hatte. Auch Tom war dabei gewesen. Und Sarah, seine neue Freundin. Laura mochte Sarah nicht. Sie hatte kohlumrandete Augen und einen leeren Blick, dabei machte sie auf intellektuell. Laura fand sie aufgesetzt. War sie eifersüchtig?

Sie suchte weiter. Schlussendlich fand sie den Kompass in ihrem hellen Sommerrucksack. Neben einer Powerbank zum Aufladen des Handys und einer kleinen Taschenlampe. Sie steckte den Kompass und die Powerbank ein. Sie hatte schon eine Stablampe dabei, das würde genügen.

In Höhlen herrschte kein Tageslicht. Lasse würde ihr eine Stirnlampe mitbringen, das hatten sie vereinbart. Zudem hatte sie die Handytaschenlampe. Ihr Mobiltelefon war recht neu, es verfügte über eine Laufzeit von rund 15 Stunden. Im Energiesparmodus käme sie mit dem Akku vier Tage klar. Sobald sie in einer Pension übernachten würden, konnte sie es aufladen. Sollte sie die Powerbank zurücklegen? Ach was, sie wog nicht viel.

Nachdem sie zudem Proviant und ihre Trinkflasche in die Fächer gestopft hatte, zog sie die Reißverschlüsse hoch und drückte die Klettverschlüsse zu. Zufrieden lehnte sie das Gepäckstück an die Wohnungstür. Anschließend stellte sie sich auf den winzigen Balkon und rauchte eine Zigarette.

Eigentlich rauchte Laura nicht, nur wenn sie nervös war. Wenn sie sich an etwas festhalten musste, weil keiner da war, der sie festhielt. Tom war vor vier Monaten ausgezogen. Sie genoss ihr Singleleben und wollte nicht gleich wieder was Festes.

Ab morgen würde sie eine Woche lang mit einem Mann unterwegs sein, den sie kaum kannte. Tom hatte sie einander vorgestellt. Lasse und er arbeiteten beide an der Uni.

Lasses letzte Worte klangen in ihr nach. »Du musst nüchtern sein, Laura.« Um 0.50 Uhr hatte er das gesagt, nachdem er ihr drittes Glas an die Theke getragen und den Rest in den Ausguss geschüttet hatte. »Wir sehen uns um acht.«

*

Tom nippte an seiner Teetasse. Er hatte kaum geschlafen. Immer wieder war er aufgewacht, hatte sich unruhig im Bett hin und her gewälzt. Er stand auf und setzte sich ans Fenster seines WG-Zimmers. Sarah war zu ihren Eltern gefahren, er war froh, allein zu sein. Weil er mit niemandem sprechen wollte, hatte er sein Handy ausgeschaltet. Er betrachtete den Nachthimmel, als läge in den Trilliarden Sternen der Galaxie eine Antwort.

Laura ging ihm nicht aus dem Kopf. War es richtig gewesen, sie mit Lasse Keyes zusammenzubringen? Aber warum bereute er es dann? Es gab keinen offensichtlichen Grund. Mit dem Zeigefinger strich er über sein Ziegenbärtchen, das aus blonden Stoppeln bestand. Laura hatte es lächerlich gefunden. Auch Sarah würde es lächerlich finden. Irgendwann. Am Anfang fanden sie ihn interessant. Er war anders, ernster als gleichaltrige Männer. Er mochte die alten Philosophen. Kant. Hegel. Novalis. Hölderlin. Er las, was immer er von wem immer in die Finger bekam. Er konnte die Namen der Verfasser herunterbeten und den Werken zuordnen. Von den meisten kannte er die Vornamen. Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg, bekannt als Novalis. Am meisten interessierte ihn Johann Christian Friedrich Hölderlin, der seine zweite Lebenshälfte in einem Turm in Tübingen verbracht hatte. Tom zitierte seine Werke aus dem Kopf. Stundenlang konnte er über die Philosophie des Geistes sprechen. Das zog viele Frauen an, auch solche, die älter waren als er. 35, so wie Sarah. Die Jüngeren stellten nach kurzer Zeit fest, dass er ein Langweiler war. Laura war rasch zu diesem Schluss gekommen. Sogar Sarah hatte in letzter Zeit komische Sachen gesagt. »Wenn man dich ansieht, glaubt man nicht, dass seit Tagen die Sonne scheint.«

Laura hatte in dieser Phase eine Textnachricht geschickt. »Danke, Tom. War schön. Aber lassen wir’s dabei.«

Er hatte Laura Lasse regelrecht aufgedrängt! Hatte von ihren Fotos geschwärmt, hatte gesagt, wenn eine das könne, dann sie. Er hatte nicht daran gedacht, dass sie mit diesem ungepflegt aussehenden Wissenschaftler, von dem er kaum mehr wusste, als dass er sich in ein Thema verbeißen konnte, es auszudiskutieren vermochte, bis alle Aspekte erschöpft waren, in eine Höhle hinabsteigen würde. Kurz überlegte er, ob es ihm eher darum ging, sich an Laura zu rächen, weil sie ihn von heute auf morgen abserviert hatte. Die Tatsache, dass er sie noch immer mochte und nicht wirklich über die Trennung hinweggekommen war, wog schwerer. Auf der anderen Seite wusste er, dass sie damit kämpfte, als Freiberuflerin Fuß zu fassen. Jonas hatte es ihm erzählt.

»Die Eule der Minerva beginnt mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.« Bescheuert hatte er sich gefühlt, als er sie vor drei Jahren so angesprochen hatte. Sie hatte ihn angelächelt, obwohl sie ihn nicht verstanden hatte, das hatte er ihr angesehen. Niemand kapierte das. Er sei einer dieser Jungautoren, die sich für den Größten halten, hatte Laura gedacht, das hatte sie ihm sehr viel später gestanden. Was für eine absurde Vorstellung! Vom Größenwahn war er weiter entfernt als der späte Hölderlin vom Rednerpult einer Massenveranstaltung.

*

Laura vermutete, dass das Team für eine Höhlenexpedition aus einer Gruppe von Wissenschaftlern bestand und langfristig vorbereitet war. Auch eine Alpenwanderung wurde sorgfältig geplant, von heute auf morgen führte man keine Expedition durch. Sie paffte eine Zigarette, blies einen Kringel in die Luft, schickte einen zweiten und dritten hinterher. Versonnen sah sie den flüchtigen Federwolken nach.

Warum lief das so kurzfristig ab? War jemand abgesprungen, eine bereits gebuchte Fotografin krank geworden? Es wäre eine Erklärung. Wieso hatte sie nicht gefragt? Sie drückte die Zigarette aus und zündete eine neue an. Wie immer, wenn sie aufgeregt war, sprach sie mit sich selbst. Sagte: »Laura, es ist ein Job. Nichts weiter.« Nach dem nächsten Zug krampfte sich ihr Magen zusammen. Sie hatte zu viel getrunken, war aufgewühlt, musste endlich schlafen! Laura drückte die Zigarette im Topf ihres Ficus Benjamini aus, dessen Blätter schlaff und braun herabhingen. Offenbar nahm die Topfpflanze es ihr übel, als Aschenbecher missbraucht zu werden.

Sie bekam kaum ein Auge zu. Stand auf. Lief durch die Wohnung. Ihre Unruhe wuchs. Dennoch legte sie sich wieder hin. Nach 20 Minuten nahm sie ihr Smartphone zur Hand und wählte Toms Nummer. Wenn einer etwas über ihren Auftraggeber wusste, war es ihr Ex, schließlich hatte er ihr den Wissenschaftler vorgestellt. Lange ließ sie es klingeln. Tom nahm ihren Anruf nicht an. Lag Sarah neben ihm? Klar! Dann würde sie eben … Sollte sie?

Laura kramte in ihrer Handtasche nach der Visitenkarte, die Lasse ihr zugesteckt hatte, und schickte ihm eine Textnachricht.

Lasse, wer ist noch dabei, außer uns?, schrieb sie.

Seine Antwort kam prompt. Ist das wichtig?

Ja, textete sie zurück.

- Okay. Vergiss es.

- Was?

- Du traust dich nicht.

- Doch! Bloß …

- ?

- Wie gesagt.

Morgen, … nein, heute, Laura. HEUTE um acht. Wir treffen uns auf dem Parkplatz vor der Nebelhöhle.

Laura kannte die Nebelhöhle. Sie war eine Attraktion auf der Schwäbischen Alb, touristisch voll erschlossen, im Hochsommer fanden sich jeden Tag Hunderte Besucher hier ein. Auch Mitte September waren immer noch genügend Leute dort. Ab Oktober war die Nebelhöhle ausschließlich an Wochenenden geöffnet. Danach war sie wie andere Höhlen einer Besuchergruppe vorbehalten, die keinen Eintritt zahlte: den Fledermäusen. Zu Tausenden bevölkerten sie die Räume aus Felsen und Stein und nutzten sie als ihr Winterquartier.

Die Nebelhöhle ist mega, gab Laura zurück. Die haben wir in ein paar Stunden durch, dachte sie.

- Wir gehen nicht in die Nebelhöhle. Wir steigen 50 Meter unter die Erdoberfläche. Du wirst Bilder machen wie noch nie!

- Ich muss mich vorbereiten, Lasse.

- Feigling.

- Gib mir einen Tag!

- Ich erhöhe dein Honorar.

Sie überlegte. Tippte. Auf?

- 600.

- 600?

- Am Tag.

Laura sah ihren Kontoauszug vor sich. Es war kein schöner Anblick. Es gab zu viel Konkurrenz in ihrem Beruf. Hochzeitsfotos boten inzwischen viele an. Kaum einer bestellte eine Firmendarstellung, ein Porträt, ein Familienfoto. Infolgedessen fotografierte sie Kinder von Bekannten und lichtete Freundinnen ab, Väter, Mütter, Großtanten, Chefs von kleinen Betrieben. Sie verlangte nicht viel, es reichte kaum für die Miete. Das Atelier hatte sie aufgegeben. Trotzdem musste sie immer wieder ihren Vater anpumpen. Papa gab ihr, was sie brauchte. Aber sie war fast 28 Jahre alt. Höchste Zeit, auf eigenen Beinen zu stehen. Jonas konnte sie nicht fragen, ihr kleiner Bruder war Grafikdesigner, er verdiente wenig, war selbst immer blank.

600 mal 7, sie rechnete es rasch aus. 4.200 Euro! Drei, vier Monate Miete plus Lebensmittel. Ein paar Abende in Clubs wären drin. Wäre sie sparsam und ließe sich einladen, könnte es drei Monate reichen. Seufzend schickte sie klatschende Hände zurück.

Vergiss die Stirnlampe nicht, Lasse, schrieb sie.

Wie könnte ich!, antwortete er.

Danke. Sie beendete ihre letzte Nachricht mit einem knutschenden Gesicht mit Herz. Löschte es. Platzierte ein lächelndes Emoji.

Bis morgen, Laura-Marie, textete er.

Sie stutzte. Er hatte Laura-Marie geschrieben. Woher kannte er ihren zweiten Vornamen? Er konnte ihn nicht kennen. Keiner wusste von ihrem zweiten Vornamen Marie. »Laura«, schimpfte sie laut vor sich hin, »er hat recherchiert, sich über dich erkundigt. Wozu hast du eine Website, ein Facebook-Profil, einen Instagram-Account? Du hast vier Google-Bewertungen!«

»Auf deiner Website steht dein zweiter Vorname nicht«, meldete sich die Bedenkenträgerin in ihr zu Wort.

»Shut up«, zischte sie.

Die Bedenkenträgerin hielt den Mund nicht. »In den sozialen Medien wird dein zweiter Vorname nicht erwähnt«, raunte sie ihr zu.

»Tom, er kennt Tom!«

»Ach, und Tom hat diesem Professor erzählt, dass in deinem Pass Laura-Marie steht? Und dass du eine Schrottkarre fährst, was du völlig überhört hast. Auch das wusste er. Warum hätte Tom ihm das erzählen sollen?«

»Es sind über 4.000 Euro!«

»Du lässt dich kaufen?«

Die Bedenkenträgerin hatte sich bei ihr eingenistet, nachdem ihre Mutter gestorben war. Als kleines Mädchen hatte es sie beruhigt, mit jemandem sprechen zu können, wenn niemand da war. Die innere Stimme war ihr in der Kindheit wie eine Freundin gewesen. Doch sie war geblieben, als Laura älter wurde, gegen ihren Willen. Kurz nach der Pubertät war sie genervt vom ständigen Gebrabbel. Sie lernte, die Bedenkenträgerin mundtot zu machen. Fand Wege, sie zum Schweigen zu bringen. Alkohol war einer. Die Drinks halfen im Anfangsstadium – nach einer Weile verpuffte die Wirkung.

Musik war ein anderer Weg.

Laura aktivierte Spotify auf ihrem Handy und ging durch ihre heruntergeladenen Lieblingssongs. Sie rief Fearless auf von Taylor Swift. Kurz darauf bewegte sie sich im Rhythmus. Danach recherchierte sie lächelnd die Fahrtzeit von Tübingen zur Nebelhöhle und stellte den Wecker auf 5.30 Uhr. Minuten später hatte sie den Flugmodus aktiviert, das schwarze Top vom Bett gefegt und sich unter ihrer warmen Federdecke verkrochen.

Tag eins. 14. September

Tübingen – Sonnenbühl

Als Laura an einer roten Ampel anhielt, warf sie einen prüfenden Blick in den Rückspiegel. Ihre braunen Haare kräuselten sich auf dem Oberkopf. Zum Glätten war keine Zeit gewesen. Na, wenn schon. Bald würde sie durch eine dunkle Höhle kriechen, wer achtete dort auf Haare! Die hohe Luftfeuchtigkeit zerstörte sowieso jede Frisur, bereits nach wenigen Minuten würde sie aussehen wie ein Seeigel. Sie klappte den Spiegel hoch. Sie musste sich auf den Verkehr konzentrieren. Sie war müde. Ja, sie hatte doch noch tief geschlafen, hatte die wenigen Stunden, die ihr geblieben waren, wie im Totenreich verbracht. Dennoch war es viel zu wenig gewesen.

Hatte sie alles dabei? Das Wichtigste waren Kamera und Handy. Zudem hatte sie genügend Kleidung eingepackt, hatte auch an Essen gedacht. Neben zahlreichen Energieriegeln lagen zwei Packungen Vollkornbrote und Brotaufstriche in ihrem Rucksack. Mehr als genug. Sie sah sich abends in einem netten Lokal speisen. In der Region gab es wunderbare Landgasthäuser. Es würde großartig werden! Ein richtiger Abenteuertrip! Vorsorglich hatte sie ihren Schlafsack und die Isomatte auf den Rucksack geschnallt. Der Hartschalenhelm, den sie zum Klettern nutzte, lag auf dem Rücksitz. Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, etwas vergessen zu haben.

Während sie weiterfuhr, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Mimo! Mimo war nicht da. Wie hatte sie ihren Glücksbringer zurücklassen können! Seit ihrer Kindheit hatte sie kaum eine Nacht ohne den geliebten Bären verbracht, auch wenn sie ihn mehrfach aus der Mülltonne hatte befreien müssen.

»Da sind Milben drin«, hatte Tom gesagt und den Teddy mit spitzen Fingern an den Ohren gepackt. Tom hatte eine Milbenphobie. Bettdecken, Kissen, alles musste dauernd gewaschen werden, er hätte auch sie hinter das Bullauge seiner Waschmaschine gesteckt, hätte sie sich nicht davongemacht. Mit Mimo. Und den Worten: »Es sind Spuren von zu viel Liebe, Tom! Davon verstehst du nichts.« Trotzdem hatte sie Mimo, der zunehmend strenger gerochen hatte, einem Wollwaschgang unterzogen. Seitdem quoll aus beiden Ohren die Füllwatte hervor.

Auch die nächste Ampel stand lange auf Rot. Erst als der Fahrer hinter ihr hupte, drückte sie das Gaspedal durch. Beim Schalten in den zweiten Gang streifte ihr Blick die Mittelkonsole. 7.18 Uhr. Laut Navi brauchte sie noch 37 Minuten. Sie hatte fünf Minuten Puffer. Länger als ein Song auf ihrer Playlist.

Sie trat auf die Bremse, riss das Steuer herum und vollführte mit dem Kleinwagen eine 180-Grad-Drehung. Der Fahrer hinter ihr streckte den Mittelfinger in die Luft. Sie warf ihm einen Luftkuss zu.

Es waren wenige Straßenzüge bis zu ihrem Zuhause. Laura wohnte unterhalb des viel befahrenen Nordrings, unweit des Botanischen Gartens. Sie parkte den Wagen auf dem Gehsteig, hetzte die sechs Treppen hoch, schloss die Wohnungstür auf, nahm den alten Teddybären von der Bettdecke und spurtete zum Auto zurück. Zweieinhalb Minuten später war sie wieder am Wagen. Sie würde überpünktlich sein.

Die Ampeln in Tübingen arbeiteten gegen sie. Überall sah sie Rot, es ging schleppend voran. Dann kam sie eben zu spät, fünf Minuten, zehn Minuten – was war das schon?

Kaum hatte sie Derendingen hinter sich gelassen, beschleunigte sie. In Gomaringen geriet sie in einen Stau. Unfall auf einer Spur. Nichts ging. Laura schlug auf das Lenkrad ein. Und schickte Lasse eine Textnachricht. Unfall, Lasse! Dauert etwas länger.

Nach weiteren 20 Minuten bog sie in den Parkplatz Nebelhöhle ein. Drei weitere Fahrzeuge standen da. Keine Besucher weit und breit. Nur ein bärtiger Typ in Wanderstiefeln, Parka, Outdoorhose lehnte an seinem Jeep, die Arme verschränkt, die Miene finster.

»Wie er sich auf uns freut«, flüsterte sie Mimo zu, den sie auf dem Beifahrersitz abschnallte. Laura stieg aus.

»Hey, Lasse!«, setzte sie fröhlich an.

Lasse kniff die Augen zusammen. »Es ist 8.32 Uhr«, knurrte er.

»Ich hab doch geschrieben, dass auf der Strecke ein Unfall war.« Entschuldigend hob sie beide Hände.

»Das interessiert mich nicht, Laura. Wenn ich 8 Uhr sage, meine ich 8 Uhr.«

Wie konnte jemand an einem so schönen Morgen so mies drauf sein? Laura knirschte mit den Zähnen. Es war wie immer. Wie minutiös sie es auch durchtimte, etwas Unvorhergesehenes kam stets dazwischen. Was konnte sie dafür! Tom hatte ihre Unpünktlichkeit wahnsinnig gemacht. »Tu einfach so, als müsstest du eine Viertelstunde früher da sein«, hatte er vorgeschlagen. Weil sie aber wusste, dass sie keine Viertelstunde früher da sein musste, funktionierte es nicht.

»Hast du kein Gepäck?«, maulte Lasse.

Sie holte tief Luft, um nicht zu explodieren. Dann stapfte sie zu ihrem Auto, griff nach dem Rucksack, stopfte Mimo in eine Seitentasche und klemmte den Helm unter den Arm. Sie eilte zurück zu Lasse, der einen Trekkingrucksack der zweieinhalbfachen Größe auf seinen Rücken schnallte. Sie schätzte das Volumen auf 130 Liter. Sie kam mit einem Stauraum von 50 Litern aus.

»Bereit?«, fragte er freundlicher.

Sie nickte und folgte ihm. Stumm stapfte sie hinter ihrem Auftraggeber her, bis sie wieder Macht über ihre Gedanken hatte. Es war auch für ihn eine kurze Nacht gewesen. Er würde sich einkriegen.

Das Gelände erwachte zum Leben. Eine Familienlimousine fuhr vor, ein junges Paar saß vorne, das Heck war mit Kindern vollgestopft. Die Horde drängte aus dem Wagen. Ein Kind schubste das andere vor sich her. Laura beobachtete lächelnd die Familie, die glucksend und gackernd die Nebelhöhle ansteuerte. Wie gerne wäre sie ihr gefolgt.

Lasse bog rechts ab. Richtung Wald, Wiese. Pampa.

»Ist der Eingang nicht da vorne?«, fragte sie und zeigte auf die Familie. Lasse hob eine Augenbraue. Gut. Dann hielt sie eben die Klappe. Er hatte sie vorgewarnt. Hatte gesagt, dass sie nicht in die Nebelhöhle gingen.

Dennoch musste sie dringend eine Sache erledigen. Ihre Blase drückte. Rechts von ihr erstreckte sich ein kleines Waldstück. »Ich muss mal«, sagte sie und verschwand, ohne eine Reaktion abzuwarten, hinter einem dicken Baum.

15 Minuten später standen sie vor einem verrosteten Gitter. Lasse rüttelte daran. Es war verschlossen. Geschickt hob er die Metallstäbe aus den Angeln. Das Tor quietschte, der Zugang schien länger nicht benutzt worden zu sein. Er war fast so breit wie hoch und führte in einen stockdunklen Gang.

»Hast du an die Beleuchtung gedacht?«, fragte Laura.

Er reichte ihr eine Stirnlampe. Sie hing an einem Kopfband, war mit Batteriefach und Flachbandkabel ausgestattet. Zufrieden befestigte Laura das Kopfband an ihrem Helm.

Nachdem er seine Lampe eingeschaltet hatte – auf seinem Hartschalenhelm befand sich neben der LED-Leuchte ein Ersatzlicht –, streckte er in einer formvollendeten Geste den rechten Arm aus, als wolle er sie in ein Schloss führen wie ein englischer Butler.

»Es ist besser, du gehst voraus«, sagte sie bestimmt. Als er sich dicht an ihr vorbeidrängte, roch sie seinen Atem. Pfefferminz.

Sie stießen ins Höhlenreich vor. Lasse konnte mit seinen 1,83 Metern aufrecht stehen. Sie hätten nebeneinander herspazieren können, so breit war der Gang, dennoch blieb Laura hinter ihm. Nach wenigen Minuten wurde es schmaler, die Decke senkte sich. Lasse bewegte sich gebeugt vorwärts, auch Laura neigte den Kopf, um nicht an die spitzen Steine, die von der Decke ragten, zu stoßen. Sie war froh, dass er vorausging, seine Stirnlampe war stärker, der Strahl heller, er zeigte den Weg hundert Meter in der Ferne an. Laura wunderte sich, warum das Licht an ihrem Helm so schwach war.

Ihr Begleiter gab ein strammes Tempo vor, doch sie hatte keine Mühe, ihm zu folgen. Der Gang wurde mal breiter, mal höher, mal enger. Niedriger. Der Boden glänzte, er schien feucht zu sein. Wasser tropfte von den Wänden. Es roch nach frischem Regen.

An einer scharfen Rechtskurve wäre Laura fast gegen Lasse geprallt, denn er hielt abrupt an. Sie spähte über seine Schulter und riss die Augen auf. Kniff sie zusammen. Öffnete sie. Lächelte. »Saurons Welt!« Sie starrte auf bizarre Gebilde, die aus einer Fantasy-Geschichte stammen könnten. Herr der Ringe. Harry Potter. So sah es hier aus. Verzückt hob sie den Blick. Sie standen in einer Halle, die zwölf, vielleicht 15 Meter hoch war. Aus dem Boden schoben sich mächtige Tropfsteine. Stalagmiten. Die Sinterkegel schraubten sich theatralisch in die Höhe. Sie erinnerten Laura an griechische Säulen.

»Die Schwäbische Alb ist voller Wunder«, sagte Lasse. Die Hände in den Taschen trat er ehrfürchtig an einen Tropfstein heran, der den umgekehrten Weg nahm. Er kam von oben, schien von der Felsdecke zu tropfen. Ein Stalagtit. Und er war nicht allein. Vor Laura tauchte eine Tropfsteinreihe auf wie ein Vorhang vor einer Bühne. Manche Tropfsteine berührten sich, reichten vom Boden bis zur Decke.

»Stalagtitmiten«, schlussfolgerte Laura.

Lasse hob eine Braue. »Zusammengewachsene Tropfsteine heißen Stalagnaten, Laura. Die -miten kommen von unten, die -titen von oben.« Er grinste schief.

Sie beschloss, derartige Andeutungen zu ignorieren. Tief beeindruckt von der Schönheit ihrer Umgebung huschte sie an ihm vorbei, direkt auf einen der größten Tropfsteine zu. Vorsichtig tastete sie ihn ab.

»Sie entstehen durch kohlensäurehaltiges Wasser, das in das Gestein eintritt.« Lasse trat neben sie. Plötzlich war er ihr so nah, dass sie ein Stück zur Seite wich.

»Die dünnen Tropfsteine heißen Sinterröhrchen. Du kannst auch Makkaroni dazu sagen.« Er fuhr mit den Fingerspitzen über ein endlos langes Exemplar, das nur knapp dreieinhalb Zentimeter Durchmesser hatte. Ein Zapfen aus Stein, für die Ewigkeit gemacht.

»Es ist die Oberflächenspannung, Laura. Wenn Tropfen immer an derselben Stelle austreten, laufen sie irgendwann über. Sie fließen an der Außenseite des Röhrchens ab und lagern sich dort als Kalzit an. Das Röhrchen wächst. In die Länge und in die Breite. Et voilà! Ein Tropfstein ist geboren.« Lasse legte den Kopf in den Nacken und wanderte mit den Augen ab, was sich in Jahrmillionen geformt, verändert und angepasst hatte.

Laura schnallte ihren Rucksack ab, holte die Nikon hervor, stellte das Stativ auf und drückte auf den Auslöser. Das sanfte Licht war perfekt, die Funzel auf ihrem Kopf genau richtig. Euphorisch zoomte sie an die Stalaktiten heran, lichtete Details ab, nahm einzelne Tropfen auf, ja sie konnte gar nicht aufhören, die Kamera klicken zu lassen! Wie sehr hatte sie das vermisst. Laura liebte ihren Job, war verrückt nach Nahaufnahmen, und diese Halle war unglaublich. Sie hatte völlig vergessen, wie faszinierend die Höhlenwelt der Schwäbischen Alb war. Laura erinnerte sich, mit ihrem Vater und Jonas die Bärenhöhle besucht zu haben, sie war noch ein Kind gewesen. Die Bärenhöhle war wie die Nebelhöhle eine Schauhöhle, Lichter hingen an Decken und Wänden. Sie tauchten die Wände in rotes, grünes, blaues, gelbes Licht, um den Besuchern ein Mysterium vorzuspielen, das die Natur nicht vorgesehen hatte. Die Höhle, in der sie standen, war nicht beleuchtet. Sie war majestätisch. Ohne menschliche Eingriffe.

»Man nennt eine solche Halle Kathedrale oder Dom«, sagte Lasse. Auch er schien ergriffen zu sein. »Es ist ein Heiligtum, das keine Kirche braucht.«

Laura hatte von sakralen Hohlräumen gelesen, die Einzelheiten jedoch vergessen. Sie brauchte sie nicht, denn Lasse war im Erklär-Modus.

»Ein Dom ist eine Erhöhung aus symmetrisch eintauchenden Antiklinalen.«

Sie sah die Welt durch den Sucher, schoss fasziniert Fotos, während Lasse dozierte. »Weißt du, was eine Antiklinale ist?«

»Nein, aber du wirst es mir gleich sagen.« Neugierig schaute sie auf.

»Ein geologischer Sattel. Eine Antiklinale ist eine durch Faltung erzeugte Aufwölbung geschichteter Gesteine. Wenn sich eine Serie dieser Gesteinsfalten zu einer domförmigen Struktur zusammenfügt und eine Wölbung bildet, nennt sich das Antiklinorium.« Er legte eine Pause ein, als wartete er, bis sie es sich vorgestellt hatte. »Beim Gegenstück laufen die Flügel der Struktur aufeinander zu und bilden eine Einbuchtung. Eine umgekehrte Wölbung also. Das nennt sich Synklinorium.«

Laura hörte mit halbem Ohr zu. Sie kramte in den Taschen ihrer Outdoorjacke nach ihrem Handy. Sie musste Jonas ein paar Fotos schicken! Keine Balken. Kein Netz.

»Diese Höhle hat sich in Abermillionen Jahren geformt. Das saure Regenwasser hat den Kalk gelöst. Der Grundwasserspiegel hat sich immer mehr gesenkt. Dadurch entstanden Schächte, Kammern, Nischen. Kanäle. Derart ausgeprägte Tropfstein- und Gipskristallformationen sieht man selten.«

»Was ist mit Empfang, Lasse? Ich bekomme kein Signal.«

Er hob die Augenbrauen. »Du wirst früh genug in die Zivilisation zurückkehren.«

Da war er wieder. Der schroffe Ton. Das Eis in seinen Augen ließ sie frösteln. Sie steckte das Mobiltelefon in ihre Tasche und beobachtete ihn.

Er hielt an seinem Vortrag fest. »Wir flanieren über einen Boden, den seit Beginn der Zivilisation kein Mensch je betreten hat. Wir sind die Einzigen, die ihren Fuß auf diesen Grund gesetzt haben. Wie Armstrong, der erste Mensch auf dem Mond.«

»Glaub ich kaum, dass hier noch keiner war.« Laura kickte eine Bananenschale weg, die in einer Ecke vor sich hin moderte. Sie musste schon länger dort liegen, denn sie war rabenschwarz, dennoch dürfte sie aus dem 21. Jahrhundert stammen.

»Wart’s ab«, knurrte er. »Wir sind erst am Anfang.«

Er war beleidigt. Sie hörte es an seiner Stimme, er war verletzt. Ihre Vermutung, dass er launisch war, bestätigte sich. Sie musste sich zurückhalten, schließlich waren sie alleine. Nur er kannte den Weg. Laura war auf ihn angewiesen.

Tübingen-Bebenhausen

Jonas fuhr hoch, denn ein Gegenstand war krachend zu Boden gegangen. Er hatte sein Smartphone vom Bett gestoßen. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte ihn ein Baseball nach einem heftigen Pitch getroffen. Er hatte zu viel getrunken! Er riss die Nachttischschublade auf und tastete nach den Tabletten. Er drückte zwei Paracetamol aus dem Blister, schälte sich aus den Federn und tapste ins Bad. Dort drehte er den Wasserhahn auf. Als er die Schmerztabletten einnahm, verzog er angewidert das Gesicht. Der Atem, der aus seinem Mund kam, war hochprozentig. Lange putzte er seine Zähne. Danach füllte er den Wasserkocher, stellte einen Porzellanfilter – ein Flohmarktfund – auf eine Tasse, legte eine braune Filtertüte hinein und gab Pulver hinzu. Während das duftende Heißgetränk in die Tasse tropfte, checkte er seine Nachrichten.

Zwei Messages stammten von Marcel, dessen Geburtstag sie am Vorabend gefeiert hatten. Eine von Rebecca. Wer war Rebecca? Ein blasses Mädchen tauchte in seiner Erinnerung auf. Sie musste eine von Marcels Bekannten sein. Keine Nachricht von Laura. Kein Foto, kein Text. Sie hatte nicht einmal seine letzte Nachricht abgerufen.

Jonas schlüpfte in die Jeans vom Vortag, streifte ein frisches T-Shirt über und riss ein Fenster auf. An den Straßenlärm hatte er sich gewöhnt, an den alkoholisierten Zustand nicht. Noch hatte er es im Griff. Er setzte sich mit dem Kaffee auf den Hocker, der vor einem kleinen, tresenartigen Tisch am Fenster stand. Sein Essplatz. Die frische Luft tat gut. Es war heller Tag. Die Sonne musste direkt über ihm stehen. Wenn er den Blick nach oben richtete, sah er die Balkondecke seines Nachbarn. Der Putz blätterte ab. Er fuhr mit den Fingern durch seine lockige Mähne. Sie war klebrig, als hätte sein Kopf einen Schluck Bier abbekommen.

Während er den heißen Kaffee schlürfte, ließ er den gestrigen Abend Revue passieren. Als er kurz nach 22.30 Uhr dabei war, die Unifeier zu verlassen, um bei Marcel vorbeizuschauen, hatte Laura neben einem Bärtigen an der Bar gesessen. Er kannte ihn nicht, hatte ihn nie zuvor gesehen. Der war viel zu alt für sie, er könnte ihr Vater sein! Aber sie mischten sich nicht in das Liebesleben des anderen ein. Er würde warten, bis sie ihm davon erzählte. Jonas, frag nicht nach letzter Nacht …, hatte sie einmal getextet. Und einen Scheißhaufen angehängt. Ein anderes Mal hatte sie Herzen und Schmetterlinge geschickt. Aber dieser Bärtige? Er passte nicht zu ihr.

Jonas scrollte durch die sozialen Netzwerke und ging auf Lauras Profil. Das letzte Foto war vom Samstagabend. Laura und drei Freundinnen beim Feiern. Seitdem herrschte Sendepause. Sendepause gab es nicht bei Laura. Sie war die sozialen Medien. Warum checkte sie ihre Nachrichten nicht?

Nachdenklich leerte er seine Tasse und legte sich zurück ins Bett. Er zog die Decke über seinen Kopf. Jonas musste aufhören, über Laura nachzudenken. Seine Schwester war älter als er. Sie wusste, was sie tat.

Unter der Schwäbischen Alb

Sie hatten den Dom verlassen. Der Gang war so eng geworden, dass Laura ihre Arme an den Körper pressen musste, um ihn zu passieren. Wieder wurde ihr bewusst, wie dunkel es im Höhlenreich war.

Sie blickte auf Lasse, der dicht vor ihr her stapfte. Er nahm das engste Stück seitlich. Es dauerte nicht lange, bis sich der Gang wieder weitete und in einen einfachen Hohlraum mündete. Keine Tropfsteine. Nur Kalk. Und Lehm.

Lasse deutete auf ein breites Plateau, das sich aus Stein geformt hatte. »Kurze Pause«, sagte er knapp.

Laura setzte sich und streckte dankbar die Füße von sich. Lasse deutete zur Decke. Durch einen schmalen Firstspalt drang Tageslicht. Obwohl der Spalt kaum mehr als eine Handbreit maß, spürte Laura Erleichterung, denn er war für sie wie ein Stück heile Welt. Sie lächelte.

Danach folgte Laura Lasse gedankenverloren. Sie blieb dicht hinter ihm, denn die Umgebung war ihr nicht geheuer. Diese Dunkelheit. Sie war überall.

Nach ungezählten Aufstiegen, Abstiegen, Wendungen und Kehren erreichten sie einen weiteren sakralen Raum. Er war kleiner als der Dom, den sie vor Stunden verlassen hatten. Aber auch dieser Raum wirkte einladend. Begeistert ließ Laura den Blick über die Wände schweifen. Von manchen tropfte Wasser. Ein winziger See erstreckte sich zu ihrer Linken. Laura wollte auf den Unterwassersee zugehen, doch Lasse marschierte eng an der rechten Felswand entlang auf ein mehrere Meter breites Steinfeld zu. Er rollte seine Isomatte auf dem feuchten Boden aus und ließ sich stöhnend fallen.

»Wir machen Rast, Laura«, sagte er.

Sie schnallte ihren Rucksack ab und setzte sich neben Lasse auf das harte Geröll. Sie war müde. Grund dafür waren nicht die Kilometer, die sie zurückgelegt hatten. Es war die Finsternis, an die sie sich nicht gewöhnen konnte. Die Welt im Lichtkegel ihrer Stirnlampe zu betrachten, strengte sie an. Oder war es Lasses Gegenwart?

Sie schielte zu ihm rüber. Er lächelte, doch seine Freude galt nicht ihr. Sie galt der Umgebung, die er sichtlich genoss. Lasse schien die Unterwelt gierig aufzusaugen. War sie für ihn ein Abenteuerland, in dem Männer Monster besiegten und Drachen töteten? Sah er sich als moderner Siegfried? Sie holte ihr Fläschchen aus dem Rucksack und trank es halb leer.

Erneut dachte sie an Jonas. Ihr Halbbruder wartete sicher auf eine Nachricht von ihr. Sie wollte ihm so gerne mitteilen, dass es ihr gut ging, dass die Gänge eng, die Höhlen jedoch faszinierend waren. Sie musste ihm schreiben, dass sie keinerlei, so gut wie keine, also kaum Platzangst verspürte. Dass sie glücklich war, hier zu sein. Dass sie endlich wieder einen gut bezahlten Job hatte. Da wurde ihr bewusst, dass er noch nicht einmal wusste, dass sie zu einer Höhlenexkursion aufgebrochen war! Sie hoffte, Tom hatte es ihm erzählt. Sie würde ihm alles genau berichten, sobald sie Empfang hatte.

»Es ist kalt«, sagte sie, denn sie fröstelte.

»Die Luftfeuchtigkeit in Höhlen liegt bei über 90 Prozent«, klärte Lasse auf. »Die Temperatur beträgt konstante acht, maximal neun Grad. Beim schnellen Gehen merkst du es nicht. Wenn du länger sitzt, musst du dich warmhalten.«

Klugscheißer wie er gingen ihr auf den Geist. Dennoch war, was er sagte, hilfreich. Laura kramte in ihrem Rucksack. Sie streifte ihre Outdoorjacke ab, schlüpfte in den warmen Pullover und zog anschließend die Jacke darüber. Dann griff sie nach dem Vollkornbrot. Sie sah Lasse fragend an. Da er nickte, bestrich sie zwei Scheiben mit Auberginencreme und reichte ihm eine davon. Schweigend aßen sie.

Nach einer halben Stunde erhob sich Lasse mit den Worten: »Weiter geht’s, Laura.«

Bevor sie aufbrachen, füllte Laura schnell ihre Wasserflasche. Der See war wundervoll. Gerne wäre sie geblieben und hätte ihre Füße eingetaucht, aber ihr war immer noch kalt und Lasse drängelte. Also nahm sie rasch ein paar gierige Schlucke. Das Wasser war glasklar, kühl und frisch.

Laura folgte ihrem Auftraggeber durch einen schlauchartigen Gang. Bald lag die Wasserstelle hinter ihnen. Lasse stapfte zu einer kleinen Anhöhe. Die Stufen, die den Weg markierten, waren wacklig, manche Steine lösten sich beim Betreten. Laura musste höllisch aufpassen, dass sie nicht abrutschte und der Länge nach hinfiel. Es ging im Schneckentempo voran. Die letzten Meter nahm sie auf allen vieren, auch Lasse stützte sich mit den Händen ab. Wenig später traten sie durch ein Tor, das hoch genug war, um aufrecht hindurchzumarschieren. Laura entdeckte dahinter einen nischenartigen Raum, der mit einem anderen verbunden war. Wie ein Familienzimmer in einem Hotel.

»Zwei Höhlen für eine Zwergenfamilie!«, rief sie aus, denn die jeweils vier, fünf Quadratmeter großen Hohlräume mit den niedrigen Decken wirkten wie Heime, die aus der Zeit gefallen waren. Verwunschen. Gemütlich, irgendwie.

»Es sind Kammern, Laura.«

Kammern, Räume, Höhlen – diese unterirdische Welt erschien Laura nicht mehr ganz so unheimlich. Sobald sie sich darauf einließ, kam ihr dieses System spannend vor, es veränderte sich permanent. Von Gängen gingen Nebenstrecken ab, eine führte in die nächste, auf Kammer eins folgten Kammer zwei, drei, vier.

Lasses Stirnlampe leuchtete die nächsten Meter aus. Meist entschied er spontan, welchem Weg er folgen wollte. Abermals fragte sich Laura, warum ihre Lampe so schwach war, manchmal flackerte sie, als wolle sie den Geist aufgeben. Lasses Licht hingegen funktionierte einwandfrei. Hatte er ihr ein Montagsmodell gegeben?

»Laura, wann lernst du es endlich! Du musst für dich selbst sorgen, du hättest dir eine Profi-Stirnlampe besorgen können, dann müsstest du dich nicht mit so einem miesen Teil zufriedengeben!«, meldete sich die Bedenkenträgerin zu Wort, die bislang den ganzen Tag geschwiegen hatte.

»Wann hätte ich das tun sollen?«, erwiderte Laura tonlos.

»Du hättest mehr Zeit aushandeln müssen.«

Sie hatte es ja versucht! Dennoch. Es war nicht klug gewesen aufzubrechen, ohne jemandem Bescheid zu geben. Sie musste dringend Jonas kontaktieren und ihm ihren Standort durchgeben.

»Da lang, Laura.« Seine Worte rissen sie aus ihrem Gedankenstrom. Sie musste aufhören, vor sich hin zu träumen, und in die Realität zurückkehren. Zu Lasse, der vor einem Felsdurchbruch stehen geblieben war. Die Öffnung reichte bis zu ihren Oberschenkeln und war kaum größer als ein Sitzball. Wie ein Loch, das mit einem gigantischen Hammer notdürftig in die Wand gehauen worden war. Die Ränder waren ausgefranst. Steinkanten standen überall hervor, manche davon waren spitz. Sie wollte sich nicht die Haut daran aufritzen. Und überhaupt, was meinte er mit »Da lang«?

Er deutete mit dem Kinn in die Öffnung. Was sollte das?

»Das ist eine Schlupfhöhle«, sagte er.

Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Nein, Lasse.« Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte eine bissige Bemerkung machen, hielt sich aber zurück, um ihn nicht zu verärgern. Trotzdem ging das zu weit, er konnte nicht von ihr verlangen, sich durch diese Engstelle zu quetschen! Vor ihr lag ein Kaninchenloch!

»Wozu, glaubst du, hab ich dich mitgenommen?«, blaffte er.

»Du hast sie nicht mehr alle!«, schrie sie ihn an. Sie biss sich auf die Lippe. Sie hörte seine Worte wie durch Watte.

»Wenn einer da reinpasst, bist du das, Laura.« Er grinste schief.

Sie knetete ihre Hände.

»Wir wollen keine Wurzeln schlagen.«

Ihr Herz klopfte.

Erst, als er hinzufügte: »Es sieht schlimmer aus, als es ist«, schnallte sie den Rucksack ab, legte sich auf den lehmigen Boden und richtete ihre Stirnlampe in die Öffnung.Der Weg verlief die ersten Meter gerade. Soweit sie erkennen konnte, kam keine Wende, keine Windung. Es war ein Tunnel, der, tief gebeugt, bezwungen werden konnte. Ihr Outfit, die Trekkinghose mit der verstärkten Kniepartie und die Hardshelljacke, war hochwertig, es trotzte Wind, Regen, Sturm und würde ein paar Kratzer verkraften. Der Helm würde ihren Kopf vor den harten Kanten und spitzen Steinen schützen. Nur für das, was sich in ihrem Hirn abspielte, gab es kein abweisendes High-Tech-Material. Leider.

Sie begutachtete den Boden. Er war schmutzig, feucht, steinig. Sie brauchte ihre Handschuhe, also kramte sie in ihrem Rucksack.

»Keine Zeit für Make-up, Laura«, sagte Lasse augenrollend.

»Meine Handschuhe«, gab sie unwirsch zurück.

Während sie die Handschuhe überstülpte, überkam sie ein beklemmendes Gefühl. Sie mochte die Idee nicht, sich durch dieses Erdloch zu zwängen, schließlich erkannte sie keinerlei Sinn darin. Dennoch ging sie in die Hocke. Sie wollte wissen, wie groß die Öffnung war, und stellte ihren Ellbogen davor auf. Er nahm ein knappes Drittel ein. Ihr Ellbogen maß circa 45 Zentimeter, auf keinen Fall mehr als einen halben Meter. Die Öffnung war also knapp eineinhalb Meter hoch. In der Breite waren es etwa 20 Zentimeter weniger. Blieb dieser Tunnel konstant, könnte sie sich gut hindurchbewegen. Die Frage war nur, wie lange verlief dieser Tunnel so? Führte er auf demselben Weg zurück?

Sie wagte einen letzten Einwand. »Muss das wirklich sein?«

»Ja.«

»Okay.« Sie schob sich gebückt in den Tunnel.

»Wenn es enger wird, musst du schlufen!«, rief Lasse hinter ihr her. Sie drehte ihren Kopf. Er kniete am Eingang. »Es ist eine völlig normale Art der Fortbewegung in Höhlen«, behauptete er.

Sie rollte mit den Augen und kümmerte sich nicht mehr um ihn. Seine Begrifflichkeiten waren ihr so was von gleichgültig, hier ging es nicht um Worte, sondern um Gefühle!

Sie hatte etwa 25 Schritte geschafft, dachte, alles halb so wild, ich mache mich umsonst verrückt, als sie plötzlich einsank. Der Boden war voller Schlacken und wurde schlammig. Ihre Stiefel schmatzten und ließen sich immer schwerer vom Untergrund lösen. Außerdem tat ihr der Rücken weh. Niemand konnte sich in einer tiefen Rumpfbeuge lange fortbewegen. Genug war genug!

Es gelang ihr, sich vorsichtig umzudrehen, und sie schlurfte die wenigen Meter zurück. Als sie sich endlich aufrichten konnte, neigte sie ihren Oberkörper weit nach hinten und dehnte sich, die Hände in die Hüften gestützt. Trotzig sagte sie: »Das bringt nichts, Lasse.« Sie sprach laut, ihre Botschaft war deutlich. Sie ließ sich nicht wie ein Kegel anstupsen und in ein dunkles Loch kicken!

Er betrachtete sie mit vorwurfsvollem Blick.

»Es ist voll matschig da drin, schau, wie tief ich eingesunken bin. Da kommst du nur mit Gummistiefeln weiter.« Sie zeigte auf die verdreckten Trekkingschuhe. Der Schlamm war bis zu den Waden an ihrer Hose hochgespritzt.

Er musterte sie mit ernster Miene, dann verzog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen, und er hob zu einem Kichern an. Sein Lachen klang wie das Keckern eines Schimpansen, seine Mundwinkel waren wie an den Ohren festgetackert.

»Alles klar, Laura«, sagte er und hustete. »Es reicht für heute.«

Er streckte seine Hand aus. Zögernd schlug sie ein. Seine Rechte war warm, der Griff fest. Sie ließ sich von ihm über ein Geröllfeld ziehen. Während sich ihr Herzschlag beruhigte, fragte sie sich, warum er sich so verhielt. Dieser permanente Stimmungswechsel, was bedeutete das?

Die Bedenkenträgerin meldete sich zurück. »Der Kerl ist unberechenbar«, flüsterte sie. »Er scheucht dich herum, und du lässt es dir gefallen. Du machst, was er will. Trottest neben ihm her wie ein Schaf. Määäh!«

»Tu ich nicht«, raunte Laura.

Lasse ließ ihre Hand los und blickte sie fragend an. »Ist was, Laura?«

»Nein, was soll sein?«

Tübingen-Bebenhausen