Schneesturm - Norwegen-Krimi - Widar Aspeli - E-Book

Schneesturm - Norwegen-Krimi E-Book

Widar Aspeli

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Vier Freunde und eine Skitour in die norwegischen Berge – doch so gemütlich bleibt es nicht! Die Reise beginnt aus den Fugen zu geraten, als ein zwielichtiger Typ der Gruppe ein verbotenes Powergetränk verkauft und es einem der vier am nächsten Tag sehr schlecht geht. Trotzdem brechen sie auf in die Berge, doch dann überrascht sie nicht nur ein starker Schneesturm, sondern auch noch der Fund einer Leiche... -

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Seitenzahl: 207

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Widar Aspeli

Schneesturm - Norwegen-Krimi

Übersetzt Christel Hildebrandt

Saga

Schneesturm - Norwegen-Krimi ÜbersetztChristel Hildebrandt Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2000, 2020 Widar Aspeli und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726445053

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Wetteraussichten

In der ersten Hälfte der Osterfeiertage viel Sonne. Gleichzeitig sorgt jedoch ein kräftiges Tiefdruckgebiet im Südosten für die Bildung eines Sturmzentrums, das sich im Laufe der Osterwoche über Südnorwegen ausbreitet und erhebliche Mengen an Niederschlägen mit sich führt. In den Hochgebirgsregionen besteht Lawinengefahr.

Donnerstag

Eins

Als er sie nicht ins Leben zurückholen kann, gerät er in Panik.

»Oh, Scheiße. Wach doch auf!«, schreit er und schlägt ihr mit der flachen Hand auf die Wange. Keine Reaktion. »So ein verdammter Mist!«

Er schlägt mit der Faust gegen die Wand. Der Lederhandschuh knarrt. Er spürt, wie sein Puls jagt und der Schweiß ihm die Stirn hinunterrinnt. Es ist furchtbar heiß in der Hütte. Das Radio wirft ferne Stimmen in den Raum. Ihm ist, als würden die groben Bretterwände im Wohn- und Kochbereich der Hütte jeglichen Sauerstoff aufsaugen. Der Hals schnürt sich ihm zusammen. Er muss denken. Die Panik in den Griff kriegen. Etwas tun. Die Kontrolle wiederfinden. Abhauen! Und bloß das Gebräu nicht anrühren.

Er zieht sich die Handschuhe aus und stopft sie in den Helm. Seine Finger reißen den Klettverschluss des Overalls auf, tasten herum und ziehen schließlich den Reißverschluss hinunter. Er wirft Helm und Motorradhandschuhe auf einen Sessel, schließt die Augen und versucht das Chaos von sich fern zu halten. Er zwingt sich, ganz ruhig zu atmen. Gleich wird er handeln.

Er schaut sich um. Die Tür zu der einen Schlafkammer steht offen. Das Bettzeug liegt auf dem Boden. Kleidungsstücke sind im Raum verstreut. Rote Skihandschuhe, ein Gebirgsanorak und eine Überziehhose. Skistiefel. Der Ausziehtisch quillt von Zeitungsabschnitten fast über, ein leeres Saftglas steht noch darauf, daneben eine umgekippte Weinflasche und der Laptop mit tanzendem Bildschirmschoner. Die Kamera liegt auf der Küchenanrichte. Die Kühlschranktür ist offen und wirft einen schwachen Lichtstreifen in den Raum. Ein Häufchen leerer Flaschen steht einsam und verlassen unter dem Abwaschbecken. Zwei Halbliter-Flaschen liegen auf dem Tisch. Leer! Eine halb volle Colaflasche hält sich bedrohlich schräg auf der Wolldecke, die vom Sofa hinuntergerutscht ist. Ein leeres Glas ist aus der offenen Hand gefallen. Aus der Hand, die sich steif über dem Flickenteppich emporstreckt. Er registriert die Details, aber sie dringen nicht wirklich zu ihm vor. Es ist, als hätte der leblose Körper dort auf dem Sofa nichts mit ihm zu tun. Hätte nie etwas mit ihm zu tun gehabt. Er spürt nur Wut. Und Panik.

»Diese verdammte Schnalle!«

Sie hat es getan. Fast drei Flaschen. Plus Pillen und Wein. Mit zitternden Händen schiebt er den Tisch weg und sinkt vor dem Sofa auf die Knie. Er versucht einen der Gedanken festzuhalten, die ihm durch den Kopf rasen. Sie darf nicht hier gefunden werden. Wieder schiebt sich seine Hand zu ihrer Wange hin, die Finger gleiten den Hals hinunter. Verdammtes Zittern. Zuerst meint er ein schwaches Klopfen zu spüren, aber dann begreift er, dass es das Pochen seines eigenen Bluts ist. Kein Pulsschlag bei ihr.

Er hätte ihr nicht trauen dürfen. Diese neurotische Stadttussi versucht ihn fertig zu machen. Das Einzige, was diese Dame jetzt darstellt, ist ein riesengroßes Problem. Sein Problem.

Sein Atem geht schwer und sein Körper schwimmt in dem dicken Anzug im eigenen Schweiß. In wenigen Minuten hat er ein neues Date. Er hat nicht viel Zeit. Wenn er gewusst hätte, dass sie sich nicht besser unter Kontrolle haben würde, hätte er sie nie in seine Deals mit reingezogen. Die Gedanken verhaspeln sich im Kopf. Er kommt wieder hoch, stapft im Zimmer herum. Geht zum Küchenfenster. Die Leute von der Nachbarhütte schnallen sich Skier an und werfen sich Rucksäcke über. Sie machen sich bereit für eine Nachmittagstour im Ostergebirge. Eine Sonnentour.

Da unterbricht das Radio seine hin- und herspringenden Gedanken. Eine sachlich klingende Stimme berichtet, dass Menschen im Gebirge vermisst werden. Die Worte bohren sich in seinen Kopf. Als die Musik wieder durch den Raum strömt, bleiben seine Augen an der »schwarzen Katze« hängen, dem Thundercat, der direkt vor der Hintertür steht. Der Schlitten ist angekoppelt, aber leer. Er schnappt nach Luft. Das ist die Lösung! Er dreht sich schnell um und macht sich daran, in aller Eile das Chaos auf dem Boden zu beseitigen. Den Deal muss er später abwickeln. Der Typ wird bestimmt wieder anrufen.

Also jetzt anziehen! Schwitzend schafft er auch das und ist schon auf dem Weg zur Küchentür, als er innehält. Der Toshiba steht aufgeklappt auf dem Ausziehtisch. Er bewegt die Maus. Der Bildschirmschoner löst sich auf. Das Textprogramm ist geöffnet. Einige Sekunden lang überlegt er, dann suchen seine Finger nach den richtigen Tasten, um eine Nachricht in das Gedächtnis der Maschine einzugeben.

Als er kurz darauf die Frau zur Hintertür schleppt, hört er jemanden auf der Vordertreppe und ihm fällt ein, dass er vergessen hat, draußen einen Notizzettel anzubringen.

*

Elin Helgesen fühlt sich ein bisschen zittrig auf ihrem Snowboard. Sie stellt die Bindung am linken Bein nach, holt dann tief Luft und konzentriert sich, bevor sie das Brett den leicht geneigten Hügel hinuntergleiten lässt. Sie findet ihr Gleichgewicht. Sie weiß nicht, wie oft sie hier schon gefahren ist, aber ihre Wadenmuskeln schmerzen.

Beitostølen brodelt zu Ostern. Es wimmelt von kunterbunten Skianzügen und sonnengebräunten Köpfen. Braune Gesichter mit weißem Lachen, die jeden einzelnen Sonnenstrahl vom blauen Himmel gierig aufsaugen. Aber niemand kann Elin Helgesen gegenüber behaupten, das hier wäre ein Idyll. Beitostølen ist nichts als ein Kaff, das versucht mit der Natur zu konkurrieren. Der Ort liegt wie ein größenwahnsinniger Wächter vor dem Reich der Bergriesen. In den Ferien ist er kurz vorm Explodieren und ganz besonders in dieser Woche. Mietshütten, Wohnungen, Hotels und Restaurants zwängen sich um die Reichsstraße und versuchen gemütlich, anheimelnd und Gott weiß wie noch auszusehen. Schön findet Elin das Ganze jedenfalls nicht. Und am schlimmsten ist das Beito-Hochgebirgshotel, das wie ein missratener Legoklotz aussieht.

Elin beschließt, dass dies jetzt ihre letzte Fahrt wird – wenn sie sie schafft, ohne auf die Nase zu fallen. Sie fährt nicht gern mit dem Snowboard. Aber die Abmachung ist schon in Ordnung. Heute ist sie mit dem Brett auf dem Hügel dabei. Jørn, Trude und Audun, die drei anderen aus der Band, machen dafür morgen bei einer Skiwanderung mit. Eigentlich wollte sie das Snowboardfahren ganz ausfallen lassen, aber der Typ beim Skiverleih hatte einfach nicht locker gelassen.

»Aber logo, das musst du versuchen. Eine Fahrt und du bist bekehrt«, hatte er behauptet und die Ausrüstung herausgeholt. »Übrigens gehe ich davon aus, euch Samstag wieder zu sehen«, hatte er weiter gemeint und jedem einen Flyer in die Tasche gestopft. »Ein Super-DJ. Echt stark!«

Aber Elin hat so ihre Zweifel, ob sie wirklich zu der »Gigaparty« am Samstag in der Beitohalle gehen sollen. Express ist schließlich vor allem deshalb auf Hüttentour, um für den Landeswettbewerb in Trondheim im Mai zu üben.

Die ganze Zeit muss sie darauf achten, das Gewicht auf den vorderen Fuß zu verlagern, aber jedenfalls fällt sie nicht hin. Das Brett gleitet spielerisch einfach durch den Schnee, fliegt den präparierten Hang hinunter. Elin geht in die Knie und verlagert ihr Gewicht, spürt zufrieden, dass sie in die Kurve geht. Und wieder zurück. Genau. Die Geschwindigkeit nimmt auf dem kleinen Steilhang zu. Sie spannt die Muskeln an und wirft sich herum. Einhundertundachtzig Grad. Sie schafft einen Hundertachtziger! Nach all den Bruchlandungen, die sie vorher hingelegt hat!

Wieder verlagert sie das Gewicht und gleitet weiter. Ihre Gedanken wollen die Band nicht verlassen. Trude hatte diese Übungswoche in der alten Hütte ihrer Eltern vorgeschlagen. Express muss dringend ihr Spiel perfektionieren, wenn sie in Trondheim eine gute Figur machen wollen.

Jetzt sind sie seit zwei Tagen in Beitostølen. Und Trude hat sie alle total beeindruckt, als sich herausstellte, dass sie den Schneescooter fahren kann, den sie brauchten, um ihre Musikausrüstung in die Hütte zu bringen.

»Ich bin schon vorher mal gefahren. Mein Vater hat ’ne Fahrerlaubnis«, hatte sie erklärt und war den Hügel hochgebrettert.

Seitdem haben sie schon ein paar Mal zusammen geprobt, aber irgendwie swingt es nicht so, wie es soll. Elin fürchtet, dass Jørn sich etwas verrennt. Er ist felsenfest überzeugt von seinen selbst komponierten Stücken und dem norwegischen Text. Und bemerkt das Stöhnen der anderen gar nicht.

Außerdem vermisst sie ihren Freund Joachim. Er hätte mitkommen können, alle anderen fanden das vollkommen in Ordnung, aber er wollte nicht.

»Was soll ich denn da? Die Saiten der Gitarre auswechseln? Ich habe mit der Band nichts zu tun. Ich stehe da doch nur im Weg«, hatte er gesagt.

»Du Dummkopf«, hatte Elin erwidert und ihm die Wange gestreichelt. Sie weiß, dass etwas anderes dahinter steckt. Joachim steckt der Zusammenstoß mit dem Elch im letzten Herbst noch in den Knochen.

Da hört sie hinter ihrem Rücken Rufe. Automatisch dreht Elin den Kopf, fällt hin und rutscht auf dem Bauch den Hügel hinunter. Sie erkennt die drei Skiläufer vom Palast oberhalb ihrer Hütte wieder. Die führen sich auf, als würde ihnen das ganze Gebirge gehören. Grinsen tagsüber mit ihren bronzefarbenen Gesichtern auf den Pisten herum und feiern die Nächte durch. Letzte Nacht ist Elin von dem Lärm aufgewacht. Als sie wütend zur Palastveranda hochschaute, sah sie gerade noch, wie ein Schneescooter aus der Doppelgarage dröhnte und zur wilden Nachtfahrt über die Hügelkuppen davondonnerte. Jørn hat die Nachbarn gleich Sondrejungs getauft, nachdem ihr »Chef« sich als Sondre Wikdahl vorgestellt hatte.

Jetzt braust das Dreigespann in voller Fahrt auf Elin zu, die immer noch auf den Knien hockt. Die Jungs fahren parallel nebeneinander und halten sich an einer langen Stange fest. Sie grölen sich Kommandos zu, wenn sie die Richtung ändern wollen, und das nimmt ihre Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch, dass sie viel zu spät bemerken, dass da jemand auf dem Boden hockt. Elin schreit. Drei Paar Augen öffnen sich erschrocken unter den Filzhüten. Der Rechtsaußen schreit »Links« und springt um die Richtung zu wechseln, aber die anderen beiden fahren weiter ihren rechten Bogen. Der Äußere lässt die Stange los, schert aus und prescht direkt an Elin vorbei, die gerade noch den Stahlkanten seiner Skier ausweichen kann. Kalter Schnee fliegt ihr ins Gesicht. Sie wirbelt herum und setzt sich erschrocken auf den Boden, das Snowboard vor sich. Der rechte Sondrejunge hat angehalten. Die anderen beiden wechseln in den linken Bogen ohne den Abfahrtsläufer zu sehen, der auf Slalomskiern von der anderen Seite des Hügels heransaust. Die Sondrejungs schreien »Rechts«, werden aber auf den Rücken geworfen, als der Rennfahrer ihre Stange trifft und seinerseits zurückprallt. Elin starrt auf den Schneewirbel, der langsam zu Boden sinkt. Der Slalomfahrer liegt unbeweglich da. Seine Bindungen haben sich gelöst und die Skier rasen weiter in einsamer Fahrt auf die Schlange vor dem Lift zu.

Elin befreit sich von ihrem Snowboard und läuft zu dem Verunglückten hinunter.

Jørn Haugen sitzt auf der Anhöhe über der Funbox der neuen Snowboardanlage von Beitostølen. Er hat Pudding in den Beinen, öffnet seine Stiefel und lässt sich zu einer Gruppe in den Schnee fallen, die sich ebenfalls einen Moment ausruhen will. Den letzten Trick habe ich ganz gut geschafft, denkt Jørn und seine Augen wandem zur Halfpipe hinunter. Jetzt fehlt nur noch ein Run dort unten.

Die Bedingungen sind perfekt. Beitostølen liegt schon seit mehreren Tagen in strahlendem Sonnenschein. Ein bisschen nächtlicher Schnee hat eine Puderzuckerschicht auf die präparierten Hügel gelegt und für geradezu ideale Schneeverhältnisse gesorgt. Auf dem Brett zu stehen gibt Jørn jedes Mal einen Kick. Und alle Anfängerstürze werden sich lohnen für das Gefühl, irgendwann mal einen perfekten Dreihundertsechziger hinzukriegen. Aber bis dahin ist es noch weit. Jørn wird ganz flau im Magen, wenn er Trude auf dem Snowboard sieht. Sie ist einfach spitze, legt sogar einen Fünfhundertvierziger hin.

»Guck dir den mal an«, meint einer von den anderen zu Jørn. Jørn kennt den Typen zwar nicht, aber beim Snowboarden läuft alles ziemlich locker ab und da ist es schon in Ordnung, sich ein paar Minuten mit jemandem zu unterhalten.

Der Fahrer zeigt eine schnelle Serie die Pipe runter, nimmt nochmal an Fahrt zu und setzt zum letzten Trick an, findet aber nicht den richtigen Absprung und rast die Pipe auf dem Rücken runter.

»Guter Versuch. Nächstes Mal schafft er es.«

Jørn nickt. Das ist mit das Tollste, dass keiner ausgelacht wird, denkt er. Man wird respektiert, wenn man etwas versucht, und es ist nicht nötig, dass man der Beste ist. Es ist nicht mal peinlich, vor einer Horde Mädchen in den Schnee zu fliegen.

Jørn hat ein paar Mal Abfahrtsski versucht, aber nach der ersten Proberunde mit dem Snowboard war für ihn alles klar. Und im Lauf des Winters hat er schon einige Stunden auf dem Hügel verbracht.

»Bahn frei!«

Alle drehen sich um und gucken, wer da schreit.

»Hau ab, du Schmalspurheld!«

Ein Abfahrtsläufer krümmt sich zusammen, springt schräg ab und kommt in rasender Fahrt auf die Funbox zu. Er trifft auf den Cooping, den Rand, und macht einen hohen Spagatsprung, bevor er weiter zu den Skilifts saust.

»Wir sollten Seile gegen solche Arschlöcher haben! Die haben auf diesem Teil des Hügels nichts zu suchen!« Jørn massiert seine Beinmuskeln. Seine Gedanken wandern zu Express. Werden wir hier genug Zeit zum Üben haben?, überlegt er. Bei so einem Wetter sieht es damit natürlich schlecht aus. Aber wir müssen das Proben an erste Stelle setzen. Es ist ziemlich wichtig, dass wir in Trondheim eine gute Figur machen.

Der Anruf kam schon drei Tage nach dem öffentlichen Vorspiel, aber richtig glauben konnten sie es erst, als der Brief kam und bestätigte, dass Express ausgewählt worden war, den Distrikt Oppland bei dem Landeswettbewerb zu vertreten. Jørn nimmt an, dass sie aus zwei Gründen weitergekommen sind: Zum einen, weil sie Originaltitel gespielt haben, und zum anderen, weil sie ganz einfach gut gespielt haben. Nicht nur schnell, laut und eifrig! Nach Ostern wird es zwei Treffen der Opplands-Leute geben, bevor sie dann mit dem Bus nach Trondheim fahren. Mit viel Üben wird es schon klappen. Jørn weiß, dass ihn selbst das alles ziemlich nervös macht. Aber er muss den anderen auch zugestehen, dass ihnen die Musik nicht ganz so viel bedeutet wie ihm. »Wollen wir das wirklich in Trondheim spielen?«, hatte Trude bei der ersten Probe nach der guten Nachricht gefragt.

»Was meinst du damit?«

»Na ja ... wir haben das ja schon eine Zeit lang gespielt. Die Melodie ist okay, aber ich habe langsam keine Lust mehr, immer das Gleiche abzuspulen. Vielleicht könnten wir es ein bisschen entwickeln, noch mehr Ausdruck reinbringen?«

Sie hatten eine Weile darüber nachgedacht. Hatten neue Ideen verworfen und waren dann doch zu dem Schluss gekommen, dass sie sowieso nichts dabei zu verlieren hatten, wenn sie es mal versuchten. Und da hatte Trude die Idee gehabt, einen Workshop in der Hütte ihrer Eltern in Beitostølen zu machen.

»Dann können wir alles miteinander kombinieren, nicht wahr: Snowboardfahren und proben und Saus und Braus.«

»Na ja, Beitostølen ist ja nicht gerade die Traumadresse für Jugendliche.«

»Aber dieses Jahr haben sie viel Neues vor«, hatte Audun widersprochen.

»Außerdem ist eine tolle Snowboardanlage an einem Hang gebaut worden«, hatte Trude erzählt. »Und sie planen extra einen Supersamstag für die Jugend. Nicht nur so ’ne Disco im Schnee, sondern ’ne richtig fetzige Fete am Abend. Wir müssen nur zusehen, dass wir die Schlagerabende für die Alten umschiffen. Und DJ Cooljuice soll einfach affengeil sein.«

Sie hatten hin und her diskutiert und waren sich dann einig geworden zuzuschlagen. Aber nach ersten Proben sollte heute und morgen das Gebirge dran sein. Heute der Snowboardhügel und morgen mit den Brettern über die Hochebene.

Wenn das nur nicht auf Kosten des Spiels geht! Die anderen müssen sich ein bisschen zusammenreißen, denkt Jørn jetzt und spürt, wie die Kälte langsam durch seinen Hosenboden dringt. Noch eine Runde in der Funbox, beschließt er, und dann werde ich eine kleine Serie in der Pipe hinlegen.

Da bremst ein Brett neben ihm und spritzt ihm Schnee in den Nacken. Er schaut auf.

»Das ist ja der Specht!«

Jørn spürt, wie ihm das Blut ins Gesicht steigt. Was um alles in der Welt macht denn Harald »die Hacke« Andersen hier in Beitostølen?

*

Audun guckt zu Nummer 16 hoch. Die Hütten liegen wie einförmige Klötze an den parallel angelegten Wegen. Er schaut auf die Uhr. Es ist schon fünf Minuten später als verabredet. Wie lange soll er noch auf den Schneider warten? Andererseits findet er es ganz in Ordnung, hier in der Sonne zu sitzen. Jedenfalls besser als noch mehr Runden auf dem Brett. Eigentlich hängt ihm dieses ganze Osterarrangement zum Hals heraus.

Das Üben auch. Er hat keine Lust, immer wieder die gleichen Bassgriffe zu wiederholen. Jørn ist sowieso nie zufrieden. Das werde ich jetzt ändern, denkt er. Bald wird es swingen wie noch nie zuvor. Die Telefonnummer kannte Audun schon lange, bevor ihnen der Flyer heute Vormittag in die Tasche gestopft wurde. Aber nach der nervigen Probe gestern Abend hatte er sich entschieden und den anderen heute Morgen beim Frühstück den Vorschlag gemacht:

»Ich weiß, was wir brauchen.«

»Und was?«

»Meine Güte. Express klingt doch wie ein hinterwäldlerisches Alte-Herren-Orchester. Ich kenne eine Wunderkur gegen schlaffes Dahindudeln. Die Inspirationsspritze überhaupt! Etwas zusätzlichen Pepp. Spezialgemischtes Hausgebräu.«

Sie hatten ihn ins Kreuzverhör genommen, aber Audun hatte sich geweigert, etwas zu verraten.

»Probiert es erst mal. Dann seid ihr schlauer.«

Jedenfalls haben wir unseren Frust ein bisschen beiseite schieben können, denkt Audun und wirft noch einmal einen irritierten Blick auf die Uhr. Sogar Jørn hatte schließlich zugeben müssen, dass sie mit ihrer Musik auf der Stelle treten.

»Vielleicht sollten wir einfach aufhören«, hatte Trude endlich vorgeschlagen.

»Aber wir brauchen die Proben«, hatte Jørn widersprochen, sichtlich genervt.

»Schließlich fahren wir doch sowieso nach Trondheim. Muss denn alles hundert Prozent sein?«

Jørn hatte nur die Augen verdreht und einen längeren Vortrag über die Möglichkeiten gehalten, die sich ihnen bieten würden, wenn sie eine gute Figur beim Wettbewerb machen würden. Trude hatte abgewunken.

»Ist ja richtig. Aber es hat doch keinen Sinn, Express um jeden Preis zu puschen. Wir müssen das zum Fetzen bringen, was wir sowieso spielen. Und außerdem war doch auch geplant, dass wir uns hier vergnügen, oder?« Das hatte das Fass zum Überlaufen gebracht und Jørn hatte nachgeben müssen: »In Ordnung. Aber drei gegen einen, das ist feige.« Es war ein Versuch, den Streit locker wegzustecken, doch Jørn hatte nicht verbergen können, dass ihm die Situation nicht gefiel.

Vielleicht bringt das Hausgebräu ja die Steigerung, denkt Audun jetzt und schaut sich um. Er begreift nicht, wieso der Schneider in einer der Mietshütten dealen will, aber das ist ja nun nicht seine Sache. Er ahnt sowieso nicht, wer das eigentlich ist. Hat nur übers Telefon mit ihm gesprochen. Und das Wichtigste ist schließlich, dass er von dem Gebräu was kriegt. Das wird Express schon ordentlich auf die Beine bringen. Damit kriegen wir in null Komma nichts einen neuen Song hin, denkt er.

Das Gebräu gibt unglaublich Energie. Er hat die Mischung schon mal auf einer Fete probiert. Ist damals wie eine Lichtwelle durch den Abend geflogen. Und er fand in sich Kräfte und Gedanken, von denen er gar nicht ahnte, dass er sie besaß. Heute Abend will er einen Happydrink mixen. Und alles zum Swingen bringen. Mal sehen, was dann passiert!

Audun sieht nochmal auf den Zettel. Da gibt’s keinen Zweifel:

Es ist niemand zu sehen. Sicher sind alle draußen und amüsieren sich. Ob er einfach reingehen soll? Audun geht zur Treppe, trampelt sich den Schnee von den Stiefeln und klopft an. Niemand antwortet. Er überprüft noch einmal, ob es auch die richtige Hütte ist. Klopft ein zweites Mal an, wartet, aber niemand öffnet.

Hinter der Hütte hört er einen Schneescooter starten und wegfahren, ansonsten ist es ganz still. Und menschenleer. Nicht einmal ein kläffender Hund. Er hat keine Lust noch länger zu warten, die Abmachung war ja wohl klar. Audun legt seine Hand auf die Türklinke. Drückt. Die Tür ist offen.

»Hallo?«

In der Hütte ist es brütend heiß, aber niemand antwortet.

»Ist jemand hier?«

Er muss über sich selbst lachen. Natürlich ist keiner da.

Sonst hätte ja wohl jemand geantwortet.

Der Schneider hat sich bestimmt nur verspätet. Er muss sicher eine Menge Fäden in der Hand behalten. Audun zögert kurz, dann geht er hinein. Er schnappt nach Atem. Die Luft ist schwer und abgestanden, völlig überheizt. Hier hatte es aber jemand eilig, denkt er. Kleider und Wolldecken liegen überall auf dem Boden herum. Zeitungen und leere Flaschen dazwischen verstreut. Zerknüllte Papiere leuchten noch im Kamin. Auf dem Ausziehtisch steht ein offener Laptop, dessen Bildschirmschoner verkündet, dass alle ihre »Hände weg« lassen sollen. Alte Zeitungsausschnitte liegen wie zerrissene Puzzleteile auf dem Tisch. Eine Kamera und mehrere Objektive liegen auf der Küchenanrichte.

Da entdeckt er die nassen Flecken auf dem Boden. Und die weißen Teilchen. Schnee, der noch nicht geschmolzen ist. Es kann noch nicht lange her sein, dass jemand hier war. Direkt vor der Hintertür liegt ein roter Skihandschuh. Aber die Hütte ist leer. Einen Moment werde ich noch warten, denkt Audun und lässt sich auf einen Sessel fallen.

Der Schneider kocht. Der Schweiß läuft ihm den Rücken hinunter, als er den Thundercat die Hügel hoch fährt. Er schlängelt sich zwischen den Hütten durch und fährt auf die Westseite des Beito, biegt dann schräg auf den Hauptweg ein und fährt weiter hoch, auf Gardli zu. Dann gibt er Gas Richtung Osten. Er weiß gar nicht so recht, wo er eigentlich hin will, nur, dass er ins Gebirge auf der Ostseite der Straße fahren muss.

Sein Sichtschutz beschlägt, aber er traut sich nicht ihn hochzuschieben. Es könnte ihm ja jemand entgegenkommen und er will nicht, dass der sich dann Gedanken macht, warum er hier draußen herumfährt. Jetzt darf es nicht an einem Zufall scheitern.

Die Kettenbänder fressen sich gierig die Hügel hinauf. Die Katze hat keine Probleme damit, den Schlitten hinter sich her zu schleppen. Er gibt noch mehr Gas. Die neunhundert Kubik donnern und scheinen die Steigung förmlich zu genießen. Der Scooter ist einfach wahnsinnig stark. Sein wassergekühlter Dreizylindermotor schnurrt wirklich wie eine Katze und Thundercat ist superschnell. Oben auf der Valdresflya hat er es schon auf 170 Stundenkilometer gebracht. Und gleichzeitig ist der Thundercat wie maßgeschneidert für unwegsames Gelände. Die Gasstoßdämpfer lassen Unebenheiten kaum spüren. Aber natürlich nur, wenn man fahren kann. Und der Schneider ist ein Meister auf dem Scooter. Vielleicht war es das, was der Schneescooterclub nicht vertragen konnte?

Oben auf der Ebene vor Gardli zieht der Schneider die Geschwindigkeit hoch. Er sieht auf dem Tachometer, dass er fast bei 75 km/h liegt. Jetzt ist das Schlimmste geschafft. Es geht nur noch darum, einen geeigneten Platz zu finden, um seine Last loszuwerden.

Urplötzlich holen ihn seine Gedanken wieder ein. Er spürt, wie sich ihm der Magen umdreht, wie die Übelkeit in ihm rumort. Aber es gibt keinen anderen Ausweg. Er muss doch die Spuren verwischen. Oder wäre es etwa besser gewesen, sie da liegen zu lassen? Nein, geschehen ist geschehen. Und die Sache muss jetzt zu Ende geführt werden. Der Schneider fährt die letzte Steigung hoch und geht vom Gas. Jetzt muss er sich entscheiden. Er hält an und holt die Karte heraus, stellt fest, dass er noch ein paar Kilometer weiter fahren muss, um wirklich auf der sicheren Seite zu sein. Er muss die am häufigsten benutzten Loipen hinter sich lassen, wegkommen von den Freizeitsportlern. Er überlegt hin und her, entscheidet sich schließlich für die Hügel südlich des Gravholskampen. Der Name, der Grabhöhlenfels, lässt ihn kurz grinsen. Er beschließt, der präparierten Spur noch eine Weile zu folgen, dann auszuscheren und abzuladen. Gerade als er die Karte zusammenfaltet, fängt sein Handy an zu piepen. Er kann jetzt nicht rangehen, fährt los, nach Nordosten hin.

*

»Nur gut, dass die Kinder das nicht getrunken haben«, sagt Anne-Marit Johansen, während sie den Inhalt der Halbliter-Flasche untersucht. Sie steht in einer Schneeburg zwischen zwei der älteren Hütten unterhalb vom Panorama, im Volksmund »zur Palasslia«, zur Palastwiese, getauft.

»Was ist das?«, fragt Landpolizist Knutsen neugierig. »Ich weiß nicht. Das muss erst analysiert werden. Das muss nach Oslo.«

Knutsen nickt. Die Antwort hat er erwartet.

»Kein Problem, wir schicken eine Probe mit Express. Dann ist sie in vier Stunden in Oslo.«

»Gute Idee. Ich rufe Bjørn Tore von der Chemischen an. Er ist mir noch einen Gefallen schuldig«, nickt Johansen und schaut zu Martin Klausen hinüber, der mit seinen Kindern ein Stück entfernt wartet. Die Kinder hatten die Flasche in der Schneeburg gefunden. Klausen arbeitet bei einer Brauerei und ist sich hundertprozentig sicher, dass der Inhalt nicht aus einem normalen Zapfhahn stammt.

»Ich bin nur froh, dass ich entdeckt habe, was die Kinder da gefunden haben, bevor sie was trinken konnten«, erklärt er.